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Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit
Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe
Herausgegeben von
Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni
Salzburger Bachmann Edition
Herausgegeben von
Hans Höller und Irene Fußl.
Unter Mitarbeit von
Silvia Bengesser und Martin Huber.
Ein Editionsprojekt am Literaturarchiv Salzburg.
Mit Unterstützung des Literaturarchivs
der Österreichischen Nationalbibliothek.
© Piper Verlag München und
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
Covergestaltung: Brian Barth
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Hans Höller / Irene Fußl
»Nun haben Sie aber das Unglück, von der andren Seite wenig zu erfahren, von der des Patienten oder des Ex-Patienten, weil die meisten wohl nicht über Sprache verfügen oder nicht fähig sind, zu formulieren, und weil, wie es bei Kafka heißt, uns ja die Scham überlebt« – mit diesen Worten begründet Ingeborg Bachmann in dem hier zum ersten Mal abgedruckten Entwurf einer Rede an die Ärzteschaft (Text 27), warum sie aus dem üblichen Schweigen über die Erfahrungen einer Patientin heraustritt. Es sei nicht nur die unzureichende sprachliche Fähigkeit, sondern auch die Scham, welche die meisten Kranken daran hindert, über das Persönlichste und Intimste des erfahrenen Schmerzes in der Öffentlichkeit zu sprechen, und nicht einmal in den ärztlichen Protokollen tauche dieser entsetzliche Schmerz auf, »diese Hölle für einen Menschen« (ebd.).
Dieses Schweigen wollen alle Bücher Ingeborg Bachmanns seit ihrem physischen und psychischen Zusammenbruch Ende 1962 aufheben. Sie wenden sich nicht an den kleinen Kreis der Ärzte einer Klinik, sondern an die Leserinnen und Leser, denen sie diese Erfahrung zumuten. In den Gedicht-Entwürfen von Ich weiß keine bessere Welt, in den Romanfragmenten Das Buch Goldmann und Das Buch Franza, im Wüstenbuch und in der Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle, 1965, der einzigen nach ihrer Erkrankung in den sechziger Jahren erschienenen neuen Veröffentlichung, geht es um den kranken Menschen und um die Ungeheuerlichkeit des physischen Schmerzes, um das Male oscuro.
Ingeborg Bachmann hat die Bezeichnung, es ist der Titel eines 1964 publizierten italienischen Romans von Giuseppe Berto, im fragmentarischen »Bericht an eine Ärzteschaft« verwendet und darin erklärt, dass es jenes autobiographische Buch war, das sie ermutigt habe, die Schamschwelle zu durchbrechen, die einem das Sprechen über die eigene Krankheit so schwer mache. Darum und auch wegen des wie vormodern klingenden Wortkörpers – Male oscuro, »Dunkles Übel«, Bachmann spricht von einem sich dem modernen Denken entziehenden »mittelaltersten« Schmerz – haben die beiden Bandherausgeberinnen, Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, diesen Obertitel für die bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit gewählt. »Wenn man das Romanhafte abzieht«, heißt es in Bachmanns Rede-Entwurf, »bliebe für jeden Arzt etwas übrig, eine penible präzise Schilderung von erschreckender Genauigkeit über die Zustände, die Sie in Ihren Aufsätzen und Büchern behandeln, Neurosenlehre und Psychotherapie«, und sie fügt hinzu, es sei ihres Wissens »das erste Buch, das darüber berichtet« (ebd.). Aber ist diese Aufmerksamkeit für die autobiographische Wahrheit nicht ein Sakrileg für die Literaturwissenschaft und für die Literaturkritik? Wird hier nicht eine andere Schamgrenze überschritten? Verstößt die Veröffentlichung von Traumprotokollen, Briefen und Rede-Entwürfen nicht gegen die Gebote der Diskretion, gegen das Briefgeheimnis und den Schutz der Privatsphäre? Ja, die hier vorgelegten Texte verstoßen gegen Schweigegebote, die den kranken Menschen schützen sollen, von denen sich der kranke Mensch aber auch umstellt sieht, und das nicht nur aus guten Gründen. Ingeborg Bachmann wäre an diesem Schweigen und einer falsch verstandenen Diskretion fast zugrunde gegangen.
Nicht nur in den hier vorgelegten schriftlichen Dokumenten hat die Schriftstellerin die Erfahrung angesprochen, mit ihrer Krankheit in Isolation und Stummheit zu geraten, nicht mehr gehört zu werden, weil extremer Schmerz sich der Mitteilbarkeit entzieht und die Mitmenschen nicht mehr erreichen kann. Diese Vergeblichkeit sitzt als Angst und als Erfahrung, in seiner Not sogar bei den nächsten Menschen auf Unverständnis zu stoßen, tief im Ich und reicht in seine Albträume hinein. Das dritte Traumnotat, jenes vom 6. März 1963, spricht von dieser ins Unbewusste verdrängten Angst und zugleich vom Verlangen nach Anerkennung der eigenen Krankheit: »ich will nur davon sprechen, obwohl sonst niemand davon sprechen will, auch meine Mutter nicht.« (Text 3) Es ändert sich der Ort der Traumhandlung, nun sitzt man in einem Raum, vor dem »eine Art Saal« ist: »Ich fange wieder an: ich spreche von meiner Krankheit, weiß jetzt schon, daß keiner darüber reden möchte, ich fahre allen ins Gespräch mit meinen Sätzen.« (ebd.) Es tritt eine andere weibliche Traumfigur auf, »goldblond, fast golden, strahlend, glücklich« (ebd.), als stünde sie für eine Welt, in welcher Krankheit und Leiden keinen Platz haben. Es gibt bei Bachmann, die wie selten jemand die Privatsphäre verteidigt und die Diskretion vehement für sich in Anspruch genommen hat, auch das Wissen um Formen einer Diskretion, die tödlich sein kann. Fanny P. gerät mit der aus ihrer Herkunft und ihrer Geschichte kommenden Scham, den privaten Schmerz den andern mitzuteilen, ins soziale Abseits, und Eka Kottwitz, eine andere Hauptgestalt in Das Buch Goldmann, kann nicht über das, was sie »so unerträglich empfand«, sprechen, weil sie zu diskret ist, »zu kottwitzisch«. Dass »sie mit niemand drüber sprechen konnte, endete mit dem Sprung aus dem Hamburger Fenster und dem Entsetzen der Freunde« (TA 1, S. 394).
Unter Indiskretion verstand Ingeborg Bachmann ein Verhalten, das über den anderen verfügt, ihn zur Gerüchtefigur degradiert oder das Private als Sensation vermarktet. Auch die vielen Formen, eine Person oder eine Sache gesprächsweise festzulegen, sie zu verkleinern und ihr jede Offenheit und Selbständigkeit zu nehmen, gehörten für sie dazu. Es gibt aber auch eine Form der Auseinandersetzung mit dem Anderen und mit seiner Hinterlassenschaft, die imstande ist, die Integrität der Person und das »Briefgeheimnis« zu wahren. Die hier vorgelegte Edition möchte ein solcher Versuch sein, die nachgelassenen, zu Lebzeiten nicht publizierten persönlichen Schriften mit Respekt vor dem Wort der Schriftstellerin zu würdigen und deren Integrität nicht zu verletzen. »Respekt vor dem Wort«, das bedeutet für die Herausgeberinnen, die Grundlagen für ein angemessenes Verständnis zu schaffen, in welchem der Zusammenhang von Ingeborg Bachmanns Leben und Schreiben und ihre literarische Autorschaft auch bei den nicht-literarischen Schriften ins Licht gerückt wird. So zeigt sich, dass selbst die aus dem therapeutischen Prozess hervorgehenden Traumprotokolle bei der Schriftstellerin nachdenkliche Texte darstellen, die man als vielschichtige Prosastücke lesen kann. Sie überliefern nicht nur Trauminhalte und deren latente Bedeutung, sondern sie geben uns auch eine Idee davon, wie man über das Unbewusste sprechen kann, ohne die Offenheit und Freiheit in diesen Texten zu verraten. Und genauso können die Briefe an den Arzt wie Maximen und Reflexionen über das therapeutische Gespräch erscheinen, das die Schriftstellerin selbst in einem Brief (Text 22) in ein Wittgenstein’sches »Sprachspiel« verwandelt, in ›sagen‹, ›nicht sagen‹ und ›einfallen‹ und ›auffallen‹ und ›entgehen‹ und ›entgangen‹ und ›halb und halb entgangen‹. Die Rede an die Ärzteschaft aber verwandelt sich, so gelesen, in sozialphilosophische Bruchstücke einer »Archäologie des ärztlichen Blicks« in der Klinik (Foucault).
Durch diese Edition lernen die Leserinnen und Leser mehr vom »Grund und Boden« des schreibenden Ich verstehen. Und die Literaturwissenschaft wird vielleicht in ihren Theorien dem Leben, so schwierig es ist und kaum auf den Begriff zu bringen, einen größeren Stellenwert einräumen. Das Leben-Wollen, ein Leben, das mehr als Überleben ist, es wäre der würdigste Gegenstand jeder poetologischen Erforschung des Verhältnisses von biographischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion.
An ihren Therapeuten schreibt die Schriftstellerin von den Dingen, »die nicht außerhalb liegen, sondern die sich in uns überlagern und schon früh überlagert haben«, und sie erinnert den »Caro Dottore«, dass sie einmal davon geredet haben, »daß man über Menschen nichts weiß, d. h. schon das Einfachste nicht weiß, also nicht, was darstellbar ist, das Einfachste schon nicht. […] Man kann einen Tisch zutodbeschreiben, man kann einen Menschen zutodbeschreiben, von allen Seiten. Wie aber soll man sie lebendig schreiben, in dem Rahmen, in dem ja nichts lebendig ist und alles Übereinkommen, zu dem man Leser überredet.« (Text 22)
13–2.63 morgens
Der Traum:
ich bin in Vellach[2] oder vielleicht in Kötschach (meine Schwester ist auch dort) (aber erst beim Aufwachen, im Halbschlaf, merke ich, daß es eher ausgesehen hat wie Ischia[3] beim Einsetzen der ersten Winterstürme, es war auch wie eine kleine Insel, abgeschnitten, Boote irgendwo, ich aber in der Meinung, es sei das Gailtal) – ich bin verzweifelt allein und sage das auch irgendwann, zu meiner Schwester. Dann werde ich ans Telefon gerufen, der Anruf kommt aus New York[4], zuerst ist die Leitung leer, dann kommt Max, seine Stimme, wir reden eine Weile, ich bin sehr aufgeregt, aber was wir reden ist ohne besondere Bedeutung, dann frage ich plötzlich, was mich als einziges beschäftigt: wann kommt Ihr denn zurück nach Europa? Max lacht und lacht immer mehr, nicht gerade höhnisch, aber ziemlich belustigt, und ich frage, ziemlich beherrscht: wird es eher Ende Feber oder Anfang März sein? Er lacht noch immer und sagt: Nein, ich denke erst am 1. August[5]. Und da er noch immer lacht, sage ich, das ist furchtbar, daß Du auch noch lachst, und ich hänge ab. Ich bin wahnsinnig konfus danach, ich spreche auch wieder, scheint es, mit meiner Schwester, ich sage, ich muß sofort die Koffer packen und etwas tun, vor allem muß ich weg von hier, ich kann hier nicht mehr länger warten. Es ist grau und stürmisch und inselhaft und winterhaft rundherum. Ich sage, nachdem ich alles (was, weiß ich nicht) durchdacht habe, ich kann nur nach Wien oder nach Berlin[6] gehen, dann fällt mir ein, daß ich nicht nach Wien gehen kann, ich sage, ich muß also doch nach Berlin gehen und sofort abreisen.
Danach wache ich auf, begreife nicht, wo ich bin, nehme noch eine Weile alles für bare Wirklichkeit und dann kommt die Wendung, der erste halbwache Gedanke. Ich frage mich, was für eine Jahreszeit wir haben, ja, doch Feber, also war meine Frage völlig richtig und ja auch oft so gedacht, wenn auch nie ausgesprochen. Und es war völlig richtig, daß ich wegen des »1. August« in der Traumgeschichte völlig zusammenbrach.
Danach noch zwei Stunden im Bett, mit Halbwachtraum, ich gehe von dem ersten Traum ab und weiß, ich muß sofort nach New York schreiben und bitten um eine Zeichnung der Wohnung mit allen Möbelstücken eingezeichnet, ich muß wissen, wie es in der Park Avenue[7] aussieht, wo das Bett steht, ob es ein Doppelbett ist etc. Ich weiß plötzlich, daß ich das unbedingt wissen muß und mich schon die ganze Zeit über, unbewußt, damit beschäftigt habe – mit der Frage, wie diese Wohnung in allen Einzelheiten aussieht. Ich denke, ich muß nach New York fahren und nachher zumindest sie mir ansehen, damit ich weiß, wie es dort war.
3. März 1963
Traum: Max kommt überraschend mit Marianne. Eine Wohnung, die ich nicht kenne. Plötzlich aber ist alles noch ganz anders, ich erfahre, daß Max geheiratet hat, eine ganz andere Frau, die kommt auch, sie ist ein wenig über 40, sie kommen wahrscheinlich aus Mexiko. Ich bin vollkommen überrascht, begrüße auch diese Frau, die mir aber nicht gefällt, sie paßt überhaupt nicht zu Max, sie sieht weder gut aus, noch macht sie einen angenehmen Eindruck, aufdringlich, taktlos, und nachdem ich eine Weile mit ihr gesprochen habe, mir Mühe gegeben habe, wird es mir zu dumm, ich sage ihr etwas darüber, daß sie sich gefälligst einen Moment lang vorstellen soll, was ich durchgemacht habe. Wieder ist meine Schwester auch dabei, ich glaube, sogar Marianne ist dabei. Ich sehe sie einen Augenblick, vor allem ihren Mund und beim Lachen wunderbare Zähne. Dann müssen wir schlafen gehen, es wird sehr kompliziert, wer wo und mit wem schlafen soll, alle die Frauen, ich meine, Marianne und Max sollten in meinem Schlafzimmer in dem großen Bett schlafen, aber es scheint, daß er mit der anderen Frau dann dorthin geht, und ich arrangiere alles und die Wohnung ist sehr eng und kleinbürgerlich, wir sitzen an einem Küchentisch herum, – beim Aufwachen habe ich einen Teil des Traumes vergessen, denn er hat mehr Handlung gehabt, vor allem habe ich vergessen, was ich mit Max gesprochen habe und wie er zu mir war, es könnte auch sein, daß er gar nicht mit mir geredet hat, sondern mich unter den Frauen zurückließ.
Dann, nach dem Erwachen, dachte ich noch einmal an Gestern, wegen dem »ein Jahr Mexiko«[9], und ich war plötzlich sicher, daß Max in Mexiko geheiratet hat. Ich dachte noch eine Weile nach, wie ich dann alles machen müßte, hier und mit Rom[10], mit der Mutter und allem, und es erschien mir plötzlich alles ganz unlösbar und so unendlich mühsam auch für die Zukunft.
Heute spricht die Mutter wieder über Mexiko, ich beruhigte sie, dann sagte sie, Franz [11] hätte auch den Eindruck, daß Max sofort nach Rom ginge, auch ihr hat er geschrieben, er freut sich nur auf Mexiko und auf Rom. Von mir steht kein Wort in dem Brief, auch nichts, wann und ob er mich hier sehen will. Es ist schon, als existiere ich überhaupt nicht mehr. Zum Glück merkt die Mutter es nicht, sie meint, ich müsse erst ganz gesund werden, ehe Max mich wiedersehen will.
Aus unerfindlichen Gründen hält sie Krankheit für einen Trennungsgrund. Sie sagt, Sie müssen dann wieder gut aussehen, wenn Max zurückkommt.
6–3–63
Traum: Mein Vater (anders und jünger aussehend), meine Mutter und Marianne kommen aus Amerika zurück. Wir fahren zuerst auf einem Planwagen. Unausgesprochen dabei als Faktum, daß mein Vater und Marianne (wie in Wirklichkeit jetzt Max und Marianne[13]) in Amerika waren und mit aller Bedeutung davon.
Schon während wir fahren, frage ich meine Mutter (die auch anders aussieht), ob Papa von allen meinen Briefen weiß, die ich geschrieben habe, ob er weiß, daß ich so krank war[14]. Ich merke, sie antwortet mit Ausflüchten. Ich spreche lauter, und sie sagt, er hat immer an Dich gedacht, doch er weiß es. Ich habe etwas unangenehm Insistierendes, ich will nur davon sprechen, obwohl sonst niemand davon sprechen will, auch meine Mutter nicht.
Später sind wir in einem Lokal, mein Vater sitzt, absichtlich, etwas weit von mir weg. Vor dem Raum, in dem wir sitzen, ist eine Art Saal. Ich fange wieder an: ich spreche von meiner Krankheit, weiß jetzt schon, daß keiner[1] darüber reden möchte, ich fahre allen ins Gespräch mit meinen Sätzen. Plötzlich kommt Marianne. Sie hat kurzes Haar, goldblond, fast golden, strahlend, glücklich, setzt sich neben mich, erkennt mich, zögert, ich gebe ihr die Hand, beuge mich dann hinüber und küsse sie auf die Wange. Trotzdem scheint auch sie, wie die anderen, angesteckt zu sein von dieser Verlegenheit, die sich darin äußert, daß alle mich ignorieren. Marianne steht auf und mein Vater steht auf, sie fangen beide an zu tanzen, andere tanzen auch, aber die beiden am wildesten und strahlend beide. Nein ich vergaß: als sie aufstehen, ich schon sehe, daß sie tanzen wollen, frage ich Marianne: Wissen Sie, wie das mit Morphium ist? (Anspielung auf meine Morphiumtage[15].) Sie sagt, im Weggehen mit meinem Vater, im Konversationston: Morphium, das soll wunderbar sein.
Später, es ist immer noch diese Art Fest, steht Hans[16] am Rande, er ist auch mit irgendwas beschäftigt, aber ich gehe zu ihm, bitte ihn, mich hineinzuführen, sich mit mir zu zeigen. Ich lehne mich an ihn, er kommt auch mit mir. Dann aber geschieht etwas ganz anderes, er ist auch nicht mehr da, ich bin bei meiner Mutter, die allein sitzt und denke, sie müßte doch eigentlich leiden wegen meines Vaters, aber es ist gar nicht meine Mutter, dann weiß ich nicht mehr, wie es weitergeht.
Versuch, es herauszubekommen:
7. 1. Gestern Besuch von Herrn R.[18] Es ist nicht möglich, etwas von dem klarzumachen, woran man krankt, es hängt aber vor allem damit zusammen, daß rundherum alle Leute keine Ahnung von einer derartigen Krankheit haben (ich hatte zuvor ja auch keine), z. B. meint sicher jeder, was ich jetzt schon zum zweitenmal gefragt werde: ob es nicht eine Sache des Willens sei. Jeder Psychiater weiß natürlich, daß man einen Patienten, der unter Angstneurose leidet, nicht seinem guten Willen überlassen kann, den hat er ja, er hat ja sogar »Krankheitseinsicht«, was bei vielen andren Neurosen nicht der Fall ist.
Immerhin, Herr R. bringt mich auf die Idee, das aufzuschreiben, ja, was? Und ich versuche es, will es versuchen, weil ich momentan sogar unfähig bin, zu einem Arzt zu gehen. Jeden Tag denke ich zwar, ich müsse zu Dr. S.[19] zurück, schon um diese Traumüberflutung loszuwerden.
Traum: (nicht heute, sondern vor zwei Tagen)
– aber während ich schreibe, dröhnt der Kopf so, durch den Körper gehen dauernd Wellen von Erregung, an den Händen geht mir die Haut ab von den letzten nervösen Bläschen, die ich in den vorigen Wochen plötzlich stundenweis bekommen habe.
Nachts lange gelesen, dann eingeschlafen gegen sechs Uhr früh, gegen 11 Uhr aufgewacht, dann drei Stunden gebraucht, bis ich angezogen bin, das letztere nur mit der größten Willensanstrengung. Größte Anstrengung, mit Fr. u. G.[20] zwei drei Sätze zu wechseln, ich sitze auf dem Bett, starre vor mich hin.
Konnte nicht mehr weiterschreiben, das Furchtbare ist wieder dagewesen, ich war in diesem Augenblick bereit, sofort ein Taxi rufen zu lassen, in die Klinik nach Spandau[21] zu fahren.
Jetzt, wo es vorbei ist, überlege ich wieder, weiß wieder, daß ich nicht in die Klinik will, daß ich noch einen Versuch machen möchte, mit Schwimmen, viel Luft, viel Radfahren, ich will morgen anfangen in einer schmerzfreien Stunde.
Ehe ich zu schreiben aufhörte, ist mir der Traum so schrekklich vorgekommen, den ich erzählen wollte. Frauen sind ermordet worden, lauter arme Frauen, ich habe bei diesen Keuschlerinnen, Hausmeisterinnen nachgeforscht, ich wollte weitere Morde verhindern. Dann merkte ich, daß jede der Frauen schweigt, sich vor etwas fürchtet, mir nicht die Wahrheit sagt. Einen Schauplatz habe ich noch einmal durchsucht, fand dort einen einzigen Anhaltspunkt, einen Perlmutterknopf mit vier Löchern, wie man ihn auf Pyjamas manchmal findet, auf dem stand »Olga«.[22] (Der Name meiner Mutter.) Ich habe diesen Knopf zum Beweismaterial, anderen Knöpfen, die aber noch auf ein Papier geheftet waren, gelegt. Der Knopf war der einzige Anhaltspunkt. Danach stand ich mit einigen Leuten, wir sahen drei Hunden entgegen, die auf uns zujagten, aber nur zwei waren wirklich schnell, erreichten uns rasch, der dritte, eine Art Bulldogge, hatte einen derartigen Abstand, daß mir das Tier leid tat, und im selben Augenblick fiel mir ein, daß vielleicht kein Mensch, aber dieser Hund die Morde getan habe. Er kam endlich an, da war es eine Gewißheit, ich dachte, er müsse morden, weil er keine Chance neben den zwei andren Hunden habe, und vielleicht hatte er die Zärtlichkeiten und Neckereien der Opfer mißverstanden, sie einfach getötet. (Wie im Doppelmord in der Rue Morgue[23].) (Auf die Frage, wer kann der Hund gewesen sein, fiel mir eine seltsame Antwort ein, M.[24])
Heute nacht ein Traum über Schreiben, zweifellos ein Dilemmatraum, irgendwie wurde mir bewiesen, daß ich nur auf Aktion schreiben dürfe, nicht personlos, nicht in allgemeinen Sätzen. Am Ende wußte ich nicht, was zu tun sei und malte mit dem Bleistift auf ein Papier lauter kleine Striche, ganz kurze nebeneinander, wie man das macht, wenn man während eines Vortrags nicht zuhört und kritzelt. Später in einem Schlafwagen von Prag nach Wien, der so groß war, wie ein Postwagen, mit mehreren Betten, ich schon beim Fertigmachen. Hatte keine Zeit mehr, die Unterwäsche anzuziehen, zog also rasch die Schuhe an, dabei half mir ein Steward, die Schuhe hatten hinten zwei Lederschleifen, die störten, also so gelegt werden mußten von ihm, daß ich den Schuh tragen konnte. Währenddem dachte ich, er würde vielleicht einen guten Diener abgeben, ich könnte ihn irgendwohin vermitteln. (Vermutlich weil Martha[25] bei mir war und wegen W.[26] etwas sagte und den Dienern.)
|2.)| Sehr konfuser Traum, mit zahllosen, kaum erzählbaren Seltsamkeiten: meine Schwester in unserem Garten in V., auf dessen Boden Draht und Hindernisse sind. Sie sitzt am Eingang und hat in einer Art Teller einzelne Nadeln von Fichten oder Tannen.
Dann Skifahren. Ich fahre Ski auf einem geschriebenen Satz, der von größter Wichtigkeit für mich ist, es heißt darin, daß ich momentan noch Schwierigkeiten habe und nicht damit rechnen kann, sofort aus der Misere herauszukommen, physische | und psychische | Schwierigkeiten.
Eine ältere Frau, eine Wahrsagerin, leitet das Skifahren. Ein Brief, ganz klein geschrieben, betrifft den 11. des Monats[28] und hat etwas mit einem Kind zu tun, mit einer Warnung, er wird mehrfach zusammengefaltet und verschlossen, ist auch voll von einer Wahrsagung.
Dann Frau Sch.[29] mit zwei Mädchen, Versuche, mit ihnen zu fahren oder etwas für ihre Heilung zu tun, das scheitert aber nach anfänglichem Optimismus, Frau W. und Frl. Pf.[30]; Vor allem Frau W., von der ich tags zuvor geträumt habe, sie sei gestorben.
Dann auf dem Weg zu Ilse[31]. Das Schild am Haus mit dem Namen ihres Mannes fehlt. Ich besuche sie, es geht wieder um meine Krankheit und um ihr Nichtkommen, aber diesmal bin ich | überlegen | und erzähle, meine Mutter und Isi[32] kämen bald an, ich müsse zum Flugplatz, wisse aber nicht, ob ich nach Tempelhof oder Tegel[33] müsse. | (Berlin also) |
Dann bin ich in einem Zimmer mit einem jungen Mädchen und verliebe mich plötzlich in sie, umarme sie, während Frau K.[34] | (Uetikon) | nebenan liegt, dick und schwer, sie merkt offenbar, daß wir einander im Bett umarmen, obwohl wir zugedeckt sind, und sagt, das hätte sie nie für möglich gehalten, sie habe gedacht, ich sei seit | der Trennung von F | wirklich allein; eine Art Heilige, und ich versuche ihr zu erklären, daß das doch verständlich sei, nach dem vielen Unglück, ich könne nicht anders. Ich sehe das Mädchen genauer an, es ist sehr zart; sehr jung; und ich bin überwältigt vor Glück, wenn ich sie anschaue. Dazu Musik, 3. Akt Tristan, der Liebestod. Später wird von mir und dann auch von ihr, darauf ein Text gesungen, | auch Frau K. singt womöglich, | wir irren uns einige Male, es ist dann, scheints, auch eine andre Musik.
2. Auf dem Weg zu F.[35] treffe ich einen jungen Mann, Studenten, der auch dorthin will, ich kann ihm den Weg zeigen, möchte aber vor der Türe nicht gleichzeitig mit ihm dort ankommen. Er läutet, während ich im Hintergrund warte. Marianne öffnet in einem langen Hauskleid, sehr üppig, sie begrüßt den Studenten und sagt, sie erinnre sich, ihn schon bei einer Lesung oder Diskussion gesehen zu haben, sie sagt ihm, sie sei »Frl. Lüdecke« (Namen eines Berliner Freundes) [36] und also die Freundin von F.
Dann sieht[2] sie mich, wir begrüßen einander mehr als oberflächlich, geben uns die Hand so, daß die Hände sich nur flach berühren, sie geht voraus in die neue Wohnung. Ich sehe, daß sie schwanger ist. In der Wohnung ist Pina, unser altes Dienstmädchen, wir reden miteinander (Rita heißt sie, denke ich), die Wohnung ist riesig; besteht aber nur aus einem schmalen und einem riesigen Raum; das läßt Max, sie der in der Wohnung ist, so machen. Ich sehe unter den Gegenständen mein grünes Sofa aus Berlin. Dann spreche ich im großen Raum mit ihm, wo er mit dem Einrichten etc. beschäftigt ist. Ich mache ihm Vorschläge wegen der Gegenstände und der Dinge, die noch zu ordnen[37] sind, frage ihn, ob ich ihm das mündlich oder schriftlich erklären soll – wie es ihm lieber sei. Er ist vollkommen gleichgültig, sagt nur auf berlinisch: nu mach mal[38]. Später sitze ich mit dem Wiener Arzt[39] in einer Art Straßenbahn und frage, was ich bloß machen soll, ich brauche seinen Rat;
Frau W. ist gestorben.
Ehe ich die Wohnung verlasse, sehe ich mir einiges an, hoch oben an der Wand einen komischen Wandschmuck, dann noch etwas in einer Nische, die kitschig beleuchtet ist, und ich sage mir, daß das geschmacklos ist wie eh und je, | während Pina-Rita mich begleitet.|
Traum: und sag einer noch, der gesittete Mensch sei keiner Perversion fähig. Das Kamel, zum zweiten Mal das Kamel, das mir zugeführt wird, während es auf mich zukommt, weiß ich schon, daß es mir zugedacht ist und das Kamel benimmt sich danach, seine lange Zunge, aus dieser großen Höhe, denn wie hoch ist ein Kamel (ich weiß es) herauszutun und mich zu lecken. Ich rücke ab, ich weiß, daß die alle mir das Kamel zugedacht haben. Im weitren Verlauf, während mein Verleger[50] sich in einen Liegestuhl neben mich setzt, während der Herr mit der entlobten Dame mir auch etwas zu sagen hat, während Freund X und Freund Y. mit allen und jedem übereinkommen, steht der junge Araber im Hintergrund mit dem Kamel. Ich möchte mit dem Kamel schlafen, ich weiß es auch, das Kamel weiß es, der Araber weiß es. Die anderen wissen nichts und machen Konversation, sind um Hotelzimmer und Honorare besorgt. Aber ich, ein Teil dieses Gesindels, verzichte aus Feigheit auf das Kamel. Ich wache auf, angenehm berührt, dann weniger froh, denn übriggeblieben ist eine Lösung, für die ich keine Gleichung weiß. Ein Araber, ein Kamel, eine Feigheit. Was vermelden die Lehrbücher? Kamele, vielleicht sogar Kamel. Vermelden sie Feigheiten, diese brüchigen, schmerzlichen Verlegenheiten während man nach rechts und links spricht und die Wüste ihren Sand zählt, ihre Ironie in einen Traum rieseln läßt. Zähl Wüste[51], und verzähl dich nicht vor mir. Ich könnte imstand sein, nachzuzählen und den überschlagenen Sand, den unterschlagenen Sand dir im Triumph vorrechnen.
Ganz zersplittert, eine Wohnung, Fetzen von einem Schreibtisch, Sitzbänken, Sesseln, Stichen, Teppichen, unendlich viel Kram wäre aufzuzählen, alles zersplittert, mit dem Fuß könnte man die Sesselbeine vor sich herstoßen, die Bilder beiseiteschieben, die Teetassen mit einem nach außen gedrehten Fuß wegtun, weiter weiter. Ich würde nicht gern etwas mit den Händen angreifen, aufheben höchstens, aber mit angeekelten Fingern, ja was, etwas wollte ich doch aufheben. Im Hintergrund ginge noch das Grammophon, Platte verrate ich nicht, die Ansage macht die anderen immer gleich sicher in der Einschätzung der Musik, ich sage also nicht, welche Platte auf 33 Millimeter sich noch dreht. Raten heißt es, raten. Tot ist alles[52], alles tot. Und: seht ihrs Freunde, seht ihrs nicht. Drei zu eins, drei zu null, einer schweigt, hält im Zweifelsfall jede Musik der Art für schwere Musik.
Das liebste am Französischsprechen, daß schlecht ausgesprochen, ich < >
Montag nacht:
1. Ich bin noch auf dem Bett, sitze neben A.[54], der auch noch im Pyjama ist, da kommt Max, setzt sich. A. und ich haben die Füße in kleinen Waschbecken, die auf dem Boden stehen, es ist mir unangenehm, daß A. sich gerade jetzt die Füße badet. Die beiden Männer sprechen miteinander, A. sagt etwas über seinen Pyjama, entschuldigend, daß der Pyjama unten zerrissen ist, aber »er würde noch wachsen«. Dann sitzt er da mit Max, die beiden unterhalten sich, ich ärgere mich über A., der dümmliche Fragen (Literatur?) stellt, plötzlich muß ich zu dem Mädchen in die Küche, weil die Musik irrsinnig laut dort geht, das Mädchen sagt, der Nachbar habe sich schon beschwert, aber sie meint, wir dürften aus Prestigegründen jetzt die Musik doch nicht abstellen. Ich sage ihr, daß die Musik sofort aufhören muß, ganz, daß ihre Gedanken lächerlich sind, mich nicht interessieren.
Später bin ich mit A. und Max auf der Straße, ich bin in einem fürchterlichen Zustand, sage den beiden, sie hätten keine Ahnung, was das ist, Leben, davon wüßten sie nichts, es sei alles »viel schlimmer«. Ich bin in einem Zustand, in dem ich schreien könnte, ich bin halb wahnsinnig.
(Max ist das erstemal wieder er | selber|, nicht mein Vater, und er kommt zum erstenmal nach der langen Zeit, zu einem Besuch, das ist die gefühlte Bedeutung.)