Cover

Das Buch

Eigentlich wollen Anna und Charles Cornick einen gemütlichen Abend miteinander verbringen, als das FBI vor ihrer Tür steht: Die Bewohner des kleinen Dorfes Wild Sign in den kalifornischen Bergen sind spurlos verschwunden. Die Aussteiger hatten die Siedlung illegal auf einem Gebiet errichtet, dass Charles’ Familie gehört, und deshalb übergeben die Behörden die Ermittlungen nur zu gerne in die Hände der Werwölfe. Als Anna und Charles gemeinsam mit ihrem Rudelgefährten, dem erfahrenen Werwolf Tag, am Ort des Geschehens ankommen, ist ihnen sofort klar, dass hier Magie im Spiel ist. Alte Magie. Mächtig und böse. Können die Werwölfe die Bewohner von Wild Sign noch retten oder sind sie für immer verloren?

Die Autorin

Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Nach mehreren Umzügen lebt die Bestsellerautorin mit ihrer Familie in Washington State.

Eine Übersicht der von Patricia Briggs im Heyne Verlag veröffentlichten Romane finden Sie am Ende des Bandes.

Patricia Briggs

Pfad der Wölfe

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

WILD SIGN

Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch

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Deutsche Erstausgabe 01/2022

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2021 by Hurog, Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Umschlagillustration: Dan dos Santos

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28012-3
V001

www.heyne.de

Für Collin, Amanda und Jordan.

Möge das Leben wieder langweiliger werden.

Vorspiel

Sommer, Nordkalifornien

Dr. Sissy Connors kontrollierte ihr GPS-Gerät, rückte ihren Rucksack zurecht und wanderte tiefer in die Berge hinein. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass es einen einfacheren Weg zu ihrem Ziel geben musste, aber keiner der Wege auf der offiziellen Karte schien in die von ihr anvisierte Richtung zu führen.

Sie hatte ausreichend Wandererfahrung – ihr Doktor in Botanik und die vielen Exkursionen während des Studiums hatten sie in die entferntesten Ecken der Welt geführt, auf der Suche nach seltenen Pflanzen, die vielleicht dabei halfen, Ebola, multiresistente Keime oder eine andere Geißel der Menschheit zu besiegen. Elvis – halb Schäferhund, halb irgendeine andere große Rasse – trottete neben ihr her. Auch er hatte viel Erfahrung mit solchen Ausflügen. Gewöhnlich lief er hin und her, um alles zu beschnüffeln, was sein Interesse weckte, suchte dann für einen Moment bei seiner Besitzerin Anschluss und ging wieder auf Entdeckungstour. Doch auf den letzten fünf Kilometern hatte er an ihrer Seite geklebt wie Kaugummi. Er wirkte nicht unbedingt nervös, doch als er sich das letzte Mal so benommen hatte, waren sie von einem Puma verfolgt worden.

Und in diesem Gebiet gab es Pumas. Elvis’ Verhalten sorgte dafür, dass Sissy die Äste der Bäume musterte, unter denen sie entlangwanderte. Aber abgesehen von ein paar Stachelschweinspuren hatte sie bisher keinen Hinweis darauf entdeckt, dass sie und Elvis nicht allein waren.

Sissy glaubte nicht, dass der Hund wegen eines Pumas beunruhigt war … weil auch sie etwas spürte. Die Luft fühlte sich … seltsam an. Auf ihren Wanderungen hatte sie über die Jahre heilige Orte erkundet, die zu betreten sich wie ein Sakrileg angefühlt hatte. Sie war auf verborgene Lichtungen oder Höhlen gestoßen, die ihre Gegenwart zu begrüßen schienen. Sie war durch Gegenden gekommen, in denen sich ihr der Magen umgedreht hatte – obwohl sie mit ihren fünf Sinnen nichts Außergewöhnliches wahrgenommen hatte.

Der heutige Tag wirkte, als könnte es eine dieser Wanderungen werden. Sissy fand Trost darin, das Nackenfell ihres großen Hundes zu streicheln, als sie gemeinsam höher stiegen.

Es war heiß, und der Weg führte schon seit ein paar Kilometern bergauf. Sissy machte an einer schattigen Stelle Rast und gab Elvis etwas Wasser. Im Anschluss trank auch sie einen tiefen Schluck. Ihr Ziel war nicht mehr fern; sie umkreiste es schon seit einer Weile, auf der Suche nach einem begehbaren Pfad durch die Wildnis.

»Dad«, sagte sie ins Leere. »Ich weiß, dass du gerne als Einsiedler unter dem Radar fliegen willst, aber das hier ist lächerlich.«

Eine Stunde später fand sie endlich einen Weg – fünfzehn Minuten nachdem sie sich geschworen hatte, umzudrehen und zu ihrem Auto zurückzukehren. Sie kam an einer Felswand vorbei … und blieb stehen.

Eine Zeichnung.

Selbst müde, verschwitzt und frustriert zauberte der Anblick ein staunendes Lächeln auf Sissys Lippen. Sie hob die Hand, berührte das Zeichen aber nicht. Die Petroglyphe war vielleicht fünfzig Zentimeter im Quadrat und formte ein Symbol, das sie bisher noch nie gesehen hatte. Zwei Striche führten von unten nach oben, um sich am Scheitelpunkt zu treffen. Jeder der Schenkel wurde von drei kurzen, nach oben führenden Strichen gekreuzt.

Sie trat einen Schritt näher an den Felsen heran – und bemerkte dadurch einen steilen Pfad, der an der Klippe nach oben führte, versteckt in einem Felsspalt, den sie von ihrem bisherigen Standpunkt aus nicht hatte sehen können. Es gab keinen Hinweis darauf, dass dieser Weg zum Lager ihres Vaters führte, aber immerhin verlief er in die richtige Richtung.

Sie kletterte nach oben – und schob Elvis mit einer Hand am Hintern vor sich her, wann immer seine Krallen auf dem glatten Stein keinen Halt fanden. Der Aufstieg war steil, aber nicht so steil, dass es nötig gewesen wäre, ihre Ausrüstung herauszuholen. Bevor sie oben ankam, musste sie noch durch ein Loch zwischen einem Baum und einem Felsbrocken von der Größe eines kleinen Hauses kriechen. Sie hätte vielleicht aufgegeben, wäre der Gedanke, Elvis wieder über die Felsen nach unten schaffen zu müssen, nicht so beängstigend gewesen. Sie hoffte, dass sie oben einen ungefährlicheren Abstieg entdecken würde.

Endlich überwand sie die besonders herausfordernde Passage und fand sich auf einer kleinen Lichtung wieder, die von einem dichten Wald umgeben war.

Die Bewohner hatten ihre Siedlung so geschickt unter den Bäumen errichtet, dass Sissy einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Doch kaum hatte sie das erste Haus bemerkt, konnte sie auch die Umrisse der anderen Gebäude ausmachen.

Es gab ein paar Zelte, aber überwiegend bestand die Siedlung aus richtigen Hütten oder Jurten. Es war mehr als ein Feldlager – beinahe ein kleines Dorf, komplett mit einer ordentlichen Hütte, an der ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift United States Postal Service – Wild Sign hing.

Sissy wunderte sich, dass ihr Vater dieses Maß an Zivilisation ertrug. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass auf der Lichtung eine unheimliche Stille herrschte.

»Hey!«, rief sie. »Dad?«

Sie wartete. Dann versuchte sie es mit: »Dr. Connors, hier ist deine Tochter – ebenfalls Dr. Connors!«

Doch die einzige Antwort, die sie erhielt, war das Rauschen des Windes in den Bäumen.

Sommer, Missoula, Montana
Vor den Ereignissen in Die Stunde der Wölfe

Ich gehe nie wieder shoppen«, verkündete Rachel ernst, bevor sie ihren Whiskey hinunterkippte. Sie war eine kleine Frau mit lockigem, braunem Haar und rundlichem Körperbau. Irgendwie war es ihr gelungen, den superfitten Look zu vermeiden, den die meisten Werwölfe automatisch aufwiesen. Anna war davon ausgegangen, dass Rachel den Whiskey nur bestellt hatte, weil Leah dasselbe Getränk gewählt hatte, doch so wie Rachel den Alkohol hinunterstürzte, musste Anna ihre Einschätzung wohl noch einmal überdenken.

Anna nippte wenig begeistert an ihrem Drink. Sie hätte ebenfalls Whiskey nehmen sollen. Egal, ob dies der Cocktail der Woche war oder nicht … er schmeckte wie Farbverdünner. Zweifellos sollten die darin enthaltenen Promille für den Geschmack entschädigen, doch als Werwölfin blieb ihr dieser Vorteil verwehrt.

Hätte sie sich mit ihrem Gefährten in diesem intimen Hinterzimmer des Restaurants befunden, hätte Anna gelacht, ihren Drink zur Seite geschoben und etwas anderes bestellt. Auch wenn sie sich nicht unbedingt unter Feinden befand, dann doch zumindest in gefährlicher Gesellschaft. Deswegen musste sie kompetent wirken. Kompetente Personen – dessen war Anna sich sicher – bestellten keine Getränke, die sie nicht mochten, nur um andere Leute mit ihrer nicht vorhandenen Kultiviertheit zu beeindrucken.

Rachel setzte ihr Glas ab und verkündete: »Keine Umkleidekabinen mehr für mich.«

Anna brummte mitfühlend.

»Das«, sagte Sage anklagend und wies mit dem Rand ihres Glases auf Anna, »war ein Charlie-Brummen. Keine Männer auf diesem Ausflug bedeutet auch kein Brummen.«

Sage, schön wie ein Model, war die einzige Person, der es gestattet war, Annas Gefährten Charlie zu nennen – Anna selbst eingeschlossen. Sage behandelte Charles wie einen großen Bruder. Und Charles, dachte Anna reumütig, behandelte Sage, als wäre sie nur ein weiteres Mitglied im Rudel seines Vaters: schützenswert, aber auch auf Abstand zu halten. Nur in Gesellschaft seines Bruders und seines Vaters senkte er die Schutzmauer aus Gleichgültigkeit ein wenig, die er gewöhnlich um sich herum errichtete. Bei Anna gab es keine Schutzmauer – Charles gehörte ihr, von seiner komplizierten Seele bis hin zu seinem unkomplizierten Herzen.

Anna hätte im Moment lieber mit ihrem Gefährten vor dem Kaminfeuer gekuschelt … oder etwas gegessen, das einer von ihnen gekocht hatte. Stattdessen nippte sie gute zweihundert Kilometer von ihrem Zuhause entfernt in einem Restaurant in Missoula an ihrem Farbverdünner – der Höhepunkt des von Leah geplanten Mädelsausflugs. Anna war sich ziemlich sicher, dass sie jedem Klamottenladen, Schuhladen und sogar jeder Make-up-Theke der Stadt einen Besuch abgestattet hatten.

Ihre Füße taten weh. Sie bemerkte, dass Rachel – als sie glaubte, niemand würde etwas bemerken – ihre Schuhe abstreifte und unter dem Tisch mit den Zehen wackelte. Selbst Sage, die Shoppingqueen, rieb sich den linken Unterschenkel. Nur Leah, mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen, wirkte vollkommen entspannt. Stirnrunzelnd musterte Anna Leahs Füße – vielleicht war es doch nicht verrückt, Unsummen für Schuhe auszugeben.

Leah, die Gefährtin des Marrok, organisierte diese Shoppingtrips nach Missoula oder Kalispell, damit die Frauen des Rudels sich besser kennenlernen konnten. Gewöhnlich durfte jede Person ohne Y-Chromosom daran teilnehmen. Doch diesmal hatte Leah klare Vorgaben gemacht: Anna, Sage, Leah und Rachel. Sonst niemand. Der Ausflug sollte Rachel – die erst vor einem Monat zum Rudel gestoßen war – das nötige Vertrauen schenken, sich zu öffnen.

Rachel war kein ständiges Rudelmitglied; sie würde nur bleiben, bis der Marrok einen Ort gefunden hatte, an dem sie sich wohlfühlte. Einen sicheren Ort. Wie Anna nur zu gut wusste, half selbst die Stärke, die mit der Existenz als Werwolf einherging, nichts, wenn die, die einen misshandelten, ebenfalls Werwölfe waren. Rachel war nach einer umfassenden Neustrukturierung ihres alten Rudels zu ihnen gekommen. Es hatte keine Toten gegeben, aber das Rudel hatte einen neuen Alpha bekommen. Der alte war in ein anderes Rudel abgeschoben worden, in dem er nicht an der Spitze stand. Bis auf den Alpha war Rachel die Einzige, die umgesiedelt worden war.

Rachel hatte in den zwei Wochen seit ihrer Ankunft kaum ein Wort gesprochen, und wenn doch, dann nur flüsternd. Also hatten Leah oder der Marrok (oder beide) beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.

Und das bedeutete offenbar Shopping.

Anna hob das Glas an die Lippen und gab vor zu trinken, um ihr Lächeln zu verbergen. Nach zwei Stunden Einkaufsmarathon hatte Rachel ihre Angst vergessen und in den Chor aus Stöhnen eingestimmt, als Sage endlich ein Kleid gefunden hatte, in dem sie fett aussah.

Groß und schlank – mit braunem Haar, das von goldenen Strähnen durchzogen wurde, und tiefblauen Augen –, konnte Sage mühelos mit den meisten Models mithalten. Es war eine echte Leistung, ein Kleidungsstück zu finden, das ihr nicht stand. Die Ablenkung und das gemeinsame Schimpfen über hässliche Klamotten hatten Rachels Abwehrmechanismen durchbrochen und eine ruhige, aber von Natur aus fröhliche Person enthüllt.

Welche Fehler Leah sonst auch haben mochte, sie war gut in ihrem Job. Und die halbherzige Rivalität zwischen Leah und Sage (Anna war überzeugt, dass die beiden die ständigen Sticheleien insgeheim genossen) erinnerte sie immer daran, dass sich in diesem Rudel niemand Sorgen machen musste, ein dominanterer Wolf könnte wegen einer bissigen Bemerkung überreagieren. Die Kabbeleien riefen einem ständig ins Gedächtnis, dass das Rudel des Marrok ein sicherer Hafen war.

Anna war wahrscheinlich zu dem Ausflug eingeladen worden, weil sie eine Omega war. Alleine ihre Anwesenheit verhinderte viele Spannungen und sorgte dafür, dass sich die Leute in ihrer Nähe wohlfühlten, ohne dass sie selbst etwas dafür tun musste. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie zu Hilfe gerufen wurde, um einem beeinträchtigten Werwolf zur Seite zu stehen. Jetzt, wo Rachel endlich redete, konnte Bran einen guten Platz für sie finden – ob in seinem eigenen Rudel oder in einem anderen, in dem Gewalt weniger allgegenwärtig war. Der Großteil von Brans Rudel bestand aus Wölfen, die ein Alpha mit weniger Macht niemals hätte kontrollieren können.

Schließlich wurde das Essen serviert. Als sie ungefähr die Hälfte ihres Steaks verschlungen hatte, meldete sich Rachel plötzlich zu Wort: »Ich fühle mich wie eine Versagerin.«

Sage umfasste ihre Hand. »Wieso das denn?«

»Ich bin eine Werwölfin«, sagte Rachel. »Und ich musste vor meinen Problemen davonlaufen, weil ich mich nicht selbst schützen konnte.«

»Ich auch«, entgegnete Sage sofort.

Rachel starrte sie mit offenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen an. Anna hatte im Verlauf des Tages immer wieder bemerkt, dass Rachel Sage quasi wie eine Heldin verehrte. Was Anna gut verstand. Sage hatte auch Anna als Erste im Rudel willkommen geheißen. Sie achtete darauf, Neuankömmlinge zu schützen, bis sie auf den eigenen zwei Beinen (oder vier Pfoten) stehen konnten. Sie war eine sehr effektive Wächterin; ihr Ruf als erbarmungslose Kämpferin sorgte dafür, dass sich die meisten Wölfe im Rudel lieber nicht mit ihr anlegten.

Insgeheim vermutete Anna, dass auch die Tatsache, dass Sage Charles »Charlie« nannte, dabei half, Mobbing zu verhindern. Die meisten Wölfe im Rudel fürchteten sich ein wenig vor Annas Gefährten. Keiner von ihnen hätte es jemals gewagt, Charles einen Spitznamen zu verpassen, der ihm nicht gefiel.

Sage nickte Rachel zu und sagte: »Keine Wölfin kann allein gegen ein ganzes Rudel bestehen.« Sie warf einen verschmitzten Blick in Annas Richtung. »Ausgenommen Wölfe mit dem Nachnamen Cornick.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Rachel. »Selbst Charlie musste Asil mitnehmen, um das Chaos wieder in Ordnung zu bringen, das dein alter Alpha in seinem Rudel angerichtet hatte, Rachel.«

Das war nicht der Grund, warum Asil Charles begleitet hatte. Er war mitgekommen, damit es nicht zu Trotzreaktionen kam, die Charles gezwungen hätten, jemanden zu töten, der sonst hätte gerettet werden können. Charles war Furcht einflößend. Asil war eine Legende. Kein normaler Wolf hätte sich jemals widersetzt, wenn die beiden zusammen auftauchten.

Sage stieß Anna unter dem Tisch an. Zumindest glaubte Anna, dass Sage sie berührt hatte. Vielleicht war es auch Leah gewesen. Anna sollte ihre Geschichte erzählen, damit sich Rachel nicht so allein fühlte. Oh, wie wunderbar.

»Ich auch«, murmelte Anna wenig begeistert. »Ich hatte meine eigene Zeit im Fegefeuer.«

»Aber du bist eine Omega«, rief Rachel. »Niemand misshandelt einen Omega-Wolf.«

Anna hätte das am liebsten so stehen lassen, aber Sage sagte: »Und doch haben sie genau das getan. Sie haben Anna die Verwandlung aufgezwungen. Und dann folgten mehrere Jahre voller Vergewaltigungen, Misshandlungen und Schläge.«

Anna schob ihren Teller zur Seite, weil ihr der Appetit vergangen war. »Ja«, sagte sie. »Auch ich musste gerettet werden, Rachel. Aber das hier ist kein ›Mein Leben ist schlimmer als deines‹-Wettbewerb.«

Anna vermied es, Rachel anzusehen, und fing dabei aus Versehen Sages Blick auf. Die andere Wölfin senkte sofort die Lider, und Anna bemerkte eine leichte Röte auf ihren Wangen. Hatte Sage das Gefühl, es sei ein Wettbewerb? Anna verzog das Gesicht.

»Sieht so das Leben als Werwölfin aus?«, fragte Rachel niedergeschlagen. »Misshandlungen? Die Suche nach einem Beschützer? Einem Retter?« Rachel war nicht groß, vielleicht fünf Zentimeter kleiner als Anna. Neben Sage und Leah, die beide hochgewachsene Frauen waren, wirkte sie zerbrechlich und hilflos.

»Das hängt von dem Rudel ab, in dem du lebst«, sagte Anna. »Es gibt Hunderte von Werwölfinnen dort draußen – und der Marrok holt jährlich nur eine oder zwei Frauen in sein Rudel, die Hilfe brauchen.«

»Vergiss nicht, dass Werwölfe sehr lange leben«, meinte Sage. Sie zog Annas verschmähtes Steak zu sich heran und stellte ihren leeren Teller vor Anna ab. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir alle … ob nun Mann oder Frau … irgendwann einem schlechten Alpha begegnen oder in eine Situation geraten, in der wir misshandelt werden. Wichtig ist nur, dass du nicht auf die andere Seite überwechselst und dich den Bösen anschließt.«

Leah schob ihren leeren Teller nach hinten und kippte ihren vierten Whiskey hinunter. »Ich denke, es hängt alles von der Wahl des richtigen Gefährten ab.«

Manchmal merkte man den älteren Wölfen an, dass sie in einer anderen Epoche aufgewachsen waren – wie Leah, die selbstverständlich davon ausging, dass ein guter Gefährte die Lösung aller Probleme war. Anna hätte darauf gewettet, dass niemand sonst am Tisch das kühle Verhältnis zwischen Bran und Leah als erstrebenswert betrachtete. Die Beziehung war nicht missbräuchlich. Oder zumindest beinhaltete sie keine körperliche Gewalt. Aber Anna hätte es höchstens einen Monat mit einem Gefährten ausgehalten, der zwar alle ihre Bedürfnisse befriedigte – ihr aber keine echte Zuneigung entgegenbrachte.

Doch das sprach natürlich niemand laut aus. Auch wenn Leahs Gesichtsausdruck in Anna die Frage aufwarf, ob Leah nicht wusste, was sie alle dachten.

»Wie hast du Bran gefunden?«, fragte Sage.

Wow! Anna war davon ausgegangen, dass zumindest Sage die Geschichte kannte. Es gab eine Menge Dinge, über die quasi jeder außer Anna Bescheid wusste. Sie hatte geglaubt, die Details von Brans Brautwerbung um Leah gehörten dazu. Anna war klug genug, keine Fragen über die Vergangenheit der älteren Wölfe zu stellen. Wenn diese wollten, dass man etwas erfuhr, erzählten sie es. Anna wusste über die erste Begegnung von Bran und Leah nicht mehr, als dass Bran losgezogen war, um eine Gefährtin zu finden … und mit Leah zurückgekehrt war.

Leah spielte an ihrer Serviette herum. Ihre frisch lackierten Nägel glitzerten im schummrigen Licht des Restaurants. Leah sah sich um, als hielte sie nach Zeugen Ausschau. Doch sie hatte einen eigenen Nebenraum im Restaurant reserviert. Die beiden anderen Tische waren leer, die Tür war geschlossen und weit und breit war kein Personal zu sehen.

»Darüber rede ich nicht«, sagte sie kurz angebunden, ihr Tonfall darauf angelegt, jede Nachfrage zu verhindern.

Doch Sage war aus härterem Holz geschnitzt. Sie schnaubte nur. »Das ist mir bewusst, Süße. Sonst hätte ich die Geschichte schon mal gehört. Aber jetzt musst du es uns erzählen. Also, wie bist du in die Fänge …« Leah zog warnend eine elegante Augenbraue hoch. Sage grinste und änderte mitten im Satz ihre Formulierung. »Ähm, wie bist du unserem furchtlosen Anführer begegnet?«

Für einen Moment glaubte Anna, Leah würde sich weigern zu antworten, doch schließlich sagte sie: »Meine Eltern waren Missionare, die von Gott dazu berufen worden waren, die heidnischen Wilden zu bekehren.« Sie griff nach ihrer unbenutzten Salatgabel und spähte auf das Besteck hinunter, als erkenne sie ihr eigenes Spiegelbild darin.

Viele der alten Wölfe akzeptierten Dinge als Selbstverständlichkeit, die von Annas Generation durchaus genauer hinterfragt wurden. Trotzdem hätte Anna es nie für möglich gehalten, dass die Leah, die sie kannte, vollkommen ernsthaft so eine Aussage traf. Falls sie die Worte ironisch gemeint hatte, konnte Anna es nicht aus ihrer Stimme hören.

»Ich war fünfzehn – das älteste von sechs Kindern«, fuhr Leah fort. Die Worte klangen wahr, doch der beiläufige Tonfall deutete an, dass unter der Oberfläche mehr Ungesagtes lauerte als bei einem Eisberg Masse unter der Wasserlinie. »Papa hat uns alle in einen Wagen geladen und ist mit uns Richtung Westen aufgebrochen.«

»Wann war das?«, fragte Anna. Sie mochte Leahs Geschichte nicht kennen, aber sie kannte die ihres Ehemannes. Er war noch ein Kind gewesen, als Bran Leah mit nach Hause gebracht hatte. »Späte 1820er- oder frühe 1830er-Jahre?«

Anna hatte sich nie für Geschichte begeistert, doch das Leben in einem Wolfsrudel – mit Mitgliedern, die bereits vor der Ankunft der Mayflower auf Erden gewandelt waren – hatte Annas Wissensstand um einiges verbessert. Die Expedition von Leahs Vater nach Westen schien relativ früh erfolgt zu sein. Der Bürgerkrieg und der Goldrausch in Kalifornien hatten Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden. Die Expansion nach Westen war hauptsächlich von diesen beiden Ereignissen vorangetrieben worden.

Leah zuckte die Achseln. »Vielleicht? Ich erinnere mich nicht. Die Kirche hat uns finanziell unterstützt, um die Rettung der heidnischen Seelen voranzutreiben.« Da war er, der Hauch von Sarkasmus, auf den Anna gewartet hatte. »Papa hat uns alle in den Planwagen gesteckt – abgesehen von meinem jüngsten Bruder, der erst ein paar Monate alt war. Er blieb bei meiner Tante und ihrer Familie zurück. Wir wollten uns irgendwo niederlassen. Meine Tante und ihr Mann sollten uns später folgen.«

Sie stieß ein wenig amüsiertes Lachen aus. Gleichzeitig begann sie, mit dem Fuß einen Rhythmus auf den Boden zu trommeln. »Er hatte wirklich keine Ahnung, was er tat, mein Papa. Hatte große Träume, aber keinen gesunden Menschenverstand. Zuerst wurde das Essen knapp. Dann brach sich mein kleiner Bruder James ein Bein und starb an den Folgen einer Infektion.«

Leah sprach schnell und monoton – als wollte sie um keinen Preis über die Worte nachdenken, die über ihre Lippen kamen.

»Zwei Tage später begann eines unserer Pferde, heftig zu lahmen, und das andere konnte den Wagen nicht allein über das raue Terrain ziehen. Nachdem meinen Eltern nichts Besseres einfiel, lagerten wir eine Woche lang neben einem Bach, um zu sehen, ob sich das lahmende Pferd erholen würde. Die Pferde waren Haustiere, und Papa ertrug den Gedanken nicht, sie zu erschießen, nur damit wir etwas zu essen hatten. Er konnte nicht mal angeln, und Mama hat die ganze Zeit nur geweint. Mein Bruder Tally und ich fingen schließlich ein paar Forellen. Aber nicht genug. Wir waren am Verhungern, als er kam.«

Die Tür hinter ihr schwang auf, und ein Kellner trat ein, um die Teller abzuräumen. Leah kleisterte sich ein höfliches Lächeln ins Gesicht und bestellte mit ein wenig zu lauter Stimme einen weiteren Whiskey.

Zögernd nahm Rachel ein Glas Rotwein. Gerade, als Sage sich für Wasser entschied, fing Leah leise an zu summen.

Anna bat ebenfalls um Wasser, doch ihre Aufmerksamkeit war von Leahs Musik gefesselt. Der volle Ton ließ vermuten, dass Leah wahrscheinlich eine wunderschöne Singstimme hatte. Anna hatte sie allerdings noch nie singen gehört. Im Rudel des Marrok war Musik allgegenwärtig. Anna war immer davon ausgegangen, dass Leah nicht besonders musikalisch war; dass sie nicht singen konnte … nicht, dass sie es einfach nicht tat.

Die Tür fiel ins Schloss, und sie waren wieder allein. Niemand sagte etwas, um Leah nicht zu unterbrechen. Die Melodie, die sie summte, war fesselnd – so wie »Bohemian Rhapsody«, »Stairway to Heaven« oder »In the Hall of the Mountain King« jeden Zuhörer fesselten. Anna ertappte sich dabei, wie sie sich nach vorne beugte, um besser zuhören zu können, und im selben synkopischen Rhythmus mit dem Fuß wippte wie Leah.

Sage starrte Leah aus großen Augen an. Anna, die neben ihr saß, konnte ihre Besorgnis – fast schon Angst – wittern.

Doch es war Rachel, nicht Sage, die den seltsamen Zauber brach, der von ihnen allen Besitz ergriffen hatte. »Was singst du da?«, fragte sie. »Ich glaube, ich habe das schon mal gehört – kann mich aber nicht erinnern, wo.«

Leah verstummte. Sie blinzelte heftig, als hätte auch sie sich in der Musik verloren.

»Wo bleibt denn dieser verdammte Whiskey?«, murmelte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Es ist nichts, Rachel. Nur ein Lied, das ich mal gehört habe.«

Leah schien überrascht, als sie die Lüge aus ihrem eigenen Mund hörte. Doch sie korrigierte ihre Aussage nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern und sagte knapp: »Auf jeden Fall ist Bran aufgetaucht. Sie haben mich gerettet, indem sie mich in einen Werwolf verwandelt haben.«

Das war seltsam. Die Verwandlung war nicht der richtige Weg, um jemanden zu retten, der kurz vor dem Verhungern stand. Und wer waren »sie«? Charles hatte ihr erzählt, dass Bran allein aufgebrochen war, bevor er Leah zurückgebracht hatte.

Doch Anna war klug genug, ihre Fragen nicht laut zu stellen. Leah hasste Charles … was ihre Beziehung zu Anna manchmal verkomplizierte. Wenn Anna Leah über eine Situation ausfragte, über die sie offensichtlich nicht reden wollte, würde Leah dichtmachen.

»Du warst fünfzehn?«, fragte Sage schockiert, weil sie, wie Anna, in den letzten hundert Jahren geboren worden war. »Du warst fünfzehn Jahre alt, als er dich zu seiner Gefährtin genommen hat?«

Das war ein berechtigter Einwand. Doch er stand nicht ganz oben auf Annas Liste – ihrer sehr langen Liste – von Fragen. Und sie war sich ziemlich sicher, dass die Aussage so nicht stimmte. Jemand – Charles auf jeden Fall – hätte Anna erzählt, wenn Leah erst fünfzehn gewesen wäre, als Bran sie mit nach Montana gebracht hatte.

Leah schüttelte den Kopf und antwortete schnell: »Fünfzehn? Gute Güte, nein. Zwanzig oder älter, glaube ich. Ihr wisst doch, wie die Zeit nach einer Weile verschwimmt.«

Dieser »er«, der Leah und ihre hungernde Familie gefunden hatte, war also nicht Bran gewesen. Fünf Jahre oder länger hatten zwischen diesem Tag und dem Tag gelegen, an dem Bran sie »gerettet« hatte, indem er sie in eine Werwölfin verwandelt hatte. Leah hatte ihnen nur den Anfang und das Ende ihrer Geschichte erzählt – aber die gesamte Mitte ausgelassen. Wieso hatte sie damit begonnen, wenn sie nicht wollte, dass sie alles hörten?

Anna wartete darauf, dass Sage eine dieser Fragen stellte, doch offensichtlich hatte die andere Wölfin beschlossen, das Thema ruhen zu lassen.

Es folgte ein langer Moment der Stille, in dem Rachel austrank, Sage ihr Make-up in Ordnung brachte und Leah in ihr leeres Whiskeyglas starrte. Anna versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie vor Neugier fast platzte. Fünf Jahre, in denen etwas so Wichtiges geschehen war, dass Leah nicht darüber reden wollte. Anna würde Charles in die Mangel nehmen müssen.

Sie holte ihr Handy hervor und schickte ihm eine Nachricht: Fast fertig. Weißt du, wie und warum Bran Leah verwandelt hat?

Sie hatte ihrem Gefährten im Laufe des Tages immer wieder geschrieben. Hatte ihm ein Foto von Sage in dem unvorteilhaften Kleid geschickt – aber nicht von den fünfhundert Kleidern/Blusen/Röcken, in denen sie atemberaubend ausgesehen hatte. Anna war nicht dumm. Charles hatte auf keine ihrer Nachrichten geantwortet. Er musste unterwegs sein. Bran überredete ihn in Annas Abwesenheit gerne zur Jagd.

Doch diesmal schrieb er zurück: Keine Ahnung. Da redet nicht darüber. Aber er spricht generell kaum über die Vergangenheit. Tut mir leid, dass ich bisher nicht reagiert habe. War mit Da laufen.

Leah summte wieder. Als Anna die Melodie erneut hörte … konnte sie sich gut vorstellen, wie sie klingen würde, wenn ein großes Orchester sie spielte, während die Pauken denselben Rhythmus trommelten wie Leahs Fuß. Anna spürte die Macht der Musik als Brummen in ihrer Brust.

Sie sah von ihrem Handy auf und musterte Leah stirnrunzelnd. Die Fähigkeit, sich vorzustellen, wie ein Musikstück mit einer anderen Instrumentierung klingen würde, gehörte zu den Dingen, die Anna ein Stipendium an der Northwestern University ermöglicht hatten. Aber dieses Gefühl ging tiefer als alles, was sie bisher empfunden hatte.

Sie wusste, dass sie die Melodie unterbrechen musste, also fragte sie: »Was ist das für ein Lied, Leah? Rachel hat recht. Es klingt vertraut, aber ich kann es nicht benennen.« Das Lied sorgte dafür, dass sie losziehen wollte, um … irgendetwas zu tun.

Leah hörte auf zu summen, wirkte aber, als wäre sie vollkommen in Gedanken versunken.

»Anna hat Musik studiert«, erklärte Sage Rachel. »Bevor die bösen Wölfe sie erwischt haben.«

Sages Worte lenkten Anna von dem musikalischen Rätsel ab. Sie bemühte sich, keine finstere Miene zu ziehen. Anna hatte ihre Zeit in der Hölle auf keinen Fall in allen Details schildern wollen. Warum also stellten sich ihr die Nackenhaare auf, wenn Sage ihre Geschichte auf etwas reduzierte, das direkt aus Grimms Märchen hätte stammen können? Sie starrte stirnrunzelnd in ihren fast vollen Cocktail. Sie wusste, dass sie überreagierte. Vielleicht sollte sie nichts trinken, was nach Farbverdünner schmeckte.

Leah berührte kurz Annas Hand und schenkte ihr ein Lächeln, das für einen Moment dafür sorgte, dass sie noch schöner aussah als Sage. Und niemand war schöner als Sage. Es war ein Lächeln, wie Anna es noch nie auf Leahs Gesicht gesehen hatte – und sie vermutete, dass die Musik dafür verantwortlich war.

»Ich weiß nicht, wie das Lied heißt«, sagte Leah, ihre Stimme ein wenig heiser, als hätte sie eine trockene Kehle. Sie starrte an die Wand, doch Anna hätte darauf gewettet, dass sie etwas anderes sah. »Ich kannte den Titel nie – oder zumindest glaube ich das nicht. Dieses Lied verfolgt mich in letzter Zeit. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.«

In diesem Moment kehrte der Kellner mit ihren Getränken zurück. Und im Anschluss sprachen sie über weniger schwierige Themen. Doch die Melodie, die Leah gesummt hatte, hallte in Annas Kopf nach. Gleichzeitig empfand sie wegen der unvollständigen Geschichte ein leichtes Unwohlsein. Sie hatte das Gefühl, dass Leahs Erzählung wichtig war. Zwischen dem Moment, als jemand Leahs verhungernde Familie gefunden hatte, und dem Tag, an dem Bran und jemand anderes Leah gerettet hatten, waren fünf Jahre vergangen.

Und wovor gerettet?