Dort, wo die Feuer brennen
Astrid Töpfner
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Für meine Familie.
Wenn Soledad an ihre Mutter dachte, musste sie automatisch an Kirschen denken.
Nur passierte es andersrum leider genauso: Wenn sie Kirschen sah, kamen ihr unweigerlich auch ihre Mutter und der heiße Sommer des Jahres 1992 in Spanien in den Sinn.
Das Kirscheis, das ihre Mutter jedes Jahr hergestellt hatte, war für sie selbst nach all den Jahren immer noch das Beste. Nicht, dass sie viele Vergleichsmöglichkeiten hätte, denn man findet es nie in Supermärkten, selten in Eisdielen. In Siena, in Italien, hatte sie es einmal gefunden. Mit einem ihrer Freunde war sie dort gewesen – Jan? Oder Tobias? –, damals frischverliebt, heute längst wieder getrennt. Aber der Geschmack war chemisch und pappsüß gewesen. Das Eis ihrer Mutter hingegen hatte nach Sommer geschmeckt, nach der kühlen Luft am frühen Morgen, wenn gerade eben die Sonne aufging, nach der Frische des Meeres an einem heißen Sommertag, nach brennendem Sand unter nackten Füßen. Nach langen Ferien. Vor allem aber hatte es nach Mutterliebe geschmeckt. Denn dieses Eis war die einzige Form der Liebe gewesen, die ihre Mutter ihnen in den letzten Jahren ihres Lebens zugestanden hatte.
Während sich die Schulfreunde auf die langen Sommerferien freuten, weil – na ja, weil halt Ferien waren und das süße Nichtstun winkte –, freuten sich Soledad und ihre Schwester Carmen darauf, weil die Kirschensaison begann. Als sie noch klein waren, beziehungsweise bis sie, Soledad, sieben oder acht Jahre alt war, verschwand ihre Mutter Ende Juni oder anfangs Juli für einen Tag, denn sie würde die Früchte niemals im Supermarkt kaufen, nicht einmal auf dem Markt. Sie fuhr dafür extra von ihrem kleinen Dorf an der Costa Brava über die nahe Grenze nach Frankreich, nach Céret, wo die besten Kirschen weit und breit wuchsen. Dick und fast schwarz und so süß, dass einem schwindlig wurde beim ersten Bissen. Wenn sie an jenem Tag nach Hause kam, das Auto vollbepackt mit Obstkisten, war sie gelöst und fröhlich. Es war die einzige Zeit, in der sie lachte, und das verwandelte diese Tage in die schönsten des ganzen Jahres. Später, nach Erics Geburt, ging es ihr immer schlechter und papá ließ sie nicht mehr Autofahren. Dann brachte ein Nachbar, der beruflich öfters in Frankreich zu tun hatte, die Kirschen. Ein kleiner Gefallen, den Soledads Vater großzügig mit Weinflaschen aus ihrem Weingut entgalt. Ihre Mutter hätte sich schlicht geweigert, das Eis mit anderen Kirschen herzustellen als mit denen aus Céret. Und was wäre von ihr geblieben ohne das Eis?
So aber wuselte Soledads Mutter jeden Sommer geschäftig in der kleinen Küche herum, zog sich ihre Schürze an – schwarz, da sah man die Flecken nicht –, steckte sich die Haare hoch und entkernte Kirschen, eine nach der anderen, bis ihre Finger bluteten. Natürlich war es nur der Saft, aber Soledad mochte es, Carmen mit dem Gedanken zu erschrecken. Dabei hörte die Mutter Radio und summte die Lieder mit, tanzte allein in der Küche. Stein um Stein entfernte sie, stundenlang, anscheinend ohne jemals müde zu werden. Zu essen gab es in diesen Tagen nichts. Das war der andere Vorteil: Die Geschwister durften mit ihrem papá drei Tage lang auswärts essen gehen.
Papá. Ihr Vater. Ihr Vater sah dem Treiben seiner Frau in dem kalkulierten Wissen Erwachsener zu, dass das Glück von kurzer Dauer sein würde. Sie hingegen, Soledad, Carmen und selbst der kleine Eric, hofften jedes Jahr, dass ihre Mutter diesen Sommer wie durch ein kirschrotes Wunder endgültig aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen würde.
Aber sie wurden jedes Jahr aufs Neue enttäuscht. Denn waren die Kirschen entsteint, mit Zucker und Gewürzen eingekocht, püriert und zu Eis gefroren, begann die Rückwandlung auch schon wieder, langsam, aber sicher Formen anzunehmen. Sie begann genau in dem Moment, in dem die Mutter ihre Schürze abnahm, müde, ausgelaugt, als wäre ihr ganzes Herzblut in die unzähligen Behälter geflossen, in denen das Eis für die nächsten paar Wochen und Monate in der großen Tiefkühltruhe ruhen würde, bis spätestens im Oktober die letzte Portion gegessen wäre. Ganz langsam löffelten Soledad und ihre Geschwister die erste Schüssel Eis, die die Mutter immer noch liebevoll dekorierte, mit vanilliger, geschlagener Sahne, bunten Zuckerperlen und Minzeblättchen, während sie mit bereits fahrigen Bewegungen über ihre Köpfe strich.
»Schmeckt es euch?«, fragte sie dann immer, ein feines Lächeln, kaum hier, schon weg, und sie nickten bloß, der Mund zu kalt, um zu antworten. Vielleicht war es aber auch die Angst, die ihnen die Kehle zuschnürte. Die Angst vor dem Moment, in dem das Licht aus den Augen ihrer Mutter verschwand, das Leben aus ihrem Körper und sie nur noch in ihrem Sessel sitzen würde. In ihrer eigenen Welt versunken, in die niemand sonst Zutritt hatte.
2005
Soledad bedeutet übersetzt Einsamkeit. Die Abkürzung davon lautet Sol: Sonne.
Sol wusste nicht, ob ihren Eltern dieses Paradox bewusst gewesen war, als sie ihren Namen ausgesucht hatten. Aber die Einsamkeit darin hatte sie schon vor Jahren aus ihrem Leben gestrichen. Genau dann, als sie, gerade achtzehn geworden, das erste Mal ihren Fuß auf den Boden Berlins gesetzt hatte. Seit diesem Moment hieß sie nur noch Sol. Sie war Wärme, sie war Strahlkraft. Sie war pure Energie. Endlich war ihre Zeit gekommen und es gab nichts, das sie aufhalten könnte.
Sterne tanzten auf ihrer Haut und vor ihren Augen. Der dröhnende Bass wummerte durch Sol hindurch, vibrierte in ihr, er brachte jedes ihrer feinen Härchen dazu, sich aufzustellen. Er versetzte ihren Körper in Schwingungen, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Und nicht wollte. Tanzen, tanzen, Körper an Körper. Sie sang, ohne ihre eigenen Worte zu verstehen, es spielte keine Rolle, denn es gab keinen Text außer dem, den sie der Musik geben wollte. Um sie herum zuckten Lichter, Farben, Schatten und Leute, die ihr unbekannt waren, aber das gleiche Ziel verfolgten wie sie: abtanzen und feiern. Das waren jedenfalls Sols Gründe. Und nicht nur an dem Abend, sondern so gut wie jede Woche. Einmal, zweimal, dreimal. Der DJ hob den Arm, Sol hob den Arm, in einer Bewegung und unisono mit dem Rest der jubelnden Menge. Die Luft stand dick im Raum, sie roch nach Nebelmaschine und Ekstase und Schweiß, abstoßend und berauschend zugleich. Sol könnte sie trinken, so durstig war sie nach dem Hochgefühl, das diese Luft verkörperte. Die Berliner Clubs waren ihre Droge, sie brauchte den Lärm, sie brauchte den Alkohol und die Anonymität einer vollen Tanzfläche, sie brauchte die Glückshormone, die wie jetzt durch ihren Körper rieselten und sie von innen kitzelten und zum Lachen brachten. Denn nicht immer war in ihrem Leben alles so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hätte. Pechmarie hatten ihre Freunde sie gerne genannt, wenn ihr wieder einmal etwas Dummes passiert war, denn Dummes war ihr häufig passiert, sehr häufig. Zu häufig, für ihren Geschmack. Aber das war jetzt vorbei.
Der Beat wechselte, eine Welle lief durch die Menge, als wären sie alle ein Körper, ein Empfinden und Sol mittendrin. Zum Bersten gefüllt mit Freude. Elektrisiert. Sie bräuchte nur die Arme auszustrecken, dachte sie, und ihre Finger auf die Scheitel der Tänzer neben ihr zu legen und ihre Energie würde glitzernd und funkelnd von einem zum nächsten fließen, Impulse, einem gigantischen Nervensystem gleich. Kurz war sie versucht, es auszuprobieren, und diese eine Sekunde des Innehaltens brachte ihren Puls, bis eben noch im Einklang mit dem Rhythmus der Musik, zum Stolpern, riss sie aus ihrer Trance. Auf einmal spürte sie den Schweiß, der in ihren Augenbrauen hing und ihr zwischen den Brüsten hinablief. Mit beiden Händen hob sie die hüftlangen Haare, um ihren Nacken zu lüften, aber die Erfrischung blieb aus. Sie brauchte eine Pause.
An der Bar bestellte sie sich ein Redbull mit Bacardi – es war zwei Uhr, Zeit für einen kleinen Koffeinschub. Das Getränk rann eiskalt durch ihre Kehle und das allein genügte fürs Erste bereits, ihre Batterien aufzuladen. Auf der anderen Seite der Bar hob ein junger Mann sein Glas und prostete ihr zu, aber Sol schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln und wandte sich ab. Sie war vergeben, verlobt und bald verheiratet. Sie müsste nur endlich mit Kristof ein Datum für die Hochzeit festlegen.
Jemand stieß ihr unsanft den Ellbogen in den Rücken, sie drehte sich nicht einmal um, das war normal. Sie stand hier auch schon viel zu lange und nahm anderen Durstigen den Platz weg. Mit einem langen Zug leerte sie ihr Glas, strich sich mit der vom Kondenswasser feuchten und kalten Hand über Stirn und Wangen und freute sich schon darauf, wieder in der Menge abzutauchen und sich von der Musik in Trance versetzen zu lassen.
»Sol?«
Wie aus dem Nichts stand ihre beste Freundin Anne neben ihr und dahinter eine Truppe Frauen, die Sol nur vom Sehen kannte. Anne anzurufen, hatte sie sowieso vorgehabt, es gab so tolle Neuigkeiten, fantastisch, dass sie sie ihr jetzt schon erzählen konnte.
»Du strahlst so«, schrie Anne ihr ins Ohr. »Haben sie dir radioaktive Teilchen in den Drink geschüttet?« Und zum Barmann gewandt: »Einmal das Gleiche, bitte!«
Sol lachte laut und schickte ihm ein »Bacardi Redbull« hinterher. Und zu Anne gewandt: »Er ist neu. Kennt meine Vorlieben noch nicht.«
Kaum hielt Anne das Getränk in der Hand, wies Sol erst auf ihr Ohr, dann in Richtung Außenbereich. Der Geräuschpegel war zu hoch und zu dicht, als dass man mehr als Floskeln austauschen konnte. Aber bevor sie überhaupt vor der Tür waren, berichtete sie ihrer Freundin bereits von ihrem Tag, ihrem Tag, diesem Tag, der sie so sehr mit Glück aufgetankt hatte, dass das Pech von jetzt an einen weiten Bogen um sie schlagen würde. Die frische Luft schlug ihr unangenehm kühl entgegen. Kühl dafür, dass der Juni bereits begonnen hatte.
»Dieses Event, von dem ich dir erzählt hatte? Für diesen Großkunden? Das für die Agentur so wichtig war?« Sol konnte förmlich spüren, wie die Sonne in ihr noch stärker strahlte, so heiß, dass die Kühle der Luft an ihr verdampfen müsste. Wenn der heutige Tag eine Farbe wäre, dann wäre er golden wie ein Sieger. Ein Spiel, das sie seit ihrer Kindheit fast jeden Tag spielte. Den Tagen eine Farbe zuordnen. Anne sah sie mit gespitzten Lippen an, als bereite sie sich darauf vor, zum gegebenen Zeitpunkt in Jubel auszubrechen. »Ich habe alles perfekt hinbekommen, Anne. Alles! Es hat geklappt wie am Schnürchen, schon fast jenseits des Möglichen. Katharina war be-geis-tert!«
Katharina war die Chefin der Eventagentur, bei der Sol seit vier Jahren arbeitete, bei der sie ganz klein angefangen und sich langsam, aber stetig hochgearbeitet hatte. Sie hatte Katharina kennengelernt, als sie während des Jurastudiums als Messehostess arbeitete, um das Geld für die Miete zu verdienen. Und merkte zur gleichen Zeit, dass die Hektik der Messe- und Eventwelt ihr sehr viel mehr lag als die nicht enden wollenden Stunden im Hörsaal. Es war der Nervenkitzel, den sie an ihrer Arbeit so mochte. Das Ziel, immer noch etwas Besseres für den Kunden finden zu wollen, dessen Erwartungen zu übertreffen. Die Aufregung, die damit einherging, und vor allem die Tatsache, dass sie dafür nie stillstehen konnte. Sie musste recherchieren, telefonieren, Locations, Musiker, Magier oder Bootsvermietungen suchen, Preise und Konditionen verhandeln, alles wieder ändern, weil der Kunde das Datum verschieben wollte. Servietten mit dem handgestickten Logo des Kunden organisieren, Menükarten in fünf Sprachen übersetzen lassen, Zirkuszelte auftreiben oder Rokoko-Puderperrücken für einen Maskenball. Sie war ein Workaholic und sie wollte es nicht anders. Ihre Chefin war ehrgeizig und perfektionistisch, und diesen Ansprüchen gerecht zu werden, puschte sie zusätzlich. Dieses Event heute war das bislang größte gewesen, das sie allein hatte betreuen dürfen. Ein großer Vertrauensbeweis in sie. Und sie hatte abgeliefert.
Endlich ließ Anne den Jubelschrei los, den sie die ganze Zeit auf ihren Lippen getragen hatte. »Das ist großartig!«
»Aber das ist noch nicht alles«, unterbrach Sol sie gleich wieder. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte sie, dass der junge Mann, der ihr vorhin an der Bar zugeprostet hatte, inmitten einer kleinen Gruppe unweit von ihnen stand und direkt zu ihr starrte. Sein Interesse schmeichelte ihr, war ihr zur gleichen Zeit aber auch unangenehm. Denn eigentlich war diese Neuigkeit so groß, dass sie sie herausschreien sollte, um zuzusehen, wie sie sich über ihren Köpfen entfaltete und langsam ihre ganze Pracht preisgab wie ein vielfarbiges Feuerwerk. Stattdessen beugte sie sich zu Annes Ohr, als ob die Musik immer noch eine Barriere zwischen ihnen bilden würde und nicht mehr nur als Hintergrundrauschen wahrnehmbar wäre. »Im September findet ein Riesenevent statt. Prominenter Kunde. Die Projektleiterin geht in Mutterschaftsurlaub und rate mal, wer sie ersetzen soll?« Wieder wollte Anne etwas sagen, gratulieren wahrscheinlich, aber Sol hielt ihr den Finger an den Mund. Es war immer noch nicht genug der guten Nachrichten. »Und wenn ich das richtig gut hinkriege, so richtig saustark gut und perfekt …« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, ihre Wange lag an Annes und sie roch ihren eigenen redbullsüßen Atem. »… dann werde ich Katharinas rechte Hand.« Sie rückte ein Stückchen von Anne ab und beobachtete verzückt, wie sich der Gesichtsausdruck ihrer Freundin von ungläubig zu wow wandelte.
»Du wirst befördert!«, quietschte sie schließlich, als ob das schon beschlossene Sache wäre und nicht eine Frage ihrer nächsten Performance, und erging sich noch ein paar Sätze lang darüber, wie hart Sol doch arbeitete und dass das nur gerecht wäre und sowieso gar nicht anders hätte kommen können. Dann zündete Anne sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Hast du’s Kristof schon erzählt?«
Selbstverständlich. Ihr Blick schweifte zu dem jungen Mann und gleich wieder zurück zu Anne. »Wir sind zusammen hergekommen, um zu feiern. Aber du weißt ja, wie er ist.« Und sie lachte, wenn auch weniger enthusiastisch als zuvor. »Er ist nur noch ein Schatten seiner früheren Partyfreudigkeit. Vor einer Stunde ist er bereits nach Hause gegangen.« Sie hob die Schultern, teils entschuldigend, teils verständnislos, aber auch wenn sie bald heiraten würden, konnte dennoch jeder sein eigenes Leben leben.
Anne verdrehte die Augen und trat die Zigarette aus. »Seit er in dieser großen Kanzlei arbeitet, mutiert er zum Spießer. Aber dafür kann er dir das Frühstück ans Bett bringen, wenn du morgen ausschläfst.« Sie sah auf die schmale Uhr an ihrem Handgelenk und korrigierte sich: »Heute, natürlich.« Dann rieb sie sich die Arme und wies zum Eingang. »Wollen wir wieder zu meinen Mädels reingehen und tanzen?«
»Geh du vor. Ich komme gleich.«
Sobald Anne im Gebäude verschwunden war, trat der junge Mann auch schon auf Sol zu, als ob er nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte. Hatte er auch, war sie sich sicher, seine Blicke hatten es ihr erzählt. Was er von ihr wollte, wusste sie noch nicht ganz genau, er würde es ihr bestimmt gleich sagen und dann würde sie entscheiden.
»Hi.« Er hatte eine angenehme Stimme. »Ich habe dich schon ein paar Mal hier gesehen«, sagte er weiter und rückte noch etwas näher an Sol heran. So nah, dass sie seine riesigen Pupillen erkannte.
Sie trat einen Schritt zurück. Kurz und schmerzlos. »Hör zu. Ich bin verlobt und würde es gerne bleiben, wenn du verstehst, was ich meine? Was das angeht, hast du keine Chance bei mir, tut mir leid.« Das war das ewige Problem in den Clubs. Man wurde mit allen möglichen Arten des Flirtens und der Anmache konfrontiert, von Typen, denen man am liebsten den Drink ins Gesicht schütten würde, bis hin zu solchen wie ihrem Gegenüber, bei denen man durchaus auch mal weiche Knie bekommen könnte. Aber noch nie, niemals war sie einer solchen Einladung gefolgt.
Der junge Mann lachte kurz auf. »Botschaft angekommen. Schade. Aber magst du noch ein wenig mit uns abhängen?« Er deutete mit dem Kopf auf die kleine Gruppe hinter ihm, zwei Frauen und ein weiterer Mann.
Sol zögerte kurz. Dann fragte sie: »Hast du noch etwas von dem, was du genommen hast?«
Der Rest der Nacht war kurz. Die Zeit blieb natürlich die Zeit, so wie sie eben war, eine Endlosschleife wie die Musik, die nie endete, so weit wie der dunkle Himmel, der sich langsam erhellte und die Sterne auslöschte. Aber wozu brauchte sie Sterne, sie war selbst einer, eine Sonne und rundherum Farben, rot und golden und pink und blau und bunt, die sie einwickelten wie lange Bänder. Eine große, immens große Umarmung, die ganze Welt umarmte sie und sie umarmte sie zurück, sie wollte diese ganze Liebe, die sie fühlte, hinausschreien, und wahrscheinlich tat sie das auch. Sie verspürte das unbändige Bedürfnis, auf etwas herumzukauen, und grub ihre Zähne wieder und wieder in ihre Lippen, während sie tanzte. Später wären ihre Lippen geschwollen und sensibel, als ob sie stundenlang geküsst hätten. Zwei unterschiedliche Arten des Glücks. Ihr Körper bewegte sich von allein, sie könnte ihn nicht stoppen, selbst wenn sie es wollte. Er tanzte, er sprang und hüpfte und verrenkte sich, gebar in einer warmen Explosion nach der anderen tausend funkelnde Sterne. Sol lachte und ihr Lachen war Musik und die Musik ihr Lachen. Irgendwann schloss der Club und während Anne und ihre Gruppe nach Hause gingen, zog Sol mit den anderen um die Häuser, weit davon entfernt, müde zu sein. Der Sonnenaufgang schob sich erst nur zögerlich über den Horizont, ein zartgrauer Dunst, der sich in rosa und apricot wandelte und schließlich wie ein goldener Vorhang über die Stadt fiel. Zeichen dafür, dass die Nachtvorstellung beendet war. Zeit, nach Hause zu gehen.
Sol stieg aus dem Taxi. Frühaufsteher joggten an ihr vorbei, Hunde wurden Gassi geführt, und als sie auf die Uhr sah, erschrak sie selbst: Es war kurz nach sieben Uhr, der Sonntag bereits in vollem Gange. Eine satte Müdigkeit bemächtigte sich endlich ihrer; sie wankte beim Treppensteigen und ihre Finger zitterten beim Türaufschließen.
»Wo zur Hölle warst du?«
Kurz erschrocken blinzelte sie in Kristofs Gesicht, fuhr sich dann mit der Zunge verstohlen über die zerbissenen Lippen und dachte an den lustvollen Schmerz, den es ihr bereiten würde, ihn jetzt zu küssen. Ein bisschen der weltumspannenden Liebe widerstand immer noch dem dunkelblauen Sog der Müdigkeit und sie versuchte, ihn an sich zu ziehen. Sie wollte seine Nähe spüren, ihre Nase in seine Halsbeuge pressen und seinen Sonntagmorgenduft riechen, mit den Fingernägeln sanft über seine Unterarme kratzen, bis sich die Härchen aufstellten und er von sich aus ihren Mund suchen würde. Aber Kristof hielt sie auf Armlänge von sich und von einem Moment auf den nächsten fühlte sie sich wie ein räudiges Tier.
»Was hast du genommen?«
Ihre Zunge war pelzig und fühlte sich zu groß an für ihren Mund. »Nur eine Pille«, sagte sie mit Mühe, schob sich mit einem Stich des Bedauerns an ihrem Verlobten vorbei und legte sich ins Bett. Nur selten noch nahm sie etwas, ganz selten im Vergleich zu vor zwei Jahren, als Kristof noch der König des Partylebens gewesen war. Eine Pille Ecstasy, eine kleine Linie Koks. Nichts Schlimmes, nur genug, um Druck abzulassen. Als ob sie sich selbst zur Ader lassen würde, nur, ohne sich zu schneiden. Sie konnte kein Blut sehen. Nicht mehr, seit sie hatte mit ansehen müssen, wie sich dieser dunkelrote Fleck unter dem Kopf ihrer Mutter ausgebreitet hatte. Dank dieser kleinen Eskapaden spürte Sol das Leben, spürte, wie es von jeder Zelle ihres Körpers Besitz ergriff und sie mit Liebe erfüllte, nicht nur für die ganze Welt, sondern, und vor allem, für sich selbst. Denn sie lebte. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder Eric nicht mehr.
Sol fröstelte, obwohl es warm sein musste im Zimmer, und wickelte die Decke um sich. Kristofs Gereiztheit empfand sie als übertrieben. Er hätte im Club bleiben, ihr Glück mit ihr teilen, mit ihr feiern können. Wie früher. Anne hatte recht: Er mutierte zum Spießer. Sie war dabei, einen Spießer zu heiraten. Und bevor sie die Augen schloss, dachte sie erneut daran, dass sie endlich ein Datum festlegen mussten.
Der Duft von Kaffee weckte sie auf. Kristof saß am Bettrand. Kurz glaubte Sol, einen Anflug von Traurigkeit in seinem Blick zu erkennen, aber sie schob diesen Eindruck auf ihre noch verschlafenen Augen. Die Uhrzeit hingegen erkannte sie sehr deutlich: elf Uhr.
»Für mich?«, nuschelte sie, deutete auf die Kaffeetasse in Kristofs Hand und freute sich über die Geste. Wortlos reichte er ihr die Tasse und prompt verbrannte sich Sol den Mund beim ersten Schluck. Kurz wallte Panik in ihr hoch, die Angst, dass sie den gestrigen Tag und die Aussicht auf Beförderung und das Glück, das sich endlich bei ihr eingenistet hatte, dass sie das alles nur geträumt hatte, und sie hielt den Atem an. Aber der pochende Schmerz nicht nur im Mund, sondern in ihren geschwollenen Lippen erinnerte sie an die ausgelassene Feier vor nur wenigen Stunden und sie atmete erleichtert aus. Der Kaffee war einfach zu heiß gewesen und sie zu verschlafen, um es zu merken. Das hatte nichts mit Pech zu tun.
Dass Sol nur vier Stunden schlief, war keine Seltenheit. Schlaf wurde überbewertet, fand sie. Leute, die am Wochenende bis mittags im Bett blieben, sollten das ihrer Meinung nach nur tun, wenn sie bis in die frühen Morgenstunden hinein gefeiert hatten. Das Leben konnte so kurz sein, warum es bewusst noch weiter beschneiden mit etwas so Profanem wie Schlaf? Man konnte die Nacht zum Tag machen, arbeiten, man konnte sich mit Freunden treffen, konnte Party machen, stundenlang Sex haben ihretwegen, seinen Hobbys nachgehen – in ihrem Fall Flamenco tanzen und sich in den Clubs zu Technobeats verausgaben. Und wenn es dann immer noch zu früh war, um müde zu sein, dann saß Sol bis zwei oder drei Uhr auf dem Sofa und trank Wein vom Weingut ihrer Familie, von dem ihr Vater in regelmäßigen Abständen eine Kiste nach Berlin schickte. Dabei schaute sie Serien, Wiederholungen von Serien oder, wenn sie die Wiederholungen schon zu oft gesehen hatte, spielte sie Mahjong auf ihrem Laptop, las sich durch die Onlinezeitungen und wartete, bis ihre innere Uhr ihr erlaubte, sich ins Bett zu legen und in einen tiefen, traumlosen Erschöpfungsschlaf zu fallen. Bis der Wecker sie um sechs Uhr daran erinnerte, dass es ein Leben zu leben galt.
Vor dem nächsten Schluck pustete Sol vorsichtig in den Kaffee und lächelte Kristof über den Tassenrand an. Er lächelte nicht zurück. Sie griff mit ihrer freien Hand nach seiner. Er entzog sie ihr. Der heiße Kaffee lief plötzlich kalt durch ihre Kehle.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Hör mal …«, sagte er im gleichen Moment. Normalerweise würden sie nun lachen und den anderen auffordern, weiterzureden. Jetzt aber schwiegen beide und es war ein Schweigen der unangenehmen Art. Eines dieser Schweigen, das Veränderung verhieß. Eines dieser Schweigen, bei dem man sich wünschte, man hätte ganz vieles ganz anders gemacht, um es nicht zu diesem Augenblick kommen zu lassen. Sol rutschte ein Stück zurück, weg von Kristof und was auch immer sie hören sollte. Automatisch erhob er sich kurz, damit sie die Decke mitziehen konnte, ließ sich anschließend zurück aufs Bett fallen, schwer wie eine Entscheidung. Dann unterbrach ein fröhliches Klingeln die Stille.
Es war Sols Telefon und sie griff danach, als wäre es ein Anker und sie in Seenot.
»Hola Carmencita«, begrüßte sie ihre kleine Schwester überschwänglich und bedankte sich in Gedanken bei ihr für das saubere Timing. Kristof atmete hörbar tief ein und wieder aus, es klang irgendwie erleichtert und das machte Sol beinahe noch mehr Angst. Wieder griff sie nach seiner Hand, flehend drückte sie sie und ja, dieses Mal drückte er zurück. Er lächelte sie sogar an, als er aufstand, ein kurzes Lächeln, aber es war da, entschuldigend und gleichzeitig liebevoll. Wie er so vor ihr stand, wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte und wieder gutmachen wollte, mit seinen verstrubbelten blonden Haaren – es war schließlich Sonntag, der einzige Tag, an dem er sie nicht mit viel Gel bändigte –, seinem Grübchen im Kinn und seinen uralten, ausgeleierten Trainingshosen, da krampfte sich ihr Herz zusammen, so sehr liebte sie ihn. Spießer hin oder her.
»Ich mag es nicht, wenn du so spät nach Hause kommst«, flüsterte er ihr zu und sah sie mit vorgeschobener Unterlippe gespielt verletzt an. Nur das. Es war nur das. Sol atmete auf. Die Spannung, die im Raum lag, verflog, nur ein kurzes Kräuseln der Wasseroberfläche eines sonst spiegelglatten Sees.
»¿Qué tal, hermanita?, wie geht es dir, Schwesterchen?«, fragte sie Carmen und warf Kristof eine Kusshand hinterher, als er das Zimmer verließ. Sie nahm einen Schluck Kaffee, der mittlerweile auf eine leicht trinkbare Temperatur abgekühlt war, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und wartete auf den Klatsch und Tratsch aus ihrer alten Heimat, die sie seit neun Jahren nicht mehr besucht hatte.
»Papá geht’s gut?« Immer die obligate erste Frage.
»Wie immer«, lautete Carmens Antwort. »Hat einen tollen Urlaub gebucht für sich und seine Irene. Zum dritten Hochzeitstag.«
»Neidisch?«, stichelte Sol, aber Carmen seufzte entgegen ihrer sonstigen Geschwätzigkeit nur. Anlass genug für Sol, nachzuhaken. »Was ist los, guapa, meine Hübsche? Ich sitze hier im Bikini, bereit dafür, dass du mich mit deinem üblichen Wortschwall überschwemmst und nichts kommt?« Aber auch mit einem schlechten Witz erreichte sie keine Heiterkeit. Stattdessen seufzte Carmen erneut, dann hörte Sol durch die Leitung hindurch das Klicken eines Feuerzeugs und ein langes Ausatmen.
»Ich habe meine Arbeit verloren. Das ist los. Don Carlos hat aus gesundheitlichen Gründen den Friseursalon geschlossen, von heute auf morgen sozusagen. Wegen seiner Arthrose und einem Bandscheibenvorfall stehe ich jetzt auf der Straße.«
Das war in der Tat bitter. Sol bezweifelte, dass sie jemals irgendetwas vom Arbeiten abhalten könnte. Für sowas gab es Schmerztabletten oder Operationen. »Du wirst bestimmt schnell etwas Neues finden«, tröstete sie ihre Schwester und verbot sich, ihr von ihrer eigenen bevorstehenden Beförderung zu erzählen. Das hatte Zeit. Carmen war sehr sensibel: Ging es ihr gut, konnte sie die ganze Welt umarmen. So wie Sol selbst, wenn sie auf Ecstasy war, fiel ihr ein und sie musste schmunzeln. Aber ging es Carmen schlecht, war der Himmel schwarz und die Nächte endlos, wuchs kein grüner Halm mehr auf dem fruchtlosen Boden der Erde und die Tage versanken im Tränenmeer. Natürlich liebte sie ihre Schwester, sie hatten viel miteinander durchgemacht. Das hatte sie zusammengeschweißt. Aber die Bruchstelle war fragil. Zu verschieden waren sie trotz allem. Zu groß die Schuld.
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas Neues will«, sagte Carmen mit Grabesstimme und Sol verzog schockiert das Gesicht. Dann aber lachte ihre Schwester, als hätte sie Sols Reaktion durch das Telefon hindurch sehen können. »Auf jeden Fall nicht gleich. Ist ja Sommer. Ich krieg ja Arbeitslosengeld. Erst einmal ein wenig den bezahlten Urlaub genießen.« Das war typisch ihre Schwester. »Ist ja auch bald mein Geburtstag.«
Erwartungsvolles Schweigen knisterte Sol durch die Leitung entgegen. Sie wusste, welche unausgesprochene Frage dahinterlag. Die gleiche wie jedes Jahr. Kommst du? Und schon wand sich der Bandwurm an Ausreden durch ihren Kopf. Familie war wichtig. Solange die Distanz gewahrt wurde.
»Du weißt doch, dass ich mit Spanien …«, begann sie die Liste durchzugehen, da unterbrach Carmen sie auch schon. Ein mittlerweile altbekanntes Spiel.
»Zu papás Hochzeit bist du auch gekommen.«
»Die war auf Ibiza.«
»Gehört auch zu Spanien.«
»Ich meine Rosas. Unser Dorf.«
»Was ist daran so schlimm?«
»Ich habe mir geschworen, keinen Fuß mehr dorthin zu setzen. Das weißt du. Und du weißt auch, warum.«
»Deine Familie lebt hier.« Der Rest ihrer Familie, meinte sie.
»Feiere deinen Geburtstag doch hier! Ich schenke dir das Flugticket nach Berlin. Ist ´ne geile Stadt.«
»Das habe ich schon vor zwei Jahren.«
»Oder wir treffen uns in Barcelona, wenn du willst. In Madrid. In Nizza. In London! In Wien, in Rom, in Dubai, nun nein, vielleicht nicht ganz so weit weg …«
»Sol! Halt. Den. Mund. Cállate.«
Die Stimme ihrer Schwester nahm einen gefährlich beleidigten Ton an, der sich schmerzhaft in Sols Herz bohrte. Aber dann kam ihr die erlösende Ausrede in den Sinn, die nicht einmal eine Ausrede war, sondern eine Tatsache, und zwar eine unabdingliche. Sie hatte die Neuigkeit für sich behalten wollen, bis es Carmen besser ging, aber nun musste sie die Karte ausspielen: »Ich kann wirklich nicht. Ich kann nicht freinehmen. Im September steigt ein Riesenevent und ich bin zur Projektleiterin benannt worden. Urlaubssperre. Das ist meine große Chance zur Beförderung, verstehst du?«
Es blieb ruhig am anderen Ende der Leitung. Nicht mehr erwartungsvoll ruhig, sondern enttäuscht ruhig. Und Sol konnte es ihrer Schwester nicht übelnehmen. Aber selbst wenn sie die Arbeit nicht hätte vorschieben können, wäre sie nicht in ihren Heimatort zurückgekehrt. Auf gar keinen Fall. Zu viele Geister. Zu viele unliebsame Erinnerungen.
1992
Sie saßen auf dem niedrigen Mäuerchen im Schatten eines gewaltigen Feigenbaums, aufgereiht wie Hühner auf der Stange und witzigerweise, wie Sol feststellte, ihrem Alter und ihrer Größe nach geordnet. Ganz rechts außen hockte Ricky, mit sechzehn Jahren der Älteste ihrer Clique. Neben ihm saß sie, Sol, vierzehn Jahre alt. Dann war da Miguel, dreizehn, und neben ihm Sols Schwester Carmen, elf, fast zwölf. Ganz links außen saß der kleine Eric, ihr Bruder. Er war sechs Jahre alt und folgte ihnen überallhin, obwohl sie ihn gar nicht dabeihaben wollten. Er war wie eine Zecke. Ließ sich nicht abschütteln.
Sol fächerte sich mit der Hand Luft zu und atmete tief den würzigen Duft ein, den sie so sehr liebte: Oleander, Zypressen, Rosmarin, reife Feigen, Staub und heißer Stein. Es war das Parfüm ihrer Heimat und sie würde nie einen Duft finden, der sie glücklicher machen würde. Niemals. Außer er roch wie Ricky. Sein Geruch war unbeschreiblich und musste etwas mit Hormonen zu tun haben. So unbeteiligt wie möglich rückte sie ein klein wenig näher an ihn heran. Eigentlich war die Annäherung mit bloßem Auge kaum feststellbar, aber als sich ihre Arme berührten, blieb für Sol die Welt stehen, in dem Moment, in dem die Sonne durch die Blätter des Feigenbaums blitzte, in dem Kurt Cobain Feels like Teen Spirit durch den Kopfhörer des Discman in ihr rechtes Ohr brüllte – der andere Knopf steckte in Rickys linkem Ohr –, und es war der schönste Moment in ihrem bisherigen Leben. Es war das pure Glück. Sie konnte nicht anders als breit zu grinsen, versteckt hinter ihren langen Haaren. Dann schielte sie durch den Vorhang zu Carmen und Miguel, die sich die Kopfhörer von Miguels Walkman teilten. Wahrscheinlich hatte Carmen ihm wieder ihre Roxette-Kassette aufgeschwatzt, so unglücklich wie er vor sich hinstarrte. Carmen hingegen hielt die Augen geschlossen und bewegte lautlos die Lippen mit, hob die rechte Hand theatralisch in die Luft. Immer ein bisschen zu viel des Guten. Eric popelte sichtlich gelangweilt in der Nase, begutachtete den Fund und strich ihn an der Mauer ab. Dann pulte er das Pflaster von seinem Knie, das er sich gestern aufgeschlagen hatte, rollte es ein paar Mal zwischen seinen Fingern hin und her und schnippte es auf den Boden. Seinen Mund und sein graues Micky Maus T-Shirt zierten violette Flecken. Feigensaft, den würde Sol nie und nimmer auswaschen können. So viel einfacher wäre es für alle, wenn er zu Hause bleiben würde, aber egal wie oft sie ihm verboten, mitzukommen, wie oft sie ihn zurückschickten – er kam immer wieder. Nur um gleich anzufangen zu jammern. Hunger, Durst, heiß, Pipi, aua. Nervensäge. Aber eine süße Nervensäge. Sol mochte ihn lieber als ihre Schwester.
»¡Qué calor!, es ist so verdammt heiß!«, rief Ricky, riss sich den Kopfhörer aus dem Ohr, und damit auch ihr. Es war heiß heute, aber auch gestern war es heiß gewesen und morgen würde es heiß werden. Es war August. Sommerferien. Es war immer heiß. Sol band sich ihre dunkle Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammen und beneidete die Jungs um ihre kurzen Haare, auch wenn sie nie auf die Idee kommen würde, ihre abzuschneiden. Ihre Haare abzuschneiden würde bedeuten, sich von allem, was sie jemals gewesen war, zu trennen. Niemals! Egal, wie sehr sie unter der Mähne schwitzte.
»Wir könnten zum Strand fahren«, schlug sie vor. Eric sprang begeistert auf, endlich Action, aber Miguel und Carmen schüttelten den Kopf. Kein Wunder: Während Sol bei Ricky hinten auf dem Motorrad mitfahren durfte, mussten sie nach dem erfrischenden Bad mit dem Fahrrad zwanzig Minuten bergauf strampeln. Und einer davon mit Eric auf dem Gepäckträger, wenn sie es nicht schafften, ihn zu Hause zu lassen.
»Kirscheis bei uns?«, lautete Carmens Gegenvorschlag. Sol bemerkte den kurzen Blick, den Ricky und Miguel austauschten, bevor sie unisono ablehnten. Das war zwar nichts Neues, aber weh tat es trotzdem jedes Mal. Sie zupfte ein großes Feigenblatt ab und setzte es als Fächer ein. Schweigend saßen sie wieder nebeneinander auf der Mauer, zehn staubige Füße, die baumelten. Es gab nichts zu tun. Eine Straßenkatze saß halb versteckt unter einer der Zypressen, die das Grundstück des Hauses neben ihnen markierten. Irgendwo im Garten dahinter fing eine Zikade an zu ratschen, eine zweite antwortete, die Melodie des Sommers. Friedlich. Sol schloss die Augen und lauschte. Kein Lüftchen bewegte sich. Ein Schweißtropfen rann kitzelnd über ihre Schläfe, sie kräuselte die Nase, um sich das Kichern zu verkneifen. Wenn der Zikadengesang für ein paar Sekunden stoppte, hörte sie Carmen zur Musik summen. Sie hatte recht gehabt, es war die Roxette-Kassette. Ricky neben ihr bewegte sich, ganz leicht nur öffnete sie die Augen, um zu sehen, was er tat. Er packte den Discman in seinen Rucksack. Als er sich wieder umdrehte, legte er wie zufällig seine Hand auf die ihre und hunderttausend Sterne stoben durch Sols Bauch. Sie traute sich nicht, die Hand wegzuziehen, aber wenn sie es nicht tat, was würde er von ihr denken? Ihr wurde heiß, noch heißer, als ihr eh schon war, aber da nahm Ricky die Hand auch schon wieder weg.
»Perdón, entschuldige«, sagte er leichthin, seine Augen aber saugten sich an ihr fest, seine schokoladenbraunen Augen, dunkle Schokolade, wohlgemerkt. Als ob er sich ihre Reaktion auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Sie fand keine Worte, keine Entgegnung, wollte einfach nur die Hand an ihre Nase halten und daran riechen, seinen Geruch inhalieren. Fasziniert sah sie zu, wie er sich mit den Fingern durch die kurzen dunkelblonden Haare fuhr, anmutig, herausfordernd, geheimnisvoll. Ein feines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und nach den Sternen ging nun die Sonne in Sol auf.
In dem Moment schrie Eric und riss Sol aus ihrer glücklichen Erstarrung. Zwei Hunde liefen auf die Gruppe zu, schwanzwedelnd, und Eric sprang von der Mauer und rannte davon. Ihr Besitzer zwanzig Meter weiter hinten pfiff laut. Die Tiere hielten inne, bellten noch einmal und kehrten weiterhin schwanzwedelnd zu ihm zurück.
»So ein Angsthase«, murmelte Carmen. »Lasst uns abhauen, solange das Baby sich versteckt.«
Sol warf ihrer Schwester einen Blick zu, der ruhig töten sollte, wenn er könnte. »Eric! Die Luft ist rein.« Der Kleine streckte vorsichtig den Kopf hinter der nächsten Ecke hervor und trabte dann sichtlich beschämt zu der Clique. Sol ging vor ihm in die Hocke und hob mit ihrem Finger sein Kinn. Seine Augen schwammen in Tränen. »Nie davonlaufen vor einem Hund, entiendes? Verstehst du?« Er nickte, sein Daumen wanderte in Richtung Mund, aber Sol drückte ihn nach unten und schüttelte verschwörerisch den Kopf.
»Ich hab Durst«, sagte er stattdessen und malte mit seinem nackten großen Zeh Kreise in Straßenstaub.
Carmen murmelte wieder etwas, etwas nicht sehr Nettes wahrscheinlich, denn Miguel stupste sie vorwurfsvoll in die Seite. Ricky hingegen sprang auf die Mauer, ein strahlender Ritter umrahmt von Sonnenstrahlen. »Wir haben eiskalte Cola zu Hause«, eröffnete er. Keiner der anderen hatte einfach so Cola zu Hause. Aber Ricky hatte immer ein bisschen mehr als die anderen. Er hatte auch sofort zu seinem sechzehnten Geburtstag ein Motorrad bekommen, zu dem er jetzt hinüberschlenderte. Lässig setzte er sich drauf und sah erwartungsvoll zu ihnen. Eric mühte sich bereits mit Sols Fahrrad ab, vergessen waren die Hunde. Miguel zuckte mit den Schultern und wickelte die Kopfhörer um den Walkman, einmal, zweimal, dreimal, viermal.
Warum nicht einfach in Rickys Garten Cola trinken? Sonst gab es ja nichts zu tun. Carmen setzte mit großer Geste ihre Sonnenbrille auf, ein knallpinkes Riesending, das ihr halbes Gesicht verdeckte. Sol verdrehte die Augen. Wie peinlich. Die Tatsache, dass sie erst letztes Jahr noch selbst diese Brille getragen hatte, versuchte sie zu verdrängen. Sie schlüpfte in ihre Flipflops, schwang sich aufs Fahrrad, das ihr Eric hinhielt. Ricky startete den Motor, ließ ihn aufheulen und raste davon bis zur nächsten Kreuzung, drehte um, raste auf sie zu, bremste schlingernd, eine hellbraune Staubwolke hüllte sie ein. Carmen lachte, Eric kreischte. Sol musste niesen. Während sie noch in ihrem Täschchen nach einem Taschentuch suchte, stand Miguel plötzlich neben ihr und hielt ihr beflissen eines hin. Überrascht griff sie danach, »gracias«, aber er ließ das Taschentuch nicht los, hielt es eine Sekunde länger fest als unbedingt notwendig, genau wie ihren Blick. Sol lächelte verwirrt, schwang sich dann aufs Rad, Eric hopste auf den Gepäckträger und sie trat in die Pedale – mühsam, mit dem zusätzlichen Gewicht. »Ey, Ricky, warte, espérate!«, rief sie durch die Staubwand, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören würde.
»Rickyyyyy!«, kreischte Eric und auch Carmen kam nun johlend angefahren. Sie fuhren an ihrem Haus vorbei, ein rascher Blick in den Garten, alles ruhig, Haustür zu, Vorhänge vorgezogen, Balkon verwaist. Wahrscheinlich saß ihre Mutter in ihrem Sessel im Wohnzimmer, allein, und wartete. Ein kurzer Stich des schlechten Gewissens, dann hatten sie das Haus hinter sich gelassen. An der Ecke stand die unheimliche Doña Eugenia mit ihrem tauben Pudel und zeterte, wetterte gegen Ricky und seine Höllenmaschine, gegen Kinder, die nichts als Lärm machten, und drohte, eines Tages ihren Hund auf sie zu hetzen. Sol spürte, wie Eric seinen Griff um ihre Hüfte verstärkte, und sie beschleunigte.
2005
Berlin im Sommer war wahrscheinlich so heiß wie jede andere Großstadt auch. Die Hitze war von einem Tag auf den anderen über sie hergefallen, die Temperatur von der Schafskälte direkt ins anderen Extrem gekippt. Als ob sie aus der Eiskammer unter die heiße Dusche gestellt würde, so fühlte sich Sol und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass Berlin direkt am Meer läge. Obwohl sie selbst dann keine Zeit hätte, sich abzukühlen. Hin und her, immer unterwegs, immer auf Trab, Kaffee hier, Energydrink dort, noch ein Kaffee, immer wach, immer funktionieren. Die Arbeit, die Vorbereitung für das Event im September spannte sie mehr ein, als sie gedacht hatte. Katharina erwartete nicht weniger als die absolut perfekte Abwicklung für einen absolut perfekten Großanlass. Dieser Erfolg würde ihre Agentur an die Spitze aller Eventagenturen Berlins hieven. Fehler und Schlampigkeiten waren verpönt, Überstunden hingegen nicht. Nicht, dass Sol das etwas ausmachen würde. Sie saugte den Stress auf wie ein trockener Schwamm das Wasser und genoss das Adrenalin, das stetig durch ihre Venen floss. Heute jedoch stellte sie das Firmenauto, mit dem sie eine Location im Süden der Stadt besucht hatte, pünktlich um halb sechs vor dem Büro ab und lief eilig zur Bushaltestelle. In einer halben Stunde musste sie in der Tanzschule sein, wo sieben Mädchen und ein Junge auf sie warteten. Zweimal pro Woche lehrte sie in dieser kleinen Schule Flamenco, diesen Tanz, den sie selbst leidenschaftlich praktizierte, seit sie sechs Jahre alt war. Er war das Feuer gewesen, das selbst in den schlimmsten Jahren der Einsamkeit ihre Sonne mit Energie versorgt hatte. Er war die Sehnsucht an einen Ort, an den sie nie wieder zurückkehren würde. Er war Ausdruck ihrer Lebensfreude und ultimativer Beweis ihres spanischen Temperaments. Sie sah sogar so aus, wie man sich eine Flamencotänzerin generell vorstellte: schlank und rank, hüftlange dunkle Haare, olivfarbener Teint, braune Augen. Wahrscheinlich brachte sie genug Talent mit, um auf großen Bühnen zu tanzen, aber das war nie ihr Ziel gewesen. Aller Augen auf sich gerichtet zu wissen, fünfzig, hundert kleine Scheinwerfer, die jede ihrer Bewegungen verfolgten, dieser Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Wenn Sol Flamenco tanzte, entblößte sie sich Schicht für Schicht, bis ihre blanke Seele sichtbar war, voller Schuld, voller Wehmut. Was es dort zu sehen gab, ging Fremde nichts an. Sie tanzte nur in ihrer intimen Gruppe, die sie seit bald neun Jahren kannte. Oder sie tauchte ab in die anonyme Menge der Clubs, aber das war ein anderer Tanz, ein anderer Ausdruck, ein anderer Grund.
»¡Maestra! Lehrerin!«, riefen ihr die Kinder schon entgegen. Flamenco war nicht nur ein Tanz. Er war ein Lebensgefühl. Spanisches Lebensgefühl. Deswegen lehrte Sol ihre Schüler auch immer wieder ein paar spanische Wörter.
»¡Buenas tardes!, guten Nachmittag«, rief sie in die Runde und schon schallte es zurück: »¡Buenas tardes!«
Ihre Leidenschaft an die nächste Generation weiterzugeben, erfüllte Sol mit Stolz und gab ihr das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Während die Tanzschule immer wieder Gruppen streichen musste, weil die Teilnehmerzahl zurückging, war ihr Flamencounterricht stets gleich beliebt gewesen. Wären die Räume größer, könnte sie ihre achtköpfige Truppe sogar erweitern. Aufgrund ihres Erfolgs hatte die Leiterin der Schule sie sogar angefragt, auch Erwachsene zu unterrichten, um dem Teilnehmerschwund entgegenzuwirken, aber sie hatte abgelehnt. Kinder zu unterrichten, hatte einen Vorteil: Kinder in diesem Alter, zwischen fünf und zehn Jahren, liebten noch so gut wie bedingungslos, im Gegensatz zu Erwachsenen. Und Liebe war etwas, das Sol zum Überleben brauchte. Ein Nest, weil sie nicht aus ihrem ausgeflogen, nicht flügge geworden war, wie es andere mit achtzehn, neunzehn Jahren tun würden, nein. Sie war Jahre zuvor viel zu früh aus ihrem Nest gestoßen worden durch die Ereignisse jenes Sommers 1992, und brauchte jetzt die Wärme und Zuneigung und das unvergleichlich kostbare Gefühl der Zugehörigkeit. Sie brauchte Liebe in Massen, um die Abwesenheit eben dieses Gefühls wettzumachen, mit der sie ihre eigene Familie jahrelang konfrontiert hatte: Ihre Mutter, die in der Dunkelheit ihrer eigenen Gedanken versank. Ihr Vater, der seine Kinder nur selten wahrnahm in seinen Bemühungen, seine Frau mit Fürsorge zu überschütten. Carmen, die ihr, Sol, insgeheim die Schuld gab am Tod ihrer Mutter und ihres Bruders – völlig zurecht. Sie hatte sich Liebe und Anerkennung immer an anderen Stellen gesucht. Beim Tanzen. Bei den kleinen bunten Pillen. Bei Männern. Bei der Arbeit. Beim Unterrichten von Kindern. Und all das erfüllte seinen Zweck.
Nun ja, korrigierte sich Sol, während sie die Gruppe durch die Aufwärmübungen führte. Das mit den Männern war so eine Sache. Dort hatte sich das Pech mit seinen klebrigen Fingern speziell hartnäckig eingenistet. In einer Beziehung nach der anderen war sie gewesen, seit sie in Berlin lebte. Ein paar Monate, höchstens mal ein Jahr hielten sie. Meistens kamen Jan, Tobias, Mahmud und wie sie alle hießen nicht mit dem hohen Rhythmus ihres Lebens zurecht. Manchmal auch nicht mit der Tatsache, dass Pech ansteckend war. Es gab Tage, an denen vom Moment des Aufstehens bis zu der Sekunde, in der ihr Kopf am Abend das Kissen wieder berührte, alles schiefging. Murphy’s Law war Sols Nachname; vom Toast, der mit der gebutterten Seite auf den Boden fiel, über den Schirm, den sie vergaß, den Bus, der ihr vor der Nase wegfuhr, das Auto, das sie nassspritzte, über den Kunden, der den Termin absagte, die Location, die keine freien Daten hatte bis in drei Jahren, bis hin zum Kaugummi, der an der Schuhsohle klebenblieb, und dem Club, der für eine Privatveranstaltung geschlossen war. Es gab solche Tage, an denen sie sich wirklich verflucht fühlte. Meistens schaffte sie es, den Ärger mit ihrem Frohmut zu überspielen, aber es blieb jedes Mal ein neuer kleiner schwarzer Fleck auf der Leinwand ihres Lebens und egal, wie oft sie mit bunten Farben darüberfuhr, schimmerten sie durch. Bis Kristof auftauchte. Er fand ihre Missgeschicke amüsant und niedlich, und nahm ihnen dadurch zumindest nach außen hin die Wichtigkeit; er war der Erste in ihrer Reihe an Beziehungen, der sich davon nicht anstecken ließ. Das Pech blieb einfach nicht an ihm haften, als ob eine Ölschicht ihn davor schützen würde. Allein diese Tatsache machte ihn zu etwas Besonderem für Sol, aber auch, dass er der König des Partylebens war und nebenher genauso besessen studierte, wie sie arbeitete. Sie passten perfekt zusammen. Diese Liebe zu Kristof war eigentlich der Anfang des Endes ihrer Pechsträhne gewesen.
Sie stellte sich vor die Kinder für die erste Übung – Körperspannung, den Kopf stolz erhoben, die Arme in der ersten Position vor dem Körper rund gebogen, die Hände bereit für die filigranas, die anmutigen Fingerbewegungen. Er hatte sie davon befreit, dachte Sol. Er war ihr Glücksbringer.
Am Abend nach dem Tanzunterricht hatte sie Kristof nicht mehr gesehen – wenn sie keine Überstunden machen musste, dann bestimmt er, und abgesehen davon war sie mit Anne tanzen gegangen. Am nächsten Tag in ihrer Mittagspause jedoch erreichte sie eine Nachricht von ihm; er wollte sich später im Volkspark Friedrichshain mit ihr treffen. Sol fragte sich, was es wohl mit diesem Treffen auf sich hätte, dass sie es nicht zu Hause bereden konnten. Wahrscheinlich hatte es etwas mit der Hochzeit zu tun. Vielleicht wollte er ihr etwas zeigen. Ein Brautkleid, das ihm in einem Schaufenster aufgefallen war? Den Gedanken verwarf sie gleich wieder. So weit dachte Kristof nicht. Eher ging es um das Datum. Erst vor einigen Tagen hatte sie die Frage danach in den Raum geworfen, aber er hatte nur die Augen verdreht. Männer eben. Erst einen Heiratsantrag machen, aber danach so wenig wie möglich mit der Planung zu tun haben wollen. Zum Glück war Sol damit ganz in ihrem Element.
Am Nachmittag ging ein kurzes Hitzegewitter über der Stadt nieder; es brachte keine Erfrischung. Wenn der heutige Tag eine Farbe wäre, wäre er weiß wie Leim, dachte Sol, als sie nach der Arbeit und nur einer Überstunde in Richtung ihres Treffpunkts schlenderte. Die Feuchtigkeit klebte in der Luft, obwohl Straßen und Gras bereits von der strahlenden Sonne wieder trocken gebrannt worden waren. Nur noch ein Hauch des Geruchs nach Regen lag in der Luft, aber den sog Sol tief in sich ein, er benetzte sie von innen, weichte die durch die Hitze zu steinhartem Boden verbrannte Kruste ihres Ich auf. Während solcher Hitzeperioden vermisste sie das Meer; sie würde Kristof vorschlagen, am Wochenende zu einem der Seen in der Umgebung zu fahren.
»Wie formell von dir, extra um ein Treffen zu bitten«, sagte Sol gleich zur Begrüßung und küsste ihn auf den Mund. »Das fühlt sich direkt an wie ein Date.« Ein Kribbeln kitzelte sie von innen und sie musste lächeln.
»Ein Wunder, dass es überhaupt geklappt hat«, antwortete Kristof eine Spur zu sarkastisch und das Kribbeln erstarb sofort. Aber eigentlich hatte er recht. In den letzten paar Wochen war es schwierig geworden, gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen. Trotzdem kein Grund, den Kopf hängen zu lassen.
»Du musst dich in der Kanzlei einarbeiten und Überstunden schieben, um Eindruck zu schinden. Ich muss dieses Event gut über die Bühne bringen. Es kommen wieder bessere Zeiten.« Sol verspritzte Zuversicht wie mit einer Sprühflasche, einen feinen Nebel, der alles einhüllen sollte, aber in der Hitze des Nachmittages sofort verdunstete und Kristof nicht erreichte. Sie band sich die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Bevor sie in Richtung Park einbogen, hielt sie Kristof zurück und holte sich in einem Spätkauf zwei Dosen Redbull. Eiskalt. Sie bot ihm eine Dose an, aber er schüttelte den Kopf.
»Du könntest wieder öfters mitkommen, wenn ich feiern gehe. Und länger bleiben«, schlug sie ihm vor und merkte im gleichen Moment, dass sie sich schuldig fühlte, sich diese Zeit für sich zu nehmen.
Seine Antwort gab ihrem Gefühl prompt recht. »Du könntest diese Abende auch mal zu Hause verbringen. Du könntest auch mal ein wenig auf die Bremse treten mit deinen nächtlichen Aktivitäten.«