Buch

Auf einem Hausboot in London wird die Leiche eines brutal ermordeten jungen Mannes gefunden. Besonders drei Frauen geraten danach ins Visier der Ermittlungen.

Laura, die aufgewühlt wirkende junge Frau, die nach einem One-Night-Stand mit dem Opfer zuletzt am Tatort gesehen wurde. Carla, die Tante des Opfers, bereits in tiefer Trauer, weil sie nur Wochen zuvor eine Angehörige verlor. Und Miriam, die neugierige Nachbarin, die als Erste auf die blutige Leiche stieß und etwas vor der Polizei zu verbergen scheint.

Drei Frauen, die einander kaum kennen, mit ganz unterschiedlichen Beziehungen zum Opfer. Drei Frauen, die aus verschiedenen Gründen zutiefst verbittert sind. Die auf unterschiedliche Weise Vergeltung suchen für das ihnen angetane Unrecht. Wenn es um Rache geht, sind selbst gute Menschen zu schrecklichen Taten fähig. Wie weit würde jede Einzelne von ihnen gehen, um Frieden zu finden? Wie lange können Geheimnisse im Verborgenen schwelen, bevor sie in Flammen aufgehen?

Autorin

Paula Hawkins arbeitete fünfzehn Jahre lang als Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Sie wuchs in Simbabwe auf, 1989 zog sie nach London, wo sie bis heute lebt. Ihr erster Spannungsroman »Girl on the Train« wurde zu einem internationalen Phänomen und verkaufte sich weltweit 23 Millionen Mal. Der Roman wurde in über 40 Sprachen übersetzt, führte weltweit die Bestsellerlisten an, wurde mit Emily Blunt in der Hauptrolle verfilmt und war ein großer Kinoerfolg. Auch Paula Hawkins’ zweiter Roman »Into the Water« eroberte weltweit die Bestsellerlisten. Mit »Wer das Feuer entfacht« erscheint ihr lang erwarteter dritter Spannungsroman.

Entdecken Sie die fesselnden Spannungsromane von Paula Hawkins:

Girl on the Train – Du kennst sie nicht. Aber sie kennt dich.

Into the Water – Traue keinem. Auch nicht dir selbst.

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Paula Hawkins

Wer das Feuer
entfacht

Keine Tat ist je vergessen

Roman

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »A Slow Fire Burning« bei Transworld Publishers, London.


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Copyright der Originalausgabe © Paula Hawkins, 2021

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Penguin Random House UK

Umschlagdesign: Richard Ogle/TW

Umschlagmotive: Getty Images (Jasmin Merdan/Moment; Igor Ustynskyy/Moment; Henrik Sorensen/DigitalVision; Claudia Burlotti/The Image Bank)

Karte: © Liane Payne

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28120-5
V003

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist dem Andenken an Liz Hohenadel Scott gewidmet, die mit ihrem Strahlen die Welt zu einem wärmeren Ort machte.

Sie wird uns fehlen.

»manche sind dazu bestimmt, Aasvögel zu sein, & andere, umkreist zu werden.«

Emily Skaja, My History As

Blutbesudelt taumelt das Mädchen in die Schwärze. Ihre Kleidung ist zerrissen, hängt ihr in Fetzen vom Leib und entblößt blasse Haut. Einen Schuh hat sie verloren, der Fuß blutet. Alles tut weh, doch der Schmerz hat jede Bedeutung verloren, ist überblendet von tieferem Leid.

Ihr Gesicht ist eine Maske des Grauens, ihr Herz eine Trommel, ihr Atem das Hecheln eines Fuchses, der in sein Versteck gehetzt ist.

Die nächtliche Stille wird von einem leisen Dröhnen durchbrochen. Ein Flugzeug? Das Mädchen wischt sich Blut aus den Augen, schaut zum Himmel und sieht nichts als Sterne.

Das Dröhnen wird lauter, tiefer. Ein Auto, das den Gang wechselt? Hat sie es zur Hauptstraße geschafft? Ihr wird leichter ums Herz, und irgendwoher nimmt sie Kraft loszurennen.

Das Licht in ihrem Rücken spürt sie eher, als dass sie es sieht. Sie spürt, wie ihr Körper inmitten der Schwärze von hinten angestrahlt wird, aus Richtung der Farm. Sie dreht sich um.

Sie weiß, ehe sie ihn sieht, dass er sie entdeckt hat. Sie weiß, ehe sie ihn sieht, dass es sein Gesicht hinter dem Lenkrad ist. Sie erstarrt. Eine Sekunde zögert sie, dann verlässt sie die Straße, rennt um ihr Leben, durch einen Graben, über einen Holzzaun. Sie taumelt in das Feld dahinter, rennt blindlings weiter, stürzt, rappelt sich wieder hoch, alles ohne einen Mucks. Was würde Schreien schon helfen?

Als er sie einholt, packt er ihr Haar und zerrt sie zu Boden. Sie kann seinen Atem riechen. Sie weiß, was er ihr gleich antut. Sie weiß, was kommt, sie hat es ihn bereits tun sehen, sie hat gesehen, was er ihrer Freundin angetan hat, wie brutal er …

»Herr im Himmel«, murmelte Irene, schlug das Buch zu und warf es auf den Haufen für den Wohltätigkeitsbuchladen. »Was für ein Stuss.«

1

In Lauras Kopf meldete sich Deidre zu Wort: Dein Problem ist, dass du die falschen Entscheidungen fällst.

Fuck, du hast so was von recht, Deidre. Nicht dass Laura so etwas je sagen oder auch nur denken würde, aber die Deidre aus ihrer Vorstellung hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Schließlich stand Laura gerade schlotternd in ihrem Bad, und Blut pulsierte heiß aus der Schnittwunde in ihrem Arm. Sie beugte sich vor und lehnte die Stirn gegen den Spiegel, damit sie sich nicht länger in die Augen sehen musste, allerdings war nach unten zu schauen noch schlimmer, weil sie da sehen konnte, wie das Blut floss, und davon wurde ihr schummrig und übel, als müsste sie sich jeden Moment übergeben. So viel Blut. Der Schnitt war tiefer als gedacht. Sie sollte in die Notaufnahme fahren. Auf keinen Fall würde sie in die Notaufnahme fahren. Falsche Entscheidungen.

Als die Blutung endlich nachzugeben schien, zog Laura ihr T-Shirt aus und ließ es auf den Boden fallen, sie stieg aus Jeans und Slip, wand sich aus ihrem BH, atmete scharf ein, als der BH-Verschluss über den Schnitt kratzte, und zischte: »Mist, Mist verfluchter Mist!«

Sie warf auch den BH zu Boden und stieg in die Badewanne, drehte die Dusche auf und stand bibbernd unter dem kümmerlichen Rinnsal von brühend heißem Wasser (in ihrer Dusche hatte sie nur die Wahl zwischen brühend heiß und eiskalt). Immer wieder fuhr sie mit den verschrumpelten Fingerspitzen über die knochenweißen, wunderschönen Narben: Hüfte, Schenkel, Hinterkopf. Schau dich an, sagte sie leise, schau dich an.

Mit dem halbherzig in mehrere Rollen Klopapier gewickelten Unterarm und einem fadenscheinigen Badetuch um den Leib setzte Laura sich hinterher auf das hässliche graue Kunstledersofa in ihrem Wohnzimmer und rief ihre Mutter an. Die Mailbox sprang an, und sie legte auf. Wozu Guthaben verschwenden? Als Nächstes rief sie ihren Vater an. »Alles im Lot, Hase?« Sie konnte Geräusche im Hintergrund hören, das Radio. BBC 5 Live, der Nachrichtensender.

»Dad.« Sie hatte einen Kloß im Hals und schluckte.

»Was gibt’s?«

»Dad, kannst du vorbeikommen? Ich … Ich hab eine schlimme Nacht hinter mir, ich hab mich gefragt, ob du kurz vorbeikommen könntest. Ich weiß, es ist eine ziemliche Fahrerei, aber ich …«

»Nein, Philip.« Deidre, die im Hintergrund durch die zusammengebissenen Zähne zischte. »Wir sind heute beim Bridge.«

»Dad? Kannst du den Lautsprecher ausschalten?«

»Liebes, ich …«

»Im Ernst, kannst du den Lautsprecher ausschalten? Ich will ihre Stimme nicht hören, sonst muss ich sofort irgendwas abfackeln …«

»Jetzt komm schon, Laura …«

»Vergiss es, Dad, ist schon gut.«

»Ganz bestimmt?«

Nein nein nein verfluchte Scheiße nein. »Ja, sicher. Es geht schon. Es wird schon gehen.«

Auf dem Weg ins Schlafzimmer trat sie auf ihre Jacke, die sie im Flur fallen gelassen hatte, weil sie es so eilig gehabt hatte, ins Bad zu kommen. Sie hob sie auf. Der Ärmel war zerrissen, Daniels Uhr steckte noch in der Tasche. Sie holte die Uhr heraus, drehte sie um, streifte sie sich übers Handgelenk. Das Toilettenpapier um ihren Unterarm erblühte scharlachrot, erneut pulsierte das Blut sanft pochend aus ihr heraus. Ihr wurde schwindlig. Im Bad ließ sie die Uhr ins Waschbecken fallen, riss den Papierverband ab, ließ das Handtuch auf den Boden rutschen. Stieg wieder unter die Dusche.

Sie kratzte sich mit einer Schere die Fingernägel sauber und schaute zu, wie das Wasser rosa über ihre Füße floss. Sie schloss die Augen. Sie hörte Daniels Stimme – Was stimmt nicht mit dir? – und Deidres Stimme – Nein, Philip, wir sind heute beim Bridge – und ihre eigene: Irgendwas abfackeln. Abfackeln abfackeln abfackeln.

2

Jeden zweiten Sonntag leerte Miriam die Toilette. Dazu musste sie den (immer wieder überraschend und unangenehm schweren) Tank aus der kleinen Bordtoilette im Heck heben, ihn durch die Kabine und vom Boot auf den Uferweg tragen und von dort gute hundert Meter zu den Waschräumen, wo der Inhalt in die Entsorgungsstation gekippt und weggespült wurde und der Tank ausgewaschen werden musste, um Rückstände zu entfernen. Einer der weniger idyllischen Aspekte des Lebens auf einem Kanalboot und eine Aufgabe, die sie lieber in aller Frühe erledigte, wenn sonst niemand unterwegs war. So würdelos, die eigene Scheiße zwischen Spaziergängern, Hundebesitzern und Joggern rumschippern zu müssen.

Draußen auf dem Achterdeck vergewisserte sie sich, dass der Weg frei war – dass keine Hindernisse lauerten, Fahrräder oder Flaschen (Menschen konnten extrem asozial sein, vor allem am späten Samstagabend). Es war ein strahlender Morgen, kalt für März, wenngleich ein paar weiße Knospen an frisch glänzenden Platanen- und Birkenzweigen schon einen Hauch Frühling verbreiteten.

Kalt für März, und trotzdem stand die Kabinentür des Kanalboots nebenan offen, wie schon am Vorabend. Das war ungewöhnlich. Aber wie es sich traf, hatte sie mit dem jungen Mann, der auf dem Nachbarboot wohnte, ohnehin über die zulässige Liegedauer sprechen wollen: Er beanspruchte seinen Liegeplatz inzwischen seit sechzehn Tagen, zwei Tage länger als erlaubt, und sie hatte sich vorgenommen, ihm klarzumachen, dass es für ihn Zeit wurde abzulegen, auch wenn das eigentlich nicht ihr Job, nicht ihre Pflicht war, andererseits gehörte sie – im Gegensatz zu den meisten hier – zum Inventar, und damit ging ein besonderes Verantwortungsgefühl einher.

So erzählte Miriam es jedenfalls DI Barker, als der sie später fragte: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen nachzusehen? Der Detective Inspector saß ihr mit hängenden Schultern und rundem Rücken direkt gegenüber. Fast berührten sich ihre Knie. Ein Kanalboot war für große Männer nicht gemacht, und Barker war ein ausgesprochen großer Mann mit einem Kopf wie eine Billardkugel und einem verstörten Gesichtsausdruck, so als hätte er geplant, den Tag ganz anders zu verbringen, mit etwas Lustigem, mit seinen Kindern im Park zum Beispiel, statt jetzt hier mit ihr zu sitzen, und als wäre er darüber nicht glücklich.

»Haben Sie irgendwas angefasst?«, fragte er.

Hatte sie? Irgendwas angefasst? Miriam schloss die Augen. Sie sah vor sich, wie sie ungeduldig gegen das Fenster des blau-weißen Bootes klopfte. Wie sie auf eine Reaktion, eine Stimme, ein Zucken des Vorhangs wartete. Wie sie sich bückte, als keine Reaktion kam, und wie ihr Versuch, in die Kabine zu schauen, an der Gardine und einer bestimmt jahrzehntealten Schicht aus Stadt- und Flussschmutz scheiterte. Wie sie noch einmal klopfte und dann, nach ein paar Sekunden, hinten aufs Achterdeck stieg. Hallo? Jemand zu Hause?

Sie sah sich selbst, wie sie an der Kabinentür zog, ganz sachte nur, und wie ihr eine Duftschwade in die Nase wehte, der Geruch von Eisen, Fleisch und Hunger. Hallo? Wie sie die Tür ganz aufzog und die Stufen in die Kabine hinunterstieg und ihr das letzte Hallo im Hals stecken blieb, als sie alles vor sich sah: den auf dem Boden liegenden Jungen – nein, keinen Jungen, einen jungen Mann –, das viele Blut, das breite Lächeln, das man ihm in die Kehle geschlitzt hatte.

Sie sah sich selbst schwanken, die Hand vor den Mund pressen und einen schwindelerregenden Augenblick lang vorwärtskippen, bis sie mit der Hand an der Theke Halt fand. O Gott.

»Ich habe die Theke angefasst«, erklärte sie dem Detective. »Ich glaube, ich habe mich an der Theke festgehalten, gleich vorn links, wenn man in die Kabine kommt. Ich habe ihn gesehen und dachte … Also, ich … Mir wurde übel.« Sie wurde rot. »Aber übergeben hab ich mich nicht, da noch nicht. Draußen … Es tut mir leid, ich …«

»Nicht so schlimm.« Barker sah ihr immer noch in die Augen. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Was haben Sie dann gemacht? Sie haben die Leiche gesehen, sich an der Theke festgehalten …?«

Der Gestank war ihr in die Nase gestiegen. Unter dem Blut, all diesem Blut hatte sie noch etwas gerochen, etwas Älteres, süßlich und faulig, wie Lilien, die zu lange in der Vase standen. Dieser Geruch, gepaart mit seinem Anblick, dem unmöglich zu widerstehen war, dem schönen, toten Gesicht, den langen Wimpern um die glasigen Augen, den vollen Lippen über den ebenmäßigen weißen Zähnen … Rumpf, Hände und Arme waren blutüberströmt, die Fingerspitzen in den Boden gekrallt. Als hätte er sich noch festhalten wollen. Sie wollte sich gerade umdrehen und gehen, als ihr Blick am Boden hängen blieb, an einem Fremdkörper – an einem silbernen Aufblitzen, halb eingesunken in klebrigem, fast schwarzem Blut.

Nach Luft schnappend und würgend stolperte sie aus der Kabine. Sie erbrach sich auf den Uferweg, wischte sich den Mund ab und schrie: »Hilfe! Polizei!«, aber es war Sonntagmorgen, kaum halb acht und niemand unterwegs. Der Uferweg war verwaist, selbst die Straße oben war still, nichts war zu hören außer dem Brummen des Generators und dem Gezeter einiger langsam vorbeischwimmender Sumpfhühner. Sie sah zur Kanalbrücke hoch und meinte dort jemanden zu sehen, nur ganz kurz, doch schon im nächsten Moment war niemand mehr da, sie war wieder allein und erfüllt von lähmender Angst.

»Ich bin wieder raus«, erzählte Miriam dem Detective. »Ich bin sofort runter vom Boot und … hab die Polizei gerufen. Ich habe mich übergeben, dann bin ich zu meinem Boot gelaufen und habe die Polizei gerufen.«

»Okay. Okay.«

Sie hob den Blick. Er sah sich um, begutachtete die winzige, aufgeräumte Kabine, die Bücher über dem Spülbecken (Das One Pot Kochbuch, Gemüse neu entdeckt), die Kräuter auf der Fensterbank, Basilikum und Koriander in Plastiktöpfen, den halb verholzten Rosmarin im rot glasierten Übertopf. Sein Blick wanderte über das mit Taschenbüchern vollgestopfte Regal, über das staubige Einblatt und das gerahmte Foto eines wenig ansehnlichen Paares mit einem grobknochigen Kind in der Mitte. »Sie leben allein hier?«, fragte er, auch wenn es nicht wirklich nach Frage klang. Sie konnte ihm ansehen, was er dachte. Alte Vettel, Baumschmuserin, Sauerteigzüchterin, Nachbarschaftsspitzel. Die in alles ihre Nase reinsteckt. Miriam wusste, was ihre Mitmenschen von ihr hielten.

»Kennen Sie … Haben Sie engeren Kontakt zu Ihren … Nachbarn? Kann man da von Nachbarn sprechen? Eigentlich nicht, wenn sie immer nur ein paar Wochen hier sind, oder?«

Miriam zuckte mit den Schultern. »Manche kommen regelmäßig, sie haben ihre Lieblingsstrecken, Flussabschnitte, die sie besonders gern befahren, manche lernt man also durchaus kennen. Wenn man das möchte. Man kann aber auch für sich bleiben, wenn einem das lieber ist … so wie mir.«

Der Detective sagte nichts, sondern sah sie nur mit leerem Blick an. Er versuchte eindeutig, sich ein Urteil über sie zu bilden, und hinterfragte ihre Antworten, glaubte nicht unbedingt, was sie ihm erzählte.

»Was ist mit ihm? Mit dem Mann, den Sie heute Morgen gefunden haben?«

Miriam schüttelte den Kopf. »Den hab ich nicht gekannt. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, wir haben … Also, man kann nicht sagen, dass wir miteinander geredet hätten. Ich hab Hallo gesagt oder ihm einen guten Morgen oder so gewünscht, und er hat geantwortet. Das war’s.«

(Nicht ganz: Es stimmte, dass sie ihn nur ein paarmal gesehen hatte, seit er hier festgemacht hatte, und dass sie ihn sofort als Amateur eingestuft hatte. Das Schiff war ein Wrack – der Lack blättrig, die Türstürze rostig, der Schornstein windschief –, während er selbst viel zu adrett aussah für jemanden, der auf dem Kanal lebte. Saubere Kleidung, weiße Zähne, keine Piercings, keine Tattoos. Jedenfalls keine sichtbaren. Ein gut aussehender junger Mann, recht groß, dunkelhaarig, dunkeläugig, das Gesicht ebenmäßig und kantig. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihm einen guten Morgen gewünscht, und als er lächelnd zu ihr hochgesehen hatte, hatten sich ihr die Nackenhaare aufgestellt.

Das war ihr damals aufgefallen. Nicht dass sie es dem Detective erzählen würde. Als ich ihn das erste Mal sah, hatte ich gleich ein komisches Gefühl … Er würde sie nur für verschroben halten. Auf jeden Fall war ihr im Nachhinein klar, was es gewesen war, was sie damals gespürt hatte: keine Vorahnung oder etwas ähnlich Lächerliches, sondern ein Erkennen.

Es war die Gelegenheit. Genau das hatte sie damals gedacht, sobald sie begriffen hatte, wer dieser Junge war, nur hatte sie nicht gewusst, wie sie die Gelegenheit am geschicktesten nutzen sollte. Jetzt, da er tot war, schien es fast, als wäre alles vorherbestimmt gewesen. Ein glücklicher Zufall.)

»Mrs. Lewis?« Detective Barker wollte irgendetwas von ihr wissen.

»Miss«, stellte Miriam richtig.

Er schloss kurz die Augen. »Miss Lewis … Können Sie sich erinnern, ob Sie ihn mit jemand anderem gesehen haben? Hat er vielleicht mit jemandem geredet?«

Sie zögerte und nickte dann. »Er hatte Besuch. Vielleicht ein paarmal … Vielleicht hatte er noch anderen Besuch, aber ich hab nur die eine Frau gesehen. Älter als er, eher in meinem Alter, vielleicht Mitte fünfzig? Silbergraues Haar, ganz kurz geschnitten. Eine dünne Frau, ziemlich groß, wenn Sie mich fragen, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig, kantiges Gesicht …«

Barker zog eine Braue hoch. »Sie konnten sie so genau sehen?«

Miriam zuckte erneut mit den Schultern. »Schon … Ich bin eine gute Beobachterin. Ich halte die Augen offen.« Warum sollte sie ihn nicht in seinen Vorurteilen bestätigen? »Aber sie wäre auch jedem anderen aufgefallen. Sie war nicht zu übersehen: der Haarschnitt, die Kleider … Sie sah teuer aus.«

Der Detective schrieb sich alles auf, und Miriam war sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis er genau wüsste, von wem sie sprach.

Nachdem der Detective gegangen war, sperrte die Polizei den Uferweg zwischen De Beauvoir und Shepperton und verlegte alle Boote bis auf das des Toten – den Tatort – und ihres. Erst hatte man auch sie wegschicken wollen, aber sie hatte klargestellt, dass sie nirgendwo hinkonnte; wo wollte man sie denn unterbringen? Der sommersprossige junge Polizist mit Piepsstimme, mit dem sie sprach, reagierte verunsichert auf die Verlagerung der Verantwortung von ihren Schultern auf seine, er sah zum Himmel und dann runter ins Wasser, den Kanal auf und ab und schließlich wieder zu ihr, dieser kleinen, dicken, harmlosen Frau mittleren Alters, und gab sich geschlagen. Er hielt über Funk Rücksprache und erklärte ihr dann, dass sie bleiben könne. »Sie dürfen aber nur bis zu Ihrer … ähm … Wohnung gehen«, sagte er, »nicht weiter.«

Am Nachmittag saß Miriam auf dem Achterdeck im fahlen Sonnenschein und genoss die ungewohnte Stille auf dem abgesperrten Kanal. Mit einer Decke über den Schultern und einem Becher Tee neben sich sah sie den Polizisten und Kriminaltechnikern zu, wie sie hin und her eilten, mit Hunden anrückten und Booten, den Uferweg und das Gebüsch absuchten und im trüben Wasser stocherten.

Sie fühlte sich eigenartig ausgeglichen, wenn man bedachte, was für ein Tag hinter ihr lag, und beinahe optimistisch bei der Aussicht auf all das, was sich ihr jetzt eröffnete. In der Tasche ihrer Strickjacke tastete sie über den kleinen, immer noch blutverklebten Schlüssel mit Anhänger, den sie vom Bootsboden aufgehoben hatte – den Schlüssel, dessen Existenz sie dem Detective verheimlicht hatte, ohne genau zu überlegen, warum.

Es war der reine Instinkt gewesen.

Sie hatte ihn neben dem Leichnam des Jungen funkeln sehen – einen Schlüssel. An einem kleinen hölzernen Schlüsselanhänger in Form eines Vogels. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, sie hatte ihn am Bund der Jeans hängen sehen, die Laura vom Waschsalon immer trug – die irre Laura, wie sie genannt wurde. Miriam fand sie eigentlich ganz nett und ganz und gar nicht irre. Laura, die – beschwipst, vermutete Miriam – am Arm dieses schönen Jungen an Bord des schäbigen Kahns gewankt war. Vor zwei Nächten? Oder drei? Es stand in ihrem Notizbuch – wer kam und ging, zählte zu den Dingen, die sie sich notierte, sobald ihr etwas auffiel.

In der Abenddämmerung trugen sie die Leiche aus dem Boot: die Treppe hinauf und auf die Straße, wo schon ein Krankenwagen wartete. Aus Respekt stand Miriam auf, als sie an ihr vorbeigingen, schlug den Blick nieder und sprach ein stilles, ungläubiges Geh mit Gott.

Danach flüsterte sie ein Danke. Denn indem er sein Boot neben ihrem vertäut und sich brutal hatte ermorden lassen, hatte Daniel Sutherland ihr eine Möglichkeit eröffnet, die sie sich auf keinen Fall entgehen lassen konnte: die Möglichkeit, das Unrecht zu rächen, das ihr angetan worden war.

Allein und wider Erwarten leicht verängstigt angesichts der Dunkelheit und ungewohnten Stille zog sie sich in ihre Kabine zurück, verriegelte die Tür und sicherte sie zusätzlich mit einem Vorhängeschloss. Sie holte Lauras Schlüssel aus der Tasche und legte ihn in die kleine Holzkiste im obersten Regalfach. Am Donnerstag war Wäschetag. Vielleicht würde sie ihn Laura dann zurückgeben.

Oder auch nicht.

Wer konnte schon wissen, was sich irgendwann als nützlich erweisen würde?

3

»Mrs. Myerson? Möchten Sie sich setzen? So. Atmen Sie tief durch. Sollen wir jemanden für Sie anrufen, Mrs. Myerson?«

Carla sank auf ihr Sofa. Sie klappte nach vorn, presste das Gesicht auf die Knie. Sie winselte wie ein Hund. »Theo«, stieß sie hervor. »Rufen Sie bitte Theo an. Meinen Mann. Meinen Ex-Mann. Die Nummer ist in meinem Handy.« Sie richtete sich auf, suchte das Zimmer ab, konnte das Handy aber nirgends finden. »Ich weiß nicht, wo es liegt, ich weiß nicht, wo ich …«

»In Ihrer Hand, Mrs. Myerson«, erklärte ihr die Detective nachsichtig. »Sie halten es in der Hand.«

Carla sah nach unten. Sie hielt ihr Handy tatsächlich in der heftig zitternden Hand. Kopfschüttelnd reichte sie es der Polizistin. »Ich werde noch verrückt …«

Die Frau verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln und legte die Hand kurz auf Carlas Schulter. Dann ging sie mit dem Handy nach draußen, um zu telefonieren.

Ihr Kollege, DI Barker, räusperte sich. »Soweit wir wissen, ist Daniels Mutter verstorben, stimmt das?«

Carla nickte. »Vor sechs … nein, acht Wochen.« Sie sah, wie die Brauen des Detectives nach oben zuckten, dorthin, wo früher vermutlich sein Haaransatz gewesen war. »Meine Schwester ist gestürzt«, erläuterte Carla, »zu Hause, das war kein … Es war ein Unfall.«

»Und haben Sie eine Adresse oder Telefonnummer von Daniels Vater?«

Carla schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Er lebt in Amerika, schon lange. Er spielt keine Rolle in Daniels Leben, er hat nie eine gespielt. Es gab immer nur …« Carla versagte die Stimme. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Es gab immer nur Angela und Daniel. Und mich.«

Barker nickte. Er stand stocksteif vor dem Kamin und wartete stumm, bis Carla sich wieder gefangen hatte. »Sie leben noch nicht lange hier?«, fragte er nach einer – wie er es wohl einschätzte – angemessen respektvollen Pause. Verwirrt blickte sie zu ihm auf, und er zeigte auf die Kartons auf dem Esszimmerboden und die an der Wand lehnenden Gemälde.

Carla schnäuzte sich laut. »Die Bilder will ich seit fast sechs Jahren aufhängen. Vielleicht komme ich ja eines Tages dazu, Bilderhaken zu besorgen. Die Kartons sind aus dem Haus meiner Schwester. Briefe, Sie wissen schon, Fotos. Dinge, die nicht im Müll landen sollen.«

Barker nickte. Er verschränkte die Arme, verlagerte das Gewicht und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die zuschlagende Haustür kam ihm dazwischen. Carla zuckte zusammen. Seine Kollegin, Detective Constable Chalmers, trippelte ins Zimmer und schlug verlegen den Blick nieder. »Mr. Myerson ist schon unterwegs. Er ist gleich da.«

»Er wohnt nur fünf Minuten von hier«, sagte Carla. »In der Noel Road. Kennen Sie die? In den Sechzigern hat dort Joe Orton gewohnt, der Theaterautor. Dort haben sie ihn auch umgebracht – zu Tode geprügelt, glaube ich, oder haben sie ihn erstochen?«

Die Detectives sahen einander ausdruckslos an.

»Das war wahrscheinlich nicht … sachdienlich.« Einen grauenvollen Moment lang glaubte Carla, sie müsste loslachen. Warum hatte sie das erwähnt? Wieso redete sie von Joe Orton, von Menschen, die zu Tode geprügelt worden waren? Sie wurde wirklich verrückt, doch Barker und Chalmers schienen es nicht zu bemerken, oder es störte sie nicht. Vielleicht verhielten sich alle Menschen wie Geisteskranke, wenn ihnen eröffnet wurde, dass ein Angehöriger ermordet worden war.

»Wann haben Sie Ihren Neffen zuletzt gesehen, Mrs. Myerson?«, wollte Barker wissen.

Bei Carla setzte die Erinnerung aus. »Ich … Jesus, ich hab ihn … in Angelas Haus getroffen, im Haus meiner Schwester. Das ist nicht weit von hier, ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß am anderen Kanalufer, am Hayward’s Place. Ich war dabei, ihre Sachen zu sortieren, und Daniel kam vorbei, um ein paar Dinge zu holen – er hatte schon ewig nicht mehr dort gewohnt, aber in seinem früheren Zimmer lagen noch Sachen von ihm, hauptsächlich Skizzenbücher. Er war künstlerisch begabt. Er hat Comics gezeichnet, ganze Bücher.« Sie erschauderte. »Wann war das noch mal – vor einer Woche? Oder zwei? Gott, ich kann mich nicht mehr erinnern, mein Hirn ist Pudding, ich …« Sie kratzte sich die Kopfhaut, schob die Finger durch die kurz geschnittenen Haare.

»Schon gut, Mrs. Myerson«, sagte Chalmers. »Die Details können wir später klären.«

»Wie lange hatte er denn unten auf dem Kanal gewohnt?«, fragte Barker. »Wissen Sie vielleicht, wann er …«

Der Türklopfer schlug hart an, und Carla schreckte erneut zusammen. »Theo«, hauchte sie und war schon halb aufgestanden. »Gott sei Dank.«

Chalmers war vor Carla an der Tür und ließ den rotgesichtigen, schwitzenden Theo herein.

»Jesus, Cee!« Er schloss Carla fest in die Arme. »Was ist denn passiert, um Himmels willen?«

Die Polizisten gingen ein weiteres Mal alles durch: dass Carlas Neffe Daniel Sutherland am Morgen tot aufgefunden worden sei, auf einem Hausboot, das nahe der De Beauvoir Road auf dem Regent’s Canal festgemacht hatte. Dass jemand mehrfach auf ihn eingestochen habe. Dass er mutmaßlich vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden vor seinem Auffinden getötet worden sei, die Zeitspanne aber im weiteren Verlauf noch eingegrenzt werde. Sie erkundigten sich nach Daniels Arbeitsverhältnis und Freunden, ob sie von Geldproblemen wüssten und ob er Drogen genommen habe.

Sie wussten nichts.

»Sie standen sich nicht sehr nahe?«, mutmaßte Chalmers.

»Ich kannte ihn kaum«, erwiderte Theo. Er saß neben Carla und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Scheitel, so wie immer, wenn er nervös war.

»Mrs. Myerson?«

»Nahe nicht, nein. Nicht … wirklich. Ich hab meine Schwester nicht mehr oft gesehen, wissen Sie …«

»Obwohl sie gleich am anderen Kanalufer gewohnt hat?«, piepste Chalmers dazwischen.

»Nein.« Carla schüttelte den Kopf. »Wir … Mit Daniel hatte ich schon länger nichts mehr zu tun. So gut wie gar nichts mehr. Nicht mehr, seit er ein kleiner Junge war. Wie gesagt, ich hab ihn erst wiedergesehen, als meine Schwester gestorben war. Er hatte ja einige Zeit im Ausland gelebt, in Spanien, glaube ich.«

»Wann ist er auf das Boot gezogen?«, fragte Barker.

Carla presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht.«

»Wir hatten keine Ahnung, dass er dort wohnt«, ergänzte Theo, und Barker sah ihn scharf an.

»Dabei hat er doch in Ihrer Nähe gewohnt? Noel Road, richtig? Wie weit ist das – etwa eine Meile?«

Theo zuckte mit den Achseln und massierte sich die Stirn so fest, dass die Haut unter seinem Haaransatz rosa wurde. Er sah aus, als wäre er in der Sonne gewesen. »Mag sein, trotzdem hatte ich keine Ahnung, dass er dort wohnte.«

Die Detectives wechselten einen Blick. »Mrs. Myerson?« Barker sah sie an.

Carla schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, wiederholte sie leise.

Die Detectives verstummten. Sie schienen abzuwarten, ob Carla noch etwas anfügen wollte – ob sie von sich aus noch etwas sagen wollte. Oder Theo.

Er tat ihnen den Gefallen. »Sie sagten … vierundzwanzig Stunden, richtig? Vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden?«

Chalmers nickte. »Unseren Schätzungen zufolge liegt der Todeszeitpunkt zwischen zwanzig Uhr am Freitagabend und acht Uhr am Samstagmorgen.«

»Oh.« Theo massierte erneut seine Stirn und sah aus dem Fenster.

»Fällt Ihnen dazu etwas ein, Mr. Myerson?«

»Ich hab ein Mädchen gesehen«, sagte Theo, »am Samstagmorgen. Ziemlich früh – vielleicht um sechs? Sie ging draußen auf dem Uferweg an meinem Haus vorbei. Ich war in meinem Arbeitszimmer und kann mich noch daran erinnern, weil sie geblutet hat. Im Gesicht. Auf ihren Sachen war auch Blut, glaube ich – sie war nicht darin gebadet oder so, aber … sie war voller Blut.«

Carla starrte ihn mit offenem Mund an. »Was redest du denn da? Wieso hast du mir das nicht erzählt?«

»Du hast geschlafen. Ich war gerade aufgestanden, ich wollte Kaffee machen und meine Zigaretten aus dem Arbeitszimmer holen. Ich hab sie durchs Fenster gesehen, sie war jung, nicht viel älter als zwanzig, und sie kam den Uferweg entlang. Sie humpelte. Oder torkelte vielleicht? Ich dachte, sie wäre betrunken. Ich … Ich hab mir nichts weiter dabei gedacht, London ist voll von Betrunkenen, oder? Zu dieser Uhrzeit sieht man oft Leute auf dem Heimweg …«

»Blutverschmierte Leute?«, hakte Barker nach.

»Na, das vielleicht nicht … Das mit dem Blut eher nicht. Darum ist sie mir auch im Gedächtnis geblieben. Ich dachte, sie wäre vielleicht gestürzt oder in eine Rauferei geraten. Ich dachte …«

»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte Carla erneut.

»Du hast geschlafen, Cee, ich wusste doch nicht …«

»Mrs. Myerson hat bei Ihnen zu Hause geschlafen?«, fiel Chalmers ihm stirnrunzelnd ins Wort. »Habe ich das richtig verstanden? Sie haben die Nacht bei Mr. Myerson verbracht?«

Carla nickte langsam. Sie wirkte zutiefst verwirrt. »Wir hatten am Freitagabend zusammen gegessen, ich blieb über Nacht …«

»Wir sind zwar getrennt, aber wir verstehen uns immer noch gut, wir haben oft …«

»Das interessiert sie nicht, Theo«, ging Carla scharf dazwischen, und Theo zuckte zusammen. Carla presste sich ein Kleenex unter die Nase. »Verzeihung. Tut mir leid. Aber das ist doch nicht wichtig, oder?«

»Wir wissen nie, was sich später als wichtig erweist«, sagte Barker unergründlich und ging langsam in Richtung Flur. Dort händigte er Visitenkarten aus, sagte zu Theo noch was von offizieller Identifizierung, familiären Verbindungen, dass sie in Kontakt bleiben würden, und Theo nickte, schob die Visitenkarte in seine Hosentasche und gab dem Detective die Hand.

»Woher wussten Sie, dass er tot war?«, fragte Carla unvermittelt. »Ich meine, wer hat … Wer hat die Polizei alarmiert? Wer hat ihn gefunden?«

Chalmers sah erst ihren Vorgesetzten, dann wieder Carla an. »Eine Frau.«

»Eine Frau?«, fragte Theo. »Eine Freundin? War sie jung? Schlank? Ich denke gerade wieder an diese Frau, die ich gesehen habe, die mit dem Blut, vielleicht hat sie …«

Chalmers schüttelte den Kopf. »Nein, es war eine Nachbarin von einem anderen Kanalboot, keine junge Frau, eher mittleren Alters, würde ich sagen. Ihr war aufgefallen, dass das Boot schon länger nicht mehr bewegt worden war, darum wollte sie nach ihm sehen.«

»Sie hat also nichts mitbekommen?«, fragte Theo.

»Tatsächlich hat sie uns sehr geholfen«, sagte Barker. »Eine hervorragende Beobachterin.«

»Gut.« Theo massierte sich wieder den Scheitel. »Sehr gut.«

»Eine gewisse Mrs. Lewis«, ergänzte Barker, und Chalmers korrigierte ihn: »Miss.«

»Richtig«, sagte er, und Carla sah Theo erbleichen, während Barker fortfuhr: »Miss Miriam Lewis.«