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Sigusch, Volkmar
Neosexualitäten
Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion
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E-Book ISBN: 978-3-593-40146-1
Neosexualität, Neoallianz oder Neogeschlecht – so nenne ich eine sich neu etablierende Sexual-, Intim- oder Geschlechtsform, die sich den alten Ängsten, Vorurteilen und Theorien entzieht. Die Vorsilbe neo habe ich mir natürlich genau überlegt. Sie ist so geeignet, weil sie sowohl an die kreative und neuartige wie an die rückwärtsgewandte und totstellende Seite eines Vorganges denken lässt: Neocortex und Neologismus gegen Neoplasma und Neokolonialismus. Denn tatsächlich eröffnet die neosexuelle Revolution, der die Neosexualitäten nach meiner Auffassung seit zwei bis drei Jahrzehnten entspringen, neue Freiräume und installiert zugleich neue Zwänge.
Die Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig. Das Paradoxe daran ist: Je brutaler der Kapitalismus ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit beseitigt, also Unfreiheiten produziert, desto größer werden die sexuellen und geschlechtlichen Freiräume. Offensichtlich bleibt den Mechanismen der Profit- und Rentenwirtschaft vollkommen äußerlich, was die Individuen tun, solange sie nur ihre sexuellen Orientierungen, ihre geschlechtlichen Verhaltensweisen, überhaupt ihre kleinen Lebenswelten pluralisieren. Vor allem Personen, die selbst nach den sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen angesehen worden sind, profitieren von dieser Freistellung. Heute ist der Transsexualismus ein höchstrichterlich anerkanntes Neogeschlecht, ist die Liebe zum Haustier eine nicht mehr weg zu denkende Neoallianz, ohne die viele Menschen verzweifelten, werden ehemalige Perversionen wie der Fetischismus und der Sadomasochismus nicht mehr grundsätzlich als Krankheiten betrachtet, die einer Behandlung bedürfen, von der Homosexualität ganz zu schweigen. Wurde sie Jahrhunderte lang mit Folter und Mord verfolgt, wird ihr heute das einst heilige Institut der Ehe von Amts wegen geöffnet.
Heterosexuelle können heute sehr unterschiedliche Beziehungsformen wählen, ohne aus dem Rahmen zu fallen, wobei Männer etwas »weiblicher« und Frauen etwas »männlicher« geworden sind, sodass eine Annäherung der beiden großen Geschlechter erfolgt. Angesichts der Vorreiterrolle der homosexuellen Männer im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – Stichwort: Schwulenbewegung – ist es nicht übertrieben, davon zu sprechen, dass die Heterosexualität homosexualisiert worden |8|ist. Zu denken wäre an das neue Körpergefühl vieler heterosexueller Männer, die sich nicht mehr mit einer Dauerripp-Unterhose alle 14 Tage und mit einem Schmerbauch zufrieden geben, zu denken wäre an die Modifikation alter Treuegebote, die zu einer Vereinbarkeit von Beziehungs- und Drangliebe geführt hat, oder an den Bedeutungsverlust, den die Sphären Fortpflanzung und Herkunftsfamilie erfahren haben. Zum ersten Mal in der überschaubaren Geschichte dürfen heute Heterosexuelle sogar asexuell sein und ihr anhaltendes Desinteresse an den sexuellen Lüsten öffentlich bekunden, ohne verlacht oder gar verachtet zu werden.
Das ist nur möglich – und damit sind wir auf der Kehrseite des neosexuellen Prozesses angelangt –, weil Sexualität heute nicht mehr die große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution, des Fortschritts und des Glücks ist. Je unablässiger und aufdringlicher das Sexuelle öffentlich inseriert und kommerzialisiert wurde, desto mehr verlor es an Sprengkraft, desto banaler wurde es. Gegenwärtig scheint es so, als wandere die Sprengkraft von der sexuellen in die aggressive Sphäre, von der alten Libido zu einer neuen Destrudo, wenn wir an den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Männer, aber auch durch Frauen denken, an die zahllosen sexistischen Gewalttaten von Männern gegen Frauen oder, bereits eindeutig entsexualisiert, an die Gewaltexzesse so genannter Fußballfans sowie deren jeweilige Diskursivierung.
Vom Gros der jungen Generation dagegen wird nach allem, was wir durch Sexualforschung erfahren haben, der Zerfall der alten sexuellen Sphäre in einer kulturellen Meisterleistung aufgefangen: Die jungen Leute oszillieren heute ziemlich souverän zwischen undramatischer Treue in Liebesbeziehungen und dramatisierten Events voller Thrills. Ihre Neosexualität, die zur allgemeinen werden wird, ist eher Wohllust als alte triebhafte Wollust. Sie ist selbstoptimiert und selbstdiszipliniert, könnte wegen ihres hohen Anteils an Egoismen auch Selfsex genannt werden. Dazu passt die enorme soziale und seelische Aufwertung der Selbstbefriedigung in den letzten Jahrzehnten. Als einzige Sexualpraktik ist sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht nur von einer verpönten und verfolgten zu einer von Männern wie Frauen geschätzten Selbstpraktik geworden, sondern hat insgesamt auch quantitativ an Bedeutung gewonnen.
Über allem aber thront die Liebe. Sie ist selbst als fetischisierte eine einzigartige Kostbarkeit, weil sie nicht produziert und nicht gekauft werden kann. Sie ist stabiler als alle Sexualformen, widersteht im neosexuellen Prozess weitgehend dem Zwang zur Vielfalt, beweist, dass es nicht nur um Wandel geht, sondern ebenso um Kontinuität. Und weil das so ist, habe ich den Essay »Das gemeine Lied der Liebe«, der viele Male in Seminaren erörtert und mehrfach nachgedruckt worden ist, an den Anfang des Buches gestellt, behutsam aktualisiert. Am Grund der Liebe aber liegt die Perversion, ohne die die Liebe eine Ödnis wäre. Deshalb und weil durch kulturelle Transformationen immer ungewisser geworden ist, was überhaupt noch |9|pervers sei, werden die Perversionen in diesem Buch ausführlich analysiert: als unablösbarer Teil der normalen Sexualität, als Übersteigerung des Normalen, als Projektionsfeld so genannter Experten, als entpathologisierte und entmystifizierte Selbsttechnik, als künstlerische Existenzweise sowie – und da geht es wieder um die Kontinuität – als Delinquenz und krankhafte, behandlungsbedürftige Sexualsucht. Ich denke, das reicht.
Adalbert Hepp, dem Verlagsleiter Wissenschaft im Campus Verlag, bin ich wegen seines anhaltenden Interesses an meinen Arbeiten sehr verbunden. Dr. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag danke ich sehr für ihre gezielten, manchmal schmerzhaften Eingriffe, die meine Textsammlung lesbarer gemacht haben. Die Idee, einige Gedankengänge am Ende des Buches in einer Art Glossar zu verdichten, stammt von ihr. Mir gefällt das ganz besonders gut. Es passt übrigens zur kulturellen Zerstreuung der Sexualfragmente, von der im doppelten Sinn des Wortes Zerstreuung in dem Buch auch die Rede sein wird.
Frankfurt am Main, im Januar 2005
Volkmar Sigusch
Unsere Liebe ist Leben und Tod in eins. Sie ist weich, warm und weiblich. Sie eifert nicht und treibt nicht Mutwillen. Sie bläht sich nicht auf und stellt sich nicht ungebärdig. Sie sucht nicht das Ihre und lässt sich nicht erbittern. Sie verträgt alles, duldet alles, tröstet selbstlos und still. Sie ist ohne Angst, Leere, Zwang und Scham. Sie bereichert, einigt und birgt. Sie schafft Weibliches im Männlichen und Männliches im Weiblichen, leicht, heiter und kindlich wie ein Abendwind über Ägadien. Sie rettet Verlorenes als Gegenwart und schafft Zukunft aus dem Verlust. Nichts ist befreiender für die angespannte Seele, nichts belebender für die verhärtete, nichts stärkender für die kranke. Die Liebe macht die kleine Seele groß.
Das Hohe Lied der Liebe
Bekanntlich klingt das Hohe Lied der Liebe seit Jahrtausenden so: Mein Geliebter ist leuchtend rot, auserkoren unter Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind rabenschwarze Dattelrispen, seine Augen sind wie die Augen der Tauben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und in Fülle stehend, seine Lippen sind Blumen, die von fließender Myrre triefen, sein Leib ist reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt, seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf goldenen Sockeln, sein Gaumen ist lauter Süße. Alles an ihm ist Lust. Er ist ganz lieblich. Wenn er mich doch küsste mit den Küssen seines Mundes! Auch an der Geliebten ist kein Flecken. Ihre Brüste sind wie zwei junge Rehe, die unter Rosen weiden. Doch als er sie küssen will mit den Küssen seiner Rosen, sind sie alle im Garten der Lust versiegelt: Milch und Honig, Granatapfel und Aloe, Narde, Safran, Zimt und Kalmus, all die edlen Früchte des Weihrauchs, die ihm das Herz genommen haben. Die Geliebte ist eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born lebendiger Wasser. Steht auf, ihr Winde, muss er rufen, weht durch den Garten, dass seine Würzen triefen!
So begann das Niedere Lied der Liebe, seine Verse zu suchen. Heute können wir sie alle im Schlaf hersingen, weil die Liebenden des salomonischen Liedes der |12|Liebe keine einsamen Pioniere mehr sind. Seit es unser Individuum gibt, jedenfalls in der Phantasie, sollen wir alle wie Daphnis sein oder wie Cloё. Denn auf den Schlachtbänken, die zwischen uns und den antiken Bürgern liegen, wurde ein neuer sittlicher Maßstab errichtet: Liebe als freie Übereinkunft autonomer Personen, als ein allgemeines Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau. Diese Idee von der freien, gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie zur allgemeinen erhoben hat, setzt den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus.
Dazu aber ist es im Leben nicht gekommen. Irritiert, angebrannt, deplatziert und ungesättigt, wie wir heute sind, trifft uns die Melodie, ob bei Oscar Wilde oder Carlos Fuentes, wie ein Blitz: In jede Ader ergießt sich glühende Lava, alle Nerven sind auf die Folter gespannt, erschütternde Säfte überschwemmen uns mit Silber und Gift. Wir senken unseren Atem in den Flaum des Schambergs, in den jungen Duft der Achselhöhle, wir suchen den scharfen, süßen After, wir brüllen wie ein Tier, wir können uns nicht lösen, wir wollen uns nicht lösen, wir versinken im Fleisch, due in uno, uno in due, die verlorene Hälfte unseres Glücks ist wieder da, unserer Liebe, unseres Verstandes, unseres Lebens, unseres Todes. Der Mann fasst seine schwellenden Brüste an, die Frau führt ihr Glied in die pochende Scheide.
Das Niedere Lied der Liebe
Diesseits der Romane, Traktate und Träume müssen wir bescheidener sein: Überall Herr und Knecht, oben und unten, überall Unvernunft, Verstofflichung, Zerstörung. Die Menschen von klein auf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voller Angst und ohne Würde, wenn sie, wie man so sagt, Glück haben, ein Rädchen in der Maschinerie des Bestehenden. Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, wer so im allgemeinen Leben zurechtgestanzt wird, der kann nicht einfach im Liebes- und Geschlechtsleben das Gegenteil von Maschine, Maske, Handlanger sein − plötzlich er selbst, unverstellt, lebendig, die Seele ganz gelöst.
Und wie ist das möglich: erregte Harmonie, gleichzeitig leidenschaftlich, kopflos, solidarisch und gewissenhaft? Wir sind tantalisiert von der Melodie, können nicht schlafen, können sie nur bruchstückhaft erinnern. Immer schiebt sich die Not des Lebens dazwischen, Schwermut und Drangsal, einsam, verlassen, ungeliebt, ohne Lava in den Adern, immer nur Gift, nichts Tierisches, kein Flaum. Der Mund wurde uns wässrig gemacht, der Kopf verdreht. Seither wünschen wir: dass die Masken fallen und das Leben beginnt.
|13|Singen wir nach dem Hohen Lied das Niedere Lied der Liebe. Es klingt vielleicht vertrauter: Unsere Liebe ist eine Orgie gemeinster Quälereien. Sie ist voll raffinierter Erniedrigung, wilder Entmächtigung, bitterer Enttäuschung, boshafter Rache und gehässiger Aggression. Sie ist gierig, klebrig, verschlingend, maßlos, kurzatmig, empfindlich, heuchlerisch, unstillbar. Zu ihr gehören Gefühle der Not, nicht des Wohlbehagens: Hass, Angst, Wut, Schuld, Schwäche, Neid und eifernde Sucht. Auf dem Weg der Liebe befriedigt sich der eine selbst durch den und am anderen. Was dem einen recht ist, sei dem anderen billig. Liebende machen einander gefügig. Nur dabei schlägt ihnen keine Stunde. Unsere Liebe ist egomanisch und asozial, eine nahe Verwandte des Wahnsinns und der Sucht. Wer an Verliebte denkt, weiß, wovon die Rede ist. Nur die Über- und Hochschätzung der Liebe in der Kultur bewahrt sie gewöhnlich davor, als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung liquidiert zu werden.
Das gemeine Lied der Liebe ist gewiss beides: eine Strophe vom Hohen, tausend vom Niederen, alltäglicher Refrain und lebenslange Reprise. Das, was wir Liebe nennen, ist eine Einheit einander entgegengesetzter seelischer Strebungen. Wie gesagt: Leben und Tod, Selbstwerdung und Verschmelzung, Spiel und Ernst, Harmonie und Spannung, Heiterkeit und Tragik, grobsinnlich und zartzärtlich.
Warum führt sich unsere Liebe wie ein Rätsel auf? Warum schillert sie so? Warum erscheint sie im Leben als monströser Bastard, entweder Süßstoff für die muffig-moderne Psyche oder einzigartiger Nektar für das locker-postmoderne Netz, entweder jauchzende Realität oder japsend wie halbtote Tanten mit mondweißen Armen? Warum muss jeder, der über Liebe schreibt, wie der Papagei auf der Stange sein? Ich denke, es gibt Gründe dafür.
Die historische Totgeburt der individuellen Geschlechtsliebe
So verrückt es auch klingen mag: Kapitalismus und Liebe gehören zusammen. Jedenfalls ist die individuelle Geschlechtsliebe, von der Philosophen im 19. Jahrhundert sprachen, erst mit der Zangengeburt des bürgerlichen Individuums historisch als Möglichkeit aufgekommen, also mit dem Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse. Davor, bei Jägern und Sammlern, bei Bodenbauern und Viehzüchtern, in der patriarchalen Ausbeutergesellschaft, in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, hat es sie nicht gegeben − als freie Übereinkunft autonomer Individuen, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt und den sexuellen Umgang nur danach bemisst, als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebesbeziehungen als Gewissensbeziehungen mit einer Intensität und Dauerhaftigkeit|14|, bei allen, immer und ums Ganze, auf die sich die Menschen in Altertum und Mittelalter hätten keinen Reim machen können.
Diese Idee der Liebe gibt es wie unsere Art und Weise zu lieben erst seit einigen Jahrhunderten, sagen wir seit zehn Generationen. Die individuelle Geschlechtsliebe ist ein neuer sittlicher Maßstab. Sie gehört zu den historisch jüngsten Errungenschaften der Gattung Mensch, die immerhin seit Millionen Jahren ihre Spur auf der Erde hinterlässt. Ist das nicht einer der Gründe für die Instabilität der Liebe und dafür, dass sie noch nicht zu sich gekommen ist?
Wesentlicher scheint mir ein anderer Gedanke zu sein. Das bürgerliche Individuum samt seiner individuellen Liebe hat es, konkret genommen, bisher nur auf dem Papier, also nicht konkret gegeben − im großen bürgerlichen Roman vor allem, daneben in wissenschaftlichen Traktaten über den Menschen. Tatsächlich ist das bürgerliche Individuum, dessen Prozess des Entstehens schon einer des Zerfalls war, nie zu sich gekommen und folglich auch nicht die Individual- und Drangliebe. Gesellschaftlich war die Liebe immer tot, aber sie lebt seit einigen Generationen in den Menschen − als Idee und Möglichkeit.
Viel mehr konnte sie bis heute nicht werden, weil die Disposition zur individuellen Drangliebe sogleich im Fortgang der Geschichte durch gegenläufige Dispositionen wie jene zur Lohnarbeit, die sich in den Seelen niederschlugen und sozial manifestierten, in der Latenz gehalten oder abgewürgt worden ist.
Als Kern zeigt sich: Die individuelle Liebe ist die Idee vom menschlichen Umgang des Menschen mit dem Menschen. Die Utopie der wirklichen Liebe setzt den Menschen im emphatischen Sinn als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches im emphatischen Sinn voraus. Unterm Kreuz des Warenfetischs, unterm Diktat des Tauschprinzips aber sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen wie Beziehungen von Ding zu Ding, von Sache zu Sache. In einer solchen Gesellschaft sind die mitmenschlichen Beziehungen nicht einfach solidarisch, anständig, harmonisch, menschlich. Was als menschlich geglückt deklariert wird, als human oder humanitär, entspringt der Ideologie seiner Verhinderung.
Die Liebe als Himmel und Hölle
Und doch wollen wir alle lieben und geliebt werden. Und doch wollen wir alle mit einem anderen Menschen glücklich sein − auf dass unsere kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große in Ordnung. Wie kommt dieser Wunsch in jeden von uns hinein? Und warum hat er die Kraft einer Naturgewalt, obwohl die Liebe, die wir haben, kaum natürlicher ist als Zins und Zinseszins?
|15|Liebesbeziehungen und Lusterleben gibt es beim Erwachsenen nicht losgelöst von den vorausgegangenen Empfindungen und Erfahrungen des Lebens, viele sagen: von den ersten, immer Weichen stellenden Gefühlen und Erlebnissen der frühen Kindheit. Fraglos ist die seelische Gegenwart ohne die seelische Vergangenheit nicht zu denken. Im Umgang mit einem Menschen, im Allgemeinen der Mutter, wird unter hiesigen Verhältnissen der Mensch nach der körperlichen Geburt seelisch geboren. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang Individuation, weil sie an der Vorstellung festhält, es entstünde dadurch, wenigstens im Kern, jene Menschenart, die bürgerliches Individuum zu nennen eine Zeit lang modisch war.
Im Allgemeinen repräsentieren das Hohe und das Niedere Lied der Liebe Himmel und Hölle der frühen Beziehung zur Mutter. Nichts ist wonniger, nichts ist ängstigender, als der Mutter nah, als ihr fern zu sein. Wir sehnen uns nach kindlichen Paradiesen, die unsere Begriffe nicht zu erreichen vermögen. Diese Gefühle begleiten uns von der Windel bis zum Leichentuch. Doch alles ist riskant. Zu große Nähe erstickt, und die Ferne macht Angst. Psychologisch gesprochen ist die Liebesfähigkeit eine sekundäre Bildung, die durch Prozesse des Versagens und Trennens, des Gewährens und Verbindens, die durch die Anpassung an die Realität erzeugt wird. Die Fähigkeit zu lieben ist zugleich das Verlassen der Mutter und ihr Wiederfinden. Liebe und Lust sind von klein auf zusammengebrannt mit Einsamkeit, Gewalt, Unterdrückung, Verbot und Angst auf der einen, mit allseitiger Wunscherfüllung, dem Eintauchen ins kollektive Seelenall und dem Gefühl, nun sei die Welt in Ordnung, auf der anderen Seite − Illusionen, die lebenslänglich mit kindlich-seelischen Mitteln gesucht und gefunden werden.
Die Liebe als allgemeines Erfordernis in der Kälte des Lebens
Liebe ist aber nicht nur die Sehnsucht nach Kindheitsparadiesen voll lustvoller Harmonie. Liebe ist auch ein allgemeines Erfordernis des erwachsenen Lebens. Die Leere, Distanz und Kälte der Arbeitswelt, überhaupt des gesellschaftlichen Lebens, sind im Allgemeinen nur mit der Nähe und Wärme einer Liebesbeziehung auszuhalten, die wenn schon nicht zu erreichen, so doch wenigstens versprochen sind. Das ist einer der Gründe, warum seit Jahrzehnten ohne Unterlass über Erotik, Sexualität, Paare, Passanten, Varianten und Mutanten geredet und geschrieben wird, warum über uns Sex- und Selfsex-, Gender- und Transgender-Wellen hinweggewabert sind.
In der Tat: Nur wer die Verdrehung und Versachlichung aller Beziehungen durch Liebe oder die erst noch von ihr zu differenzierende Verliebtheit, also mehr oder weniger mit den Mitteln des Rauschs, der Sucht, des Wahnsinns, außer Kraft |16|zu setzen sucht, kann die Wirklichkeit ein wenig zum Tanzen bringen und überleben. Wer nicht illusionär verkennt, wer nicht liebt, wird krank. Doch das ist unter hiesigen Lebensverhältnissen höchst gefährlich, ein Wagnis ersten Ranges, weil wir auf Abwehr und Erstarrung, auf das Niederhalten der Gefühle und das Prüfen der Realität ebenso angewiesen sind. Die Liebe − ein Kunststück, ein akrobatischer Seiltanz ohne Netz. Und viele liegen am Boden. Und viele brechen sich das Kreuz.
Eine Alternative zu dieser Art zu leben und zu lieben, die den Namen verdiente, kann es nicht geben, da Individuum und Gesellschaft eine Einheit sind und zugleich prinzipiell entzweit. Das, was uns als »Alternative« notwendigerweise beschäftigt hat oder einfach kursiert, ist Aufschrei und Aufruhr, zwangsläufig Abklatsch oder modisches Zeug, obszön, reaktionär oder nur von Privilegierten scheibchenweise einzulösen, letztlich immer zum Scheitern verurteilt. Jener Partnertausch und jener Gruppensex, die Furore machten, waren als zeitgemäße Sumpfblüten spezifisch zerstörter Sinnlichkeit an kleinbürgerlicher Stupidität kaum zu überbieten. Und der vorletzte Schrei zum Beispiel, »Singles« genannt, ist wirklich ein Schrei − aus Not, nach Hilfe, maßlos traurig, zum Weinen. Wer lebt schon aus freien Stücken allein?
Das öffentliche Reden übers Alleinleben lässt uns fragen, ob nicht generell das Zersplittern der »persönlichen Autonomie« und die Brüchigkeit des Selbstwertgefühls, ob nicht der Zerfall des autonom gedachten Individuums und der Grad seiner Vergesellschaftung einem neuerlichen Höhepunkt zustreben, ob das nicht alles auf ein zwischenmenschliches Drama kollektiven Ausmaßes hinweist, wie es die Gattung Mensch noch nicht erlebt hat. Anders gesagt: Ob nicht aus Ich-Schwäche die Bindungsunfähigkeit, die Angst vor Nähe und Verpflichtung immer größer geworden ist, wobei sich der eingepflanzte Wunsch nach einer Bindung, nach einer dauerhaften Zweierbeziehung gleichzeitig weiterhin mächtig äußert und im Trotzdem enormes Leid produziert. Vielleicht war es noch nie so schwierig, zu lieben und geliebt zu werden, so oder so, und vielleicht waren wir zugleich noch nie so auf Liebe und Gegenliebe angewiesen wie heute, auf Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Achtung, Trost, Geborgenheit, letztlich auf sittliche Werte und einen Sinn fürs Leben. Wo aber finden wir das im gesellschaftlichen Leben? Umso zutreffender ist wohl: Noch nie war die utopisch-emanzipatorische Dimension der Liebe historisch so von Belang wie heute in der hiesigen Gesellschaft und Kultur.
Wer den Leuten, die in Zweierbeziehungen leben oder auch nicht, die Liebe und Treue suchen oder auch nicht, von linksrechts sagen zu müssen meint, wie sie heute »anders« zu leben hätten, sollte auch das prüfen, bevor er in zynischer Weise massenhaftes Erleben und Verhalten diffamiert. Wer unter hiesigen Bedingungen für lebenslange Treue, für Monogamie, für das Institut der Ehe plädiert, ist ebenso naiv bis zynisch wie jene, die dem Sinnlichen mit anderen Mitteln auf die Sprünge helfen wollen. Der kleine Bürger, der das Grau-in-Grau seines Alltags aufzufrischen sucht, indem er aufgeschnappte Sexualtechniken an seiner Frau exekutiert, ahnt nicht, dass |17|das nur ein Reflex auf die allgemeine Verstofflichung des Mitmenschlichen ist. Der linksliberale Redakteur, der mit der lügnerischen Devise »Bei uns ist alles erlaubt« nach Hause kommt, angelesene Sexualpraktiken ausprobiert wie Eis am Stiel und sich dabei emanzipiert wähnt, macht den Beischlaf zur Klempnerei und zollt denselben Tribut.
Denen, die einander »alles gestatteten«, sind geblieben: der rumorende Stau der Gefühle, die falbe Kürze der Lust, die stille Sehnsucht nach dem Glück und als roter Faden all dessen: die Beziehungskiste. Beziehung und Kiste, das klingt nicht nach autochthonem Sprudeln ganz persönlicher Regungen, nach metaphysischer Erleuchtung, das klingt nach vergegenständlichten Verhältnissen, benutzt ein Ding dazu, um etwas Lebendiges zu benennen. Die Lage ist also getroffen. Eine Kiste, die im Weg ist, kann man zerschlagen, wegwerfen, verbrennen. Beziehungen aber, wie liberalisiert, verstofflicht und mystifiziert auch immer, sind noch als Substitute phantastisch und leibhaft, sie liegen in Bauch und Herz und Kopf.
Die Psychoanalyse meint, manchen von uns immer wieder mit ihrem Postulat der »genitalen«, der »reifen« Liebe beunruhigen zu müssen. Doch ihre »genitale« Liebe gibt es im Leben nicht. Aber sie hat recht: Liebe ist nicht einfach da wie die Begierde. Sie muss ständig, ununterbrochen, unermüdlich erlernt, erarbeitet, in Beziehungen gehalten werden − als der Versuch zweier Menschen, einander jene Bedürfnisse zu befriedigen, die lebensgeschichtlich verbogen und gesellschaftsgeschichtlich zum Unding geworden sind.
Wo es widersprüchlich, ambivalent, egoistisch und gnadenlos zugeht, muss manfrau nicht nur auf die Kurzlebigkeit und das Versagen der mystifizierten Liebe gefasst sein, sondern auch auf deren Substitution. In intellektuellen Unterschichten und solchen, die am Rande liegen, ist manfrau schon lange so abgeklärt, die Liebesexistenzialien nicht als äquivalenzlose Eingebungen des Heiligen Anton zu nehmen, sondern als von dieser Welt. Dort ist manfrau auf einiges gefasst und hat manches ausprobiert, nicht nur Alleinsein, Partnertausch und Gruppensex, auch Fesseln, Beißen und phantastisch Vergewaltigen, Dreiecksverhältnisse, Peeping, Von-Verliebtheit-zu-Verliebtheit-Taumeln, Geronto- und Pädophilisches, Rimming, Akrotomophilie usw. − was immer das sei.
Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit
Alle ahnen: Im schlechten Allgemeinen können die Verhältnisse von Mensch zu Mensch nicht einfach gut sein. Selbst Paarbildung, in welcher Form auch immer, selbst die mystifizierte Liebe garantiert keinen sicheren Unterschlupf. Umso verbissener geht es zu.
|18|Wie vergeblich unser Bemühen ist, verdeckt die gesellschaftliche Mystifikation der Liebe. Als fetischisierte schöpft die Liebe ihren Wert aus sich selbst, setzt sich in ihr eigenes Recht. Jetzt sind Naturgesetze am Ruder. Das volle, persönliche, intime Leben ist errichtet, die Verstofflichung überwunden. Das Verhältnis zum Menschen scheint als eines der Unmittelbarkeit dem Diktat des Tauschs entzogen zu sein. Aber dieser Schein ist es gerade, der der Liebe den allgemeinen Stempel aufdrückt, sie zu einer gesellschaftlichen Form macht. Denn es gilt weiterhin: keine Zärtlichkeit ohne Hintergedanken, keine Verliebtheit ohne Verschlingen, keine Freundschaft ohne Verbrauchen, kein Sichschönmachen ohne Reklame, keine Hingabe ohne Besitzenwollen, kein Glücklichsein, ohne es hinauszuschreien. Umzingelt von eingepflanzten Entwicklungsetappen und angedienten Handgriffen, läuft das alles nach Schema F ab, ganz individuell. Pseudoaktiv scheinen sich die geronnenen Liebesformen durch eine gewisse Buntscheckigkeit und allerlei Schauspiel zu verlebendigen. Doch die Mysterien von Spontaneität und Rausch sind von außen eingespritzt, und den Kern der Liebe durchherrscht die Ambiguität des Fetischs: bewegte Starre, Genussfeindschaft im Genuss, beziehungsvolle Beziehungslosigkeit, Treulosigkeit in der Treue, Menschenverachtung in Liebe. Umso romantischer oder atemloser geht es zu.
Mitmenschliches unter den herrschenden Lebensbedingungen suchen, heißt, das gesellschaftliche Unding Liebe immer wieder in seiner seelischen und sozialen Zwangsgestalt errichten. Zwei spezifische Hindernisse stehen obenan: der Patriarchalismus samt Sexismus, also die Zurück- und Herabsetzung aller Frauen als Geschlecht, sowie die Struktur der Mutter-Kind-Beziehung samt der Art und Weise der Kinderaufzucht mit ihren Resultaten. Hinzu kommen die Tyrannis der so genannten Heterosexualität, insbesondere in Form der Normopathie, Lug und Trug der Alternativgeschlechtlichkeit, der Pompe funèbre um den Triebdurchbruch usw. usf.
Ein Trost kann es nicht sein, aber es trifft zu: Auch als Fetisch ist unsere Liebe lebenserhaltend. Sie ist eine erwärmende Rauschdroge in der gesellschaftlichen Kälte, die dem Leben einen Sinn zu geben vermag, die vereinsamende Distanzen und furchterregende Abstraktionen überstrahlt. Wo denn sonst könnten wir uns verstanden, geborgen und nahe fühlen, wenn nicht in unseren Liebesbeziehungen? Ist der Liebe wie dem Sexuellen seelisch und sozial die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tun beide eben dies alles, das Sexuelle und die Verliebtheit eher kurz-, die Liebe eher langatmig. Deshalb wird an der Idee von Generation zu Generation festgehalten. Deshalb gibt es im Sexual- und Liebesleben keinen Stillstand.
Hinzu kommt eine Sonderbarkeit: Je mehr der Kapitalismus auch bei uns nach seinen ureigensten Prinzipien agiert, das heißt ohne die attraktive Maske der sozialen |19|Marktwirtschaft, desto freier scheint das Sexual- und Liebesleben gestellt zu werden. Jedenfalls können sich alte Sexualfragmente und neue Sexual- und Liebesformen ungehindert, ja sogar befördert, und oft auch unbestraft, ja sogar akzeptiert, entfalten. Dieser Gewinn an Vielfalt ist untrennbar verschränkt mit einem Verlust an ökonomischer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. Im Grunde ist all das nicht überraschend, weil allen kapitalistischen Systemen Moral oder gar Sexualmoral äußerlich bleibt, unbedeutend, ja fremd ist.
Doch noch einmal zurück zu den Anfängen: Die individuelle Geschlechtsliebe unserer Philosophen ist eine überaus kostbare Idee, die bisher nicht verwirklicht werden konnte, weil die eigentliche Menschheitsgeschichte noch nicht begonnen hat. Sie ist eine junge, instabile Fähigkeit der Menschen, derer sie in menschlichen Verhältnissen nicht werden entraten wollen. In ihr überwintert eine gesellschaftliche Einzigartigkeit: Die Liebe kann nicht hergestellt und nicht gekauft werden. Das aber ist in einer Welt des Machens und Verkaufens phantastisch.
Seit mehr als drei Jahrzehnten studiert die deutsche Sexualwissenschaft die Sexualität junger Leute. So wurden beispielsweise von den Hamburger, Leipziger und Frankfurter Sexualforschern 11- bis 16-jährige Schüler, 16- und 17-jährige Jugendliche, 20- und 21-jährige Arbeiter, 19- bis 30-jährige Studenten und schließlich homosexuelle Männer und Frauen sowie Paare aus verschiedenen Altersgruppen interviewt. Da einige Studien im Verlauf von mittlerweile 30 Jahren in großen Abständen wiederholt worden sind, ist es möglich, gesicherte Aussagen zu den Veränderungen im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu machen.
Allerdings sind uns oft nur pauschalisierende Aussagen über »die« Jugendlichen möglich, die es streng genommen gar nicht gibt, weil statistische Durchschnittswerte erhoben worden sind und keine Untergruppen- oder Einzelfallanalysen vorliegen, die auf individuell wie subkulturell recht unterschiedliche Verhaltensweisen eingehen könnten, was angesichts von heute mehr als 400 abgrenzbaren Jugendkulturen in Deutschland – Szenen, Cliquen, Gangs, Posses, Tribes, Families usw. –, von denen die ebenso informierte wie clevere Werbeindustrie bei ihren Kampagnen ausgeht (Farin 2002), äußerst aufwändig und kostspielig wäre, im Grunde gar nicht zu machen ist.
Weder enthemmt noch enthaltsam
Vor mehr als drei Jahrzehnten, Ende der sechziger Jahre, stellten wir fest, dass sich die damals 16- und 17-Jährigen sexuell so verhielten wie die 19- und 20-Jährigen zehn Jahre zuvor (vgl. Sigusch und Schmidt 1973). Das, was »sexuelle Revolution« genannt wurde, bestand also hinsichtlich des Verhaltens darin, etwa drei Jahre früher mit Verabredungen, Küssen, Petting und Geschlechtsverkehr zu beginnen. Die tradierten Wertvorstellungen wurden jedoch nicht in Frage gestellt. Liebe, Treue, Ehe und Familie bestimmten weiterhin die moralischen Vorstellungen der jungen Leute. Sie interpretierten sie aber nicht so eng und vor allem nicht so männerzentriert wie die Generationen davor. Statt einer festen Beziehung vor der Ehe |21|plädierten sie für mehrere Liebesbeziehungen mit gegenseitiger Treue, sodass wir damals den Standard »passagere« beziehungsweise »serielle Monogamie vor der Ehe« diagnostizierten.
Besonders wichtig ist, dass damals viele Jugendliche Sexualität als lustvoll und beglückend erlebten und nicht mehr so stark wie ihre Eltern unter Ängsten und Schuldgefühlen litten. Das war historisch etwas wirklich Neues, vor allem für Mädchen und junge Frauen. Neben der allgemeinen sexuellen Liberalisierung in der Gesellschaft hat sicher die Möglichkeit der hormonellen Kontrazeption mit der »Pille« zu dieser Entspannung beigetragen.
Heute sieht das Sexualleben der jungen Leute einerseits sehr ähnlich, andererseits doch recht anders aus (vgl. Schmidt 1993/2000). Ähnlich ist es, weil Jugendliche heute mit Dating, Küssen, Petting und Geschlechtsverkehr nicht früher beginnen und auch keine umfangreicheren Erfahrungen machen als am Ende der sechziger |22|Jahre. Insofern hat sich die sexuelle Revolution nicht fortgesetzt. Berichte in den Medien, nach denen die heutige Jugend entweder sexuell enthemmt sei oder sich von der Sexualität ganz verabschiedet habe, gehen gleichermaßen an der Wirklichkeit vorbei. Denn nach wie vor haben mit 16 oder 17 Jahren etwa drei Fünftel der Jungen und Mädchen schon einmal genitales Petting und etwa zwei Fünftel schon einmal Geschlechtsverkehr erlebt.
Auch die zentralen Wertvorstellungen haben sich nicht wesentlich verändert. Heute binden junge Männer die Sexualität sogar noch stärker an eine feste Liebesbeziehung mit Treue als vor einer Generation. Sie sind zwar noch nicht so romantisch wie junge Frauen, legen aber deutlich größeren Wert auf gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Häufiger als früher gestehen sie ihrer Freundin Gefühle, vor allem die der Liebe. Große Angst haben Jugendliche vor dem Verlassenwerden, vielleicht weil sie als Nachkommen der sexuellen »Revolutionäre« erfahren mussten, dass Ehen weder heilig sind noch ewig.
Die gravierendste Veränderung betrifft jedoch den kulturellen Stellenwert der Sexualität als solcher: Sie hat in der Gesellschaft insgesamt und damit auch für junge Leute an symbolischer Bedeutung eingebüßt. Heute ist Sexualität selbstverständlicher, ja banaler, wird nicht mehr so stark mystisch überhöht wie zur Zeit der sexuellen Revolution. Weil sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann sie auch unterbleiben.
Das hat entspannende Wirkungen. Junge Männer, die sexuell abstinent leben, können sich heute eher dazu bekennen, ohne von ihren Freunden automatisch verhöhnt zu werden. Junge Frauen geben heute seltener an, dass ihre sexuellen Erlebnisse lustvoll und befriedigend waren. Jungen erleben die Pubertät nicht mehr wie früher als den unbeherrschbaren Einbruch des Sexualtriebes. Auch später erleben sie ihre Sexualität nicht mehr als so dranghaft und unaufschiebbar. Dazu passt, dass sie heute weniger Sexualpartnerinnen haben als vor einer Generation. Von Promiskuität kann sowieso keine Rede sein. Nur Minderheiten haben im Jugendalter mehr als einen bis maximal drei Sexualpartner.
Gleichzeitig kommen Selbstbefriedigung und gleichgeschlechtliche Akte nicht mehr so häufig vor wie früher. Während der Rückgang der Onanie nur gering ist, sind homosexuelle Kontakte inzwischen eine Rarität. Früher machte beinahe jeder fünfte Junge derartige Erfahrungen, heute sind es nur noch zwei Prozent.
Annäherung der Geschlechter
Einer der Gründe für diese Veränderungen ist die bereits erwähnte kulturelle Entmystifizierung der Sexualität, die in den letzten Jahrzehnten mit dem Abbau von |23|Sexualverboten und der partiellen Gleichstellung der Geschlechter einherging. Heute wachsen Mädchen und Jungen von der Kindheit an zusammen auf, wie sich an der allgemein durchgesetzten Koedukation ablesen lässt. Sexuelle Betätigung im Jugendalter, allein oder zu zweit, wird heute von vielen Eltern akzeptiert oder sogar befürwortet. Geschlechtsverkehr findet ganz überwiegend nicht mehr heimlich an konspirativen Orten statt, sondern zu Hause, inmitten der Familie. Diese »Familiarisierung« der Jugendsexualität bringt natürlich neue Probleme im Sinne einer fürsorglichen Belagerung mit sich.
Der Wegfall der Verbote und die Annäherung der Geschlechter haben der homophilen Jugendphase, die einst von den Dichtern besungen worden ist, den Garaus gemacht. Seitdem die Homosexualität als eine eigene Sexualform öffentlich verhandelt wird, befürchten Jungen, sie könnten als »Schwuler« angesehen werden. Dass die Homosexualität bei uns auch noch mit der Krankheit AIDS auf besonders enge Weise verbunden ist, schreckt gewiss zusätzlich ab.
Ansonsten ist die Bedeutung von AIDS für die sexuelle Entwicklung junger Leute nicht ganz leicht einzuschätzen. Nach dem, was sie bewusst im Kopf haben, scheint der Einfluss relativ gering zu sein. So kennen die meisten Jugendlichen die Übertragungswege des Erregers, und die allermeisten verhalten sich so, dass es gar nicht zu einer Infektion kommen könnte. Wie es jedoch im Unbewussten aussieht, welche irrationalen Ängste dort vorhanden sind, wissen wir viel zu wenig.
Doch zurück zum Verhältnis der Geschlechter, das heute im Zentrum des Geschehens steht. Ging es früher um den Trieb des Mannes und den Orgasmus der Frau, geht es heute darum, wie junge Frauen und Männer am besten miteinander zurecht kommen. Wichtiger als der sexuelle Akt ist eine feste Beziehung, in der sich die Partner angenommen und aufgehoben fühlen. Pointiert gesagt ist das der historische Weg von der Wollust zur Wohllust. Beschritten werden konnte er nur, weil Tabus und Geschlechterdifferenzen abgebaut worden sind und sich Jungen allmählich trauen, Gefühle zu zeigen und darüber mit ihrer Freundin zu sprechen, obgleich sie immer noch eher als Mädchen dazu erzogen werden, stark und hart zu sein.
Heute haben jedoch die jungen Männer nicht mehr unwidersprochen das Heft in der Hand. Hier schlägt sich sehr konkret der jahrzehntelange Kampf vieler Frauen um Selbstbestimmung nieder. Dafür ein Beispiel: Sehr viel häufiger als früher bestimmen heute junge Frauen, was in einer Beziehung geschieht und wie weit sexuell gegangen wird. Die sexuelle Initiative geht heute deutlich seltener vom Jungen und deutlich häufiger vom Mädchen aus. Das gilt auch für den ersten Geschlechtsverkehr. Ende der sechziger Jahre willigten beinahe 90 Prozent der Mädchen »dem Jungen zuliebe« ein. Heute sind es nicht einmal 30 Prozent.
|24|Ängste vor Schwangerschaft und Missbrauch
Recht vernünftig ist auch das Verhütungsverhalten der jungen Leute. Beim ersten Geschlechtsverkehr wenden heute rund 80 Prozent ein sicheres Mittel an, etwa doppelt so viele wie vor einer Generation. Später kümmern sich beinahe alle um die Verhütung. Als Mittel nennen gut 70 Prozent der Mädchen und gut 50 Prozent der Jungen die »Pille«, fast 40 Prozent der Mädchen und fast 60 Prozent der Jungen das Kondom. Zur Akzeptanz des Kondoms bei Jugendlichen haben sicher die AIDS-Präventionskampagnen beigetragen, die dessen Anwendung als erwachsenes und verantwortungsbewusstes Handeln darstellen. Auch die Kontrazeption ist heute eine Angelegenheit beider Geschlechter. Neben die Empfängnisverhütung der Frauen ist die Zeugungsverhütung der Männer getreten.
Obgleich das Verhütungsverhalten heute rational und wirksam ist, gehört die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft nach wie vor zu den großen Belastungen der Jugendzeit. Über 70 Prozent der jungen Frauen haben schon einmal Angst gehabt, schwanger zu sein. Demgegenüber hat weniger als ein Zehntel der Jugendlichen schon einmal befürchtet, sich auf sexuellem Weg mit dem AIDS-Erreger infiziert zu haben.
Neben der Angst vor dem Ende einer Beziehung und vor einer ungewollten Schwangerschaft belasten sexuelle Übergriffe das Liebesleben der Heranwachsenden und damit das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Zwei Drittel der Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren geben an, mindestens einmal sexuell attackiert worden zu sein. Bei den Jungen ist es jeder vierte. Knapp ein Zehntel der Mädchen wurde Opfer eines schweren Übergriffs wie eines erzwungenen Geschlechtsverkehrs. Mädchen werden ausschließlich von Männern attackiert, Jungen ganz überwiegend.
Durch öffentliche Diskurse sind junge Leute heute für das Problem des sexuellen Missbrauchs stark sensibilisiert − jedenfalls im Gegensatz zu früher und jedenfalls im Westen Deutschlands. Im Osten ist vieles (noch?) anders. Beispielsweise kommt es deutlich seltener zu sexuellen Übergriffen, sind Mädchen aus dem Osten häufiger koituserfahren als Mädchen aus dem Westen, leben Jungen aus dem Westen häufiger enthaltsam als Jungen aus dem Osten (vgl. Starke und Weller 1993/2000).
Doch noch ein Wort zur Lage der Familie. Nach dem Übergang vom »Ganzen Haus« vergangener Jahrhunderte, das 30, 40 oder 100 Personen umfasste, zur Kleinfamilie im Sinne von Vater-Mutter-Kind bewegen wir uns seit einigen Jahrzehnten der Tendenz nach auf eine Kleinstfamilie zu. Sie besteht zum Beispiel aus einem Erwachsenen und einem Kind, den so genannten Alleinerziehenden, kann aber auch nur eine Person umfassen, die dann gewissermaßen ihre eigene Familie ist. Statistisch gesehen werden die jungen Frauen bei der Heirat 27 oder 28, die |25|Männer fast 30 Jahre alt sein. Beinahe jede dritte Ehe wird geschieden werden. Immer mehr Männer und Frauen werden unverheiratet zusammenleben oder allein bleiben. Im Durchschnitt wird eine Frau ein bis zwei Kinder bekommen, statistisch: eineinhalb. Jede dritte Frau wird kinderlos bleiben.
etwas gebracht haben, können nicht alt werden. Mit 60 Jahren benehmen sich viele noch so, als seien sie gerade 30 geworden. Es müsste Erwachsenen doch sehr zu denken geben, dass sie trotz des herrschenden Jugendfetischs nicht mit der Jugend tauschen würden. Nicht einmal die, die schon mit ihrem verwelkten Leib konfrontiert sind, möchten heute noch einmal von vorne anfangen. Arme Jugend. Ist sie nicht angesichts dieser Lage erstaunlich sanft und diszipliniert? Müsste sie in dieser Lage nicht noch sehr viel härter und schriller sein?
Als Sexualforscher nach einer zusammenfassenden Zeitdiagnose gefragt, würde ich sagen: Das Sexualleben der jungen Generation, das die empirische Sexualwissenschaft, allen voran Kurt Starke aus Leipzig und Gunter Schmidt aus Hamburg, seit Jahrzehnten erforscht, oszilliert heute zwischen romantischer Treue in intimen Beziehungen und schrillen Selbstinszenierungen auf öffentlichen Liebesparaden.
Wie lässt sich ein solcher Befund theoretisch einordnen? Davon soll in den folgenden Beiträgen die Rede sein.