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Ich kann nicht fassen,
dass er das riskiert hat
Lance. Der Klang seines Namens schmerzte, er ließ Zorn in mir aufsteigen, der sofort von einem Gefühl des Scheiterns verdrängt wurde. Meines Scheiterns. Die anderen hatten begonnen, wild durcheinanderzureden, sie stellten Hypothesen auf, schmiedeten Pläne und brüllten gegen den laut heulenden Wind und den in dicken Tropfen auf uns herabprasselnden Regen an. Keiner von uns hatte den Kampf der Nacht unversehrt überstanden: Unsere zerfetzten und durchnässten Klamotten klebten an unseren lädierten, von Blutergüssen übersäten Körpern. Wunden und Schrammen zeichneten unsere Haut, Verbrennungen von unserem Zusammentreffen mit den Gesandten der Unterwelt. Aber wenigstens waren wir hier. Wir hatten es geschafft.
Lance. Auf die anderen achtete ich kaum. Ich konnte es nicht ertragen, ihnen zuzuhören. Aber ich spürte Lucians Blick auf mir. Es goss wie aus Kübeln, und das gleichmäßige Rauschen des Regens blendete alles und alle anderen aus. Mir war ja nicht einmal bewusst, dass ich in der Royal Street von New Orleans immer noch mit zerkratzten Knien auf dem Asphalt kauerte, bis Lucian schließlich nach meiner Hand griff und mich schweigend hochzog. Ich sah ihn nicht an.
Lance. Was sie wohl gerade mit ihm machten? Was würden sie dem Jungen antun, den ich liebte, nur um mich zu quälen?
»Hier, sieh mal!« Dante schob mir sein Handy hin, das geheimnisvolle Mobiltelefon, von dem Lance und ich auch eins hatten, und über das wir hin und wieder rätselhafte Nachrichten erhielten. Ich schaute nicht hin, sondern starrte auf die Glut, die immer noch an der Stelle rot glomm, wo der Fürst Lance gepackt und ihn in einen Feuerring gebannt hatte, um mit ihm zu verschwinden. Ich stellte mir vor, dass sie wohl in der Unterwelt wieder sichtbar geworden waren, und ich malte mir aus, welche Schmerzen und Qualen Lance erwarteten. Ich erschauerte.
»Ich kann nicht fassen, dass er das riskiert hat«, murmelte Lucian mit gepresster Stimme, und auch sein Blick fixierte die Stelle, an der eben noch der Fürst gestanden hatte.
Und das alles war meine Schuld. Ich hatte es nicht verhindert, hatte Lance nicht beschützt. Meinetwegen war er nun fort. In Gedanken ging ich die Szene immer wieder durch, ließ zu, dass sich die Erkenntnis bohrend in mir breitmachte, unternahm nichts gegen den Schmerz. Das war die Strafe für meine Selbstzufriedenheit. Ich hatte nicht zu schätzen gewusst, was vor meiner Nase lag, und viel zu viel als selbstverständlich hingenommen. Wie oft findet man jemanden, der einen versteht, der das Gleiche durchmacht wie man selbst und einen trotz aller Fehler liebt? Diesen Menschen muss man festhalten, so fest wie möglich, wenn man ihn gefunden hat. Schließlich waren Lance und ich nicht wie andere Menschen. Selbst bevor wir wussten, dass wir Engel waren, waren wir nicht wie alle anderen gewesen. Aber wir waren einander sehr ähnlich. Und wir funktionierten zusammen viel besser. Deshalb würde ich ihn zurückholen. Ich würde ihn finden, es musste einfach einen Weg geben.
Mein Herz pumpte Zorn durch meine Adern, der mich aktivierte und den lähmenden Schock durch wütende Entschlossenheit ersetzte. Es war, als sei ein Funke entfacht worden, und ohne Vorwarnung rannte ich los. Ich schüttelte Lucian, der mich zurückhalten wollte, einfach ab und raste in die Villa. Trotz des Gewitters und des Kriegs der Teufel war die Party immer noch in vollem Gange. Irgendwie war es den Feiernden mit den Mardi-Gras-Masken gelungen, unbeirrt weiterzumachen: Seit im Ballsaal im ersten Stock der Sturm durch das kaputte Oberlicht hereinwehte, war der Spaß einfach ins Erdgeschoss verlegt worden. Es schien so, als hätten all diese Menschen die Gewalt um sie herum akzeptiert und beschlossen, das Beste daraus zu machen. Sie wippten im Takt der Musik, nippten an ihren Gläsern, brüllten einander ins Ohr, um sich über den Lärm hinweg zu verständigen, und lächelten wie sorglose Nachteulen, die noch Stunden vor sich hatten, um sich auf angenehme Weise die Zeit zu vertreiben. Solange der Strom nicht ausfiel und genug zu trinken da war, würde sich an ihren Plänen nichts ändern.
Ich drängte mich weitaus rücksichtsloser durch die Menge, als eigentlich nötig war, sodass hier und da ein Glas runterfiel und Damen in High Heels sich irgendwo festhalten mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann sauste ich die Treppe zum mir nur allzu vertrauten Wandteppich mit der bourbonischen Lilie hinauf. Lucian hatte seit unserer Ankunft vor ein paar Monaten in New Orleans diesen Ausweg aus dem dunklen Reich, dem er so gerne entfliehen wollte, regelmäßig benutzt. Und vor nicht allzu langer Zeit waren auch Lance und ich durch diesen Gang der Unterwelt entkommen, in jener grauenhaften Nacht, in der wir der Krewe gefolgt waren, den Vertretern des Bösen hier in New Orleans. Wir hatten herausfinden wollen, wie wir sie besiegen konnten. Dabei waren wir zu weit gegangen, wir waren in der Welt der Teufel gelandet, und nur mit viel Glück war uns die Flucht gelungen. Heute Abend dagegen waren wir so nahe dran gewesen, die zweite unserer drei Engelsprüfungen zu bestehen. Beinahe hätten wir die Flügel bekommen, für die wir doch so hart gearbeitet hatten. Von uns Engeln in der Ausbildung hatte eine starke Kerngruppe heute Abend den Kampf gegen die tödlichen Kreaturen gewonnen – mein Sandkastenfreund Dante, seine neue Liebe Max, die liebliche Drew, Südstaatenschönheit Emma und ein sehr ungewöhnliches Pärchen, nämlich die typisch amerikanische Sportskanone Tom und Goth River. Erst in den letzten Sekunden des Kampfes hatten wir einen der unseren verloren.
Jetzt erreichte ich den ersten Stock des Herrenhauses und fegte den Wandteppich so heftig beiseite, dass ich ihn beinahe heruntergerissen hätte. Ich war bereit, mich in die Tiefe zu stürzen, hinab zu unbekannten Schrecken und zu Lance. Aber dann hielt ich wie erstarrt inne. Denn da war kein Abgrund mehr, in den ich mich hätte werfen können. Ich tastete die Wand ab, meine Hände erkannten die glatte Oberfläche jedoch nicht wieder. Die Wand schien massiv. Eigentlich hätte mich das nicht wundern sollen: Am Tag der Metamorphose mussten die Dämonen mit ihren neuen Rekruten vor Mitternacht zurückkehren, bevor die Portale zur Unterwelt hinter ihnen versiegelt wurden, wie man mir so oft eingebläut hatte. Aber mein blutendes Herz wollte das nicht akzeptieren. Ich musste es einfach versuchen.
»Haven!«, rief Lucian unten aus dem Eingangsbereich, und seine sonst so seidenweiche Stimme klang angespannt. Wieder flammte das Bild des Fürsten mit Lance in seiner Gewalt in meiner Erinnerung auf und ließ das Blut in meinen Adern brodeln. Verzweiflung drohte mich zu übermannen. Ich wollte ihn zurückholen. Sofort.
Erneut setzte sich mein Körper in Bewegung, bevor mein Verstand hinterherkam, und ich rannte dieselben maskierten Gestalten um wie kurz zuvor. Dann schoss ich so dicht an Lucian und Dante vorbei, dass ich ihre Schultern streifte, und ließ die ganze Gruppe hinter mir zurück, als ich wieder in den Sturm hinausraste. Ich trotzte dem Wetter auf dem Weg zu den einzigen uns noch bekannten Portalen: den Gräbern auf Saint Louis Number One, dem Friedhof, auf dem Lance und ich die dunklen Rituale der Teufel beobachtet und uns sogar in eine der Gruften aus glattem Marmor geschlichen hatten, die nach dort unten führten. Ich hörte, wie sich die ganze Gruppe in Bewegung setzte, mir durchs knöcheltiefe Wasser folgte und dem Unrat auswich, der durch die Luft geschleudert wurde. Meine Freunde kamen hinterher und brüllten dabei, ich sollte stehen bleiben. Ich ignorierte ihre Stimmen einfach.
Als ich die Tore am Eingang entdeckte, wurde ich sogar noch schneller, stieß mich ab und flog über das schmiedeeiserne Hindernis, so wie andere über eine Pfütze hopsten. Irgendetwas hatte sich heute Abend verändert. Die Kraft, die plötzlich in jedem Muskel, jeder einzelnen Zelle meines Körpers steckte, hatte ganz neue Dimensionen erreicht, jede Bewegung fühlte sich an wie eine Stichflamme.
Ich raste zur Gruft hinüber, die Lance errichtet hatte, und dachte daran zurück, wie ich ihm von Weitem dabei zugesehen hatte. Damals hatte er mit seinen breiten Schultern und kräftigen Rückenmuskeln die schweren Marmorplatten so mühelos transportiert, als wären sie aus Karton. Jetzt versanken meine Füße bei jedem Schritt in Matsch und Kies, während die Bilder aus meiner Erinnerung wie Schnappschüsse vor meinem inneren Auge aufblitzten: wie Lance mich in die Villa gejagt hatte, als das Gift der Teufel von mir Besitz ergriffen hatte. Wie er nach dem Schweberitual, das mich wieder von dem Gift befreit hatte, mit starken Armen meinen leblosen Körper hochgehoben hatte. Unser Spaziergang im Botanischen Garten, als wir uns ausgesprochen hatten. Unser Kuss zu Beginn der Parade vor so vielen Stunden, als wir uns einen Moment, einen klitzekleinen Augenblick lang, erlaubt hatten, die allgemeine Aufregung und Begeisterung zu genießen. Und dann kam mir auch noch unser erster Kuss in den Sinn, bei dem mir gar nicht klar gewesen war, dass ich ihn geküsst hatte. Während der Eröffnung des Lexington Hotels hatte es so einige Geheimnisse gegeben, und wir waren einander im Dunkeln näher gekommen und dann gemeinsam in eine Liebesgeschichte gestolpert.
Ich hielt auf den hinteren Bereich des Friedhofs zu und schlug immer wieder Haken, wenn ich hier oder da eine andere mir bekannte Gruft entdeckte. Dann rammte ich die Schulter gegen diejenigen Grabmäler, aus denen einst vor meinen Augen Dämonen gekrochen waren. Aber da regte sich nichts. Endlich erreichte ich die Überreste von Lance’ Gruft. Die Polizei hatte sie eingerissen, nachdem unsere Gruppe sie mit einem anonymen Anruf darüber informiert hatte, dass hier vielleicht Hinweise zu der grauenhaften Mordserie in der Stadt zu finden waren.
Natürlich hatten sie nichts entdeckt, erst recht keinen Eingang zur Unterwelt, und die Struktur war dabei zerstört worden, sodass jetzt nur noch Überreste im Schlamm lagen. Nun ließ der Regen langsam nach. Als ich durch den Schlick watete, sank ich bis zum Schienbein darin ein. Im Matsch entdeckte ich Stücke vom gelben Absperrband der Polizei, die vom Wind zerfetzt worden waren und nun wie Aale in der Tiefsee glänzten. Ich versenkte die Arme im Morast und hob eine Handvoll hoch, die mir durch die Finger rann. Der Schlamm lief mir an den Armen herab. Aber hier gab es nichts mehr, auch dieses Tor zur Unterwelt war uns verschlossen. Plötzlich wurde das Gefühl des Verlustes übermächtig und presste mir die Luft aus den Lungen. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht einmal mehr denken.
Mit hängendem Kopf scharten sich die anderen um mich und schauten mich so mitfühlend an, als wären wir hier auf einer Beerdigung. Alle außer Lucian. Der trat nun in mein Sichtfeld und ließ den Blick seiner tiefgrauen Augen reumütig auf mir ruhen. Als er sanft nach meinem Handgelenk griff, riss ich mich mit einer reflexhaften Bewegung los. Ohne ein Wort trat Lucian einen Schritt zurück. Dante kam heran und legte mir den Arm um die Schulter. Inzwischen war der Regen nur noch ein leichtes Nieseln, das Gewitter ließ langsam nach. »Jetzt hör endlich zu«, sagte mein alter Freund in leisem, aber ungewöhnlich strengem Tonfall. »Das reicht jetzt. Wir werden ihn retten, aber nicht so.«
Mit diesen Worten führte er mich zurück zum Haus. Unterwegs umschlossen die anderen uns hufeisenförmig und bildeten so einen stillen Schutzschild zwischen mir und der Welt.
Wir kehrten heim in unsere Zufluchtsstätte in der Royal Street, neben dem Herrenhaus, das jetzt im Dunkeln dalag. In unserem Zuhause waren jedoch die Fenster zerbrochen, der Fußboden durchweicht und unsere Habseligkeiten nicht nur überall verstreut, sondern auch mit Glassplittern übersät. Und dann wurde uns ein weiterer Verlust wieder bewusst: durch Connors leeres Zimmer. Während der zweiten Stufe auf dem Weg zu unseren Flügeln hatte er uns körperlich und mental auf den Kampf gegen die Dämonen vorbereitet. Aber nachdem er seine Aufgabe so exzellent erledigt hatte, hatte er sich zurückziehen und uns in die Welt entlassen müssen. Ohne Lance wurde mir Connors Abwesenheit noch viel schmerzlicher bewusst, ein weiterer Stich in der Brust. Jetzt hätte ich mich gerne von ihm trösten lassen. Ich brauchte jemanden mit einer gewissen Autorität, der mir versicherte, dass alles wieder gut werden würde. Denn mir selbst fehlte gerade der Glaube daran.
Wir versammelten uns im Wohnzimmer und probierten alle Schalter durch, aber der Strom war ausgefallen. Viel Licht brauchten wir auch nicht, um zu erkennen, dass die einst so verwegene Dekoration – die schicken Möbel und all die Elemente in den Mardi-Gras-Farben Gold, Lila und Smaragdgrün – nach diesen wenigen Stunden der Gewalt verblasst und abgerissen wirkte. Die enorme Maske, die einst eine ganze Wand eingenommen und alle Blicke im Raum auf sich gezogen hatte, war vom Haken gerissen worden und lag mit dem Gesicht nach unten verbogen und verbeult am Boden, so als hätte sie ein Riese nach einer wilden Party einfach abgestreift und weggeworfen. Als wir Ende Januar hier angekommen waren, hatten wir gewusst, dass der Tag der Metamorphose irgendwann anstehen würde, uns war aber nicht klar gewesen, was danach kommen würde. Wie mit unserer Umgebung hatte man mit uns gespielt, war auf uns losgegangen und hätte uns beinahe zerstört.
Schweigend machten wir uns nun daran, die Möbel wieder richtig hinzustellen, fegten Glassplitter weg und brachten ein kleines bisschen Ordnung in unser Zuhause und unser Leben. Draußen war inzwischen eine so vollendete Stille eingekehrt, dass ich die fehlenden Fensterscheiben für einen Moment völlig vergaß. Lucian setzte sich neben mich auf die feuchte Samtcouch und starrte mich an, als würde er gerne etwas sagen, rutschte dann aber nur unruhig hin und her. Ich konnte die Qual in seinem Gesicht sehen, den leeren Ausdruck in seinen Augen. So matt und mutlos hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich fragte mich, ob das an seiner Verwandlung lag. Es war verdammt knapp gewesen, aber es war ihm um Mitternacht gelungen, der Unterwelt zu entkommen. Nun gehörte er nicht mehr zu ihnen, war kein Dämon mehr, aber auch keiner von uns. Er war sterblich. Dante kniete sich vor mir auf den klammen Teppich und hielt mir wieder sein Handy hin. Ich zwang mich, ihm endlich zuzuhören, auch wenn ich in Gedanken weit weg war.
»Hier, lies das«, befahl er.
Wenn ihr bis nach Mitternacht durchhaltet, verzweifelt nicht, weil ihr einige von euch verloren habt. Sucht einen alten Widersacher auf, er hat Antworten für euch. Doch eine Warnung noch: Ihr müsst den kompletten Kreis durchlaufen.
Allons-y.
»Das hab ich vorhin gekriegt … bevor das alles passiert ist. Hast du nichts bekommen?«
Ich wusste nicht einmal mehr, wo mein Handy überhaupt steckte. Das hatte ich zu Beginn des Abends in meinen Stiefel geschoben, und dort hatte es sich so eng an das Leder geschmiegt, dass ich es ganz vergessen hatte. Als ich nun die Hand in den Stiefel schob, zog ich das Telefon aus meiner schmutzigen, zerfetzten Socke. Es war völlig schlammverschmiert, genau wie meine Arme und Beine, und ich entdeckte einen Sprung im Display. Trotzdem reagierte es problemlos, als ich auf den Knopf drückte. Lucian sah mir über die Schulter, als ich die Botschaft las und sie dann Dante hinhielt. Er überflog sie und nickte. Meine Nachricht war mit seiner identisch, mal abgesehen davon, dass bei mir »Schwarm« statt »Widersacher« stand. Und ich war nicht die Einzige, die das bemerkte.
»Schon klar, hier bin ich«, sagte Lucian mit leiser Stimme, und sein Blick wanderte entschuldigend durch den Raum. »Ich bin da, um euch zu helfen, so gut ich kann. Selbst wenn es mich das Leben kostet.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie ernst er das Angebot meinte. Leider war er als Aussteiger ein bevorzugtes Ziel der Unterwelt, und seine neue Sterblichkeit bedeutete auch, dass man ihn leicht zur Strecke bringen konnte.
»Ich habe da eine Idee«, sagte Drew, die uns von der anderen Seite des Raumes aus beobachtet hatte. Sie bedeutete den anderen, vorhandene elektronische Geräte hervorzuholen, und als sie im Kreis gleichzeitig eingeschaltet wurden, tauchten sie den Raum in schwaches Licht, wie ein kleines Lagerfeuer.
»Darf ich das noch einmal sehen?«, fragte Dante und lehnte sich zu mir vor. Max erschien an seiner Seite und verteilte Wasserflaschen. Er sorgte auf seine Weise für uns. Die anderen vier Engel ließen sich jetzt im Raum verteilt nieder, sprachen leise miteinander und rollten sich dann am Boden zusammen, als wäre jegliches Adrenalin schlagartig aus ihren Adern verschwunden.
»Vielleicht finden wir ja irgendwann endlich heraus, wer zur Hölle uns die schickt«, sagte ich erschöpft zu Dante. Dann warf ich das Handy aufs Sofa. Das war nur eines von vielen Rätseln, die wir noch nicht gelöst hatten.
»Na, zumindest hoffentlich niemand aus der Hölle«, witzelte Dante, um mich ein wenig aufzumuntern. Er stand auf und reckte sich.
»Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen«, wandte Lucian ein. »Das wäre nicht ihr Stil.«
»Nein, die schreiben ihre Nachrichten lieber mit Blut«, erwiderte Dante flapsig. In diesem Fall war das nicht einmal übertrieben: Es hatte tatsächlich mal jemand blutige Engelsflügel vor unsere Eingangstür gemalt.
Lucian stimmte zu: »Ja, die mögen es gern dramatisch.«
»Wovon redet ihr eigentlich?« River war aufgestanden. Sie klang jetzt ziemlich knurrig, weil sie es nicht leiden konnte, im Dunkeln gelassen zu werden. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, sah Tom zu ihr hinüber und blickte dann wieder zur Decke hoch.
»Ja, wovon redet ihr da?«, fragte Emma leise und verwirrt. Ihre Wimperntusche war ganz verschmiert, was vermutlich genauso viel mit dem Regen wie mit den Tränen dieser Nacht zu tun hatte. Ihr Freund Jimmy war als einer der Ersten von uns Engeln in der Ausbildung zur dunklen Seite übergelaufen. Wir hatten heute Nacht gegen ihn gekämpft, und Lance hatte ihn besiegt.
Dante und ich wechselten einen Blick und kamen stillschweigend überein, die anderen nach all der Zeit endlich einzuweihen. Mit einer Kopfbewegung forderte Dante mich auf, die Sache zu erklären, vermutlich deshalb, weil ich diese Nachrichten schon länger bekam als er. »Wir erhalten seit einiger Zeit diese Warnungen. Zunächst waren es handgeschriebene Nachrichten, seit unserer Ankunft hier kommen sie jedoch auf elektronischem Wege. Lance hat diese Handys gefunden, die wohl jemand für uns zurückgelassen hatte.« Ich griff nach meinem und warf es River zu. Sie fing es mit einer Hand auf.
»Und wer hat die für euch zurückgelassen?«, fragte Emma. Sie strich die rotbraunen Locken zurück und drehte sie zu einem Dutt zusammen, offensichtlich in dem hilflosen Versuch, wenigstens etwas Ordnung in all dem Chaos zu schaffen.
»Das wissen wir nicht«, musste Dante zugeben. Jetzt erschien Max mit einem Teller zerbröselter Kekse, die er in der Küche entdeckt hatte.
»Und warum erfahren wir erst jetzt davon?«, fragte River, während sie durch die SMS scrollte. »Da sind ja ganz schön heftige Sachen dabei.«
»Wem sagst du das?«, sagte ich leise.
»Zeig mal.« Tom griff nach Rivers Hand und zog sie zu sich runter.
»Ab jetzt keine Heimlichkeiten mehr, okay?«, bat Drew, die bislang geschwiegen hatte, mit sanfter Stimme und schob sich das feuchte Haar hinters Ohr. »Wir dürfen einfach keine Geheimnisse voreinander haben.« Und damit hatte sie wirklich recht.
»Versprochen«, nickte ich daher.
Und nun erzählten wir, wie wir auf die harte Tour gelernt hatten, den Hinweisen lieber Folge zu leisten. Und dass sie uns Hoffnung machten, weil ganz offenbar jemand über uns wachte. Wir lasen ein paar der neueren Nachrichten vor, und als alle Fragen beantwortet waren, reichte River mein Handy an Tom weiter, während Dante seines wegpackte.
»Ich wünschte, Connor wäre hier«, seufzte Emma und zog die Knie an die Brust.
»Der ist verschwunden, komm lieber drüber weg«, blaffte River sie an. »Also, du …« Sie starrte Lucian an. Er trug immer noch den Smoking, der nach der Party im Lexington und den Ereignissen heute Abend ziemlich mitgenommen aussah. Als er angesprochen wurde, lehnte Lucian sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Du bist also der Schwarm?«
Ich wandte schüchtern den Blick ab, als der Exdämon zu mir rübersah und dann nickte.
»Skandalös! Haven, du steckst ja wirklich voller Überraschungen. Gefällt mir irgendwie.«
Drew schüttelte den Kopf, während Emma das Kinn vorreckte, Lucian musterte, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen, und mir dann verschwörerisch zunickte.
»Jetzt warte mal«, warf Tom ein und starrte das Telefon aus zusammengekniffenen Augen angestrengt an. »Was ist denn dieses Allonsi?« Bei seiner gruseligen Aussprache brauchte ich einen Moment, um den Themenwechsel überhaupt zu erfassen.
»Ich hatte Spanisch in der Schule«, erklärte Dante achselzuckend und ließ sich auf der Lehne von Max’ Sessel nieder. »Hav?«
»Oh. Allons-y«, wiederholte ich. »Das ist Französisch für ›Dann mal los!‹.«
»Warum auf Französisch?«, fragte Emma.
»Pourquoi?«, murmelte Drew.
Auch ich ließ mir das immer wieder durch den Kopf gehen und suchte in den hintersten Winkeln meines Verstandes nach einem Hinweis. Die Antwort war da irgendwo zu finden, aber inzwischen drehten sich die Rädchen in meinem Kopf immer langsamer. Alles, was mein Körper und Verstand noch wahrnehmen konnten, war endloses Nichts. Ich konnte nur noch an Lance denken. Nach all der körperlichen und emotionalen Anstrengung umfing mich die Hoffnungslosigkeit wie ein Leichentuch, das man über einen Toten zog. Ich wollte mich einfach nur in einer Ecke zusammenrollen und schlafen, und zwar für immer. Leider wusste ich, dass ich diesem Wunsch nicht nachgeben durfte. Ich musste stärker sein, so stark wie noch nie zuvor, um Lance zu finden.
Die Antwort lauerte irgendwo in meinem Kopf, im Hintergrund einer anderen Erinnerung. Genau, die Nacht auf dem Friedhof, das Verwandlungsritual der Teufel. Kein Wunder, dass ich das lieber verdrängt hatte, an diese Momente mit Lance dachte ich nur ungern zurück. Falls ich ihn jemals wiedersehen sollte – nein, hier verbesserte ich mich – bei unserem nächsten Wiedersehen würde ich ihm sagen, wie albern es doch von uns gewesen war, dass wir vergessen hatten, wie viel wir einander bedeuteten, und uns voneinander entfernt hatten, statt in der Zeit unserer schwersten Herausforderungen Stärke im anderen zu suchen.
»Père Lachaise«, hörte ich mich selbst sagen. Ich war wie in Trance. »Père Lachaise«, wiederholte ich mit mehr Bestimmtheit. »Ein Friedhof. In Paris.« Ich wandte mich an Lucian: »Weißt du irgendwas darüber?«
»Ich hab schon mal davon gehört, also, im Studium«, sagte er und blickte nachdenklich an die Decke. Dann schloss er die Augen. »Aber ich bin mir nicht sicher, was …«
»Diesen Friedhof hat die Krewe in der Nacht des Rituals erwähnt. Während Jimmys Verwandlung«, sagte ich leise. Ich wollte Emma nicht wehtun. »Als sie an uns vorbeikamen, haben sie irgendetwas von einem Treffen erzählt.«
Das war wohl der Anstoß, den Lucian gebraucht hatte. Er schlug sich die Hand vor den Mund und sprang auf. Der Ausdruck in seinen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn plötzlich alles einen Sinn ergab, aber nun wirklich kein Anlass zur Freude war. »Dann findet es wohl dort statt«, flüsterte er, als wäre diese Erkenntnis zu überwältigend, um sie laut auszusprechen. Keiner sagte etwas, wir ließen ihm Zeit, die richtigen Worte zu finden. »Das ist es also. Da geht sie los, die Revolution.« Er starrte mich an. »Und vermutlich haben sie Lance als Opfergabe auserwählt.« Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich hatte einen Kloß im Hals. Noch konnte ich nicht verarbeiten, was er da sagte. Den anderen ging es wohl genauso, wie mir die offenen Münder und finsteren Blicke verrieten.
»Aber … was …« Ich bekam nicht einmal einen vollständigen Satz hin, da gab es einfach zu viele unbeantwortete Fragen. In hastigem abgehacktem Ton wandte sich Lucian nun an die Gruppe: »Sie fangen immer gern mit einem Opfer an. Dem eines Engels. Weil eine Revolution nur alle paar hundert Jahre ansteht. Für das Ritual einen zu fangen ist aber nicht so einfach.«
»Sie hatten doch Sabine. Brody. Jimmy. Warum haben sie die nicht genommen?« Ich hörte die Panik in meiner Stimme, als ich die Namen unserer Mitanwärter auf die Engelschaft ausrief, die man auf die dunkle Seite gezogen hatte. Ich wünschte mir so sehr, Lucian läge falsch, dass ich ein Zittern in meiner Stimme kaum unterdrücken konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die haben sich alle umgarnen lassen, sie haben keinen Widerstand geleistet. Oder zumindest nicht genug. Für so eine Opferung brauchen sie einen echten Gefangenen. Jemanden, der mit Zähnen und Klauen gekämpft hat. Das Ganze ist ein feierlicher Anlass«, erklärte er mit bedauernder Miene. »Aus ihrer Sicht hilft es ihrer Sache, wenn sie einen echten Feind als Opfer gefangen nehmen können.«
»Und was passiert bei dieser Opferung?«, stieß ich angewidert hervor.
»Dabei öffnen sich zum ersten Mal nach dem Tag der Metamorphose wieder die Portale der Unterwelt«, erwiderte Lucian langsam, während er den Blick über die Gruppe wandern ließ. »Das ist der Anfang vom Ende. Die Revolution wird sich über Wochen hinziehen, albtraumhafte Wochen, in denen die Dämonen danach streben, die Kontrolle zu übernehmen und Körper, Seelen und Engel zu erobern. Dafür werden sie alle Kräfte zusammenziehen. Und dann werden sie versuchen, auf grausame, barbarische Weise neue Teufel zu erschaffen.«
»Dramatisch wie immer«, bemerkte Dante trocken.
»Mit dem Opferritual wollen sie die Massen aufputschen. Und Lance muss dafür sein Leben lassen. Er wird sterben!« Jetzt wurde es mir erst wirklich bewusst.
»Das Ganze ist also so eine Art Einstimmungsparty«, murmelte Dante.
»Fuck«, knurrte River und reckte den Zeigefinger in die Luft. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen. »Scheiße nochmal.«
»River!«, mahnte Drew mit strenger Stimme. Aber ich freute mich über ihre Unverblümtheit, solche Worte hatte ich jetzt gebraucht. Wenigstens schienen die anderen genauso entsetzt zu sein wie ich.
»Nein, sie hat ja recht«, bemerkte Emma.
Jetzt redeten alle durcheinander, wir hatten so viele Fragen: Was sollen wir machen? Wie können wir sie aufhalten?
»Also, wenn im Moment keins der Portale offen ist …«, begann Dante.
»Genau«, antwortete Lucian.
»Das ist es«, verkündete ich mit fester Stimme. »Wir werden auf dieser Party mal vorbeischauen. Wer ist dabei?«, fragte ich in die Runde. Die anderen sahen einander an und schauten dann zu mir herüber. Ich brauchte sie alle. Ein Nein gab es nicht.