G. Günter Voß

Der arbeitende Nutzer

Über den Rohstoff des Überwachungskapitalismus

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Am Überwachungskapitalismus sind alle, die einen Computer, ein Smartphone oder andere digitale Geräte nutzen, beteiligt. Sie arbeiten unbewusst Big-Tech-Konzernen bei der Gewinnung, Aufbereitung, Verarbeitung und Lieferung eines neuen Rohstoffs zu, der aus den digitalen Anwendungen von Nutzerinnen und Nutzern in all ihren Lebensbereichen gewonnen wird. Im Rahmen ihrer alltäglichen Lebensführung agieren sie, wie dieses Buch in Auseinandersetzung mit der amerikanischen Ökonomin Shoshana Zuboff zeigt, in vielfältiger Weise als Hilfskräfte der Konzerne und haben dadurch als »arbeitende Nutzer« eine wichtige Funktion im Überwachungskapitalismus – ob sie wollen oder nicht.

Vita

G. Günter Voß   ist emeritierter Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz.

Inhalt

Vorwort

1. Einführung

1.1Die These des »Überwachungskapitalismus«

1.2Zum Aufbau des Textes

1.3Subjektorientierung – Ein Exkurs

2. Neuer Kapitalismus mit neuen Regulierungen, Werkzeugen und Subjektivitäten

2.1Politökonomische oder technische Hintergründe des Wandels

2.2Kapitalistische Charaktermasken oder Helden von Big Tech

2.3Subjektorientierte Blicke auf den Wandel mit Fokus auf neue Figuren von Arbeitskraft

2.3.1Der Arbeitskraftunternehmer

2.3.2Der arbeitende Kunde

2.3.3Der arbeitende Roboter

3.Eine historisch neuartige Grundlage kapitalistischer Reproduktion

3.1Der »neue Rohstoff«

3.2Eine neue »Great Transformation«

3.3Rendition, Datafizierung, Prognose und Verhaltenssteuerung

4.Subjektorientierte Blicke auf den Überwachungskapitalismus

4.1Gewinnung des überwachungskapitalistischen Rohstoffs – Neuartige Arbeit einer neuartigen Arbeitskraft

4.1.1Verhaltensüberschuss: Alltägliche menschliche Lebens-Spuren

4.1.2 Extraktion des Rohstoffs: Ursprüngliche subjektive Leistungen als Grundlage

Entdecken, Heben, Herrichten, Benennen und Bereithalten

Übereignen

Aufbereiten und Verdaten

Zuliefern

4.1.3Entdecken und vieles mehr: Arbeitende Leistungen arbeitender Nutzer

Arbeitende Leistungen

Arbeitende Nutzer

Passive Nutzer

Smartphones usw. – ein Exkurs in die Welt der Social Media und deren Extraktionspraktiken

Freie und unfreie Arbeit mit kapitalistisch genutzten persönlichen Produktionsmitteln

4.1.4Persönliche Produktionsverhältnisse: Zur Lebensführung arbeitender Nutzer

Persönliche Produktionsverhältnisse

Persönliche Produktionsverhältnisse als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse

4.1.5Der arbeitende Nutzer

4.2Extraktion des überwachungskapitalistischen Rohstoffs – Eine neue Landnahme

4.2.1Die Diskussion zur »Landnahme«

Vorläuferkonzepte und klassische Ansätze

Carl Schmitt – ein Exkurs

Neuere Landnahmekonzepte

4.2.2Neue kapitalistische Landnahme: Eine subjektorientierte Interpretation

Rückblick

Der landnehmende Zugriff auf das Innere im Inneren

5. Neue kapitalistische Figuren und die politische Bedeutung Alltäglicher Lebensführung – Folgerungen und Ausblicke

5.1Der arbeitende Nutzer und seine Begleiter im überwachungskapitalistischen Spiel

Entgrenzung

Was ist ein Subjekt? Ein Exkurs

Subjektivierung, Subjektivität

Gesamtgesellschaftliche Dynamiken

5.2Lebensführung als umkämpftes Terrain und als Plattform für Widerstand

Alltägliche Lebensführung – ein subjektorientiertes Konzept

Umkämpftes Terrain Lebensführung

Kampf um die persönliche Lebensführungshoheit

Defensive Widerständigkeit oder offensiver Kampf um das persönliche Leben?

Lebenswertorientierte Lebensführung

Entunterwerfung im Alltag der Lebensführung

Abbildungen und Tabellen

Quellen

Literatur

Internetquellen, Video- und Filmdokumente, Zeitungsartikel

Vorwort

Der von mir hier vorgelegte Text hat eine Vorgeschichte. Noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin drückte man mir in meiner Buchhandlung Anfang 2018 die soeben gelieferte Studie von Shoshana Zuboff zum »Überwachungskapitalismus« in die Hand. Ich hatte das Buch erst einige Tage zuvor bestellt und war erstaunt, es so schnell zu bekommen. Wieder zu Hause setzte ich mich auf mein Lesesofa, um einen ersten Blick in das erschreckend dicke Konvolut zu werfen … und hörte für fast eine Woche nicht mehr auf zu lesen.

Als ich davon auf Twitter berichtete, erhielt ich erstaunte Reaktionen von Kollegen aus den USA, die mit einer englischsprachigen Ausgabe erst Anfang 2019 (und damit ein Jahr später) gerechnet hatten. Über die Gründe für diese interessante Publikationsstrategie kann man nur mutmaßen (ich habe dazu einige Ideen …). Der Bitte, ›schon mal‹ über den Inhalt zu berichten, kam ich gerne nach – in dem Umfang, den Twitter ermöglicht.

Es war sicherlich auch das winterliche Wetter, das davon abhielt, mein Sofa zu verlassen. Aber mehr noch war es meine Faszination. So ein Buch hatte ich schon lange nicht mehr in Händen gehalten. Es dauerte den einen oder anderen Tag, bis ich mich eingelesen hatte und begriff, welchen Reim ich mir auf die Studie machen sollte. Neben den 727 Seiten war es vor allem der weitreichende kapitalismusanalytische Rahmen, mit Bezügen zu vielen großen Geistern, die man als Arbeitssoziologe gerne zitiert, der mich staunen ließ. Erste spärliche Medienreaktionen in Deutschland halfen mir nicht wirklich weiter. Immerhin konnte ich Frau Zuboff in der ARD (titel thesen temperamente) kurz sehen und hören. Ich vernahm dort nun auch Zuboffs selbstbewussten Hinweis, dass man ihr Buch schon ganz gelesen haben müsse, um sie zu verstehen – womit sie völlig Recht hat. Es war dann aber weniger die sympathische Erscheinung der Professorin aus Harvard, die mich trotz aller Lesemühe bei der Stange hielt. Was mich fesselte, war vor allem der sozioökonomische Fokus mit einer ohne Zweifel ›steilen‹ These.

Trotz aller Faszination war ich nach der Lektüre auch irritiert und fast ein wenig deprimiert. Das Buch erinnerte an eigene aktuelle Überlegungen, etwa zu neuen »robotisierten« Technologien. Am meisten irritierte aber, dass da nun jemand höchst umfangreich und kompetent eine Entwicklung beschrieb, über die ich einige Jahre zuvor zusammen mit Kerstin Rieder nachgedacht hatte: Die Integration von Konsumenten in betriebliche Produktionsprozesse. (Vgl. Voß/Rieder 2015) Zuboff hatte diesen Trend nun mit der neuesten technologischen Entwicklung in Verbindung gebracht, was uns damals so noch nicht möglich war.

In Telefonaten wurde Kerstin Rieder und mir aber bewusst, dass uns eine andere Perspektive geleitet hatte. Es ging uns – und geht uns weiterhin – mit der These des »arbeitenden Kunden« um die Frage, welche aktive Rolle Betroffene auf ihrer persönlichen Ebene im Rahmen neuartiger kapitalistischer Strategien genau spielen – und dazu war in der Studie von Zuboff nichts zu finden. Kerstin Rieder und mir war klar, dass man da »was machen müsse«. Die Idee eines gemeinsamen Papers scheiterte leider daran, dass Kerstin Rieder in zahlreiche andere Aufgaben eingebunden war und sich daher keine Möglichkeit fand, schnell gemeinsam aktiv zu werden.

Dass auch ich nicht wirklich über üppige Zeitressourcen verfügte, lag unter anderem an der Herausgabe eines neuen Buchs zur Lebensführungsforschung, an dem ich mit Kolleginnen und einem Kollegen arbeitete. Da ich schon vage angekündigt hatte, dazu eventuell einen Beitrag zu verfassen, geriet ich nun in die Versuchung, einen Text zur Studie von Zuboff zu schreiben. Ohne meine Kolleginnen und meinen Kollegen einzuweihen, nahm ich mir vor, Derartiges zu versuchen … und konnte mich lange Zeit nicht aufraffen, auch weil mir klar war, dass das inhaltlich nicht einfach werden würde. Erst als die Mitherausgeber ungeduldig wurden, gab ich mir einen Ruck … und schrieb dann fast ohne Unterbrechung über mehrere Wochen. Nach einiger Zeit musste ich mitteilen, dass ich zwar an einem Text säße, aber das Seitenlimit keinesfalls einhalten könne, was mit deutlicher Reserve aufgenommen wurde. Trotzdem blieb ich mit eher noch zunehmender Motivation aber dabei, und der Text wuchs und wuchs. Als dann die Zeit wirklich drängte, nahm ich mir die inzwischen entstandenen Seiten vor und verfasste eine Art Kondensat.

Erst jetzt wurde deutlich, dass der lange Text und der Auszug durchaus die angezielte Idee transportierten: Der Überwachungskapitalismus mit seiner neuartigen Rohstoffbasis setzt eine arbeitende Beteiligung der Nutzer voraus. Das hat Parallele zur These des arbeitenden Kunden, aber die Mitarbeit der hier Betroffenen nimmt völlig andere Formen an. Hinzu kommt, dass mit Blick auf die Nutzer der ›Stoff‹, um den es Zuboff geht (den sie »Verhaltensüberschuss« nennt), fundamental anders verstanden werden kann und deshalb auch anders bezeichnet werden sollte.

Nun liegt ein umfangreicherer Text vor, der in Form eines Essays versucht, die Studie aus Harvard soziologisch subjektorientiert zu unterfüttern. Kern ist erst einmal eine Darstellung der Zuboffschen Thesen und dann Ergänzungen um Annahmen zu einer alltagsnahen persönlichen Produktionsökonomie, durch die überwachungskapitalistische Konzerne erst zu ihrem neuen »Rohstoff« kommen, der hier als alltägliche menschliche »Lebens-Spuren« verstanden wird. Um dies nachvollziehen zu können, ist zugleich an einigen Stellen eine etwas umfangreichere Vorstellung der Subjektorientierten Soziologie und dort entwickelter Thesen erforderlich.

Beides zusammen könnte nun eine bis auf die Ebene der Subjekte und ihrer Alltäglichen Lebensführung zielende sozioökonomische Analyse des sich abzeichnenden Überwachungskapitalismus ergeben, der so gesehen vielleicht tatsächlich ein ›neuer‹ Kapitalismus ist, dessen erste Anzeichen wir gerade erleben. Da der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts aus subjektorientierter Sicht schon seit einiger Zeit charakteristische neuartige Formen gesellschaftlicher Arbeitskraft und damit auch neuartige Ausprägungen von Subjektivität hervorbringt (Arbeitskraftunternehmer, arbeitende Kunden und aktuell arbeitende Roboter), denen nun mit dem arbeitenden Nutzer eine neue ›Figur‹ hinzugesellt wird, könnte eine breiter angelegte Einschätzung der sich abzeichnenden Verhältnisse möglich werden. Warum das mit einer deutlichen politischen Botschaft verbunden wird, sollte beim Lesen hoffentlich deutlich werden.

Auch diesmal hat der Autor vielen Menschen für ihre Unterstützung zu danken. Dieser Dank gilt hier für hilfreiche Hinweise oder informelle Textelemente zu einzelnen Inhalten vor allem Alma Demszky, Georg Jochum, Christian Papsdorf, Kerstin Rieder, Margit Weihrich und Laura Voß sowie für ihre überaus hilfreiche Lektoratsunterstützung Eva Scheder-Voß mit der Unterstützung von Christa Heinzelmann. Für alle Unzulänglichkeiten des Textes ist allein der Autor verantwortlich und bittet dafür um Nachsicht.*

GGV, München, im September 2019

* Der erwähnte kurze Beitrag erscheint voraussichtlich Anfang 2020 in einem von Jochum/Jurczyk/Voß/Weihrich herausgegebenen Band zu »Transformationen Alltäglicher Lebensführung«.

1. Einführung

Die weitreichenden technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die seit geraumer Zeit in Kalifornien stattfinden, haben sich auch in Deutschland herumgesprochen. Während man sich in Europa – noch eher moderat und reichlich uneinig – um entgehende Steuereinnahmen und die konkurrenzgefährdende Marktmacht der neuen Quasi-Monopole, manchmal auch um den Datenschutz und die bedrohte Privatheit Sorgen macht, klingt die Meinung dazu zumindest in der Umgebung von San Francisco teilweise inzwischen schon wieder wesentlich radikaler: Dort schlägt die euphorische Begeisterung über »Big Tech« selbst innerhalb des Kernbereichs der digitalen Industrie, wie es scheint, langsam in eine neuartige Technikkritik um (»Techlash«).1 Auf beiden Seiten des Atlantiks stellen sich sogar einige intellektuelle Zirkel die Frage, ob sich nur die technologischen Randbedingungen der etablierten Ökonomie verändern oder ob nicht vielmehr ein »Neuer Kapitalismus« am Horizont der Geschichte erkennbar wird. Meist wird dabei zunächst an eine Art kapitalistische »Internetökonomie« oder einen »Digitalen Kapitalismus« gedacht. Das passt zu der altmarxistischen These von den »Produktivkräften« als historische Treiber des Kapitalismus. Nur selten jedoch hat jemand wie die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff den Mut zu fragen, ob dieser neue Kapitalismus nicht nur hinsichtlich seiner technologischen Randbedingungen, sondern in seinem ökonomischen Kern »neu« sein könnte, mit entsprechend weitreichenden Folgen. Dieser Haltung wird nicht selten mit dem Hinweis begegnet, dass Kapitalismus eben »Kapitalismus« sei, da könne nichts grundsätzlich neu sein.2

1.1Die These des »Überwachungskapitalismus«

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Studie »Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus« von Zuboff (2018) zumindest in der deutschen Diskussion, und dort vor allem auch in der Soziologie, bislang nur verhalten rezipiert wird. Auch die Reaktionen deutscher Medien sind eher dezent.3 Fast immer gibt dabei der Titel des Buches, also der »Überwachungskapitalismus«, den Ton vor: Es gehe um Digitalisierung und speziell um Datenschutz, und das Thema sei ja hinlänglich bekannt – spätestens seit der etwas verunglückten EU-Datenschutzgrundverordnung und dem eher hilflosen Bemühen der Staatsministerin für Digitalisierung. Diese eingeengte Wahrnehmung ist erstaunlich, da das Buch von Zuboff als ein bedeutender Versuch angesehen werden muss, die derzeitigen Veränderungen in Folge der Durchsetzung datenbasierter Technologien originär sozioökonomisch zu verstehen. Wenn man wissen will, was Big Tech derzeit mit unserem gewohnten Kapitalismus anstellt, dann muss man hier nachlesen.

Unter expliziter Bezugnahme auf Karl Marx, Karl Polanyi, Max Weber, Hannah Arendt und andere, nicht nur in der Soziologie gut bekannte Theoretiker behauptet die Studie nicht weniger als die sukzessive Herausbildung einer neuen Logik kapitalistischer Wertschöpfung. Es geht ihr um die Frage, wie in einem digital geprägten Umfeld kontrastierend zu bisherigen Formen von Kapitalismus ökonomische Werte generiert werden. Im Zentrum steht die These, dass sich gegenwärtig erneut eine ökonomische »Transformation« (im Sinne der frühen Annahmen von Polanyi für die Herausbildung des modernen Kapitalismus 1995 [1944]) vollzieht. Dabei entstehen, indem wirtschaftlich bis dahin nahezu unbekannte basale Ressourcen gezielt ausgebeutet und in Warenform überführt werden, neuartige Profitmöglichkeiten. Bei Polanyi hießen die durch Kommodifizierung erstmalig neu genutzten Ressourcen Arbeitskraft, Boden und Geld. Neuartige Ressourcen für den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sind nach Zuboff die vielfältigen persönlichen Hervorbringungen von Menschen bei ihren tagtäglichen Handlungen und deren digitalisierte Erfassung – ein von ihr »Verhaltensüberschuss« genanntes schier unendliches, aber bis vor Kurzem ökonomisch nicht systematisch beachtetes Potenzial von Informationen, das sich abgreifen, datentechnisch aufbereiten und nach und nach als »neuer Rohstoff« erweiterten ökonomischen Verwertungen zuführen lässt. Pioniere einer solchen neuen kapitalistischen Ökonomie seien die inzwischen hinlänglich bekannten Konzerne des »Big Tech« – allem voran Google (mit Alphabet als Mutterkonzern), gefolgt von Amazon, Facebook (mit WhatsApp und Instagram), Apple und auch (wieder) Microsoft. Andere Großunternehmen ziehen weltweit mit (auch in China, v. a. Alibaba und Tencent), um sich noch substantielle Stücke von diesem neuen kapitalistischen ›Kuchen‹ abzuschneiden, zumindest um sich Claims für eine zukünftige Nutzung und Verwertung zu sichern.

Die folgenden Überlegungen möchten nun mit einem subjektorientierten soziologischen Blick vor allem zeigen, dass dieser neue Rohstoff dem kapitalistischen Prozess der Nutzung und Verwertung nicht ›einfach so‹ zufällt. Lieferanten sind vielmehr die betroffenen Menschen selbst, die diese Rohstoffe im Rahmen ihrer Lebensführung generieren – oft ungewollt und unbewusst, zumindest hinsichtlich einer möglichen wirtschaftlichen Ausbeutung. Mehr noch: Es sind die Alltagshandelnden, die diese Quellen neuen kapitalistischen Reichtums in ersten praktischen Schritten gewinnen, aufbereiten, rechtlich übertragen, mit mehr oder weniger digitalen Mitteln für eine fremde Verwertung herrichten und schließlich den danach gierenden Unternehmen übergeben. All das ist, so hier die zentrale These, eine bisher nicht beachtete Form wirtschaftlich genutzter produktiver Arbeit unter Verwendung alltäglich gegenwärtiger Arbeitsmittel, die Zuboff als solche außer Acht lässt. Aber ohne diese überwachungskapitalistische Mit-Arbeit der Betroffenen gäbe es den neuartigen »Rohstoff« nicht!

Leser könnten sich hierbei an die These des »arbeitenden Kunden« erinnert fühlen, die auf den ersten Blick gesehen Ähnliches postuliert. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Produzenten dieses neuen kapitalistischen Rohstoffs nicht unbedingt »Kunden« sind. Mehrheitlich handelt es sich um unterschiedliche Formen von »Nutzern« digitaler Technologien (in der Sprache des WWW: »User«), die zu wenig verstehen, was sie da faktisch tun, wenn sie etwa im öffentlichen Raum, bei der Benutzung von Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz, in der Privatsphäre oder über am Körper getragene Devices Technikkonzernen wertvolle Ressourcen generieren und liefern.4 Spätestens mit diesem Fokus muss man mit Zuboff betonen, dass es nicht primär um Technik geht, sondern um das, was alltagspraktisch und darüber vermittelt ökonomisch auf neue Weise passiert. Es geht um eine neuartige kapitalistische Profitlogik, bei der letztlich ›wir alle‹ eine unerwartete Rolle von großer ökonomischer Relevanz spielen – und unsere unterschwelligen Tätigkeiten eine wirtschaftliche Funktion erhalten, die in ihrer Bedeutung bisher so nicht thematisiert wurde.

1.2Zum Aufbau des Textes

In einem ersten Schritt wird vor dem Hintergrund einiger Anmerkungen zur aktuellen Diskussion über Digitalen Kapitalismus und Digitale Arbeit noch einmal auf die Perspektive der Subjektorientierten Soziologie Bezug genommen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen zeitdiagnostischen Thesen des Arbeitskraftunternehmers, des arbeitenden Kunden sowie aktuell des arbeitenden Roboters ergeben in Verbindung mit dem Konzept Alltägliche Lebensführung einen Argumentationsrahmen für die weiteren Überlegungen (Kap. 2).

Es folgt eine intensive Rekonstruktion zentraler Thesen der Studie von Zuboff, ergänzt um weiterführende eigene Einschätzungen (Kap. 3).

Den Hauptteil des Textes bilden subjektorientierte Erweiterungen der Zuboffschen Analyse. Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme, dass der von Zuboff »Verhaltensüberschuss« genannte Rohstoff aus alltäglichen menschlichen »Lebens-Spuren« entsteht. Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, dass ohne arbeitende Leistungen der Nutzer digitaler Technik die Erschließung dieses spezifischen neuen Rohstoffs nicht realisiert werden kann. Das wird um eine ausführliche Rekonstruktion der sozialwissenschaftlichen Diskussion zur »kapitalistischen Landnahme« ergänzt, die auch in der Studie von Zuboff anklingt. Hier wird argumentiert, dass sich im Moment eine neue Art kapitalistischer Landnahme vollzieht, die zwar auch, wie neuere Landnahmekonzepte ausführen, eine »Innere Landnahme« darstellt, aber wesentlich tiefer greift und eine Landnahme des »Inneren im Inneren« von Gesellschaft und sogar des »Inneren« von Menschen bedeutet (Kap. 4).

Der Schluss enthält Überlegungen zum sozioökonomischen Zusammenwirken der subjektorientiert postulierten neuen Figuren von Arbeitskraft, mit besonderem Blick auf den hier im Fokus stehenden arbeitenden Nutzer. Dies führt zu politischen Folgerungen in Hinsicht auf die Alltägliche Lebensführung als Objekt überwachungskapitalistischer Begierden wie auch als Rahmen potenzieller Gegenwehr (Kap. 5).

Der Text bewegt sich auf drei Ebenen:

1.3Subjektorientierung – Ein Exkurs

Da die hier zu entwickelnde Argumentation einer spezifischen soziologischen Perspektive – der Subjektorientierten Soziologie – folgt, durch die die Zuboffschen Thesen zum Überwachungskapitalismus in einem anderen Licht erscheinen, soll vorab kurz erläutert werden, was es mit dieser Untersuchungsrichtung im Verständnis des vorliegenden Textes auf sich hat.7

Erste Ideen zu einer Subjektorientierten Soziologie hat vor mehr als dreißig Jahren Karl Martin Bolte (1925–2011) in einer programmatischen Skizze formuliert: Es gehe darum »[…] das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft ins Blickfeld« zu rücken (Bolte 1983). Damit sei eine im Prinzip alte, aber mehr denn je zentrale, Frage der Soziologie aufgegriffen, die traditionell unter dem Stichwort »Individuum und Gesellschaft« und später als »Handlung und Struktur« diskutiert wurde. Typisch für diese Perspektive sind aus heutiger Sicht folgende Aspekte:

»(1) in welcher Weise sie menschliches Denken und Handeln prägen, (2) wie Menschen bestimmter soziohistorisch geformter Individualität innerhalb dieses strukturellen Rahmens agieren und so unter anderem zu dessen Verfestigung oder Veränderung beitragen und (3) wie die betrachteten Strukturen selbst einmal aus menschlichen Interessen, Denkweisen und Verhaltensweisen hervorgegangen sind.« (Bolte 1983: 15 f.).

Das mit dieser Formulierung angesprochene Grundproblem der Vermittlung von Handlung und Struktur steht schon seit einiger Zeit ganz oben auf der Agenda allgemeinsoziologischer Konzeptionen, und manches liest sich auf den ersten Blick wie eine Übersetzung von Boltes Plädoyer. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber bedeutsame Unterschiede.

2. Neuer Kapitalismus mit neuen Regulierungen, Werkzeugen und Subjektivitäten

Wenn hier als Ausgangsannahme für die Frage nach dem Überwachungskapitalismus mit seinen spezifischen Erscheinungen auf einen bis in das letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts zurückreichenden gesellschaftlichen Strukturwandel verwiesen wird, der vor allem ökonomische Ursachen hat, dann ist das nicht nur in der Soziologie weithin Konsens. Uneinig ist man sich jedoch darüber, ob es sich dabei lediglich um einen beschleunigten Wandel handelt oder schon um einen Strukturbruch der langfristigen Dynamik kapitalistischer Gesellschaften. Kontrovers ist auch, wenn man rückblickend die Diskussion betrachtet, ob eher gesamtökonomische Veränderungen in Verbindung mit einer Neuausrichtung politischer Rahmenbedingungen Ursache des Wandels sind oder Veränderungen der soziotechnischen Grundlagen von Gesellschaft.

2.1Politökonomische oder technische Hintergründe des Wandels

Schon frühe Analysen der Veränderungen, die sich in kapitalistischen Gesellschaften während der 1970 und 80er Jahre vollziehen, beschreiben diese als primär sozioökonomische Umbrüche mit begleitenden politischen Strukturveränderungen. In einschlägigen Konzepten wird vor dem Hintergrund globalwirtschaftlicher Veränderungen und verschärfter globaler Konkurrenzen der Wandel als Ende des den expandierenden Kapitalismus bisher regulierenden und damit domestizierenden sogenannten »fordistischen« Gesellschaftsmodells verstanden. Mit großer Dynamik bilde sich im Übergang zum 21. Jahrhundert, so lautete die These, eine sogenannte »post-fordistische« (oft auch als »neoliberal« interpretierte) Regulationsweise heraus.9 Dass diese Dynamik auch die erwerbsförmigen Arbeits- und Betriebsverhältnisse verändert, und sich dabei »post-tayloristische« Steuerungsverfahren und systematische »Entgrenzungen« und »Subjektivierungen« von Arbeit und Betrieb ergeben, hat sich nach und nach als breiter Konsens herausgebildet.10

Eher spät wurde in anderen zeitdiagnostischen Konzepten deutlich gemacht, dass die bis dahin vorwiegend ökonomisch begründeten Veränderungen besonders von neuartigen technologischen Dynamiken und Werkzeugen mitgeprägt werden. Das sich dafür durchsetzende Catch-All-Stichwort lautete (nach einem frühen Hype zum Internet11 und dann zur Internetökonomie12) »Digitalisierung«. Erst ab den 2010er Jahren stellte sich die wesentlich weiter reichende Frage, ob die allgegenwärtige Digitalisierung nicht nur einzelne Arbeits- und Lebensbereiche tangiert, sondern eine Veränderung der gesamten sozioökonomischen Verfassung kapitalistischer Gesellschaften mit sich bringt – Stichwort »Digitaler Kapitalismus«13 oder auch »Big Data Kapitalismus«14. Die Frage nach den Folgen für die Arbeitswelt bekommt mit dieser Sicht eine völlig neue Qualität. Eine anfänglich mit dem Internet verbundene Hoffnung auf eine ›freiere‹, etwa mit dem »Sharing« (der freien zur Verfügungstellung von Inhalten im WWW) verbundenen Arbeit15 wurde bald von der Realität einer nach wie vor kapitalistisch beherrschten Arbeit mit jetzt digitalen Werkzeugen und den Möglichkeiten des Web2.0 bzw. der Social Media enttäuscht (»Plattformökonomie«, »Crowdworking«, »Clickworking« usw.).16 In weiten Bereichen etwa der traditionellen Arbeitssoziologie fokussieren sich Forschungen nach wie vor auf gewohnte Themen wie Arbeitsfolgen neuer Technologien, jetzt vor allem bezogen auf eine Informatisierung und Robotisierung industrieller Arbeit oder dann zunehmend auch auf den Einsatz sogenannter »Künstlicher Intelligenz«17 in Unternehmen – Stichwort »Arbeit 4.0« oder »Industrie 4.0«.18 Erst jüngst ging es bei der Frage nach einem grundlegenden Wandel von Arbeit in der als »Digitaler Kapitalismus« bezeichneten Wirtschaftsweise um eine im Kern auf neue Weise kapitalistisch geprägte »Digitale Arbeit« jenseits der Vorstellung einer über Social Media organisierten »Plattformökonomie« usw.19

Konzepte der ersten Kategorie waren dominant ökonomisch mit traditionell kapitalismuskritischem Duktus ausgerichtet, oft verbunden mit der Diagnose eines politisch wie auch ökonomisch induzierten Verfalls sozialer Errungenschaften, durch die der Kapitalismus für fast ein halbes Jahrhundert eingehegt werden konnte. Nicht selten waren die Analysen davon geprägt, dass eine sozioökonomische Phase in etwas noch nicht klar erkennbar Neues übergeht, was zu den schon erwähnten Bezeichnungen »Post-Taylorismus«, »Post-Fordismus« oder allgemeiner »Post-Moderne« führte.20

Die zweite Art von Erklärungsansätzen interessiert sich mehr für die andersartige konkrete Qualität der neuen Arbeits- und Sozialverhältnisse, setzt sich damit aber auch dem Vorwurf eines »Technologischen Determinismus« aus. Hier wird das »Digitale« als neue werkzeugartige Technik zumindest latent zum entscheidenden Treiber der Veränderungen in Arbeit und Gesellschaft erklärt.

2.2Kapitalistische Charaktermasken oder Helden von Big Tech

Als Erklärungsmuster für den strukturellen Wandel von Ökonomie und Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist durchaus häufig zu finden, dass inspirierte, mutige und talentierte Persönlichkeiten die entscheidenden Treiber der Veränderungen sind. Derartige Stories durchziehen die gesamte Wirtschaftsgeschichte,21 aber spätestens mit dem immensen technischen und ökonomischen Erfolg der Unternehmen im Silicon Valley hat eine solche Sicht Hochkonjunktur, auf beiden Seiten des intellektuellen und politischen Spektrums. Es hat den Anschein, als ob sowohl die regelrecht explodierende kapitalismusnahe Diskussion zum digitalen Wandel als auch der sich nach und nach entwickelnde neue technisch orientierte Antikapitalismus jeweils ihre Helden oder Schurken brauchen und finden.

Ob man nun das Denken in Helden und Schurken akzeptiert oder ablehnt, es ist nicht zu leugnen, dass die spektakulären Frontpersonen des Big Tech große Macht haben und auch noch angemessen reich sind, sehr reich sogar. Jeff Bezos zum Beispiel, der Besitzer von Amazon, ist mit Abstand der reichste Mensch auf unserem Planeten (mit einem Privatvermögen 2019 von 165,6 Mrd. US-Dollar). Spätestens nach ihrem Tod werden auch die Helden des Digitalzeitalters mit umfangreichen Biographien gewürdigt (vgl. z. B. Isaacson 2012 für Steve Jobs). Gut politökonomisch gedacht müsste man aber bestreiten, dass es bei einer sozioökonomischen Analyse um einzelne Personen geht. Nach Marx zumindest handelt es sich bei ihnen um »Charaktermasken«, die in der theoretischen Analyse vom »persönlichen Individuum« zu unterscheiden und abzusetzen sind. Selbst wenn einem die Begrifflichkeit geläufig sein sollte, ist es aufschlussreich, die Idee der »Charaktermaske« noch einmal im Marxschen Original nachzulesen – auch um zu verstehen, dass es dort zwar um »Klassenindividuen« geht, die aber die »persönlichen Individuen« in ihrem Alltag trotzdem analytisch nicht schlicht verdrängen können. Dieser Kontrast wird im vorliegenden Text aufgrund der angelegten Subjektorientierten Perspektive noch öfter eine Rolle spielen.22

»Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse ein Wort […], […] es handelt sich hier um Personen nur, insoweit sie die Personifikationen ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen« (Marx 1969 [1867], S. 16).

»Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten« (Marx 1969 [1867], S. 99 f.).

»[…] im Laufe der historischen Entwicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt ein Unterschied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist. […] Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum […] tritt erst mit dem Auftreten der Klassen ein […].« (Marx/Engels 1978 [1932], S. 75 f.).Ein wenig anders klingt das dann im Folgenden, und es lohnt sich, die Passage genau zu lesen: »Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier [in der Warenproduktion] gegenübertreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse [sic!] und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« (Marx 1969 [1867], S. 91–92).

Thompson

Konkrete Personen spielen also durchaus eine Rolle bei den hier verhandelten Themen. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Wenn hier dafür plädiert wird, soziologisch die »Subjekte« für eine Analyse des sich ausbildenden Überwachungskapitalismus ins Auge zu fassen, geht es weder um »individuelle Personen« noch um »Klassenindividuen«, von denen bei Marx die Rede ist. »Subjekt« ist hier eine strukturelle Kategorie, die die wirklichen, historisch konkreten Individuen (außer in der subjektorientierten Empirie) bei Seite lässt, aber nicht der Überabstrahierung der konventionellen Klassenanalyse verfällt. Bei Subjekt geht es um eine personen- und alltagsnahe Größe, die als typischer oder charakteristischer Player (nicht »Charaktermaske«) auf neuartige Weise in einem sich ändernden kapitalistischen »Spiel« fungiert. Daher wird im Folgenden auch oft der Ausdruck »Figur« (wie eine »Spielfigur«) Verwendung finden.