Martha Grimes
Inspektor Jury
besucht
alte Damen
Roman
Deutsch
von Dorothee Asendorf
Zwar dürfte Lady Ardry anderer Meinung sein – sie wiegt sich nämlich in dem Glauben, dass jede der wertvollen Informationen in diesem Buch ganz allein von ihr stammt –, ich jedoch möchte hier vor allem Alan Webb für die Spaziergänge in Limehouse und Wapping danken, Harry Webb für die Informationen über die Themse und Diane und Bill Grimes für den secrétaire à abbattant.
Wenn man sich hier nicht darauf gefasst machte, dass man gleich die Kehle durchgeschnitten kriegte, wo dann?
Whitechapel, Shadwell, der Ratcliffe Highway: Bilder vom blutigen East End schossen Sadie Diver jedes Mal durch den Kopf wie Messer, wenn sie auf ihrem nächtlichen Weg von Limehouse Schritte hinter sich hörte. Sie musste immer noch daran denken, als ihre Absätze schon das feuchte, von Nebel verschleierte Pflaster von Wapping entlangklapperten. Und geschnappt hatten sie ihn auch nicht, oder? Nicht weit her mit der Polizei.
Vor ihr schimmerte die Leuchttafel des Fisch- und Aalgeschäftes kränklich gelb durch den dichten Dunst. LEBENDE AALE. GEKOCHTE AALE. AAL IN SUELTZE. In den letzten beiden Monaten hatte sich Sadie Diver mehr mit Schreiben und Lesen beschäftigt als in den ganzen achtundzwanzig Jahren zuvor. Sie wusste, dass dort Ü statt UE hätte stehen müssen und dass das T in dem Wort nichts zu suchen hatte. Bin wahrscheinlich die Einzige, die in Wapping auf Achse ist und das weiß, dachte sie. Von der Wohnung in Limehouse bis zum »Stadt Ramsgate« waren es zu Fuß zwanzig Minuten, und sie war verärgert, dass er sie zu einer so genannten »Kostümprobe« dorthin bestellt hatte. Mein Gott, als ob sie das nicht schon ewig und drei Tage durchgekaut hätten! Und dass Tommy morgen Abend auf Besuch kam, das hatte sie ihm vorsichtshalber gar nicht erzählt. Er hätte sie glatt umgebracht.
Als Sadie auf gleicher Höhe mit dem Fischgeschäft war, kamen sie einfach auf sie zu: Sie waren nur zu dritt, aber sie schafften es, wie eine ganze Mauer von Punks zu wirken, als sie aus den Schatten der Seitengasse neben dem Laden auftauchten; einer spuckte in die Gosse, einer lächelte irre, einer machte ein steinernes Gesicht.
Das übliche »Hallo Süße«, die üblichen Zoten, während sie ihr wie festgewurzelt den Weg versperrten. Alles, was in ihrem Rücken geschah, machte sie nervös; mit dem, was vor ihr war, konnte sie fertig werden. Darin hatte Sadie Übung. Tatsache war, sie hatte darin so viel Übung, dass ihre Hand automatisch in die Umhängetasche fuhr und mit einem Schnappmesser wieder zum Vorschein kam. So unvermutet blitzte es im wässrigen Schein der Leuchttafel auf, dass sie auseinander fuhren, ihr noch etwas über die Schulter zuriefen und sich hinter dem Nebelvorhang in die Seitengasse davonmachten.
Im rauchig wirkenden Schein einer Straßenlaterne blieb sie stehen und warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie vergrub die Hände in den Taschen des alten Regenmantels, ein Fetzen, den sie normalerweise nicht ums Verrecken angezogen hätte, und tastete im Weitergehen nach dem Messergriff. Er hatte gewollt, dass sie trug, was sie bei all ihren Treffen getragen hatte und was sie auch an jenem letzten Tag tragen würde. Jedenfalls betrachtete sie diesen Tag gerne als den letzten Tag ihres alten Lebens. In diesem Fetzen und ohne Make-up, wie hatten die Typen sie da nur anmachen können?
Solche dicken Nebelschwaden hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Und dabei hatten sie den 1. Mai. Frühling. Kalt wie Klostermauern; kalt wie eine Nonne … Sie stellte den Kragen hoch und lächelte bei dem Gedanken an die Barmherzigen Schwestern. Sie hielt sich für eine gute Katholikin, aber eine noch bessere hatte sie eben nicht werden wollen. Sie und Nonne. Zum Totlachen.
Sie bog nach links ab und dann nach rechts, schlug die schmale Straße am Fluss ein. Wieso hatte er sich bei Wapping Old Stairs mit ihr treffen wollen und wieso ausgerechnet jetzt, wo der Pub schon zu hatte? Eine Wand aus Speichern türmte sich in der Dunkelheit vor ihr auf und hüllte sich in die Nebelschleier, die von der Themse herüberwehten. Es war ihr, als müsste sie sie wie Spinnweben beiseite wischen, doch sie klebten an ihr. Als sie an der Hauptwache von Wapping vorbeikam, musste sie lächeln. Die Wache war hell erleuchtet und nach elf Uhr ungefähr das einzige Zeichen von Leben hier.
Als sie den Pub »Stadt Ramsgate« erreichte, hörte sie schon wieder Schritte hinter sich. Die Gleichen konnten es nicht sein, die hatte sie doch schon beim Fischgeschäft abgehängt. Trotzdem war sie fast erleichtert, als sie die Straße verlassen und in den Schatten von Wapping Old Stairs untertauchen konnte. Diese bestanden aus zwei Reihen von Stufen, die ganz alten waren moosbedeckt; am Ende befanden sich eine kleine Helling und ein altes Boot mit einem geteerten Segeltuch darüber.
Dumpfe Schritte über ihr; sie reckte den Hals, sah aber weiter nichts, als den diesigen Schein einer Lampe, die an einem Bauwagen hing. Sie ging ein, zwei Stufen hinunter und blieb jäh stehen, als sie Holz auf Stein knirschen hörte und das Quietschen der Ruder auf Metall. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Gestalt in dem kleinen Boot entdeckte. Der lange Mantel und der schwarze Hintergrund der Themse machten es unmöglich, etwas Genaues zu erkennen. Es musste ein Ruderboot oder eine Jolle sein, an der wohl jemand arbeitete; sie konnte es nicht ausmachen, hatte aber auch nicht die Absicht, auf den Stufen auszuharren, nur um das herauszufinden.
Sadie begann, die Stufen hinaufzusteigen, rutschte jedoch auf dem nassen Stein aus, blieb mit dem Absatz hängen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Gab es denn da wirklich nichts zum Festhalten? Im Rutschen bekam sie gerade noch die glitschigen, kalten, bemoosten Stufen zu fassen, die so abgetreten waren, dass sie diesen Namen kaum noch verdienten.
Die Gestalt aus dem Boot stand jetzt eine Stufe unter ihr und sah sie an.
Sadie wollte ihren Augen nicht trauen.
Eine Hand kam aus dem langen schwarzen Mantel hervor und hielt etwas, dessen Klinge weitaus gemeiner aussah als das, was Sadie bei sich trug. Falls sie versuchen würde, die Treppe hoch zu fliehen, bekäme sie die Klinge in den Rücken.
Also warf sie sich zu Boden, und während die Gestalt über ihr herumwirbelte, ließ sie sich die Treppe hinunter- und auf halbem Weg in die Themse gleiten. Das lange Messer durchschnitt die dicke, faulige Luft und verfehlte sie um Haaresbreite. Sadie konnte es herabzischen hören.
Sie zog ihrerseits das Messer aus der Tasche und kletterte ins Boot. Sie kannte sich mit Booten aus, genau wie Tommy. Draußen zog ein schwarzer Schiffsrumpf vorbei, wahrscheinlich ein Frachtkahn auf dem Weg zu den Ziegeleien in Essex. Noch weiter draußen sprenkelten ein paar Leichter das Wasser. Zitternd vor Angst griff sie nach den Rudern, denn die Gestalt setzte ihr nach. Das Schnappmesser entglitt Sadies Händen und fiel in das Bilgenwasser, das sich im Boot gesammelt hatte.
Sie tastete danach, und als sich ihre Finger darum schlossen, sah sie die weißen Hände, die an der Bordwand zerrten. Tommy Diver stand auf dem Dock und schaute zu den Leuchttürmen von Gravesend und Galleon’s Reach hinüber. Ein schartiger Lichtstrom von Rot und Orange ließ den Nebel über der Flussmündung leuchten, als hätte man Kanonen abgefeuert. Meilenweit erstreckten sich die Docks, Werften und Speicher längs der Themse, bis zur London Bridge und zur Isle of Dogs. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren an die achthundert Schiffe gleichzeitig unterwegs zum Londoner Hafen gewesen; jetzt fuhr kaum eins mehr weiter als bis Tilbury.
Er konnte sich gut vorstellen, wie es zu Zeiten des Indien- und Osthandels ausgesehen hatte: überall lackierte Bugspriete und rostrote Segel wie ein blutunterlaufenes, finsteres Wolkengebilde. Als er seinem Freund Sid gesagt hatte, dass er sich so den Schiffsverkehr in Venedig vorstellte, hatte der nur gelacht. Sei nicht so romantisch, Junge. Sid war in Venedig gewesen und hatte lauter Orte gesehen, die Tommy nur vom Hörensagen kannte. Venedig ist erfüllt von Gold- und Blautönen wie ein juwelenbesetzter Drache. Aber das Schiff da (und dabei zeigte er auf eins, das vor Anker lag) ist nur ein alter Kettenhund, der in einem Torweg von Gravesend schläft.
Tommy spürte plötzlich Gewissensbisse, weil er Tante Glad und Onkel John angelogen hatte; aber sie hätten ihn nie nach London gelassen, nicht mal für zwei Tage. Er fand, er müsse diese Gelegenheit, Sadie zu besuchen, unbedingt nutzen, ganz gleich was sie von ihr hielten. Sid würde ihn decken. Er kuschelte sich noch tiefer in die schwarze Lederjacke, die er sich im Secondhandladen von Oxfam von einem Teil des Geldes gekauft hatte, das ihm seine Schwester geschickt hatte. Sie war ihm zu groß, aber echtes Leder, nicht dieses billige, steife Zeugs, das bei jeder Bewegung knatschte. Wenn man mit der Hand darüber fuhr, fühlte es sich daunenweich an.
Wapping lag keine dreißig Meilen entfernt, Flusslauf und Luftlinie gerechnet. Er kannte den Lauf der Themse in- und auswendig – Tilbury, Greenhithe, Rotterhithe, Bermondsey, Deptford. Er wusste, dass ihm der Fluss und seine Arbeit mit Sid auf dem Schlepper fehlen würden, auch wenn es nur für zwei Tage war.
Sie hatte gesagt, vielleicht könnte er eines Tages sogar nach Limehouse kommen und bei ihr wohnen, wenn sie erst eine größere Wohnung hätte. Aber diesen Satz kannte er zur Genüge – die Schule, wenn du mit der Schule fertig bist. Tommy versuchte, das quälende Gefühl loszuwerden, dass sie ihn gar nicht wirklich bei sich haben wollte, nicht mal jetzt. Und doch hatte sie ihm das Geld geschickt. Noch nie im Leben hatte er fünfundsiebzig Pfund auf einem Haufen gesehen.
Von Galleon’s Reach kam der trostlose Warnton einer Glockenboje. Ein Schlepper auf dem Weg zu einem schwarzen Schiffsrumpf weiter draußen in der Mündung fiel schwermütig ein. Er war noch nicht mal fort, und schon hatte er Heimweh. Er spürte den bedrückenden Schatten des vorbeifahrenden Schleppers und überlegte, wie viele Becher starken Tees er schon vom Maschinenraum an Deck getragen hatte. Er liebte den Fluss, aber Sadie liebte er auch, und nie im Leben war er so traurig gewesen wie an dem Tag, als sie von Gravesend nach London gegangen war. Die Erinnerung an sie veränderte sich ständig, war fast wie ein Traum, sodass er manchmal meinte, er hätte sich das alles nur ausgedacht. Aber er hatte doch noch so viele Kleinigkeiten aus ihrer Kindheit so klar vor Augen. Na gut, eher aus seiner Kindheit. Sie war zwölf Jahre älter, aber er glaubte sich zu erinnern, dass sie ihn immer mitgehen ließ, ihm beim Zeitungshändler Süßigkeiten kaufte, auf dem Gehsteig mit Kreide Käsekästchen für ihn aufzeichnete und mit ihm im Kinderhaus spielte.
Zwei weitere Schlepper zogen vorbei, färbten sich im letzten Schein des Sonnenuntergangs auf dem Wasser blutig braun, eine Fläche, auf der die fahle Sonne erst zu schweben und dann unterzugehen schien. Weit draußen konnte er die winzigen schwarzen Gestalten der Schleppercrew sehen, wie sie auf die Leichter kletterten, sie auseinander zogen und am Schlepper vertäuten, sodass man sie zur Werft schleppen konnte.
Nach Sonnenuntergang bekamen die verlassenen Gebäude, die vernagelten Fenster der Speicher etwas Trostloses, Unbehaustes. Er sah zu, wie der Schlepper zur Werft zurücktuckerte, in seinem Schlepptau die Leichter.
Wie komisch es war, dass er morgen in einen Zug steigen würde, um in eine Stadt zu fahren, die nur ein paar Meilen stromaufwärts lag und unendlich viel einfacher über den Fluss erreicht werden konnte; er brauchte nur bei Wapping Old Stairs oder Pelican Stairs von Bord eines Schiffes zu gehen oder von einem Schlepper herunterzuklettern und könnte dort sein Glück machen. Aber das war sicher nicht das Glück, das Marco Polo erwartet hatte.
Die Schüssel war leer; niemand rief.
Die weiße Katze wanderte auf leisen Pfoten um die ausgetrockneten Wasserbecken herum und den kiesbedeckten Pfad durch die sorgfältig angelegten Gärten entlang. Einen Augenblick blieb sie ganz still sitzen und rührte sich nicht, dann schob sie sich durch eine Schneeballhecke. Unter einem Rosenbusch hielt sie erneut inne. Weiße Blütenblätter rieselten herab, als die weiße Katze einen Satz nach einem grauen Schatten machte, der auf dem Kiesweg vorbeihuschte. Sie jagte eine Feldmaus. Doch die Feldmaus verschmolz mit dem Grau und Braun von Kies und Stein, so wie die weiße Katze mit einer Einfassung aus weißen Sommerblumen verschmolz, als wären sie beide nicht wesenhaft, ein Schemen, der einem Schemen nachjagt.
Jetzt hockte die weiße Katze in einem abgeschiedenen Garten neben der Steinfigur einer jungen Frau, die eine geborstene, vom Regen gefüllte Schale hielt. Hier ließen sich zuweilen Finken und Zaunkönige nieder. Die Katze saß im Morgenlicht, blickte an der rosenüberrankten Pergola vorbei und spitzte die Ohren. Es schien, als könnte sie über dem Getriller und Geschmetter der Vögel die Maus hören, die beinahe geräuschlos durch Eibenhecken und Bodendecker huschte. Licht sickerte durch die Kletterpflanzen und legte sich in perlenartigen Streifen über das Fell der Katze.
Die Nebelschleier über dem Gras lösten sich in der Sonne auf, Tautropfen fielen von den Kletterpflanzen und Rosenblüten, welche die Pergola überrankten. Die weiße Katze beobachtete, wie sich ein Tropfen am Rand eines Blütenkelchs bildete, ein blauer Punkt in einer kristallenen Fassung, der herabfiel und zersprang, ehe sie ihn mit der Pfote auffangen konnte. Sie gähnte, blinzelte und döste im Sitzen ein.
Ein Laut, eine Witterung; sie öffnete die Augen und spitzte die Ohren. Ihr Blick wanderte nach oben; auf einem Rhododendron hatte ein Rotkehlchen gesessen, das jetzt aufflog. Die Katze verließ den abgeschiedenen Garten und wanderte zum Ufer des nahe gelegenen Flüsschens. Hier duckte sie sich und beobachtete einen Zaunkönig bei seinem Bad im Staub. Bevor sie sich auf ihn stürzen konnte, war der Zaunkönig fort und strich dicht übers Wasser dahin. Die Katze starrte in den Wasserlauf, als wäre der Vogel hineingefallen. Tief unten flitzten Schatten vorbei, verharrten, jagten dann zurück. Die Katze schlug nach dem Wasser und versuchte, die vorbeihuschenden Schatten mit der Pfote festzuhalten.
Sie gähnte noch einmal, leckte sich die Pfote und spazierte über die kleine Brücke. Auf der anderen Seite blickte sie sich um. Nichts rührte sich. Die Sonne war inzwischen über dem Horizont aufgetaucht, überzog den kleinen See jäh mit einem Gespinst aus Gold und ließ die Fenster des Sommerhauses erglänzen.
Die Katze mochte das Sommerhaus; es war kühl und dämmrig. Es hatte angenehm durchgesessene Stühle, und eine Wolldecke lag über dem Sessel, der dem Kamin am nächsten stand. Dort lag die weiße Katze am liebsten. Sie schlief ein, zwei Tage darin und tat sich an allem gütlich, was sich an Kleingetier in den dunklen Ecken regte. Pfiffe und Rufe von draußen überhörte sie; schließlich ging sie wieder, spazierte über den weitläufigen Rasen und durch die ausgedehnten Gärten und untersuchte ihre Schüssel auf der Terrasse.
Ein Weilchen saß sie reglos wie die Statue im Garten, blinzelte und betrachtete den Fußboden neben der gläsernen Terrassentür. In einer Ecke erspähte sie einen Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste und an der Fußleiste entlanghuschte.
Die weiße Katze zitterte, duckte sich, glitt die Fußleiste entlang und zwängte sich in den engen Spalt zwischen einem großen secrétaire und dem Fußboden.
Binnen einer Minute hatte sie sich wieder herausgewunden, saß da und leckte sich das Blut von der Pfote. Dann wanderte sie durch die geöffnete Terrassentür, einen kurzen Pfad hinunter zu einem kleinen Anleger. Dort blieb sie sitzen, schaute über den See und gähnte.
In der »Hammerschmiede« werkelte Dick Scroggs derart herum, dass er kaum Zeit fand, seinem einzigen Gast ein Bier und einen Strammen Max vorzusetzen.
»Hier hat sich im letzten Monat ja mehr getan als in all den Jahren zuvor«, sagte Melrose Plant. »Sie machen sich wohl auf jede Menge Touristen gefasst, wie?«
»Man muss mit der Zeit gehen, M’lord«, sagte Scroggs zwischen den Nägeln in seinem Mund hindurch und über das Geklopfe des Hammers in seiner Hand hinweg.
Melrose dachte bei sich, dass er wohl eher mit dem »Blauen Papagei« mithalten wollte, einem umbenannten und umgestrichenen Pub etwas abseits der Straße von Dorking Dean nach Northampton. Gewiss, der Name war entlehnt, sozusagen bei Sydney Greenstreet stibitzt, obwohl nicht zu vermuten stand, dass die Kundschaft einer marokkanischen Kneipe – noch dazu einer erfundenen – nun karawanengleich über den Matschweg zum neuen »Blauen Papagei« ziehen würde.
Melroses Blick verfolgte die auf seinem Teller herumkugelnde Gewürzgurke, während er mit Mühe Dicks Bier Marke Donnerschlag hinunterbrachte. Dann fragte er: »Wie sind Sie denn an die versnobte Trennwand da gekommen?« Sein Blick wanderte die Bar entlang zu einer Reihe wunderschön geätzter, facettierter Glasscheiben.
»Trueblood, Sir. Hält für mich die Augen nach so was offen.« Dick, den man gewöhnlich in der »Hammerschmiede« über seine Zeitung gebeugt antraf, die Hände in die Hüften gestemmt, fuhr sich mit dem schweren Arm über die Stirn. »Dachte so bei mir, es würde den Laden ein bisschen aufmöbeln. Hat doch sonst niemand in der Gegend«, setzte er in bedeutsamem Ton hinzu.
»Ja, das ist sicher wahr.« Melrose rückte die goldgefasste Brille zurecht und machte sich bereit, es mit dem Kreuzworträtsel der Times aufzunehmen. Selbige stand an seinen Rimbaud gelehnt, welcher seinerseits auf Polly Praeds neuestem Thriller, Fünf falsche Verteidiger, lag. Das Kreuzworträtsel glich in etwa einem Salatblatt, mit dem er seine Geschmacksnerven zwischen Poesie und Polly zu beruhigen pflegte. Er möbelte es etwas auf, indem er neue Wörter erfand, die auch in die Kästchen passten.
Dicks Geschäftigkeit reizte ihn ein wenig. Um diese Tageszeit sollte hier eigentlich nichts anderes zu hören sein als das Ticken der Uhr und Mrs. Withersbys Schnarchen. Jetzt hörte Scroggs auf zu hämmern und eilte mit einem Eimer Farbe an ihm vorbei, um die türkisfarbene Zierleiste aufzufrischen, die um die Fassade der »Hammerschmiede« herumlief. Scroggs hatte sich sogar aufs Bierbrauen verlegt und produzierte ein Gebräu, das indes bewies (Melrose hatte den Geschmack des Donnerschlags noch auf der Zunge), wie wenig er mit den Schwierigkeiten des Herstellungsprozesses vertraut war.
Inmitten all dieser Geschäftigkeit wäre Melrose sich wie ein Faultier vorgekommen, wäre er nicht ein vernünftiger Mensch gewesen, der sich schon vor etlichen Jahren gewisse Prioritäten gesetzt hatte. Nachdem er mit seinen Titeln, wie dem des Earl of Caverness, des fünften Viscount Ardry und was der Dinge mehr waren, aufgeräumt hatte, konnte er es sich nunmehr auf seinem vom Mief der Vergangenheit befreiten Familiensitz Ardry End gemütlich machen und sein Vermögen genießen.
Es ist wirklich Frühling!, dachte er. Schon allein diese Luft …
Zu seinem Leidwesen ließ Scroggs, als er die Tür öffnete, nicht nur die linde Frühlingsluft herein, sondern auch Melroses Tante, die demonstrativ mit ihren Krücken herumfuchtelte. Diese wurden zunächst hier, dann dort angelehnt, während Agatha sich zu der chintzgepolsterten Bank hinüberquälte. Wenn Melrose ihr nur ein klitzekleines bisschen zur Hilfe eilte, dann nicht etwa, weil er kein Gentleman war, sondern weil er wusste, dass der verbundene Knöchel der reinste Schwindel war, zu dem sie den Dorfarzt unter großem bitterlichen und bemühten Geseufze überredet hatte. »Ich habe bei dir angerufen. Du warst nicht zu Hause«, sagte sie und ließ sich mit einem gekonnten Aufstöhnen auf den Platz neben ihm plumpsen.
»Nein, dass du das aber auch gemerkt hast, Agatha«, sagte er und setzte T-R-A-M-P-E-L ein, wo eigentlich T-R-O-M-M-E-L hätte stehen müssen. Das machte Spaß.
»Wenn mich nicht alles täuscht, hast du gesagt, er käme heute.«
»Jury? Tut er auch.«
Wenn einer auf die Bedürfnisse anderer keine Rücksicht nahm, dann Lady Ardry; sie stellte das Fensterchen hinter sich auf, wobei ein Schauer aus Blütenblättern von den Kletterrosen herabrieselte, und verlangte mit lauter Stimme ihr Sherryzielwasser von Dick Scroggs.
»Ist doch nicht einzusehen, wieso der Mensch sich nicht ums Geschäft kümmert; stattdessen klatscht er ein so ekelhaftes Blau an die Wand.«
Ein Wort mit vier Buchstaben statt R-U-T-E. Melrose grübelte. »Na ja, seit der ›Blaue Papagei‹ solch ein Bombengeschäft macht, hat Scroggs Angst, dass man ihm dort die ganzen Touristen vor der Nase wegschnappt.«
»Welche Touristen? Genau aus dem Grund gefällt es uns doch hier: keine Amok laufenden Fremden, die mit dem Papier von Eis am Stiel um sich schmeißen, keine kreischenden Bälger. Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«
Melrose blickte fragend hoch.
»Superintendent Jury.« Schwer von Begriff, besagte ihr Seufzer.
Du dumme Pute, dachte Melrose.
Ah! Jetzt hatte er’s, freute er sich, während er den Füller über dem Kreuzworträtsel gezückt hielt. »Er hat einen Platten gehabt«, log er und setzte P-U-T-E ein. Da sie ohnehin zu glauben schien, er habe ein Radargerät eingebaut, welches jede von Richard Jurys Bewegungen überwachte, würde diese Bemerkung sie erst recht zu Spekulationen über Jurys Ankunftszeit reizen.
»Ich wusste, dass was passieren würde. Tut es immer. Das ist nun schon das dritte, nein, das vierte Mal, dass er eigentlich auf Besuch –« Hier brach sie ab und forderte erneut ihr Glas Sherry, denn Dick war mit seinem Farbeimer hereingekommen. Er ging ungerührt weiter.
Melrose wechselte das Thema. »Und was treibst du hier, wo du doch im trauten Heim deinen Fuß hochlegen solltest?«
»Ich muss sichergehen, dass meine Zeugen auch bei der Stange bleiben. Miss Crisp fängt schon an zu schwanken. Und da kommt Vivian, und die ist wahrlich keine Hilfe.«
Vivian Rivington, in ihrem hellroten Kleid wie ein Vorbote des Frühlings, sagte zu Agatha, sie mache sich lächerlich, sie solle lieber vergeben und vergessen. Und Vivian setzte hinzu: »Eigentlich ist es an Mr. Jurvis zu vergeben. Denn Sie, Agatha, machen doch ihm das Leben schwer. Wo ist Superintendent Jury?« Jedes Interesse an Agathas »Fall« erlosch angesichts eines Ereignisses, das sich weniger häufig einstellte als eine Sonnenfinsternis.
»Auf der Strecke geblieben. Nein, nicht er, sein Auto. Hat einen Platten auf dem M-1. Er hat mich von einer Raststätte aus angerufen.« Er freute sich diebisch, dass ihm noch ein Wort eingefallen war: S-C-H-A-F. Dazu konnte er das A von T-R-A-M-P-E-L verwenden. Vielleicht besaß er ja noch eine bislang unentdeckte Begabung, nämlich die, sich Kreuzworträtsel für die Times auszudenken. Emsig füllte er die Kästchen aus und konzentrierte sich auf die nächste Herausforderung.
Diese schien durch das Erscheinen Marshall Truebloods gegeben, glich dieser doch einem Pfingstochsen. Heute hatte er einen flammendroten Schal dergestalt in den Halsausschnitt eines teerosenfarbenen Hemdes drapiert, dass die Enden wie Luftschlangen hinter ihm herflatterten.
Für Agatha, bereits pikiert darüber, dass ihre missliche Lage Vivian so gänzlich ungerührt ließ, war das Auftauchen ihres Erzfeindes anscheinend mehr, als der Mensch ertragen konnte. »Wenn die Sache vor Gericht kommt, wird sich ja zeigen, wen man zu seinen Freunden zählen kann.« Mit geübter Duldermiene griff sie zu ihren Krücken.
»Ganz meine Meinung, altes Haus«, sagte Trueblood. »Sollte mir zu Ohren kommen, dass dieser garstige Buchhändler mich wieder mal anschwärzt, verklage ich ihn, und Sie dürfen ihn alsdann mit Ihrer Krücke zu Tode prügeln. Und wo ist Richard Jury? Mittlerweile müsste er hier eingetrudelt sein, oder?« Ohne von seiner Zeitung aufzublicken, sagte Melrose: »Er hat einen Platten auf dem M-1 gehabt und hat angerufen, dass es später werden könnte, weil er ja warten muss, bis die Werkstatt den Reifen geflickt hat.« (Für K-A-M-E-L ließ sich das M von T-R-A-M-P-E-L prächtig verwenden.) »Hat einen alten Kumpel getroffen, hat er gesagt, muss sich erst mal richtig ausquatschen.«
Vivian fragte argwöhnisch: »Einen alten Kumpel? Wie geartet?«
»Weiblich. Er hat sie zum Tee in die Raststätte bei der Abfahrt Woburn eingeladen.«
Melrose lächelte in die Runde und widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel.
Und hier war Jury, nur war er nicht gerade mit einem Teeplausch in einer Raststätte am M-1 fertig, sondern versuchte in seiner Wohnung in Islington mit seiner Packerei fertig zu werden. Mit der Packerei und der Streiterei. Während er Socken und Hemden in einen Kleidersack stopfte, bemühte er sich, der Mieterin von oben ihr neuestes, hirnrissiges Projekt auszureden.
Die Mieterin von oben, Carole-anne Palutski, hörte kaum hin, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihrem exotischen Kostüm vor Jurys Spiegel den letzten Touch zu geben.
Während sie sich die Lippen mit Paradiesisch Mohnrot bemalte, sagte Jury: »Er will eine Verkäuferin, Herzchen, keine Bauchtänzerin.« Er hob einen Shetlandpullover hoch und prüfte ihn stirnrunzelnd auf Mottenlöcher.
»Was wissen Sie denn schon. Andrew fährt sicher ab auf meinen Aufzug. Bringt ein bisschen Pep in die Bude.« Sie streckte die Arme aus und drehte sich flink um sich selbst.
Und wenn das kein Aufzug war: goldener Tüll über einem kirschfarbenen, kurzen Seidentop; eine Pluderhose aus dem gleichen Seidenstoff; Goldlitze unten um das Oberteil und oben um die Hosen herum, sodass der nackte Bauch dazwischen umso nackter wirkte. Nicht völlig nackt, o nein: etwas Hauchdünnes bedeckte ihn, was die Illusion von Haut nur noch verstärkte. Um das kupferfarbene Haar hatte Carole-anne ein Haarband aus knautschigem Goldlamé geschlungen, in dessen Mitte ein falscher Saphir prangte.
Sie hätte sich die Mühe ruhig sparen können. Carole-anne war nämlich in einem Chenillebademantel schon schöner, als die Polizei erlaubte, von ihrem neuen Haremskostüm gar nicht zu reden.
Es klingelte leise, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ein paar Streckübungen machte, ehe sie sich zur Arbeit begab. Jury warf einen Blick über den Rand des Pullovers, in dem er ein beinahe faustgroßes Mottenloch entdeckt hatte. »Höre ich etwa Glöckchen?«
Jetzt machte sie ein paar Sprünge und geriet etwas außer Atem. »Ist bloß das da«, sagte sie und streckte den Fuß aus. Unter der bauschigen Pluderhose hatte sie sich winzige Glöckchen um den Knöchel gewunden.
»Hoffentlich kommt die Karawane durch«, sagte Jury. »Falls die Rifkabylen Sie nicht entführen, kommen Sie sogar noch rechtzeitig zu Ihrem Unterricht.« Dass sie ihren Schauspielunterricht versäumte, war der Anlass für ihren Streit gewesen. Sie hatte gequengelt und gequengelt, weil Jury ihr den Nachtjob in einem Klub am Leicester Square ausgeredet hatte, denn ihre Karriere als Schauspielerin war darüber zu kurz gekommen. Jetzt war das Gegenteil der Fall: Ihr Tagesjob in dem Lädchen in Covent Garden gefiel ihr so gut, dass sie keine Zeit mehr für die Schauspielerei fand. Und dabei hatte es nicht lange gedauert, Jury von Carole-annes außergewöhnlicher schauspielerischer Begabung zu überzeugen. Ganz zu schweigen von ihrem einfach umwerfenden Aussehen.
Sie ließ sich auf das Sofa fallen und fläzte sich hin wie eine Zehnjährige. Die klingelnden Knöchel kamen auf dem Couchtisch zu liegen. »Ich habe doch bloß so eine klitzekleine Rolle in Scheiß-Camdentown. Nicht mal eine Sprechrolle.«
Sie dehnte das Wort derart in die Länge und schnitt dazu solch ein Gesicht, dass Jury gern gelacht hätte. »Sie brauchen nicht zu sprechen. Wie Mrs. Wassermann sagt: ›Die geht die Straße lang, und schon hat man einen kompletten Dialog.‹ Ich dachte, Sie wollten eine zweite Shirley MacLaine werden. Oder war es Julie Andrews? Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie Sie im Dirndl den Berg runtergelaufen kommen. Und singen können Sie auch nicht.«
»Ich will nicht sein wie die. Ich möchte die Medea spielen.«
Er hob den Blick von seinem Kleidersack. »Sie wollen wen spielen?«
Sie hatte sich eine von Jurys Zigaretten gemopst, krümmte ihre Zehen um den Telefonhörer und versuchte, ihn abzuheben. »Hab ich im Fernsehen gesehen, mit Zoë Caldwell, ist Ihnen die ein Begriff?«
Jury sah seine nicht zusammenpassenden Socken durch und sagte: »Wenn Sie etwa zweitausend Jahre lang Schauspielunterricht nehmen, dann bringen Sie es vielleicht mal zur zweiten Besetzung der zweiten Besetzung.« Er deutete mit dem Kopf auf ihr Kostüm. »Falls Sie die Fetzen da ablegen.«
»Na gut, Sie haben Recht, die Kostüme für Medea sollten vielleicht mal geändert werden. Ich würde das Ganze etwas aufmöbeln, dann könnte ich mein kleines Rotes tragen.«
»Ihr Rotes? Ich kann mir Medea einfach nicht in Ihrem Chinatownrot vorstellen. Und Füße weg von meinem Telefon.« Ausgerechnet in diesem Augenblick musste es klingeln.
»Nicht abheben«, sagte Carole-anne im Bühnenflüsterton. »Höchstwahrscheinlich ist es bloß SB-Strich-H.«
Das Telefon surrte. »Ich höre selten von Miss Bredon-Hunt. Dafür haben Sie gesorgt. Ich vermute eher, es ist C-Strich-S Racer. Verdammter Mist.« Jury erdrosselte ein Paar Socken.
Carole-anne sprang hoch: »Lassen Sie mich abheben, ich sage, Sie sind schon weg. O bitte, bitte, bitte.« So etwas war grässlich unprofessionell, aber das war auch der Telefonanruf des Chief Superintendent an seinem ersten Urlaubstag, der ihm bestenfalls eine Verzögerung einhandeln und ihn schlimmstenfalls in London festhalten würde. Jury nickte.
»Hallöchen«, flötete sie, während sie sich in vollendeter Haremspose auf dem Sofa rekelte. »Bei Su-per-in-ten-dent Jury.« Schweigen. »Oh, Sie sind es, mein Lieber.« Sie ließ die Silben wie Sirup ins Telefon tropfen. »Haben ihn just verpasst, jaha. Ist auf nach Northants.« Ihr Seufzer war lang und gramvoll, so als ob beide, sie und der Anrufer, sich darin einig wären, wie sehr Superintendent Jury ihnen fehlte. »Nein … Nur die Nummern der Ex-Freundinnen von seinem Freund.« Pause. »Also, mein Lieber, wenn ich Sie wäre, ich würde es nicht tun. Es ist ein Lord Caverness oder so ähnlich. Sehr krank, ja, das isser woll.« Carole-annes Umgangssprache kam jetzt durch. »Beerdigung? Nee, noch isser nich – er ist ja noch nicht tot, Schätzchen. Liegt man bloß im Sterben. Genau. Ja. Siecht so vor sich hin, jaha.«
Der arme Melrose Plant. Krank, todkrank, tot. Sie war so überzeugend, dass Jury beinahe hoffte, Northants noch rechtzeitig vor Melroses Ableben zu erreichen.
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. Doch Carole-anne war völlig in ihre Rolle versunken. Einmal hatte sie Racer erzählt, sie sei Jurys Reinmachefrau. Jetzt machte sie reinen Tisch mit Racer, während sie gleichzeitig Jurys Couchtisch mit seinen Socken polierte. »Oooooohh.« Ihre paradiesisch mohnroten Lippen gaben einen albernen Kusslaut von sich. »Also, das ist wirklich zu schade, mein Lieber …«
Und Jury (ganz zu schweigen von Racer) kam in den Genuss eines herzerweichenden Monologs über Liebe, Ehe und Geliebte. Dabei hatte Carole-anne die Beine übereinander geschlagen, hielt mit den lackierten Fingerspitzen das Knie umfasst und hatte den Blick zur Decke erhoben, als würde sie dort ihren Text ablesen.
Jury war wie gebannt; er konnte nicht anders. Da stand er nun, zwei saubere Hemden in der Hand, die er in seine Tasche hatte tun wollen, und hörte zu. Sie ging in ihrer Rolle auf. Solange sie telefonierte, war sie, was die Situation erforderte. Wenn sie auflegte, würde sie auf der Stelle wieder Carole-anne sein.
Klack, der Hörer wurde aufgelegt. »Die hier haben Löcher«, sagte sie und streckte ihm die Hände hin, über die sie zwei Socken gezogen hatte.
»Was zum Teufel hat er gesagt?«
Sie hatte sich erhoben und übte sich in einer Art Schlangenbewegung. »Er? Ach, der wollte Ihnen bloß einen schönen Urlaub wünschen. Ist er ein bisschen abartig oder so? Bringen ihn Beerdigungen immer zum Lachen? He, glauben Sie, ich könnte das bringen?«
»Äh? Was denn?«
»Bauchtanzen. Ich meine, richtig. Dafür muss man, glaube ich, eine Menge üben.«
»Carole-anne, Sie könnten Premierministerin werden, wenn Sie wollten.«
Sie hörte auf, ihren Körper zu verdrehen, und stand mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen da, prächtig anzusehen wie ein Clown, die Hände immer noch in Jurys Socken. Sie dachte nach. »Ich weiß nicht recht. Maggies Kostüme sind so spießig.« Dann kam sie zu Jury gelaufen, fiel ihm um den Hals, drückte ihm einen dicken Schmatz auf und war draußen.
Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ihm zu sagen, dass er ihr fehlen würde.
Genauso wie ihr kein anderer Grund dafür einfallen würde, nicht Premierministerin werden zu können, als wegen der spießigen Kostüme.
Er hatte in der Wohnung im Souterrain vorbeischauen wollen, aber niemand war zu Hause. Er stieg die Steinstufen wieder hoch und ging zu seinem Auto, als er Mrs. Wassermann mit ihrer Einkaufstasche angezockelt kommen sah. Über den Rand der Tasche lugten Stangensellerie und ein Salatkopf.
»Der verlangt vielleicht Preise, Mr. Jury.« Neuerdings hatte der Gemüsehändler in der Upper Street wiederholt ihren Unmut auf sich gezogen. »Oh, vielen Dank auch.«
Jury hatte ihr die Tasche abgenommen und sie die Treppe hinunterbegleitet. »Ich weiß, Sie müssen los, aber warten Sie einen Augenblick, ich hab noch was für Sie.« Sie verschwand in der Wohnung und tauchte mit einem Picknickkorb wieder auf. »Ihr Abendessen. Ich weiß doch, wie Männer sind, sie machen einfach keine Pause. Immer diese Ungeduld.«
»Na ja, vielen Dank auch, Mrs. Wassermann.« Sie machte ihm immer etwas zurecht, wenn sie herausfand, dass ihn sein Weg über Victoria Station hinausführte. Letztes Jahr war es Brighton gewesen, das hatte zwei Sandwiches erfordert. Dieses Jahr fuhr er viel weiter und blieb viel länger. Das bedeutete ein Festmahl. Ein halbes kaltes Hähnchen, Salat, Torte, zwei Flaschen Carlsberg. Er lächelte. »Das reicht für den ganzen Urlaub.«
»Das will ich auch hoffen.« Aus ihrem Tonfall war deutlich zu hören, dass Jury da draußen im Busch bei fremden Menschen gewiss nicht eine anständige Mahlzeit bekommen würde. »Es ist viel netter, wenn Sie hier sind. Aber Carole-anne leistet mir Gesellschaft. Das ist mir mal ein liebes Mädchen. Sie guckt fast jeden Abend vorbei und legt mir die Karten. Und Ihnen auch.« Sie zog die Nadel aus ihrem schwarzen Hütchen und ihrem grauen Haarknoten.
»Mir? Wie kann sie mir die Karten legen, wenn ich nicht hier bin?« Er konnte es kaum abwarten wegzukommen.
»Aber Sie wissen doch, dass sie hellsehen kann. Hat einen siebten Sinn, sagt sie jedenfalls.«
Nicht einmal sechs genügten für Carole-anne. Seit sie bei Andrew Starr arbeitete, schien sie zu glauben, einfach abheben zu können. »Wie sieht sie denn aus, meine Zukunft, meine ich?«
Sie machte eine vage Handbewegung. »Ach, so lala, Mr. Jury. Nicht schlecht«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Aber … na ja, nichts Halbes und nichts Ganzes.«
»Keine exotischen Frauen in Nachtzügen oder so etwas?«
»Mir weissagt sie einen schmucken Fremdling. Jetzt sagen Sie mir mal«, und sie breitete die Arme aus und blickte die Straße hinauf und hinunter, »gibt es hier in der Gegend etwa schmucke Fremdlinge?«
»Und für mich?« Jury drückte die Zunge in die Wange.
»Für Sie gibt es niemanden.« Mrs. Wassermann seufzte. »Und dabei hatte ich gedacht, Miss Bredon-Hunt würde … na, Sie wissen schon. Ich mische mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten, Mr. Jury.«
»Hmm. Es scheint nicht besonders gut zu laufen –«
»Ach, das läuft doch überhaupt nicht. So ein Jammer. Was für ein hübsches Mädchen. Und doch … Sie sollten nicht ewig allein leben. Bei den Sternen weiß man natürlich nie, aber es hat den Anschein, als ob Sie uns noch ein Weilchen erhalten bleiben würden.« Mrs. Wassermann legte den Kopf in den Nacken und meinte: »Die leere Wohnung da oben, so groß und sonnig. Aber die Leute sehen sie sich an und kommen nie wieder.«
Natürlich nicht, dachte Jury. Carole-anne wird nämlich fürs Vorführen bezahlt. Noch hatte der Vermieter nichts spitzgekriegt.
»Offen gestanden, Mrs. Wassermann, ich finde es nett mit uns dreien –« Aus dem obersten Stock drang Carole-annes laute Stimme. Sie winkte und rief Worte, die von der Frühlingsbrise davongeweht wurden. Jury sah, dass sie sich umgezogen hatte; sie trug jetzt ein dunkles, bis zum Hals zugeknöpftes Kleid. Lange Ärmel, keinerlei Zierrat. Das betörende Haar war streng zurückgekämmt. Sie hätte die Rolle der Haushälterin in Max de Winters brennendem Manderley spielen können.
Beide winkten zu ihr hoch, dann drehte sich Jury um und bedankte sich noch einmal bei Mrs. Wassermann für das wunderbare Picknick.
Eigentlich konnte Jury es nicht ausstehen, im Auto zu essen.
Im Urlaub trödelte er furchtbar gern und würde sicherlich jede Raststätte am M-1 aufsuchen.