Cover

Robert Galbraith

Die Ernte
des Bösen

Roman

Aus dem Englischen von
Wulf Bergner, Christoph Göhler
und Kristof Kurz

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
Career of Evil bei Sphere, An Imprint of Little, Brown Book Group, London.

Copyright © 2015 J.K. Rowling
The moral right of the author has been asserted.

All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious, and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.

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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Vollständige Copyright-Angaben zu den zitierten Songtexten siehe am Ende des Buches
Die ausgewählten Texte von Blue Öyster Cult 1967 – 1994 wurden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Sony/ATV Music Publishing (UK) Ltd.
www.blueoystercult.com
Don’t Fear the Reaper: The Best of Blue Öyster Cult von Sony Music Entertainment Inc.jetzt überall erhältlich, wo es Musik gibt.

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage
Umschlagdesign und Fotografie: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2018
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-18858-0
V004

www.blanvalet.de

Für Séan und Matthew Harris

Ihr könnt mit dieser Widmung machen, was ihr wollt,
aber haltet sie –
unbedingt –
von euren Augenbrauen fern.

I choose to steal what you choose to show
And you know I will not apologize –
You’re mine for the taking.
I’m making a career of evil …

BLUE ÖYSTER CULT, »CAREER OF EVIL«
TEXT VON PATTI SMITH

1

2011

This Ain’t the Summer of Love

Es war ihm nicht gelungen, ihr Blut vollständig zu entfernen. Unter dem Nagel seines linken Mittelfingers zeichnete sich eine dunkle, sichelförmige Linie ab. Er würde sie herausschaben müssen, obwohl ihm der Anblick eigentlich ganz gut gefiel: eine Erinnerung an die Freuden des vergangenen Tages. Nachdem er eine Minute lang vergeblich an dem blutigen Nagel herumgekratzt hatte, steckte er den Finger in den Mund und lutschte daran. Der metallische Geschmack erinnerte ihn an den Geruch der Fontäne, die auf den Fliesenboden und über die Wände gespritzt war, seine Jeans durchnässt und die pfirsichfarbenen, flauschigen, sorgfältig zusammengefalteten Handtücher in blutgetränkte Lumpen verwandelt hatte.

An diesem Morgen erschienen ihm die Farben kräftiger und die Welt ein angenehmerer Ort als sonst. Er war heiter und gelassen. Als hätte er sie absorbiert, ihr Leben in sich aufgesaugt. Wenn man tötete, nahm man seine Opfer ganz in Besitz. Dann stellte sich eine Verbundenheit ein, die selbst durch Sex nicht zu erreichen war. Der Anblick im Moment ihres Todes war von einer Intimität, die zwei lebendige Körper auf anderem Wege nie erfuhren.

Eine gewisse Erregung erfasste ihn, als er sich wieder in Erinnerung rief, dass niemand ahnte, was er getan hatte oder was er als Nächstes plante. Glücklich und in aller Seelenruhe saugte er an seinem Mittelfinger, lehnte sich gegen die von der schwachen Aprilsonne warme Mauer und betrachtete das Haus gegenüber.

Das nicht besonders ansprechend aussah. Gewöhnlich. Zugegeben, dort ließ es sich garantiert besser leben als in der kleinen Wohnung, wo die blutige Kleidung von gestern in schwarzen Müllsäcken darauf wartete, verbrannt zu werden. Wo er seine Messer – gesäubert und auf Hochglanz poliert – hinter dem Abflussrohr der Küchenspüle versteckt hatte.

Um den kleinen Vorgarten des Hauses verlief ein schwarzer Zaun. Der Rasen musste dringend gemäht werden. Die beiden schmalen, direkt nebeneinanderliegenden Eingangstüren ließen darauf schließen, dass das dreistöckige Gebäude inzwischen als Mietshaus für mehrere Parteien diente. Im Erdgeschoss wohnte eine Frau namens Robin Ellacott. Obwohl er gewaltige Anstrengungen unternommen hatte, um ihren Namen in Erfahrung zu bringen, nannte er sie insgeheim immer noch »die Sekretärin«. Gerade war sie am Erkerfenster vorübergegangen. Er hatte sie deutlich an ihrem rotblonden Haar erkannt.

Die Sekretärin zu beobachten war eine nette Dreingabe, ein vergnüglicher Bonus. Er hatte ein paar Stunden zur freien Verfügung gehabt und beschlossen herzufahren und sie zu observieren. Zwischen seiner gestrigen Großtat und der morgigen, zwischen der Befriedigung über das Geleistete und der Vorfreude auf das Kommende war der heutige Tag der Ruhe gewidmet.

Plötzlich öffnete sich die rechte Eingangstür. Die Sekretärin verließ in Begleitung eines Mannes das Haus.

Mit dem Rücken an der warmen Mauer starrte er quer über die Straße zu ihnen hinüber. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, damit es so aussah, als würde er auf einen Bekannten warten. Keiner der beiden würdigte ihn auch nur eines Blicks. Seite an Seite gingen sie die Straße hinauf. Er ließ ihnen eine Minute Vorsprung, dann ging er ihnen nach.

Sie trug Jeans, eine leichte Jacke und Stiefel mit flachen Absätzen. Im Sonnenlicht schimmerte ihr Haar rötlich. Das Pärchen machte einen seltsam reservierten Eindruck. Sie wechselten kein Wort.

Andere Menschen zu durchschauen fiel ihm leicht. So wie er auch das Mädchen, das gestern zwischen den blutdurchtränkten Pfirsichhandtüchern gestorben war, durchschaut und verführt hatte.

Mit den Händen in den Taschen schlenderte er dem Pärchen die lange Wohnstraße hinauf nach, als wäre er zu einem Einkaufsbummel aufgebrochen. Seine Sonnenbrille fiel an diesem hellen Morgen nicht weiter auf. Die Bäume wiegten sich sanft in der leichten Frühlingsbrise. Das Pärchen bog nach links in eine breite, stärker befahrene und von Bürogebäuden gesäumte Durchfahrtsstraße ein. Sonnenlicht spiegelte sich in den Glasfassaden hoch über ihm, als sie am Gebäude der Gemeindeverwaltung von Ealing vorübergingen.

Der adrette junge Mann mit dem edlen Profil – Mitbewohner, Freund oder was immer er sein mochte – sagte irgendwas. Die Sekretärin antwortete kurz angebunden und mit versteinertem Gesichtsausdruck.

Frauen waren dumm, gemein, schmutzig und schwach. Launische Zicken allesamt, die wie selbstverständlich von ihren Männern erwarteten, dass sie jedes ihrer Bedürfnisse befriedigten. Erst wenn sie tot und leer vor einem lagen, waren sie geheimnisvoll, rein und sogar wunderschön. Da erst besaß man sie vollends. Dann konnten sie weder keifen noch sich wehren noch weglaufen. Man konnte mit ihnen machen, was immer man wollte. Der Körper gestern war schwer und schlaff gewesen, nachdem er ihn hatte ausbluten lassen: sein ganz persönliches lebensgroßes Spielzeug.

Er folgte der Sekretärin und ihrem Freund durch das belebte Arcadia-Einkaufszentrum, schwebte hinter ihnen her wie ein Gespenst oder ein göttliches Wesen. Nahmen ihn die Shopper überhaupt zur Kenntnis? Oder hatte er sich verwandelt, hatte ihm die verdoppelte Lebenskraft die Gabe der Unsichtbarkeit verliehen?

Vor einer Bushaltestelle blieben sie stehen. Er hielt sich in ihrer Nähe, tat so, als würde er sich für ein indisches Restaurant interessieren, für das vor einem Supermarkt aufgestapelte Obst und die Pappmasken von Prince William und Kate Middleton in einem Kioskfenster. Insgeheim beobachtete er jedoch das Spiegelbild der beiden in der Schaufensterscheibe.

Sie warteten auf die Linie 83. Er hatte kaum Bargeld bei sich, fühlte sich aber zu wohl in seiner Rolle als Beobachter, um die Observierung jetzt schon zu beenden. Als er hinter ihnen einstieg, hörte er, wie der Mann »Wembley Central« sagte. Er löste eine Fahrkarte bis zu derselben Haltestelle und folgte ihnen aufs Oberdeck des Busses.

Das Pärchen setzte sich direkt in die erste Reihe. Er nahm neben einer mürrischen Frau Platz, die seinetwegen ihre Einkaufstaschen beiseiteschieben musste. Hin und wieder vernahm er ihre Stimmen über dem Gemurmel der anderen Fahrgäste. Wenn die Sekretärin nicht gerade etwas sagte, blickte sie missmutig aus dem Fenster. Ganz offensichtlich hatte sie keine allzu große Lust auf diese Unternehmung. Als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, entdeckte er den Verlobungsring. Sie würde also heiraten … glaubte sie zumindest. Er verbarg sein Lächeln hinter dem hochgeklappten Kragen seiner Jacke.

Die warme Mittagssonne fiel durch die mit Dreckspritzern übersäten Busfenster. Eine Gruppe von Männern stieg ein und belegte die umliegenden Plätze. Ein paar von ihnen trugen rot-schwarze Rugbytrikots.

Mit einem Mal schien es dunkler um ihn herum zu werden. Die Trikots mit dem Halbmond und dem Stern darauf weckten unliebsame Assoziationen an frühere Zeiten, als er sich noch nicht wie ein göttliches Wesen gefühlt hatte. Seine gute Laune war auf einen Schlag dahin, der Freudentag besudelt von alten, schlimmen Erinnerungen. Ein Teenager aus der Gruppe warf ihm einen Blick zu und sah schnell wieder weg; wütend stand er auf und ging zur Treppe.

Unten hielten ein Mann und sein kleiner Sohn die Haltestange zwischen den Bustüren fest umklammert. Der Zorn explodierte regelrecht in seinen Eingeweiden: Er sollte ebenfalls einen Sohn haben. Oder besser: Er sollte immer noch einen Sohn haben. Er stellte sich vor, wie der Junge neben ihm stand, zu seinem großen Vorbild aufsah – aber sein Sohn war lange tot. Und das war einzig und allein die Schuld eines gewissen Cormoran Strike.

Er würde sich an Cormoran Strike rächen. Er würde dessen Welt zum Einsturz bringen.

Nachdem er ausgestiegen war, erhaschte er durch die Frontscheibe des Busses noch einen letzten Blick auf das goldene Haar der Sekretärin. In weniger als vierundzwanzig Stunden würde er sie wiedersehen. Der Gedanke daran linderte die durch den Anblick der Saracens-Trikots heraufbeschworene Wut ein wenig. Der Bus rumpelte davon. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.

Er hatte einen genialen Plan. Niemand wusste davon. Niemand ahnte etwas. Und zu Hause im Kühlschrank wartete etwas ganz Besonderes auf ihn.

2

A rock through a window never comes with a kiss.

Robin Ellacott war sechsundzwanzig Jahre alt und seit mehr als einem Jahr verlobt. Die Hochzeit hätte eigentlich vor drei Monaten stattfinden sollen, doch der unerwartete Tod ihrer zukünftigen Schwiegermutter hatte zu einer Verschiebung der Feier geführt. In der Zwischenzeit war viel geschehen. Sie fragte sich, ob sie und Matthew sich wieder zusammenraufen würden, wenn sie erst einmal ihren Eheschwur abgelegt hätten. Würden sie weniger streiten, wenn neben dem saphirbesetzten Verlobungsring, der mittlerweile ein bisschen zu locker an ihrem Finger saß, ein goldener steckte?

Es war Montagmorgen. Sie kämpfte sich durch den Schutt der Baustellen entlang der Tottenham Court Road und ließ die Auseinandersetzung vom Vorabend noch einmal Revue passieren. Das Ganze hatte begonnen, noch ehe sie zum Rugbyspiel aufgebrochen waren. Wann immer sie Sarah Shadlock und ihren Freund Tom trafen, war dicke Luft vorprogrammiert – eine Tatsache, die Robin während ihres Streits, der nach dem Match entbrannt war und bis in die späte Nacht angedauert hatte, nicht unerwähnt gelassen hatte.

»Himmelherrgott, sie hat doch in einer Tour gestichelt, hast du das nicht gemerkt? Sie hat mich über ihn ausgequetscht. Ich hab nicht von ihm angefangen …«

Die nicht enden wollenden Straßenbauarbeiten entlang der Tottenham Court Road behinderten Robins Weg zur Arbeit seit ihrem ersten Tag bei der kleinen Privatdetektei in der Denmark Street. Dass sie jetzt über einen großen Schuttbrocken stolperte, besserte ihre Laune mitnichten; erst nach ein paar wackligen Schritten erlangte sie das Gleichgewicht zurück. Ein Chor aus anerkennenden Pfiffen und anzüglichen Bemerkungen ertönte aus einer Grube in der Straße, in der sich Bauarbeiter mit Helmen und Warnwesten drängten. Verlegen warf sie das lange, rotblonde Haar zurück und bemühte sich, so gut es ging, die Männer zu ignorieren. Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zu Sarah Shadlock und den unaufhörlichen hinterlistigen Fragen über Robins Chef zurück.

»Auf gewisse Art ist er echt attraktiv, oder nicht? Ein bisschen zerknittert vielleicht, aber mir würde das nichts ausmachen. Ist er im richtigen Leben auch so sexy? Er ist ziemlich groß, oder?«

Robin hatte knapp und nüchtern geantwortet, doch Matthews angespannte Kiefermuskeln waren ihr nicht entgangen.

»Seid ihr eigentlich allein im Büro? Echt? Sonst niemand?«

Schlampe, dachte Robin. Ihr sonst so gutmütiges Naturell war bei Sarah Shadlock von jeher an seine Grenzen gestoßen. Sie wusste ganz genau, was sie da tat.

»Stimmt es, dass er in Afghanistan einen Orden bekommen hat? Wirklich? Ein richtiger Kriegsheld, ja?«

Robin hatte nach Kräften versucht, Sarahs überschwänglichen Lobeshymnen auf Cormoran Strike Einhalt zu gebieten – vergebens. Als das Spiel vorbei war, hatte Matthew für seine Verlobte nur mehr kühle Verachtung übrig gehabt. Seine Verstimmung hatte ihn allerdings nicht daran gehindert, auf dem Rückweg vom Vicarage-Road-Stadion mit Sarah zu lachen und zu scherzen. Tom, den Robin für sterbenslangweilig und etwas schwer von Begriff hielt, hatte munter mitgekichert, ohne den ungemütlichen Unterton auch nur ansatzweise wahrzunehmen.

Unter diversen Remplern von Passanten, die sich ebenfalls um die Löcher in der Straße herumschlängelten, erreichte sie schließlich die andere Straßenseite. Im Schatten des waffelähnlichen Betonklotzes, der den Centre-Point-Bürokomplex beherbergte, fiel ihr wieder ein, was Matthew ihr gegen Mitternacht an den Kopf geworfen und damit erneut Öl ins Feuer gegossen hatte. Und wieder stieg Wut in ihr auf.

»Musst du ständig über ihn reden? Ich hab doch gehört, wie du Sarah …«

»Ich habe überhaupt nicht über ihn geredet, sondern sie. Hättest du zugehört …«

»Ach, er hat so tolle Haare«, hatte Matthew sie mit jener hohen, debil klingenden Stimme nachgeäfft, mit der das weibliche Geschlecht oft diffamiert wurde.

»Du bist doch völlig paranoid!«, hatte Robin ihn angeschrien. »Sarah hat Jacques Burgers verfluchte Haare gemeint, nicht die von Cormoran. Und ich hab nur gesagt, dass …«

»Nicht die von Cormoran«, hatte er mit dieser idiotischen Quietschstimme wiederholt. Als Robin in die Denmark Street einbog, hatte sie wieder genauso viel Wut im Bauch wie vor acht Stunden, als sie aus dem Schlafzimmer gestürmt war und ihr Lager auf dem Sofa aufgeschlagen hatte.

Sarah Shadlock. Diese verdammte Sarah Shadlock, die mit Matthew studiert und alles darangesetzt hatte, um ihn seiner Freundin Robin auszuspannen, die allein in Yorkshire zurückgeblieben war … Am liebsten hätte Robin sie ein für alle Mal aus ihrem Leben verbannt. Doch bedauerlicherweise würde sie zu ihrer Hochzeit im Juli erscheinen und auch danach nicht aufhören, ihnen das Eheleben zu versauern. Wahrscheinlich würde sie eines Tages sogar unter irgendeinem bescheuerten Vorwand in Robins Büro auftauchen, um Strike kennenzulernen. Vorausgesetzt, dass ihr Interesse an ihm echt war und sie ihn nicht nur als Mittel zum Zweck benutzte, um Zwietracht zwischen Robin und Matthew zu säen.

Darauf kann sie lange warten, dachte Robin und marschierte auf einen Motorradkurier zu, der vor der Eingangstür stand. Er trug Handschuhe, hielt ein Klemmbrett in der einen und ein langes, rechteckiges Paket in der anderen Hand.

»Ist das für Ellacott?«, fragte Robin, sowie sie sich in Hörweite befand. Sie erwartete einen ganzen Schwung mit elfenbeinfarbenem Karton verkleideter Einwegkameras, die bei der Hochzeit verteilt werden sollten. In letzter Zeit waren ihre Arbeitszeiten so unregelmäßig gewesen, dass sie sich die Online-Bestellungen lieber ins Büro als nach Hause schicken ließ.

Der Kurierfahrer nickte und hielt ihr das Klemmbrett hin, ohne den Helm abzusetzen. Robin unterzeichnete und nahm das längliche Paket entgegen, das wesentlich schwerer war, als sie erwartet hatte. Sobald sie es sich unter den Arm geklemmt hatte, rutschte ein größerer Gegenstand darin herum.

»Danke«, sagte sie, doch der Kurierfahrer hatte sich bereits umgedreht und war auf das Motorrad gestiegen. Noch während sie die Tür aufsperrte, bretterte er davon.

Sie ging die Treppe hinauf, die sich um den Gitterkäfig des defekten Aufzugs wand. Ihre Absätze klapperten auf den Metallstufen. Als sie das Büro aufschloss, fiel Licht auf die Glastür, auf der sich dunkel der eingravierte Schriftzug C. B. Strike, Privatdetektiv abhob.

Sie war absichtlich so früh gekommen. Momentan ertranken sie förmlich in Aufträgen, und sie wollte Ordnung in den Papierkram bringen, bevor sie sich der täglichen Observierung einer russischen Stripperin widmete. Nach den schweren Schritten zu urteilen, die sie von oben hörte, war Strike immer noch in seiner Wohnung.

Robin legte das sperrige Paket auf den Schreibtisch, zog den Mantel aus, hängte ihn zusammen mit ihrer Handtasche an den Haken hinter der Tür, machte das Licht an, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann griff sie nach dem Brieföffner. Matthew hatte ihr einfach nicht glauben wollen, dass sie die lockige Mähne des Stürmers Jacques Burger und nicht Strikes kurzen und offen gestanden an Schamhaar erinnernden Schopf bewundert hatte. Wütend stieß sie den Brieföffner in das Paket, schlitzte es auf und klappte den Karton auseinander.

Ein abgetrenntes Frauenbein lag seitlich in dem Karton. Die Zehen waren nach oben gebogen worden, damit es hineinpasste.

3

Half-a-hero in a hard-hearted game.

Robins Schrei hallte von den Fensterscheiben wider. Sie wich vom Schreibtisch zurück, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von dem abscheulichen Objekt abzuwenden. Das blasse Bein war schlank und glatt; beim Öffnen der Schachtel hatte sie es mit dem Finger gestreift, die kalte, gummiartige Haut gespürt.

Sie schlug die Hände vor den Mund und war kaum verstummt, als auch schon die Glastür neben ihr aufflog und der gut eins neunzig große Strike mit finsterer Miene hereinstürmte. Er hatte nicht einmal sein Hemd zugeknöpft, sodass sein dichtes dunkles Brusthaar zu sehen war.

»Was zum …«

Er folgte ihrem entsetzten Blick. Sowie er das Bein entdeckt hatte, packte er Robin grob am Oberarm und schob sie ins Treppenhaus.

»Wo kommt das her?«

»Kurier«, sagte sie und ließ sich von ihm in die nächsthöhere Etage führen. »Motorradkurier.«

»Warte hier. Ich rufe die Polizei.«

Nachdem er hinter ihr die Wohnungstür zugezogen hatte, stand sie stocksteif und mit rasendem Herzen da und lauschte seinen verhallenden Schritten. Magensäure stieg in ihrer Kehle auf. Ein Bein. Sie hatte soeben ein Bein in Empfang genommen. Sie hatte soeben in aller Seelenruhe ein Bein – ein Frauenbein in einer Schachtel – die Treppe hochgetragen. Wem gehörte es? Wo war der Rest der Frau?

Sie steuerte auf den nächstbesten Stuhl zu – ein billiges gepolstertes Metallgestell mit Kunststoffüberzug – und setzte sich, die Finger immer noch auf die betäubten Lippen gepresst. Das Paket, kam es ihr wieder in den Sinn, war an sie persönlich adressiert gewesen.

Unterdessen hielt Strike mit dem Handy am Ohr in seinem Büro am Fenster, das zur Denmark Street hinausging, nach dem Motorradkurier Ausschau. Erst als er ins Vorzimmer zurückkehrte, um das geöffnete Paket auf dem Schreibtisch einer genaueren Prüfung zu unterziehen, wurde sein Anruf entgegengenommen.

»Ein Bein?«, wiederholte Detective Inspector Eric Wardle am anderen Ende. »Scheiße, ein Bein

»Und es hat nicht mal meine Größe«, erwiderte Strike. In Robins Anwesenheit hätte er sich einen solchen Scherz niemals erlaubt. Sein Hosenbein war hochgekrempelt, sodass die Metallkonstruktion darunter zu sehen war, die ihm als rechtes Sprunggelenk diente. Er war gerade erst dabei gewesen, sich anzuziehen, als er Robins Schrei gehört hatte.

Noch während er sprach, dämmerte es ihm, dass es sich um ein rechtes Bein handelte – genau wie der Körperteil, den er selbst eingebüßt hatte. Und dass es unter dem Knie abgetrennt worden war – exakt an der Stelle, an der man sein Bein amputiert hatte. Mit dem Telefon am Ohr nahm Strike die Extremität in Augenschein. Ein unangenehmer Geruch wie von aufgetautem Tiefkühlhühnchen stieg ihm in die Nase. Weiße Haut: glatt, bleich und bis auf einen beinahe verheilten grünlichen Bluterguss auf der nachlässig rasierten Wade makellos. Die Haarstoppeln waren blond, die unlackierten Zehennägel nicht ganz sauber. Der durchtrennte Schienbeinknochen stach schneeweiß aus dem umgebenden Fleisch hervor. Ein glatter Schnitt – entweder von einer Axt oder einem Fleischerbeil, vermutete Strike.

»Ein Frauenbein, sagten Sie?«

»Sieht zumindest …«

Dann fiel ihm noch etwas auf. Auf der Wade, in unmittelbarer Nähe des Schnitts, waren alte Narben zu erkennen, die augenscheinlich nichts mit der Amputation zu tun hatten.

Wie oft war er während seiner Kindheit in Cornwall hinterrücks überrascht worden, sobald er dem trügerischen Wasser den Rücken zugekehrt hatte. Wer das Meer nicht genau kannte, unterschätzte seine Härte und Brutalität. Umso erschreckender war es dann, wenn eine Welle mit der Wucht eiskalten Metalls gegen den Körper krachte. Strike hatte sich in seinem Berufsleben den verschiedensten Ängsten gestellt, sich mit ihnen auseinandergesetzt und sie im Zaum gehalten, so gut es ging. Doch beim Anblick dieser Narben und dem damit einhergehenden unerwarteten Grauen verschlug es ihm die Sprache.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Wardle.

»Was?«

Strikes zweifach gebrochene Nase war mittlerweile nur mehr Zentimeter von der Stelle entfernt, an der der Unterschenkel vom Körper abgetrennt worden war. Er musste an das vernarbte Bein eines Mädchens denken, das er nie vergessen hatte … Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Wie alt war sie inzwischen?

»Sie haben mich doch angerufen, oder?«, fragte Wardle.

»Ja«, sagte Strike und zwang sich zur Konzentration. »Mir wär’s am liebsten, wenn Sie die Sache übernehmen könnten, aber wenn das nicht geht …«

»Schon unterwegs«, fiel Wardle ihm ins Wort. »Ich bin gleich bei Ihnen. Halten Sie durch.«

Strike beendete das Telefonat und legte das Handy beiseite, den Blick immer noch starr auf das Bein gerichtet. Jetzt erst bemerkte er das Blatt Papier darunter. Eine ausgedruckte Nachricht. Die Army hatte ihm eine gründliche Ausbildung in Sachen Spurensicherung angedeihen lassen, daher widerstand er der fast übermächtigen Versuchung, den Zettel hervorzuziehen und die Nachricht zu lesen. Keinesfalls durfte er Beweismittel kontaminieren. Stattdessen ging er etwas unsicher in die Knie, um den Adressaufkleber zu inspizieren, der verkehrt herum auf dem geöffneten Deckel angebracht worden war.

Das Paket war an Robin adressiert. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Ihr Name war korrekt buchstabiert und zusammen mit der Adresse des Büros auf den Aufkleber gedruckt worden. Darunter befand sich ein weiteres Etikett, das er mit zusammengekniffenen Augen musterte, ohne den Karton auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Der Absender hatte das Paket zunächst an »Cameron Strike« adressiert, bevor er das zweite, mit »Robin Ellacott« beschriftete Etikett darübergeklebt hatte. Weshalb hatte er es sich anders überlegt?

»Scheiße«, flüsterte Strike.

Mühsam richtete er sich auf, nahm Robins Handtasche vom Haken hinter der Tür, schloss die Glastür ab und ging nach oben.

»Die Polizei ist unterwegs«, sagte er und stellte die Handtasche vor ihr ab. »Willst du einen Tee?«

Sie nickte.

»Mit einem Schuss Brandy?«

»Du hast doch gar keinen Brandy«, sagte sie mit leicht brüchiger Stimme.

»Hast du geschnüffelt?«

»Natürlich nicht!«

Dass sie derart empört über die Unterstellung war, seine Schränke kontrolliert zu haben, entlockte ihm ein Schmunzeln.

»Du bist nur … Ich kann mir einfach nur nicht vorstellen, dass du zu medizinischen Zwecken Branntwein im Haus hast.«

»Ein Bier vielleicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln brachte sie nicht zustande.

Sobald der Tee fertig war, nahm er mit seinem Becher in der Hand gegenüber Robin Platz. Strike war groß gewachsen, ein Exboxer, der zu viel rauchte und zu viel Fast Food zu sich nahm, und dementsprechend sah er aus. Er hatte buschige Augenbrauen, eine breite, schiefe Nase und trug – wenn er nicht gerade lächelte – stets eine verdrießliche Miene zur Schau. Seine dichten, dunklen Locken waren noch feucht vom Duschen. Robin kamen auf der Stelle wieder Jacques Burger und Sarah Shadlock in den Sinn. Der Streit mit Matthew schien plötzlich eine Ewigkeit her zu sein. Seit ihrer Ankunft in Strikes Wohnung hatte sie nur einmal kurz an ihren Verlobten gedacht. Sie würde ihm wohl oder übel von diesem Vorfall erzählen müssen. Und natürlich würde er wieder wütend werden. Er war ohnehin dagegen, dass sie für Strike arbeitete.

»Hast du … es dir angesehen?«, flüsterte sie, nachdem sie ihren Becher mit dem kochend heißen Tee erst angehoben und dann wieder abgesetzt hatte, ohne einen Schluck zu trinken.

»Ja«, sagte Strike.

Sie wusste nicht, was sie sonst hätte fragen sollen. Ein abgetrenntes Bein. Das Ganze war so grässlich, so grotesk, dass ihr jedes weitere Nachbohren lächerlich und unangemessen vorgekommen wäre. Hast du es erkannt? Weshalb hat man es hierhergeschickt? Und – was am wichtigsten war – warum gerade mir?

»Die Beamten werden dir Fragen über den Kurier stellen.«

»Ich weiß«, sagte Robin. »Ich versuche schon die ganze Zeit, mich an möglichst viele Details zu erinnern.«

Unten klingelte es an der Tür.

»Das wird Wardle sein.«

»Wardle?«, wiederholte sie erschrocken.

»Von allen Polizisten kann er uns noch am besten leiden«, erklärte Strike. »Du bleibst hier, ich hole ihn.«

Es war nicht allein Strikes Schuld, dass er in der Gunst der Metropolitan Police im letzten Jahr dramatisch gesunken war. Seine beiden großen detektivischen Glanzleistungen hatten ein überschwängliches Medienecho nach sich gezogen. Verständlich also, dass die für die Ermittlungen zuständigen und von ihm ausgebooteten Beamten nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen waren. Wardle dagegen – der ihm bei der Lösung des ersten Falles behilflich gewesen war – hatte sich zumindest für eine Weile in Strikes Ruhm sonnen können, sodass ihre Beziehung nicht ganz so stark gelitten hatte. Robin indes kannte Wardle nur aus Zeitungsartikeln über den Fall. Bei Gericht waren sie sich nie begegnet.

Wardle war, wie sich herausstellte, ein gut aussehender Mann mit dichtem braunem Haar und schokobraunen Augen. Er trug eine Lederjacke und Jeans. Amüsiert und verärgert zugleich bemerkte Strike, wie Wardle Robin bei Betreten des Zimmers begutachtete – blitzschnell wanderte sein Blick über ihr Haar und ihre Figur und verharrte dann eine Sekunde lang auf dem mit einem Saphir und Diamanten besetzten Verlobungsring an ihrer linken Hand.

»Eric Wardle«, stellte er sich mit tiefer Stimme und einem nach Strikes Dafürhalten unnötig charmanten Lächeln vor. »Und das hier ist Detective Sergeant Ekwensi.«

Er hatte eine schlanke dunkelhäutige Beamtin mitgebracht, die sich das Haar zu einem Dutt aufgesteckt hatte. Sie schenkte Robin ein kurzes Lächeln. Diese wiederum fand die Anwesenheit einer weiteren Frau überaus tröstlich. Detective Sergeant Ekwensi sah sich in Strikes feudalen Gemächern um.

»Wo ist das Paket?«, fragte sie.

»Unten«, erklärte Strike und zog seinen Büroschlüssel aus der Tasche. »Ich zeige es Ihnen. Wie geht’s der werten Gattin, Wardle?«, fügte er hinzu, ehe er mit Detective Sergeant Ekwensi die Wohnung verließ.

»Was geht Sie das an?«, rief Wardle ihm nach, doch zu Robins Erleichterung legte er seine forsche Art ab, sowie er ihr gegenüber Platz genommen hatte und seinen Notizblock aufklappte.

»Er stand vor der Tür, als ich die Straße hochkam«, erklärte Robin auf Wardles Frage hin, wie das Bein in ihrem Büro gelandet war. »Ich hab ihn für einen Motorradkurier gehalten. Er trug eine schwarze Lederkombi mit blauen Streifen an den Schultern. Der Helm war ebenfalls schwarz, das Visier heruntergeklappt und verspiegelt. Er war über eins achtzig, also mindestens zehn Zentimeter größer als ich – auch ohne den Helm.«

»Körperbau?«, hakte Wardle nach und machte sich eifrig Notizen.

»Ziemlich kräftig, würde ich sagen, aber das kann auch an der Jacke gelegen haben.« Unwillkürlich sah Robin zu Strike auf, der gerade wieder die Wohnung betrat. »Also nicht …«

»Nicht so ein Fettsack wie der Boss?«, brachte Strike, der alles mit angehört hatte, den Satz zu Ende. Wardle, der ebenfalls gut austeilen konnte und einem Scherz auf Strikes Kosten selten abgeneigt war, kicherte leise.

»Und er trug Handschuhe«, fuhr Robin fort, ohne mit der Wimper zu zucken. »Schwarze Motorradhandschuhe aus Leder.«

»Handschuhe, natürlich«, sagte Wardle und schrieb es auf. »Ist Ihnen an dem Motorrad etwas aufgefallen?«

»Es war eine schwarz-rote Honda«, sagte Robin. »Ich hab das Logo mit dem Flügel erkannt. 750 Kubik, würde ich sagen. Eine schwere Maschine.«

Wardle sah erstaunt und beeindruckt aus.

»Sie hat ein Faible für alles, was motorisiert ist«, erklärte Strike. »Sie fährt wie Fernando Alonso.«

Robin fand Strikes betont fröhliches Gehabe äußerst unpassend. Unten lag ein Frauenbein. Wo war der Rest? Sie durfte jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Hätte sie doch nur besser geschlafen. Das verfluchte Sofa … In letzter Zeit hatte sie viel zu viele Nächte darauf verbracht …

»Und er hat sie gedrängt zu unterzeichnen?«, fragte Wardle.

»Na ja, nicht gerade ›gedrängt‹«, sagte Robin. »Er hat mir das Klemmbrett hingehalten, und ich hab ohne nachzudenken unterschrieben.«

»Was war auf dem Klemmbrett?«

»Es sah aus wie eine Rechnung oder …«

Sie schloss die Augen und versuchte, es sich wieder ins Gedächtnis zu rufen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie amateurhaft das Formular gewirkt hatte. Als hätte es jemand auf seinem heimischen Laptop zusammengebastelt. Auch diese Beobachtung teilte sie Wardle mit.

»Haben Sie denn ein Paket erwartet?«, erkundigte er sich.

Robin erzählte ihm von den Einwegkameras für die Hochzeit.

»Was hat er getan, nachdem Sie die Sendung entgegengenommen hatten?«

»Er ist aufgestiegen und davongefahren. In Richtung Charing Cross Road.«

Es klopfte an der Wohnungstür. Mit der Notiz, die Strike unter dem Bein bemerkt hatte und die jetzt in einem Asservatenbeutel steckte, gesellte sich Detective Sergeant Ekwensi wieder zu ihnen.

»Die Spurensicherung ist jetzt da«, sagte sie. »Diese Nachricht lag übrigens in dem Paket. Vielleicht sollte Miss Ellacott mal einen Blick darauf werfen.«

Wardle nahm die Botschaft in der durchsichtigen Folie entgegen und überflog sie mit gerunzelter Stirn.

»Was für ein Blödsinn«, stellte er fest. »A harvest of limbs, of arms and of legs, of necks …«

»… that turn like swans«, fiel ihm Strike ins Wort, der am Herd lehnte und von seiner Position aus den Zettel unmöglich lesen konnte, »as if inclined to gasp or pray

Ungläubig starrten die anderen ihn an.

»Das ist ein Songtext«, erklärte Strike. Sein Gesichtsausdruck verursachte Robin Unbehagen. Offensichtlich hatten die Worte bei ihm ungute Assoziationen geweckt. »Aus der letzten Strophe von ›Mistress of the Salmon Salt‹. Von Blue Öyster Cult.«

Detective Sergeant Ekwensi zog die sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen hoch. »Von wem?«

»Das war in den Siebzigern eine angesagte Rockband.«

»Und anscheinend sind Sie mit ihren Songs vertraut«, meinte Wardle.

»Mit diesem Lied schon.«

»Haben Sie denn eine Vermutung, wer Ihnen das Bein geschickt haben könnte?«

Strike zögerte. Unter den Augen der Anwesenden wurde er von einer Flut unzusammenhängender Bilder und Erinnerungen heimgesucht. Sie wollte sterben, hörte er eine tiefe Stimme sagen. Sie war das Quicklime Girl. Dann das dünne Bein eines zwölfjährigen Mädchens, auf dem kreuz und quer dünne, silbrige Narben verliefen. Dunkle Augen wie die eines Frettchens. Zusammengekniffen und voller Hass. Die Tätowierung einer gelben Rose.

Und plötzlich tauchte eine weitere Erinnerung auf, die einem anderen wohl als Erstes in den Sinn gekommen wäre – ein Polizeibericht, in dem von einem abgetrennten Penis die Rede war, den man einem Beamten zugestellt hatte.

»Wissen Sie, wer es geschickt hat?«

»Vielleicht«, sagte Strike und sah erst Robin und dann Detective Sergeant Ekwensi an. »Aber das möchte ich lieber unter vier Augen besprechen. Haben Sie noch Fragen an Robin?«

»Wir müssen noch ihre Personalien und so weiter aufnehmen«, sagte Wardle. »Vanessa, können Sie das erledigen?«

Detective Sergeant Ekwensi trat mit ihrem Notizblock vor, während die Schritte der beiden Männer allmählich im Treppenhaus verhallten. Robin verspürte nicht das Bedürfnis, das abgetrennte Bein noch ein weiteres Mal zu sehen. Andererseits kam sie sich mit einem Mal beinahe ausgeschlossen vor. Immerhin hatte ihr Name auf der Schachtel gestanden.

Das grausige Paket lag immer noch auf dem Schreibtisch im Büro. Detective Sergeant Ekwensi hatte zuvor zwei weitere Kollegen eingelassen. Einer machte Fotos, der andere telefonierte mit dem Handy, als sein Vorgesetzter und der Privatdetektiv an ihnen vorbeimarschierten. Beide Beamte sahen Strike neugierig an. Obwohl er bei Wardles Kollegen nicht sonderlich beliebt war, hatte er es doch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht.

Strike machte die Tür zu seinem Büro zu und setzte sich hinter den Schreibtisch. Wardle nahm davor Platz und schlug eine neue Seite in seinem Notizblock auf.

»Na schön. Wer wäre Ihrer Meinung nach fähig, Leichen zu zerstückeln und Ihnen per Post zuzuschicken?«

»Terence Malley«, antwortete Strike nach kurzem Zögern. »Zum Beispiel.«

Wardle starrte ihn über seinen Notizblock hinweg an.

»Terence ›Digger‹ Malley?«

Strike nickte.

»Vom Harringay-Syndikat?«

»Wie viele Terence ›Digger‹ Malleys kennen Sie?«, fragte Strike ungeduldig zurück. »Und wie viele davon haben die Angewohnheit, anderen Leuten Körperteile zu schicken?«

»Wann zum Teufel sind Sie denn mit Digger aneinandergeraten?«

»2008, während einer gemeinsamen Operation mit der Sitte. Es ging damals um einen Drogenring.«

»Deswegen wurde er doch verhaftet, oder nicht?«

»Stimmt genau.«

»Heilige Scheiße«, stieß Wardle hervor. »Das ist es! Der Kerl ist ein verfluchter Psychopath – er ist vor Kurzem erst aus dem Gefängnis entlassen worden, und er kennt die Hälfte der Londoner Prostituierten. Was von der da übrig ist, werden wir dann wohl demnächst aus der Themse fischen.«

»Kann sein. Nur hab ich damals anonym gegen ihn ausgesagt. Er dürfte gar nicht wissen, dass ich gegen ihn ermittelt habe.«

»Na ja, da gibt es Mittel und Wege«, erwiderte Wardle. »Das Harringay-Syndikat ist schlimmer als die verdammte Mafia. Wussten Sie, dass er Ian Bevin den Schwanz von Hatford Ali geschickt hat?«

»Ja, hab ich gehört«, sagte Strike.

»Und was hat es mit diesem Song auf sich? Geerntete Körperteile? Was soll der Scheiß?«

»Tja, das bereitet mir am meisten Kopfzerbrechen«, sagte Strike vorsichtig. »Das ist einfach zu raffiniert für jemanden wie Digger – und deshalb glaube ich, dass einer der anderen drei Kandidaten dahintersteckt.«