Einleitung
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Art, wie in Europa Milch, Fleisch, Eier, Getreide und Gemüse erzeugt werden, fundamental verändert. Das neue landwirtschaftliche System – moderne Landwirtschaft nennen es die einen, Agroindustrie die anderen – beruht auf den Prinzipien der Industrie: Intensivierung und Technisierung
1
, Spezialisierung und Standardisierung. Immer geht es dabei um Leistungssteigerung durch Effizienz.
Dieses neue System hat beinahe überall in Europa die kleinen Bauernhöfe verdrängt – Strukturwandel nennen das
die einen, unvermeidlich und unumkehrbar, Höfesterben nen
nen es die anderen. Es ist die Einlösung des Versprechens: Nie wieder Hunger! Wir bekommen euch satt! Dafür hat die Landwirtschaft den Turbo eingelegt.
Die Profiteure dieser Entwicklung erzählen die Agrargeschichte der letzten Jahrzehnte gerne als beispiellose Erfolgs
story. Sie halten eine Laudatio auf den technischen Fortschritt und preisen die wundersame Produktivitätssteigerung der Landwirte. Das System gilt ihnen als alternativlos, weil wir Konsumenten unsere Lebensmittel so billig wie möglich haben
wollen. Weil es die deutschen Landwirte weltmarktfähig macht.
Und weil bald acht, neun oder sogar zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben werden, die ernährt werden müssen.
Wenn Tierfreunde und Naturschützer gegen Intensivtier
haltung demonstrieren und eine Agrarwende fordern, lächeln sie mitleidig. »Das ist ja süß, was ihr da fordert! Aber damit kann man die Welt nicht ernähren! Wenn alle Bio machen würden, gäbe es nicht mal in Deutschland genug zu essen.« Und dann zücken die Agrarindustriellen ihre größte Waffe: die Effizienz.
Sie behaupten: Die moderne weltmarktfähige Landwirtschaft sei so effizient, dass wir nicht auf sie verzichten können. Mit Methoden, die sich an der Industrie orientieren, produziere sie immer mehr Milch, Fleisch und Eier in immer weniger Zeit.
1950 ernährte ein Landwirt noch zehn Menschen, heute sind es einhundertvierzig.
2
1950 gaben gute Milchkühe 4 000 Kilogramm Milch pro Jahr, heute sind es im Durchschnitt über 8 000.
3
Das ist ein gewaltiger Fortschritt, der nur durch beeindruckende Effizienzsteigerungen erreicht wurde. Und die Landwirte sind stolz darauf: Sie produzieren mehr als jemals zuvor und sind gleichzeitig der harten körperlichen Arbeit, die die Landwirtschaft über Jahrhunderte prägte, entkommen. Keine Schwielen mehr an den Händen, keine Rückenschmerzen mehr. Das ist die Faszination der Effizienz: das Versprechen, der Maloche zu entgehen und trotzdem erfolgreich zu sein.
Dass diese Art von Landwirtschaft nicht der Erhöhung der
Biodiversität dient und dass Tiere darin nicht gehalten werden wie im Streichelzoo, versteht sich von selbst. Das aber scheint der Preis dafür zu sein, dass die moderne Landwirtschaft Millionen Menschen mit günstigen und sicheren Lebensmitteln versorgen kann. Dazu muss es wohl nicht idyllisch, sondern effizient zugehen.
Die Geschichte hat nur einen Haken. Sie stimmt nicht.
Die Effizienz ist das Ergebnis einer falschen Rechnung. Die Hochleistungslandwirtschaft, die seit Jahrzehnten von einflussreichen Lobbyisten propagiert und politisch gefördert wird, ist gleichzeitig eine Verschwendungswirtschaft, die mehr Ressourcen verbraucht, als sie an Werten schafft.
Sie erzeugt Milchkühe, um sie zu töten, bevor sie ihre beste Zeit erreicht haben, weil sie nicht schnell genug wieder tra
gend werden. Sie brütet jährlich rund vierzig Millionen Küken
aus, um sie sofort nach dem Schlüpfen zu töten, weil sie als
Brüder der Legehennen keinen ökonomischen Nutzen bringen.
Sie züchtet Sauen, die mehr Ferkel gebären, als sie aufziehen
können. Die Tiere, die sie produziert, gleichen gedopten Hoch
leistungssportlern. In ihrer natürlichen Umgebung sind sie oft nicht mehr lebensfähig. Eine Art Evolution rückwärts.
Survival of the unfittest
. (Darunter leiden vor allem die Biobauern: Es fehlt ihnen an leistungsfähigen und robusten Rassen.)
Aber diese Art der Hightechtierproduktion hat sich durch
gesetzt: Seit Jahrzehnten hält das Höfesterben an. Die meisten
kleinen Höfe, die gegen den Trend zur Industrialisierung weiter gewirtschaftet haben, sind ruiniert. Mit ihrem Untergang geht wertvolles traditionelles Wissen verloren. Alte widerstandsfähige Nutzviehrassen sterben aus, sortenfeste Ge
müse
sorten – also solche, die man nach der Ernte neu aussähen kann, über Zehntausende von Jahren der natürlichste Vor
gang der Welt – gehen verloren. Und die Agrarunternehmer, die weitermachen, bauen immer größere Ställe mit immer mehr Tieren, die immer schneller fett und immer früher geschlachtet werden.
Ein kollektiver Wettlauf in die falsche Richtung.
Das alles ist nur der Anfang einer Produktionskette, deren Prinzip das Wegwerfen bleibt: Alles, was nicht in die Han
delsklassen passt, sortieren Verarbeiter und Händler aus. Und
am Ende der Kette stehen die Konsumenten, die jedes achte gekaufte Lebensmittel in den Müll werfen.
Die moderne Land- und Ernährungswirtschaft gibt sich den Anschein, ökonomisch sinnvoll zu handeln – und ist dabei eine gigantische Ressourcenvernichtungsmaschine.
»Der Wirkungsgrad der sogenannten modernen Landwirtschaft ist ähnlich schlecht wie der eines Kohlekraftwerks«, sagt Dr. Thomas Griese, grüner Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Agrarministerium.
»Über Jahrtausende hinweg kannte die Landwirtschaft keinen Abfall«, sagt Onno Poppinga, ehemals Professor für ökologische Agrarwissenschaft an der Uni Kassel-Witzenhausen und Rinderzüchter. Die alte Landwirtschaft kannte Stoffkreisläufe. Es gab Mist, aber keinen Müll. Das ist ein Unterschied.
Etwa zehntausend Jahre lang haben die Menschen eine solare Landwirtschaft betrieben, die weder Energieinput von außen brauchte noch Abfälle produzierte.
Dann fanden die Chemiker Haber und Bosch heraus, wie man Stickstoff aus der Luft gewinnen und zu Kunstdünger verarbeiten kann. Damit begann die große Energieverschwendung der Landwirtschaft, die bis zum heutigen Tag anhält. Längst sind die Böden so überdüngt, dass überall dort, wo zu viele Tiere gehalten werden, Stickstoff ins Grundwasser sickert.
Die Agrarindustrie hat sich ihre ungeheuren Produktivitätssteigerungen durch einen ineffizienten Umgang mit Ressourcen erschlichen – dort, wo keiner hinguckt.
Heute ist die Agrar- und Ernährungswirtschaft ebenso globalisiert wie der Rest der Wirtschaft. Ihre Transportketten schlingen sich – klimaschädlich und ressourcenfressend – um den Globus: Wir kaufen Futter aus Südamerika für Schweine im Emsland, deren Schinken nach Asien exportiert werden, während Hühner aus Thailand in Europa zu Fertiggerichten verarbeitet werden. Und so weiter, hin und her. Dieses System senkt bizarrerweise die Preise für Lebensmittel im Supermarkt, während es gleichzeitig Energie und Ressourcen verschleudert.
Dieses Buch handelt von jungen Kühen, die ausrangiert werden, von Kälbern, Küken und Ferkeln, die erzeugt werden, obwohl sie keiner braucht. Es erzählt, wie ein kleines Bullenkalb aus dem System gerettet wird und wie es für alle besser gehen könnte.