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Das Buch

Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn? Stephanie Quitterer backt Tag für Tag Kuchen und klingelt an fremden Wohnungstüren. Sie wettet, dass sie endlich ihre Nachbarn kennenlernt.

Ein ansteckendes Experiment mit 200 Kuchen und eine charmante Geschichte über Fremdwohnungssehnsucht, Nachbarschaft und Freundschaft.

Die Autorin

Die Kiez-Ethnologin Stephanie Quitterer, auch Rotkapi genannt, wurde 1982 in Eggenfelden (Niederbayern) geboren. Sie lebte in Rio de Janeiro, studierte in Berlin, Kairo, München und war Regieassistentin am Deutschen Theater in Berlin. 2011 nutzte sie ihre Elternzeit, um endlich ihre Nachbarn kennen zu lernen. Die Autorin lebt in Berlin.

Besuchen Sie Rotkapi auf www.stephaquitterer.com

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Stephanie Quitterer

Hausbesuche

Wie ich mit 200 Kuchen
meine Nachbarschaft eroberte

Knaus

Für Marie, meine Co-Kaffeetrinkerin.

Für Tom.

Für meine Eltern.

Für alle, die mich hineingelassen haben.

Und für alle, die Türen öffnen.

Der hagere Mann braucht ein Sekündchen. Ein Sekündchen des ungläubigen Glotzens. Er linst ins dustere Treppenhaus, in dem ich stehe, linst treppauf, linst treppab, ob da nicht vielleicht eine versteckte Kamera auf der Lauer liegt? Dann schaut er wieder mich an mit diesem Ich-hab-mich-wohl-verhört-Blick und fragt: »Ist das dein Ernst?«

Ich schaue demonstrativ an mir herab: Mein Baby in der Trage vorm Bauch, in der einen Hand eine Korbtasche voller Schraubdeckelgläser mit Kaffeepulver, Kakao, Teebeuteln, Malzkaffee, Milch, Zucker; in der anderen Hand ein Kuchenteller mit »Süßen Schneebällchen« darauf, in Kokos gerollten Sahnebiskuitkugeln – selbst gemacht.

Ja, es ist eindeutig mein Ernst. Ich habe gerade im Ernst den hageren Mann aus seiner Wohnung geklingelt, um ihm ein Kaffeekränzchen anzutragen. In seiner Wohnung. Jetzt. Sofort. Obwohl wir einander noch nie begegnet sind.

Weil wir einander noch nie begegnet sind.

»So was is mir ja noch nie passiert«, murmelt der hagere Mann, und wie er es murmelt, in seiner engen schwarzen Lederhose und mit den goldenen Klunkerringen an den Fingern, ist klar, dass ihm sonst eigentlich schon recht viel passiert ist.

»Ach«, winke ich großzügig ab, »das war jetzt siebenundachtzig anderen auch noch nie passiert.«

»Siebenundachtzig?! Dann brauchste ja noch … hundertdreizehn!«, folgert er tonlos, weil ich ihm natürlich auch von meiner Wette erzählt habe. Ich habe gewettet, mich in 200 Tagen bei 200 mir fremden Menschen in ihre Wohnungen einzuladen. Spontan und unangemeldet. Er schielt auf meine süßen Schneebällchen.

»Na, komm schon rein«, sagt er und hält mir die Tür auf, »ich bin der Matthias.«

Drinnen sind die Wände bonbonpink, bonbongrün und bonbongelb, behangen mit Pop-Art. Fellbarhocker stehen an einer Theke, über der Durchreiche zur Küche rekeln sich die Beine einer Schaufensterpuppe in Ringelstrümpfen und High Heels. Überhaupt, die High Heels: 300 Paar sind es, wird Matthias später erzählen. Die ganze Wohnung bis hin zum kleinsten Requisit, jedes Möbel, jeder Aschenbecher, jedes Glas, selbst das Telefon sind eine lückenlose Liebeserklärung an die Sixties.

»Deine ist definitiv die abgefahrenste Wohnung«, sage ich anerkennend, »obwohl … Kennst du Dirk?«

Dirk hat seine Wohnung komplett in Schwarz-Weiß eingerichtet. Komplett. Selbst im Bücherregal stehen nur Bücher mit schwarz-weißem Rücken, und sogar die Pflaster im Erste-Hilfe-Schränkchen sind schwarz-weiß. Aber bei Dirk haben die Designersessel auch Markierungen am Fußboden.

»Dirk, welcher Dirk?«, fragt Matthias.

»Dein Nachbar. Er wohnt über dir.«

Seine Nachbarn kenne er nicht, knurrt Matthias und trägt mir von meinen Schneebällchen auf – mit einem Bratenwender.

»Stilvoll«, sage ich.

»Na ja«, brummelt er, »was soll ich machen, ich bin nicht so der Tortenheini.«

Ich bin eigentlich auch nicht so der Tortenheini. Im Gegenteil: eher talentfrei, was das Backen betrifft. Hin und wieder passiert mir zwar ein Kuchen, aber das liegt nur daran, dass ich Regieassistentin am Theater bin und nicht stricken kann. Und so ein Kuchen gibt mir – im Vergleich zu etwas Selbstgestricktem – relativ schnell und relativ unkompliziert das Gefühl, etwas geschafft zu haben, etwas, das zur Abwechslung mal sichtbar vor mir steht, sogar eine Form hat – wenn auch eine vergängliche. Nein, ich habe nicht davon geträumt, einmal im Leben zweihundert Kuchen hintereinander backen zu dürfen. Aber ich musste es tun.

Es war nämlich so, dass ich gerade Mutter geworden war und plötzlich, von einer fröhlichen 60-Stunden-Woche im Theater auf Null gebremst, elternzeitlich bedingt, meine Tage auf der Straße verbrachte: Kinderwagen schiebend, mit einer Decke auf dem Kopf und einer ausgewachsenen Existenzangst im Nacken. Haut und Haar hatte bisher das Theater von mir verlangt. Jetzt tat es das Baby. Wie sollte ich die beiden jemals miteinander bekannt machen, ohne dass sie wie die Katzen aufeinander losgehen würden?

Ich schob durch die Straßen und fühlte mich einsam. Der Familienclan acht Autostunden entfernt – und im Berliner Freundeskreis war ich die Erste und Einzige mit Baby. Das allein würde für eine mittlere Stimmungsschwankung schon reichen, aber ich war kurz vor der Geburt auch noch zu Tom gezogen – in einen Kiez, der, wie ich meinte, überhaupt nicht zu mir passte. Aber jede alternative Wohnortverhandlung mit Tom blieb aussichtslos: Tom ist Musiker und hat nach etlichen Wohnungswechseln vor Jahren diese Wohnung gefunden, in der sich kein Nachbar über sein andauerndes Musizieren beschwert. Außerdem ist die Wohnung, da noch unsaniert, auch für einen Jazz-Musiker wie ihn in jeder Lebenslage erschwinglich. Hach, was tut man nicht alles aus Liebe? Vor allem in Kombination mit latentem Geldmangel. Ich zog also frohen Herzens aus meinem vor Jahren schon sehr sorgfältig gewählten Lieblingsviertel freiwillig in einen Kiez, in dem Mütter einen vergleichbar guten Ruf haben wie Pest und Cholera. Es ist ein Kiez, der in den Medien als deutscher Gentrifizierungshotspot zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat und in dem es an Feindbildern nicht gerade mangelt: die Schwaben, die Yuppies, die Wessis, die Ossis, die Touris – die Mütter, die angeblich keine anderen Sorgen haben, als möglichst schnell an ihren nächsten Latte Macchiato zu kommen.

Man kann sich mit Feindbildern arrangieren, solange man selbst auf der »richtigen« Seite steht. Aber zwei Monate nach meinem Zuzug war ich selbst Mutter – und kam auch sofort in den Genuss der schönsten feindseligen Blicke. Dass mein Zu-verschenken-Kinderwagen an zwei Stellen schon mit Kabelbindern geflickt werden musste, wurde mir nicht angerechnet: Ich schob einen, das allein und meine Meldeadresse im Personalausweis reichten für den Tatbestand.

Juchhu, ich war ein Feindbild!

Vielleicht war ich seit der Schwangerschaft besonders sensibel geworden – ich konnte mir ja nicht mal mehr meinen geliebten sonntäglichen Tatort in aller Kaltblütigkeit reinziehen –, jedenfalls kroch mir die feindselige Stimmung auf der Straße mit ungeahnter Heftigkeit in die Knochen. Ich litt also schon an einer gewissen emotionalen Gicht, als Tom und ich eines Tages bei unserem Inder in der Frühlingssonne saßen und sich ein Pärchen näherte, das sich nach kurzer Beratung zu uns an den Tisch setzte. Plötzlich erkannte die Frau in meinem Mann Tom und Tom in der Frau eine Marianne, man freute und erkundigte sich, ob der jeweils andere denn noch in der alten, unsanierten Wohnung von damals wohne. (Ja.) Dann erzählte Marianne, dass sie gerne wegziehen wollten von hier, weil der Kiez sich so verändert habe, dass ihnen vor lauter Yuppiegewimmel jedes Berlingefühl abhandengekommen sei. Aber weil sich in einem Umkreis von sechshundert Kilometern einfach keine bezahlbare Wohnung mehr finden lasse, sähen sie sich gezwungen, in ihrer unsanierten Billigwohnung weiterhin und unfreiwillig die Fahnen gegen den Kapitalismus hochzuhalten.

Es war kein besonderes Gespräch, so oder so ähnlich haben allein in der letzten Woche fünf weitere von Toms Straßenbekanntschaften ihren Unmut über die gesellschaftlichen Umwälzungen in diesem Viertel zum Ausdruck gebracht – und auch wir haben schon zusammen mit hundert anderen Bewerbern überteuerte Wohnungen in anderen Vierteln besichtigt und sind geschlagen und reumütig wieder nach Hause geschlichen. Im Weiteren unterhielt man sich angeregt und aß sein Chicken Korma, aber als es an den Aufbruch ging und ich meinen im ruhigeren Abseits geparkten Kinderwagen mit der darin schlafenden Marie holte, entfuhr Marianne ein angewidertes: »Oh Gott, du bist auch eine von denen

Und da reichte es mir. Ich hatte keine Lust mehr, ständig von Feindbildern umgeben zu sein. Selbst eines zu sein. Ja, ich könnte so weitermachen wie bisher: missmutig durch die Straßen stampfen, in allem und jedem einen Angriff sehen, mich ärgern, dass ich an einem Ort bin, an dem ich nicht sein will, weil er mir mein Selbstverständnis ruiniert, unter Menschen, die mich nicht mögen oder, wahlweise, die ich nicht mag.

Warum können einen diese Menschen eigentlich nie grüßen, dachte ich, statt immer nur zu starren. Dieser Typ da drüben, zum Beispiel! Der hockt doch jeden Morgen, wenn ich vorbeikomme, vor diesem bescheuerten Café in der Sonne, der muss doch langsam wissen, wer ich bin, dieser ignorante Esel!

Bis ich mal nachrechnete, wie viele Menschen ich auf der Straße als »Nachbar« identifizieren könnte. Ich erkannte doch selbst in unserem Hinterhof einen Nachbarn nur daran, dass er nicht im Müll nach Pfandflaschen zu stochern anfing.

»Fällt dir was auf?«, fragte ich Tom, als wir von der Inderbegegnung weg und durch die Straße spazierten.

»Nö«, sagte er, »was denn?«

»Alle, die wir treffen, erzählen nur immer, wie schlimm es hier ist. Dass es sich so sehr verändert hat, dass man hier nicht mehr anständig leben kann.«

»Wieso? Stimmt doch auch.« Tom lebt seit über zwanzig Jahren hier in der Straße, er muss es wissen.

»Mag sein. Ich frage mich nur, wo die anderen sind. Wenn sich alle zu den Guten zählen, wo sind denn dann die Bösen?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, man müsste sie einfach mal alle besuchen und herausfinden, wer hier eigentlich wirklich lebt. Und wie! Oh, stell dir vor, man könnte mal in alle Wohnungen hier schauen!«

»Aha«, sagte Tom und nahm mich nicht ernst, »und wie willst du das anstellen? Klingelingeling, ich bin so neugierig, lassen Sie mich mal bitte in Ihre Wohnung? Haha. Du vor allem.«

Ja, ich weiß. Ich arbeite zwar am Theater – bin aber trotzdem ausgeprägt schüchtern. Ich meide Menschen, wo immer es geht. Zum Einkaufen schleiche ich frühmorgens, lange bevor ich offiziell ansprechbar bin, nur, weil der Supermarkt dann so schön leer ist. Öffentliche Plätze, Fußgängerzonen, Einkaufszentren sind tabu, Unterhaltungen aus dem Kaltstart ein Grauen. Und ich zog in Erwägung, an fremden Wohnungstüren zu klingeln? Mich den Menschen auszusetzen? Freiwillig?

Tom tockte sich stellvertretend an die Stirn. Dann sagte er: »Konzentrier dich lieber aufs Theater und inszenier endlich was.«

»Ich will aber nicht ins Theater, Tom. Ich will in fremde Wohnungen! Seit meiner Korkenziehererfahrung will ich nichts anderes!«

Vor Jahren, als Studentin noch, saßen abends Freunde in meiner schönen Berliner Küche, und mehrere Weinflaschen wollten geöffnet und in Coq au Vin und verschiedene Rachen geschüttet werden. Aber im Küchenschubladenchaos ließ sich partout kein Korkenzieher finden – und so war ich also gezwungen, mir beim Nachbarn einen zu leihen. Ich klingelte zum ersten Mal an einer fremden Wohnungstür. Als der Nachbar, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Wesen (nein, ich hatte mich bei meinem Einzug nicht per Handschlag als neue Mieterin vorgestellt, die Anonymität der Großstadt war mir Landei schließlich höchst heilig), die Tür öffnete, kippte ich kopfüber in ein fremdes Universum. Da stand ein Prachtbarsch inmitten seiner eichenvertäfelten Heimwerkerleistung. Der ganze Flur, Wände, Boden, Decke eingeschlossen, waberte hirschgeweihbehangen und von unzähligen Zigaretten eingeräuchert vor sich hin. Der Prachtbarsch stand breitbeinig und glotzte wässrig, während sich sein unfassbar praller Bierbauch über satinglänzende, puffrote Boxershorts lehnte. Ich starrte und starrte auf die leuchtend rote Flechte im Feierabendgesicht, auf die Kammfurchen im nach hinten gelegten Haupthaar, das vor Schmiere wie Seehundfell glänzte, und feierte in Gedanken diese gelungene Szenerie. (Dieses Kostümdesign! Die treffsichere Ausstattung! Die subtil-ironische Maske! Überhaupt, dieses Casting!) Für mich Theatermensch war dieser Prachtbarsch eine kleine Privatvorstellung. Aber plötzlich antwortete der Prachtbarsch in der von mir so geliebten Berliner Schnauze, wir lachten, er verschwand in der Küche, um den Korkenzieher zu holen – und ich blieb verblüfft zurück. Wie schnell sich doch ein Eindruck, ein Bild, in eine Begegnung verwandeln, in ein paar Sätzen aus einem Prachtbarsch ein Nachbar werden kann …

Seither sitzt er mir in den Haarspitzen, dieser Prachtbarsch, meine Korkenziehererfahrung. Dabei kann ich nicht einmal sagen, was genau an dieser Begegnung mich so nachhaltig beeindruckt hat. Von Natur aus (der niederbayerischen) hatte ich schon mehr als einmal Umgang sowohl mit Eichengetäfeltem als auch Biergebauchtem gehabt, das also kann es nicht gewesen sein. Es muss mit dieser Parallelwelt zu tun haben. Der mit meiner Wohnung identische Grundriss, die mit meiner identische Wohnungstür – und dahinter ein unbereister, noch nicht kartografierter, funkelnder, verheißender Kosmos. Wie viele dieser unentdeckten Welten existieren über-, unter- und nebeneinander, getrennt nur von einer kleinen, dünnen Wand? Ist es Zufall, dass ich gerade mein Leben führe und nicht das eines anderen? Wenn man doch nur einmal hinter diese Wände blicken könnte! Hineinlinsen in diese Leben! Wäre das nicht ein Fest für jede Neugier? Als Kind durfte ich mit meinem Vater oft mit auf Hausbesuche fahren. Ich erinnere mich, ehrfürchtig staunend in fantastischen Wohnzimmern gestanden und, bloß nicht bewegen, jede Geste, jeden Ton und jeden fremden Geruch aufgesogen zu haben. Nein, ich hätte nicht einfach Hausarzt werden können, ich kippe schon hintüber, wenn man mir einen eingerissenen Fingernagel zeigt. Ich musste mich begnügen, abends durch die Straßen zu spazieren und mir die erleuchteten Fenstervierecke anzusehen, die einem kleine Ausschnitte fremder Leben anbieten, als wären es Rätsel: ein Stück Gardine, ein Zipfelchen Lampenschirm, rückwändig ein Streifen Tapete – wer lebt da wohl? Und wie? Was ist seine Geschichte? Seit dem Korkenziehererlebnis aber schienen die Fenstervierecke fortwährend zu rufen: »Hey! Man kann uns öffnen! Auch ohne Stethoskop. Such dir einfach ein Adventskalendertürchen aus und sieh nach, was dahinter ist!«

Die unentdeckten Leben waren greifbar! Klingeln, Türe auf und … Wundertüte! Oh, all die Tellerranderweiterungsmöglichkeiten! Man könnte das Hologramm der Stadt sammeln …

»Tom, ich will doch immer schon in fremde Wohnungen. Jetzt hätte ich endlich die Zeit dafür! Was mach ich denn den ganzen Tag? Spazieren, wickeln, stillen! Da kann ich doch auch ein paar Nachbarn besuchen! Ich könnte«, ich nahm Fahrt auf, »eine richtige kleine Statistik anlegen, wer lässt mich rein, wer nicht. Ich könnte … zweihundert Leute besuchen.«

Tom schnaubte. »Hier? Schau dich doch mal um! Du glaubst doch nicht, dass dich hier auch nur EINER reinlässt!«

»Wieso denn nicht? Wenn ich Kuchen und alles für Kaffee mitbringen würde? Du weißt doch«, ich kniff mir liebevoll in die eigenbäuchliche Speckrolle, »Kuchen geht immer!«

»Entschuldige: Das ist wirklich die bescheuertste Idee, die du je hattest.«

Sagte Tom. Der Tom, der bisher immer und in allem an mich geglaubt hatte. Dass er diese Idee jetzt für superlativ bescheuert hielt, war kein gutes Zeichen. Verschämt stopfte ich sie in die Mottenkiste für bescheuerte Ideen. Aber irgendwie hatte ich mich in sie verliebt. Ich schlich um die Kiste. Und schlich um die Kiste. Da drin liegt sie, dachte ich, die Idee, das, was du schon immer einmal machen wolltest. Ich öffnete heimlich den Kistendeckel. Holte sie heraus. Hielt sie hoch. Sie glitzerte in der Frühlingssonne.

Ja, dachte ich.

Vielleicht ist das die bescheuertste Idee, die ich je hatte.

Es ist Juli. In dem einen Zimmer hält Marie, mein Kind, fünf Monate, Mittagsschlaf. In dem anderen sitzt Tom, mein Mann, Musiker, mit seinen Kopfhörern am Mischpult und arbeitet. Ich, Frischmutter, Abstellgleis, sitze in der Küche und warte. Ich weiß nicht genau, worauf, wahrscheinlich darauf, dass mich irgendjemand braucht.

Irgendwann stehe ich auf und gehe an den Kühlschrank. Ohne jede Absicht. Zumindest ist mir keine Absicht bewusst. Ich öffne wie von selbst das Tiefkühlfach. Normalerweise ist das Tiefkühlfach leer. Heute liegt da Blätterteig. Tiefkühlblätterteig. Er muss schon vor Wochen und nur versehentlich hier gelandet sein, denn Tiefkühlblätterteig gehört nicht zu den Dingen, die ich üblicherweise verarbeite, erst recht nicht zu etwas Essbarem. Trotzdem greift meine Hand nach dem Blätterteig. Zieht ihn heraus. Die andere Hand schließt das Tiefkühlfach. Ich ahne, was das bedeutet. Ich soll es wieder einmal versuchen. Wieder einmal Anlauf nehmen.

Hm. Ich hab noch nie Fertigblätterteig gemacht, keine Ahnung, wie das geht. Vielleicht beginnt man, indem man die Packung aufreißt.

Schon knarzt die Diele: Tom, angetrieben von einem kommissarischen Verdacht, hat sein Mischpult verlassen und naht.

Ich reiße mein Kinn nach oben und werfe mich auf den Blätterteig.

Tom lehnt sich lässig an die Küchentür. »Na«, sagt er gedehnt, »backst du schon wieder Kuchen?«

Ich ignoriere ihn und knete wild den Teig. (Was etwas merkwürdig aussehen mag, da die Teigplatten noch gefroren sind. Lässt sich schlecht kneten, so eine frostharte Platte. Wild dran rumfummel.)

Er fragt weiter, betont unschuldig: »Kommt etwa Besuch?«

Statt einer Antwort packe ich jetzt das Nudelholz und quetsche den Platten gehörig ihre klimatischen Anpassungsschwierigkeiten aus.

»Also nein«, folgert Tom in dieser beispiellosen Columbo-Rhetorik, »dann frag ich mich nur … hm. Etwa wieder Hüftgold?« Zur freundlichen Illustration plustert er jetzt Hamsterbacken auf und patscht zufrieden auf sein vorgestrecktes Bäuchlein, was nicht weiter bemerkenswert wäre, würde er seinen Blick dabei nicht auf meinen nachgeburtlichen Wanst richten (ja, ich weiß … aber ich hasse Rückbildung!).

Ich puste mir verbissen den Pony aus der Stirn. »Es ist so weit.«

»Was ist so weit?«, fragt er, als wüsste er nicht, als hätte er keine Ahnung.

»Ich geh heute los.«

»Ah«. Er macht eine Pause. Eine sehr lange Pause. Es fehlt nicht viel, und er würde sich dabei die Fingernägel besehen. »So wie letzte Woche? Oder die davor? Oder die davor?« Er winkt ab. »Na dann! Ich geh üben.« Bevor er die Kurve kratzt, dreht er sich noch einmal um und droht mir mit dem Zeigefinger: »Aber hey – nicht wieder alles alleine futtern!«

Wie niederschmetternd.

Nachdem Tom jetzt wochenlang in grellen Farben beschrieben hatte, was mir in einer fremden Wohnung alles zustoßen könnte (das ging bis zur suppentellergerechten Portionierung meiner Wenigkeit in geschmackssichere Gefrierbeutel), ist er offensichtlich dazu übergegangen, mich überhaupt nicht mehr ernst zu nehmen!

Noch niederschmetternder ist, dass ich es verstehen kann.

Schließlich sind, seit meine oh so grandiose Idee auftauchte wie der beste, nur leider für alle anderen unsichtbare Freund, schon gut zwei Monate vergangen. Ja, ich habe schon ein paar Anlaufkuchen gebacken. Zwanzig waren es. Oder dreißig. Aber jedes Mal fand sich eine Ausrede, die das Losgehen schlichtweg unmöglich machte. Nicht einen dieser Kuchen habe ich vor fremde Wohnungstüren getragen. Ich habe sie selbst gegessen. Ja, selbst, ganz allein, bis ins Mark gedemütigt, weil ich wieder einmal und immer noch zu viel Schiss hatte, um das, was ich tun wollte, einfach zu tun!

Ich war zu gut erzogen, um es zu tun. Bei Fremden klingeln, einfach so – das macht man nicht. Man wird mich auslachen, dachte ich. Mir den Vogel zeigen. Nichts, was ich in meiner desolaten Situation gebrauchen könnte: Hier sitze ich, in dieser Küche, die nicht einmal meine ist, sondern Toms, weil ich »der Einfachheit halber« und »aus Kostengründen« zu ihm dazugezogen bin, und habe gerade überhaupt keine Ahnung, wie ich mein Leben auf die Reihe kriegen soll.

Alles, was ich vorzuweisen habe, ist ein abgebrochenes Studium und ein Rausschmiss von der Hochschule, und selbst jetzt, da mir das Glücksrad eine Festanstellung an einem A-Theater zugeteilt hat, bei diesem großartigen Intendanten, der auch noch theaterweltweit dafür gerühmt wird, seine Regieassistenten wirklich zu fördern, ja, mir tatsächlich sogar gerade eine Produktion angeboten wird – fällt mir mit meiner Karriere nichts Besseres ein, als schwanger zu werden. Mutter zu werden. Und das auch noch in einem Viertel, in dem man sich besser vor der ganzen Gesellschaft dafür entschuldigt.

Herrje! Als ob es nicht so schon schwer genug wäre, plötzlich Mutter zu sein – weil alle Welt von einem erwartet, dass man nur noch happy, geerdet und hormonhigh auf rosa Zuckerwatte surft. Dabei befindet sich mein Selbstbild im Dauergefechtszustand.

»Oh Gott, und du warst mal cool!«, stöhnt mein bester Freund gerne und bringt es auf den Punkt, jedes Mal, wenn ich ihn dazu bewegen will, nach seiner Berghaintour noch einen Morgenkaffee mit mir einzunehmen – in Spielplatznähe. Aber all das ließe sich vielleicht noch gradebiegen, ist schließlich alles nur eine Frage von Disziplin, und auch mit Kind bin ich noch die Gleiche, noch die Gleiche, bin! ich! noch! die! Gleiche!!

Wie aufs Stichwort kräht vom hinteren Zimmer ein hungriger Schnabel. »Mäusekind«, rufe ich sofort in die Richtung, »wo bleibt denn mein Mäusekind?!« Ich bin nicht die Gleiche. Ich bin ein Supermarkt und habe rund um die Uhr geöffnet.

Schon bringt mir Tom das Baby. »Schau mal, wer da ist«, singt er, »die Mama. Die backt schon wied… die wollte irgendwas backen.«

Er gurrt, Mutti knurrt.

»Soll ich dir ein Teechen machen«, fragt er, ganz in Sorge um meinen Milchfluss, »Fenchel-Anis?«

Seufz.

Nähere Zukunftsaussichten: Stillen. Wickeln. Und Spazieren fürs UV-Licht. Noch ein gutes halbes Jahr der pure Rasselspaß, Output gleich null. Input gleich null. (»Au prima«, hatten sie gesagt, die kinderlosen Freunde, »dann kannst du ja jetzt endlich und in Ruhe Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lesen!« Haha.)

Dabei ist Marie das entzückendste Wesen, das ich mir als Tochter vorstellen kann! Ja, ich mag zur Fermate werden, wenn sie schmatzend und duftend wie ein kleiner Germknödel warm in meinen Armen liegt. Genau das ist ja das Absurde: Ich bin sehr, sehr glücklich! Als Mama. Aber als Stephanie ist da so ein … Loch. Ein Treibsandlochfrustsee.

Da, die Frau in Rosa, in ihrem blöden Luxusloft, jetzt steht sie schon wieder auf ihrem überdimensionierten Südbalkon und raucht eine, die blöde Kuh!

Wenn ich nicht bald etwas unternehme, werde ich in nicht allzu ferner Zukunft meine Tage nur noch Ellbogen-auf-Kissen-gestützt am Fensterbrett zubringen und alle Passanten mit gehässigen Kommentaren bewerfen, bis mir am Kinn die herrlichsten Borstenwarzen wachsen. Kinder werden mir aus sicherer Entfernung lange Nasen zeigen, die Mutigeren unter ihnen mir bei Nacht und Mondenschein Hundekacke in den Briefkasten schaufeln. Will ich so ein Leben führen?

Nein.

Nein? Wirklich nein? Dann muss ich jetzt los! Keine Zeit für Selbstmitleid, hoch den Hintern und raus aus der Komfortzone! Ein Missionar hat mir, bevor ich zu meinem Auslandsjahr nach Brasilien aufgebrochen bin, geraten: »Wenn der Kulturschock kommt – und er wird kommen – und du spürst, dass du dich nur noch unter der Decke verkriechen willst, dann geh raus! Geh unter Leute! Schau dir die Menschen an.«

Hm. Damals hat mir sein Rat geholfen. Und das hier – das war doch eigentlich auch nichts anderes als Kulturschock, wenn auch aus einer ganz anderen Ecke.

Und wann würde ich je wieder die Gelegenheit dazu haben? Diese Elternzeit war doch geradezu die Einladung zu einer Schlangenhäutung! Abschaffung des Schubladendenkens. Erfüllung der Korkenziehersehnsucht. Aber wie tritt man zu einer Mutprobe an, wenn einen niemand dazu zwingt?

»Ich wette mit dir!«, rufe ich nach nebenan, wo Tom gerade in seinem geliebten J. S. Bach schwelgt, »zweihundert Kaffeekränzchen in zweihundert Tagen!«

»Ich wette nicht mit dir!«, ruft Tom fidel zurück und unterbricht dabei nicht mal das Präludium, »schon gar nicht um so was.«

»Mir egal«, triumphiere ich, denn jetzt hab ich den entscheidenden Kniff entdeckt. Dann wette ich eben mit mir selbst! Ich schaffe es. 200 in 200 Tagen. Jeden Tag einen. Und damit ich auch ja genügend sozialen Druck habe, schreib ich eben einen Blog. Wenn es Tom schon nicht interessiert. Hab zwar keine Ahnung, wie das geht – aber andere machen es ja auch, kann also nicht so schwer sein. Sicherheitshalber rechne ich schnell mit Bleistift und Strichliste nach, ob mir überhaupt noch so viele Tage bleiben bis zum Berufswiedereinstieg: Es sind, und das kann kein Zufall sein, heute auf den Tag genau noch 200 Tage – und nicht einer mehr.