Buch

Yorkshire, 1855. Als der wohlhabende Spinnereibesitzer Lord Reginald Callahan seiner Tochter Amber einen potenziellen Ehemann präsentiert, rechnet er nicht mit ihrem vehementen Widerstand. Amber möchte sich bilden, die Welt sehen, und sie denkt gar nicht daran, ihre Unabhängigkeit einfach so aufzugeben. Doch dann bricht sie gemeinsam mit ihrer Stiefmutter zu einer Reise durch Ägypten auf und lernt in Kairo den Offizier Ashton Cartwright kennen. Als Ashton ihr kurz darauf einen Heiratsantrag macht, beginnt für Amber ein neues, aufregendes Leben. Mit ihrem frisch angetrauten Ehemann, dessen Truppe sich auf Indieneinsatz befindet, reist sie nach Assam, wo sie in einem Kloster dem jungen tibetischen Mönch Tashi begegnet und in der faszinierenden, fremden Kultur völlig aufgeht – bis Ashton unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt. Als Amber im Besitz ihres Mannes eine unheimliche Statue findet, beschwört Tashi sie, das Relikt zu seinem Ursprungsort zurückzubringen, da sonst auch sie vom Unglück verfolgt sein wird. Amber bleibt keine Wahl, als den gefährlichen Weg zu den abgelegenen Bergdörfern im Himalaya anzutreten, begleitet von ihrem Freund Tashi und dem geheimnisvollen amerikanischen Archäologen Rhys, der irgendetwas vor ihr zu verbergen scheint

Autorin

Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

Von Patricia Mennen außerdem bei Blanvalet lieferbar:

Der Ruf der Kalahari · Sehnsucht nach Owitambe · Zauber der Savanne

Patricia Mennen

Im Land der
sieben Schwestern

Roman

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Deutsche Originalausgabe März 2014

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

AF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10986-8
V003

www.blanvalet.de

Den Abenteurern Willem,
Anna-Fee und Amelie

GEISTER UND MENSCHEN

Nach Erschaffung der Erde wollte der große Schöpfer, dass Menschen und Geister im Gleichgewicht leben. Sie sollten einander achten und respektieren. Es dauerte jedoch nicht lange, da erinnerten sich die Menschen nicht mehr an seinen Wunsch. Sie quälten und unterdrückten die Geister und behandelten sie ungerecht. Da begehrten die Geister auf und beklagten sich bei ihrem Schöpfer: »Wenn die Menschen weiter so mit uns umgehen, werden wir bald aussterben.«

Also gab ihnen der Schöpfer einen Rat: »Geht hin und backt Hefekuchen, in die ihr die Beeren des schwarzen Pfeffers mischt. Gebt die fertigen Kuchen in das Trinkwasser der Menschen. Sobald sie davon trinken, werden sich ihre Augen schwarz verfärben, und sie werden euch von da an weder sehen noch quälen können!«

Die Geister taten, wie ihnen der Schöpfer geraten hatte. Und als die Menschen am nächsten Tag von dem Wasser kosteten, wurden ihre Augen schwarz. Von nun an blieben ihnen die Geister verborgen, und sie konnten sie nicht mehr quälen. Das ist der Grund dafür, dass die Menschen keine Geister sehen können.

(Sage der Angami-Naga aus Nordostindien,
dem Land der sieben Schwestern)

Prolog

Nagaland, Nordostindien

1850

Bong – Bogabong – Bogabong – Bong – Bong

Sanft und warm begann sich der dumpfe Klang der Schlitztrommel über das von dichtem Urwaldgrün bedeckte Tal auszubreiten. Wie der gleichmäßig ruhige Schlag eines kräftigen Herzens gingen die erst leisen, dann langsam anschwellenden Schläge sogar auf die Vögel in den Wipfeln der Urwaldriesen über. Der sich stetig wiederholende Rhythmus half Lohang Hoto den Schmerz zu ertragen. Sein vor vielen Tagen tätowiertes Gesicht brannte immer noch, als wäre er in ein Ameisennest gefallen. Bis auf Lippen und Augen war die Haut mit den stammestypischen Tätowierungen des Königsclans überzogen. Die mit Ruß und Pflanzenfarbe getränkten Wunden, die der Schamane Honpa mit feinen Kata-Dornen in sein Fleisch gestochen hatte, waren noch immer entzündet. Doch der Schmerz, den er empfand, war nichts im Vergleich zu der tiefen Befriedigung, die sein Herz erfüllte. Sein Freund Nianu reichte ihm das Bambusrohr mit dem Opium und grinste ihn stolz an. Auch er und zwei weitere junge Männer der Wancho hatten sich dem Mannbarkeitsritus unterzogen, nachdem sie ihre ersten Köpfe erbeutet hatten. Im Gegensatz zu ihm beschränkten sich ihre Tätowierungen lediglich auf Stirn und Kinn. Lohang Hoto nahm dankbar einen tiefen Zug und ließ den Rauch langsam durch seine Nasenflügel wieder hinausgleiten. Dann reichte er die Pfeife an den Nächsten am Feuer weiter. Die Wirkung der Droge ließ nicht lange auf sich warten. Der Schmerz der frischen Wunden trat immer mehr in den Hintergrund und öffnete seinen Geist für die große Jagd, die seinem Volk Fruchtbarkeit und Wohlstand garantieren sollte. Gleichzeitig wuchs mit den zunehmend schneller werdenden Trommelschlägen sein Selbstbewusstsein. Das Blut des jungen Kopfjägers vom Stamm der Wancho geriet in Wallung. Seinen Stammesbrüdern schien es nicht anders zu ergehen. Lohang Hotos verschleierter Blick glitt über die mittleren Träger und Querbalken des Morungs weiter durch den Raum. Das lang gestreckte Wohnhaus der jungen Männer war voller bemalter Schnitzereien. An den Wänden hingen in dichten Reihen Schädel von Mithuns, Wasserbüffeln und Antilopen. Auf dem Boden neben dem Feuer stapelten sich die Schädel der bezwungenen Feinde. Wie von Zauberhand bewegt begannen die geschnitzten Tiere an den Balken lebendig zu werden. Der Tiger öffnete sein Furcht erregendes Maul und brüllte, dass die Wände zitterten. Das Reh neben ihm sprang erschreckt davon, während die Schlange sich über die Balken einen Weg zwischen die Männer suchte und sich prüfend vor ihnen aufrichtete. Lohang Hoto spürte, dass es Zeit war zu gehen. Er sprang auf, griff nach seinem Speer und prüfte, ob der Dao, der Kopfjägerdolch, an seinem Platz war.

»Die Geister sind mit uns!«, brüllte er außer sich vor Erregung. Seine von Schmerz und Drogen blutunterlaufenen Augen glühten wie irrlichternde Funken im flackernden Licht des Feuers. Nianu und die drei anderen ließen sich von seiner Begeisterung anstecken und stimmten in sein Kriegsgeheul ein. Mit den Füßen fest aufstampfend verließen sie das Schlafhaus der jungen Männer und gesellten sich zu den älteren Kriegern, die draußen bereits auf sie warteten.

Häuptling Po Ai nickte Lohang Hoto wohlwollend zu. Jedermann konnte sehen, wie stolz er auf seinen Sohn war. Nun war klar, dass der einmal ein großer und mächtiger Herrscher werden würde, denn nur besondere Krieger hielten dem Schmerz stand, der die Tätowierung des gesamten Gesichts hinterließ. Lohang Hoto war der Einzige im Königsclan, der überhaupt dazu bereit gewesen war.

Po Ai riss seinen Speer mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe. Sofort änderten die Männer am Songkong den Rhythmus der Schläge. Die über elf Meter lange Schlitztrommel, die aus einem einzigen ausgehöhlten Baumstamm gefertigt war, klang nun drohend und aggressiv. Ihr Hall drang über das Dorf hinaus bis weit in die vom Nebel verhangenen Dschungelberge vor.

Er war Warnung und Nachricht zugleich. Die Kopfjäger waren nun alle auf dem Dorfplatz versammelt und ließen sich von dem Rhythmus der Trommelschläge anstecken. Auf und ab wippend bildeten sie bald einen einzigen rhythmischen Körper, dessen Bewegung zunächst gleichmäßiger, dann immer kraftvoller wurde. Erst leise, dann lauter werdend stimmte der Schamane das Kriegslied an, in das nach und nach alle Männer einfielen. Der Gesang untermalte den Tanz der Krieger und ließ ihn noch wilder und ekstatischer werden, bis die Luft von der heraufbeschworenen Kraft so vibrierte, dass ein kleiner Funke ausreichen mochte, um die Situation explodieren zu lassen.

Da hob Po Ai erneut seinen Speer, und absolute Stille trat ein. Vor Anspannung erstarrten die Kopfjäger in ihrer jeweiligen Bewegung und richteten ihre erwartungsvollen Blicke auf den Anführer. Ihre Augen glühten vor Tatendrang und Kampfeslust. Kein Laut war zu hören. Selbst die Tiere des Urwalds waren verstummt. Dann streckte der Häuptling seinen Arm in Richtung des nebligen Regenwaldes aus. Weitere Anweisungen waren nicht nötig. Schweigend setzten sich die Wancho in Bewegung und trabten ihrem Anführer hinterher, bis das dunkle Dickicht des Waldes sie verschluckte.

Lohang Hoto gebührte die Ehre, den Angriff zu eröffnen. Mit erhobenem Speer und gezücktem Dao stürmte er auf das feindliche Dorf der Sema-Naga zu. Während er rannte, stieß er einen unbändigen Schrei aus und stürzte sich auf die Phalanx der Feinde, die zum Kampf bereit waren. Wie es Brauch war, hatte der Klang der Songkong die Bewohner des Dorfes gewarnt, und dessen Männer erwarteten sie mit entschlossenen Mienen. Frauen und Kinder hatten längst Zuflucht im Dschungel gesucht.

Lohan Hotos junges Herz war voller Ehrgeiz und Entschlossenheit. Mit raschen, weit ausholenden Schritten warf er sich mitten unter die Krieger. Sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein verlieh ihm ungeahnte Kräfte, und er spürte, wie die Kraft der Schlange, die sie ihm in seinem Morung übertragen hatte, in seinen Körper floss. Der Kampf war kurz und heftig. Schon nach wenigen Augenblicken war Lohang Hoto in sein erstes Gefecht verwickelt. Aus der Gruppe löste sich ein kräftiger, junger Sema-Naga. Auch er trug die Tätowierungen der Wangjans, des Königsclans. Da er um gut einen Kopf größer als Lohang Hoto und viel kräftiger gebaut war, schien er seinem Gegner weit überlegen. Sein scharfer Dolch schien überall zu sein, so wild und kraftvoll zischte er durch die Luft. Lohang Hoto versuchte zunächst, den tödlichen Schlägen auszuweichen. Hierbei kam ihm zugute, dass er viel wendiger und schneller als der Sema-Naga war. Trotzdem streifte ihn der Dao des Feindes und verletzte ihn am rechten Oberarm. Wilder Schmerz durchflutete seinen Kampfarm und machte ihn unbrauchbar. Nur durch eine schnelle Drehung gelang es ihm, dem nächsten Stich auszuweichen. Doch durch diese abrupte Bewegung stand er nun im Rücken des Feindes. Bevor dieser sich ihm wieder zuwenden konnte, nahm er rasch seinen Dolch in die linke Hand und nutzte die Gelegenheit, ihm mit der Waffe einen tiefen Stoß zu versetzen. Der Sema-Naga stieß einen überraschten Schrei aus und sank tödlich getroffen zu Boden. Noch während er fiel, spürte Lohang Hoto die Kraft des Sterbenden auf sich übergehen. Ein tiefes Triumphgefühl überkam ihn und ließ ihn für einen Augenblick unaufmerksam werden. Erst als sich die Klinge eines anderen feindlichen Kriegers bereits seinem Hals näherte, nahm er aus den Augenwinkeln ihr Blitzen wahr. Mit einer reflexartigen Drehung wich er dem Schlag aus, bückte sich und rammte dem Gegner von unten die Waffe in den Bauch. Mit einem Gurgeln sank auch dieser nieder und bedeckte ihn unter seinem schweren Körper. Keuchend vor Anstrengung und Schmerz kroch er unter dem Toten hervor und hielt nach dem nächsten Gegner Ausschau. Doch die Sema-Naga hatten genug. In wilder Flucht suchten sie ihr Heil im Dickicht des Dschungels. In Lohang Hotos Ohren rauschte immer noch der Puls des Tötens, und er kämpfte gegen den Drang, die Flüchtenden zu verfolgen. Dann fiel sein Blick auf die beiden Toten, und er wusste, weshalb die Sema-Naga geflohen waren. Einer der Getöteten war der Sohn des Häuptlings der Sema-Naga, der andere aber der Häuptling selbst. Ehe er sich’s versah, wurde er von seinen Mitstreitern umringt und bejubelt. Lohang Hoto war ein Held geworden – ein mächtiger Krieger, der es verstand, Fruchtbarkeit und Wohlstand für sein Volk zu erkämpfen. Von allen Seiten klopften sie ihm anerkennend auf die Schulter und stimmten ein triumphierendes Geheul an.

In der folgenden Nacht feierten die Kopfjäger ihren großen Sieg mit Reisbier und frisch geschlachteten Schweinen. Sie hatten in der Dorfmitte ein großes Feuer entfacht, um das sich alle Bewohner versammelt hatten. Lieder wurden gesungen und Geschichten erzählt, und eine Geschichte wiederholte sich immer wieder. Es war die von Lohang Hoto, dem tapferen Häuptlingssohn, der bei der Kopfjagd zwei Feinde erlegt und dabei die Kraft und Fruchtbarkeit des berühmten Sema-Naga-Häuptlings und dessen Sohnes auf ihren Stamm übertragen hatte. Honpa, der Schamane, hatte noch in derselben Nacht eine Totenfigur gefertigt, auf deren Gesicht er die Tätowierungen des getöteten Häuptlings kopiert hatte. Er stellte sie Lohang Hoto vor die Füße und verneigte sich vor ihm.

»Rang und Baurang sind gleichermaßen mit dir«, erklärte Honpa mit einer leisen, vom Alter geschwächten Fistelstimme. »Sie sagen, dass dein Mut und deine Tapferkeit ihren Beifall gefunden haben. Die beiden Krieger, die du getötet hast, waren weit über ihren Stamm hinaus für ihre Kühnheit und Kraft bekannt. Nimm deshalb diesen Totengott in deine Obhut. In ihm bündeln sich die Macht und der Zauber aller Dschungelgeister. Sie werden dafür sorgen, dass es unserem Volk gut geht. Niemals darf das Gefäß unserer Macht unser Stammesgebiet verlassen. Wer es raubt oder zerstört, wird den Fluch der Dschungelgeister auf sich und die Seinen laden.«

Lohang Hoto nahm das wertvolle Geschenk mit der gebührenden Demut in Empfang. Er verneigte sich vor dem mächtigen Schamanen und berührte dessen Füße mit seiner Stirn.

»Dafür werde ich mit meinem Leben bürgen.«

1. Teil – Ashton

England und Indien

1854

1

Bolton Abbey, North Yorkshire

Das schrille, jäh einsetzende Krächzen von Krähen zerschnitt die beschauliche Ruhe über Bolton Abbey. Ungeordnet, von wilden Flügelschlägen und lautem Gezeter begleitet, ließen sich die schwarzen Vögel auf den zahlreichen Mauerresten nieder. Sie fielen wie ein Räuberhaufen über die Abtei her und scherten sich keinen Deut um die junge Frau, die unter einer ausladenden Eiche ein Aquarell von dem einst so ehrwürdigen Gemäuer anfertigte.

Obwohl die ehemalige Abtei und Pfarrkirche schon seit Jahrhunderten verfiel, gab es immer noch hoch aufragende Mauerreste mit zum Teil erhaltenen Spitzbögen, die sich trotzig inmitten von wild wachsenden Büschen und Bäumen gegen Wind und Wetter stemmten. Sogar das gotische Kreuzrippengewölbe des Daches ließ sich noch erahnen.

Über den tiefblauen Sommerhimmel huschten weißgraue Wolken, die sich zu wild aussehenden Fantasiegestalten zusammenballten, um dann wieder zu zerstieben. Gegen dieses Himmelsschauspiel sah das graue Gemäuer wie ein Mahnmal für die Vergänglichkeit der Welt aus. Kein Wunder, dass die Abtei immer wieder Dichtern wie William Wordsworth oder dem Maler William Turner zur Inspiration gedient hatte.

Amber beobachtete fasziniert das chaotische Treiben der Vögel und legte ihr angefangenes Aquarell beiseite. Rasch griff sie nach einem Stück Kohle und begann die Szenerie hastig auf ihrem Zeichenblock einzufangen. Die im Volk als Unglücksboten verschrienen Vögel verliehen der Abtei etwas Geheimnisvolles und Unheimliches. Von jeher hatte sie ein Faible für mystische Dinge gehabt. Vielleicht war es das Erbe ihrer halbindischen Mutter, die sie bereits als kleines Mädchen mit vielen wundersamen Geschichten von Göttern, Dämonen und schönen Prinzessinnen in Erstaunen versetzt hatte. Amber erinnerte sich kaum noch an das Gesicht ihrer Mutter. Sie war gestorben, als sie selbst kaum vier Jahre alt gewesen war, aber ihre Geschichten hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Vor dem Tod hatte die Mutter ihr ein Amulett aus ihrer indischen Heimat geschenkt.

»Es ist sehr alt«, hatte sie ihr anvertraut. »Man sagt, es trägt die Magie des Weltwissens in sich. Wer es trägt, steht unter seinem Schutz.« Sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, es immer bei sich zu tragen.

Der Anhänger, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug, war nicht sehr kostbar, aber äußerst fein aus glänzend schwarzem Obsidian gearbeitet. Seine gewundene, verschlungene Form sah aus wie ein Schriftzeichen. Amber hatte nie herausfinden können, was es bedeutete. Für sie war es dennoch ihr wertvollster Besitz.

Aber auch nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Amber nicht auf fantastische Geschichten verzichten müssen. Denn sie und ihr älterer Bruder Camden wuchsen unter der Obhut eines irischen Kindermädchens auf. Molly Brandon war nicht nur eine Seele von Mensch, zupackend, lustig und resolut, sondern sie war auch abergläubisch und glaubte an jede Menge Geister und Kobolde. Während Camden sich schnell ihrem tatkräftigen Einfluss entzogen hatte, hing Amber voll zärtlicher Zuneigung an der kräftigen Irin mit dem großen Herzen. Molly hatte die große Begabung, selbst für einfache Sachverhalte übernatürliche Erklärungen anbieten zu können. So war es nie Ambers Schuld gewesen, wenn aus kindlicher Leichtfertigkeit wieder einmal eine Tasse zu Bruch gegangen war, sondern es war die Tat eines Kobolds oder eines anderen Feenwesens, das mit ihr seinen Schabernack trieb. Auf oder in jedem Hügel, hinter jedem alten Stein, im Wald und sogar in dem See, der zu ihrem Anwesen gehörte, hausten die merkwürdigsten Gestalten – und Amber, die schon immer viel Fantasie besessen hatte, ließ sich nur allzu gern von Mollys Geschichten einfangen.

Letztendlich hatten diese Geschichten auch dazu beigetragen, dass sie immer noch am Leben war. Amber, mittlerweile fast zwanzig, hatte neben dem Verlust der Mutter noch einen weiteren schweren Schicksalsschlag ertragen müssen. Eine heimtückische Krankheit hatte ihrer unbeschwerten Kindheit ein jähes Ende gesetzt, als sie gerade mal sieben Jahre alt gewesen war. Ein heftiger Fieberanfall mit Durchfall und Erbrechen nach einem Bad im See war der erste Vorbote gewesen. Kaum war sie von dieser vermeintlich harmlosen Krankheit genesen, trat unvermittelt ein neuer Fieberschub mit schmerzhaftem, steifem Nacken und fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Sie hatte nächtelang vor Schmerz geschrien und konnte nur mithilfe starker Betäubungsmittel beruhigt werden. Dr. Swanson, der Hausarzt der Familie Callahan, hatte ihrem Vater kaum Hoffnung gemacht.

»Es ist eine Entzündung der Hirnhaut«, hatte er verlauten lassen. »Selbst wenn sie die Krankheit überlebt, wird ihr Geist wahrscheinlich beschädigt sein.«

Doch allen Unkenrufen zum Trotz erholte sich Amber, ohne dass auch nur die geringste geistige Beeinträchtigung zurückgeblieben wäre. Allerdings war die scheinbare Genesung nur der trügerische Vorbote des schlimmsten Teils ihrer Krankheit gewesen. Eines Morgens wachte sie unter höllischen Schmerzen auf. Das Stechen in ihren Beinen raubte ihr fast die Besinnung. Als Amber versuchte, sie zu bewegen, geschah überhaupt nichts. Die Beine taten furchtbar weh, aber sie gehorchten ihr nicht. Halb wahnsinnig vor Angst hatte sie nach Molly gerufen, die sofort ihren Vater und schließlich auch Doktor Swanson benachrichtigte. Das Mädchen wurde nochmals untersucht und erhielt ein starkes Schlafmittel. Als Doktor Swanson meinte, dass sie schliefe, nahm er ihren Vater beiseite. Doch Amber war noch wach genug, um seine Worte mitzuhören. So erfuhr sie, dass sie an einer oft tödlich verlaufenden Kinderlähmung erkrankt war.

Doktor Swanson war sichtlich erschüttert, denn er war der Familie schon sehr lange freundschaftlich verbunden. Beide Kinder der Callahans waren durch seine Hilfe zur Welt gekommen.

»Ihr müsst Euch auf das Schlimmste einstellen«, meinte er ernst. »Nicht selten schreiten die Lähmungen fort und befallen auch die Atmungsorgane, aber auch wenn das – Gott gebe es – nicht eintreten wird, können die Lähmungen in den Beinen von Dauer sein. Eure Tochter wird möglicherweise für immer ein Krüppel sein.«

Das Letzte, was Amber vor ihrem endgültigen Eintauchen in einen tiefen Schlaf vernahm, war das trockene Schluchzen ihres Vaters.

Die nun folgenden Wochen und Monate sollten die schlimmsten in Ambers Leben werden. Betäubt von Schmerzmitteln hatte sie in einem abgedunkelten Zimmer vor sich hin deliriert. Sobald sie zu sich kam, wurde sie von einer Welle von Ängsten überrollt. Niemals würde sie das Entsetzen vergessen, das sie überfallen hatte, als ihr endgültig bewusst wurde, dass sie gelähmt war. Ihre Beine, mit denen sie noch vor Kurzem so schnell zu rennen vermocht hatte, waren plötzlich nur noch nutzlose Glieder – wie die ihrer Schlenkerpuppe, mit der sie so gern spielte. Der Gedanke, nie wieder über die Wiesen im Park zu tollen, auf ihrem Pony zu reiten oder mit Camden durch die Wälder ihres Anwesens zu stromern, war ihr anfangs unerträglich gewesen. Als der Schmerz jedoch nach Monaten endlich etwas nachließ, wurden auch ihre Gedanken nach und nach klarer, und ihr Lebensmut kehrte zurück. Sie war fest entschlossen, sich von dieser Krankheit nicht besiegen zu lassen.

Als Doktor Swanson, der sie fast täglich besuchte, erkannte, dass sie bereit war zu kämpfen, hatte er ein ernstes Gespräch mit ihr geführt.

»Die Lähmung in deinen Beinen wird in den nächsten Wochen nachlassen«, erklärte er ihr. »Allerdings heißt das nicht, dass du sofort wieder laufen kannst. Deine Muskeln sind durch die lange Bettruhe geschwächt. Jede Bewegung wird dir große Schmerzen verursachen. Nur wenn du sehr tapfer bist und die Beine trotzdem bewegst, besteht die Chance, dass du wieder laufen lernst. Ich werde dir Übungen zeigen, die du mit Molly machen kannst. Doch ich warne dich. Schonst du deine Beine, werden sie für immer lahm bleiben und auch verkümmern. Ich sage es dir noch einmal: Nur wenn du deine Beine bewegst, stärkst du damit deine Muskeln und kannst die Krankheit besiegen. Es liegt nun an dir.«

Die siebenjährige Amber hatte die Herausforderung angenommen. Sie hatte keineswegs vor, ihr Leben in einem Rollstuhl oder gar im Bett zu verbringen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Weg so mühsam werden würde. Schon nach der ersten Woche hatte sie ihren Mut verloren. Es war nicht nur der Schmerz gewesen, der sie verzweifeln ließ, sondern die Tatsache, dass sie keinen auch noch so kleinen Erfolg sehen konnte.

Da kam Molly ihr zu Hilfe. Noch heute war sich Amber sicher, dass sie für immer ein Krüppel geblieben wäre, wenn die tatkräftige Irin und ihre Leprechaun-Geschichten nicht gewesen wären.

Nachdem sie sich einige Tage lang standhaft geweigert hatte, mit ihren Übungen fortzufahren, war Molly eines Tages mit einer kleinen Handpuppe erschienen.

»Das ist ein Leprechaun«, hatte sie ihr ohne Umschweife erklärt. »Er ist für dich aus meiner Heimat Irland gekommen, um dir zu helfen. Für jede Übung, die du mit mir machst, wird er dir eine Geschichte erzählen.«

Die Puppe auf Mollys Hand begann sich plötzlich zu bewegen und mit einer seltsam tiefen Stimme zu ihr zu sprechen. Amber war sofort fasziniert gewesen. Der Leprechaun schien wirklich zu leben. Und dann begann er auch schon die erste Geschichte zu erzählen. Sie handelte von einer verzauberten kleinen Prinzessin, deren Geist in dem Körper einer warzigen Kröte gefangen war. Nur wenn sich jemand in ihre hässliche Gestalt verliebte, würde sie von ihrem Schicksal erlöst. Als die Geschichte gerade richtig spannend geworden war, unterbrach der Leprechaun seine Erzählung. Er war nur bereit, sie fortzusetzen, wenn Amber mit ihm den vorgeschlagenen Handel einging. Ihre Neugier war schließlich stärker als die Angst vor den Schmerzen gewesen. Sie nahm ihre lästigen Übungen wieder auf. Zu ihrer eigenen Verwunderung wurde der Schmerz um einiges erträglicher, wenn als Belohnung eine gut erzählte Geschichte folgte.

In den nächsten Monaten machte sie nicht nur gute Fortschritte, sondern sie lernte auch Disziplin und Ausdauer. Nach gut einem Jahr gelangen ihr die ersten eigenen Schritte.

Heute war Ambers rechtes Bein trotz der fleißigen Übungen immer noch etwas kürzer und auch schwächer als ihr linkes. Dadurch war ihr ein nicht zu übersehendes Hinken geblieben. Amber hatte gelernt, damit umzugehen. Mitleid oder gar Häme prallten mittlerweile an ihr ab wie Regentropfen an einer Hauswand. Sie hatte sich damit abgefunden, anders zu sein als andere Menschen. Bei gesellschaftlichen Anlässen ging sie meist ihre eigenen Wege. Während die anderen Mädchen ihres Alters mit ihren gefüllten Tanzkarten prahlten und sich eifrig über ihre Galane austauschten, verfolgte sie lieber die politischen Diskurse der anwesenden Herren. Anfangs noch schweigend, doch bald schon diskutierte sie in der Runde mit und gewann durchaus auch die Anerkennung einiger Herren. Natürlich gefiel das weder den jungen Damen noch ihren Müttern. Ein wohlerzogenes Mädchen hatte sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, sich anständig zu kleiden und zu benehmen, um möglichst rasch eine gute Partie zu machen. Doch Amber lachte nur über solche Dinge. »Wieso sollte ich mir da Mühe geben?«, spottete sie über sich selbst. »Ich kann weder tanzen, noch kann ich mit der Anmut der anderen Mädchen konkurrieren. Das Einzige, worin ich ihnen überlegen bin, ist vielleicht mein Verstand. Aber für den interessieren sie sich ohnehin nicht.« Damit war die Sache für sie abgetan.

In Wahrheit war Amber durchaus nicht hässlich, wenngleich sie aufgrund ihrer eurasischen Mutter auch nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen mochte. Sie war nicht sehr groß und von schlanker, fast ein wenig magerer Figur. Dichte, dunkelbraune Haare, die kaum zu bändigen waren, fielen ihr wie ein schwerer Vorhang über den Rücken. Ihre makellose Haut hatte einen sanften Olivton und stand in einem aufregenden Kontrast zu ihren weit auseinanderliegenden, ungewöhnlich hellbraunen Augen. Wenn sie wütend war, verglich ihr Vater ihren Blick gern mit dem einer Raubkatze. Für gewöhnlich schimmerten sie jedoch in einem warmen Bernsteinton. Ein kleiner, sensibler Mund mit vollen Lippen gab ihrem Gesicht je nach Laune etwas Koboldhaftes oder Strahlendes.

Neben einer lebhaften Mimik zeichnete sie ihr klarer Verstand aus. Da Amber als Kind viel Zeit im Haus verbringen musste, hatte der Vater ihr erlaubt, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder Camden bei dessen Privatlehrer Unterricht bekam. Schon bald war sie die eifrigere von den beiden Schülern gewesen. Während Camden seine Zeit viel lieber mit seinen Freunden oder im Pferdestall verbrachte, liebte Amber die Unterrichtsstunden und begann schon bald, erst mit ihrem Lehrer und dann mit ihrem Vater über allerlei Dinge zu diskutieren. Kurzum, Amber hatte durch die Unterstützung ihres Vaters genügend Selbstbewusstsein entwickelt, um sich in der Gesellschaft nicht als Mauerblümchen vorkommen zu müssen. In der langen Zeit ihrer Genesung war sie nicht nur zu einer raffinierten Schachspielerin geworden, sondern hatte sich außerdem in Latein, Griechisch und Geschichte umfangreiches Wissen angeeignet. Und sie hatte ihre künstlerische Begabung im Zeichnen entdeckt. Mit ihren kaum zwanzig Jahren studierte Amber mittlerweile in der angesehenen Lady Margret Hall in Oxford Geschichte und Orientalistik und interessierte sich für übernatürliche Phänomene wie Séancen, Geisterbeschwörungen und Magie.

Plötzlich geriet wieder Bewegung in die wilde Krähenschar. Laut protestierend flogen die Vögel auf, weil ein Reiter in halsbrecherischem Tempo direkt auf sie zugaloppierte. Da er gegen die bereits tief stehende Sonne ritt, musste Amber ihre Augen mit der Hand beschirmen, um ihn näher ins Visier zu nehmen. Schnell erkannte sie ihren Bruder. Sein Pferd, ein graziler und doch kraftvoller Anglo-Araber, dampfte, als Camden sich mit Schwung aus dem Sattel schwang.

»Ich habe gleich vermutet, dass du dich hierher zurückgezogen hast«, begrüßte er sie mit schelmischem Lächeln. »Kann es sein, dass du das Wiedersehen mit Vater und unserer neuen Stiefmutter noch etwas hinauszögern willst?«

Amber rümpfte missgestimmt die Nase, während sie ihren Bruder mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte.

»Sag bloß, dass du dich darüber freust. Du warst genauso gegen diese Verbindung wie ich.«

Camden zuckte mit den Schultern.

»Ich habe meine Meinung diesbezüglich eben geändert«, meinte er möglichst beiläufig. »Seit Vater die Baroness kennt, ist er mir gegenüber viel toleranter als früher.«

»Typisch Camden«, spottete Amber. »Du denkst wieder einmal nur an dich selbst. Siehst du denn nicht, dass Lady Maeve unseren Vater nur ausnehmen will? Sie ist viel jünger als er und passt überhaupt nicht zu ihm. Bestimmt ist sie nur auf sein Vermögen aus. Ich habe mich ein wenig umgehört. Ihre Familie ist völlig verarmt und dennoch verhält sie sich uns gegenüber, als entstamme sie dem Königshaus persönlich.«

»Sie kommt immerhin aus einer sehr ehrwürdigen Adelsfamilie. Ihre Vorfahren haben schon zur Zeit der Rosenkriege dem König «

»Na und?«, unterbrach Amber ihn aufgebracht. »Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, sich als unsere Stiefmutter aufzuspielen. Wir brauchen diese Lady nicht!«

»Da ist unser Vater offensichtlich ganz anderer Meinung«, widersprach Camden. Er legte ihr versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Außerdem sind die beiden seit über vier Monaten verheiratet. Du solltest dich endlich damit abfinden!«

Amber schüttelte ärgerlich die Hand ab und erhob sich. Sie war immer noch empört.

»Ich glaube, ich werde mich heute Abend zum Dinner entschuldigen«, meinte sie trotzig. »Lady Maeve soll spüren, wie gleichgültig sie mir ist.«

»Vater wird sehr enttäuscht sein. Er war immerhin monatelang nicht zu Hause.«

»Das ist seine Sache. Schließlich hat ihn keiner dazu gezwungen, drei Monate lang mit Lady Maeve kreuz und quer durch Europa zu reisen«, meinte Amber schnippisch.

»Gib zu, du bist eifersüchtig, weil Maeve und nicht du Vater begleiten durfte«, spottete ihr Bruder.

Amber bedachte ihn mit einem zornig funkelnden Blick.

»Vater hatte mir die Reise versprochen. Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut. Aber seit er diese Frau kennt, erinnert er sich offensichtlich an keines seiner Versprechen mehr.« Schmollend verzog sie ihr Gesicht. »Ich bleibe dabei. Wenigstens heute Abend werden die beiden auf mich verzichten müssen.«

Sie packte ihre Staffelei und die Malutensilien zusammen und begab sich zu ihrem Pferd, das sie an einem Busch angebunden hatte.

»Warte noch!« Camden hielt sie auf. Der bittende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Seine eben noch etwas überhebliche Art, den großen Bruder hervorzukehren, war mit einem Mal wie weggewischt. »Du kannst mich heute Abend nicht allein lassen «

Amber fuhr herum.

»Und wieso nicht?« Plötzlich ahnte sie etwas. »Hast du etwa wieder Schulden?«, fragte sie missbilligend.

Camden schüttelte etwas zu energisch den Kopf.

»Das ist es nicht«, wehrte er ab. »Ich hatte in der letzten Zeit eine ziemliche Glückssträhne. Langdon schuldet mir fast fünfhundert Pfund. Damit kann ich all meine Außenstände decken. Es ist vielmehr «

Er geriet plötzlich ins Stocken und sah Amber hilflos an.

»Nun sag schon«, drängte sie ihn. Sie kannte ihren Bruder nur allzu gut und ahnte, dass er wieder einmal etwas ausgefressen hatte. »Was ist es diesmal?«

Es war ein offenes Geheimnis, dass Camden lieber mit seinen Freunden Karten spielte und bei Pferderennen sein Geld riskierte, als sich um sein Studium zu kümmern.

»Sie haben mich von der Universität gefeuert«, gestand er kleinlaut. Amber hob die Augenbraue und wartete darauf, dass er fortfuhr. Camden schluckte. »Ich wurde während der Prüfung beim Betrügen erwischt.«

»Wie konntest du nur!«

Amber war schockiert. Im Gegensatz zu ihrem Bruder nahm sie ihre Studien sehr ernst und wäre niemals auf die Idee gekommen zu täuschen.

»Mir blieb keine andere Wahl«, verteidigte er sich halbherzig. »Ich hatte einfach nicht genügend Zeit, um mich darauf vorzubereiten.«

Er sah Amber mit seinen dunkelbraunen Augen Verständnis suchend an. In diesem Moment erinnerte er sie an einen reumütigen Hund.

»Und Vater weiß noch nichts davon«, stellte sie pragmatisch fest.

»Du musst mir beistehen. Allein schaffe ich das nicht«, flehte er sie wie ein kleines Kind an.

Sie gab ihren Widerstand auf. Es war sinnlos. Camden mochte zwar älter sein als sie, aber er war ohne Zweifel wesentlich unreifer. Mit seinen fast fünfundzwanzig Jahren war er immer noch ein unsteter Bursche, der sich beharrlich weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Er fing ständig etwas an, um es kurz darauf wieder gelangweilt aufzugeben, weil er etwas Neues, viel Aufregenderes gefunden zu haben meinte. Amber schrieb diese Sprunghaftigkeit der fehlenden Erziehung durch ihren Vater zu. Während sie von seiner liberalen Einstellung ihr gegenüber nur profitiert hatte, war ihr Bruder mehr oder weniger an den unklaren Erwartungen gescheitert. Er war sehr sensibel, in vielen Dingen aber auch aufsässig und suchte klare Grenzen, die ihm Sir Reginald leider nur ungern vorgab. Er war viel zu lange der Meinung gewesen, dass sein Sohn von selbst auf den richtigen Weg kommen würde, und stellte nun plötzlich hohe Ansprüche. Vor über einem Jahr war es dann zu einem Eklat gekommen, bei dem Sir Reginald in ungewohnter Schärfe seinem Sohn klargemacht hatte, dass er dessen aufwendigen Lebensstil nur noch dann finanzieren werde, wenn Camden binnen Jahresfrist sein Studium in Cambridge beendete, um dann endlich in seine Fußstapfen in der Spinnerei zu treten. Andernfalls werde er ihn enterben, hatte er gedroht.

Als Camden erkannte, wie ernst es seinem Vater damit war, hatte er Besserung gelobt und für ein paar Monate tatsächlich seinen ausufernden Lebensstil aufgegeben. Doch als im nächsten Frühling die ersten Pferderennen stattfanden, wurde er wieder schwach. Sir Reginald war ihm nur nicht auf die Schliche gekommen, weil er zu der Zeit bereits Lady Maeve den Hof machte und für nichts anderes mehr Augen gehabt hatte. Doch nun nahte die Stunde der Wahrheit. Und Amber ahnte, dass Camden dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen würde. Auf einmal tat er ihr leid.

»Also gut«, lenkte sie widerstrebend ein. »Ich werde beim Dinner erscheinen. Aber nur, wenn du Vater gleich zu Beginn alles gestehst.«

»Er wird mir den Kopf abreißen und mich enterben«, fürchtete Camden.

»Das geschieht dir nur recht«, meinte Amber ungerührt. Als sie seinen entsetzten Blick sah, lenkte sie sofort wieder ein. »Das wird er natürlich nicht, aber er wird sich bestimmt etwas für dich ausdenken. Du tätest gut daran, es nicht gleich wieder auszuschlagen.«