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Bolton Abbey, North Yorkshire
Das schrille, jäh einsetzende Krächzen von Krähen zerschnitt die beschauliche Ruhe über Bolton Abbey. Ungeordnet, von wilden Flügelschlägen und lautem Gezeter begleitet, ließen sich die schwarzen Vögel auf den zahlreichen Mauerresten nieder. Sie fielen wie ein Räuberhaufen über die Abtei her und scherten sich keinen Deut um die junge Frau, die unter einer ausladenden Eiche ein Aquarell von dem einst so ehrwürdigen Gemäuer anfertigte.
Obwohl die ehemalige Abtei und Pfarrkirche schon seit Jahrhunderten verfiel, gab es immer noch hoch aufragende Mauerreste mit zum Teil erhaltenen Spitzbögen, die sich trotzig inmitten von wild wachsenden Büschen und Bäumen gegen Wind und Wetter stemmten. Sogar das gotische Kreuzrippengewölbe des Daches ließ sich noch erahnen.
Über den tiefblauen Sommerhimmel huschten weißgraue Wolken, die sich zu wild aussehenden Fantasiegestalten zusammenballten, um dann wieder zu zerstieben. Gegen dieses Himmelsschauspiel sah das graue Gemäuer wie ein Mahnmal für die Vergänglichkeit der Welt aus. Kein Wunder, dass die Abtei immer wieder Dichtern wie William Wordsworth oder dem Maler William Turner zur Inspiration gedient hatte.
Amber beobachtete fasziniert das chaotische Treiben der Vögel und legte ihr angefangenes Aquarell beiseite. Rasch griff sie nach einem Stück Kohle und begann die Szenerie hastig auf ihrem Zeichenblock einzufangen. Die im Volk als Unglücksboten verschrienen Vögel verliehen der Abtei etwas Geheimnisvolles und Unheimliches. Von jeher hatte sie ein Faible für mystische Dinge gehabt. Vielleicht war es das Erbe ihrer halbindischen Mutter, die sie bereits als kleines Mädchen mit vielen wundersamen Geschichten von Göttern, Dämonen und schönen Prinzessinnen in Erstaunen versetzt hatte. Amber erinnerte sich kaum noch an das Gesicht ihrer Mutter. Sie war gestorben, als sie selbst kaum vier Jahre alt gewesen war, aber ihre Geschichten hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Vor dem Tod hatte die Mutter ihr ein Amulett aus ihrer indischen Heimat geschenkt.
»Es ist sehr alt«, hatte sie ihr anvertraut. »Man sagt, es trägt die Magie des Weltwissens in sich. Wer es trägt, steht unter seinem Schutz.« Sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, es immer bei sich zu tragen.
Der Anhänger, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug, war nicht sehr kostbar, aber äußerst fein aus glänzend schwarzem Obsidian gearbeitet. Seine gewundene, verschlungene Form sah aus wie ein Schriftzeichen. Amber hatte nie herausfinden können, was es bedeutete. Für sie war es dennoch ihr wertvollster Besitz.
Aber auch nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Amber nicht auf fantastische Geschichten verzichten müssen. Denn sie und ihr älterer Bruder Camden wuchsen unter der Obhut eines irischen Kindermädchens auf. Molly Brandon war nicht nur eine Seele von Mensch, zupackend, lustig und resolut, sondern sie war auch abergläubisch und glaubte an jede Menge Geister und Kobolde. Während Camden sich schnell ihrem tatkräftigen Einfluss entzogen hatte, hing Amber voll zärtlicher Zuneigung an der kräftigen Irin mit dem großen Herzen. Molly hatte die große Begabung, selbst für einfache Sachverhalte übernatürliche Erklärungen anbieten zu können. So war es nie Ambers Schuld gewesen, wenn aus kindlicher Leichtfertigkeit wieder einmal eine Tasse zu Bruch gegangen war, sondern es war die Tat eines Kobolds oder eines anderen Feenwesens, das mit ihr seinen Schabernack trieb. Auf oder in jedem Hügel, hinter jedem alten Stein, im Wald und sogar in dem See, der zu ihrem Anwesen gehörte, hausten die merkwürdigsten Gestalten – und Amber, die schon immer viel Fantasie besessen hatte, ließ sich nur allzu gern von Mollys Geschichten einfangen.
Letztendlich hatten diese Geschichten auch dazu beigetragen, dass sie immer noch am Leben war. Amber, mittlerweile fast zwanzig, hatte neben dem Verlust der Mutter noch einen weiteren schweren Schicksalsschlag ertragen müssen. Eine heimtückische Krankheit hatte ihrer unbeschwerten Kindheit ein jähes Ende gesetzt, als sie gerade mal sieben Jahre alt gewesen war. Ein heftiger Fieberanfall mit Durchfall und Erbrechen nach einem Bad im See war der erste Vorbote gewesen. Kaum war sie von dieser vermeintlich harmlosen Krankheit genesen, trat unvermittelt ein neuer Fieberschub mit schmerzhaftem, steifem Nacken und fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Sie hatte nächtelang vor Schmerz geschrien und konnte nur mithilfe starker Betäubungsmittel beruhigt werden. Dr. Swanson, der Hausarzt der Familie Callahan, hatte ihrem Vater kaum Hoffnung gemacht.
»Es ist eine Entzündung der Hirnhaut«, hatte er verlauten lassen. »Selbst wenn sie die Krankheit überlebt, wird ihr Geist wahrscheinlich beschädigt sein.«
Doch allen Unkenrufen zum Trotz erholte sich Amber, ohne dass auch nur die geringste geistige Beeinträchtigung zurückgeblieben wäre. Allerdings war die scheinbare Genesung nur der trügerische Vorbote des schlimmsten Teils ihrer Krankheit gewesen. Eines Morgens wachte sie unter höllischen Schmerzen auf. Das Stechen in ihren Beinen raubte ihr fast die Besinnung. Als Amber versuchte, sie zu bewegen, geschah überhaupt nichts. Die Beine taten furchtbar weh, aber sie gehorchten ihr nicht. Halb wahnsinnig vor Angst hatte sie nach Molly gerufen, die sofort ihren Vater und schließlich auch Doktor Swanson benachrichtigte. Das Mädchen wurde nochmals untersucht und erhielt ein starkes Schlafmittel. Als Doktor Swanson meinte, dass sie schliefe, nahm er ihren Vater beiseite. Doch Amber war noch wach genug, um seine Worte mitzuhören. So erfuhr sie, dass sie an einer oft tödlich verlaufenden Kinderlähmung erkrankt war.
Doktor Swanson war sichtlich erschüttert, denn er war der Familie schon sehr lange freundschaftlich verbunden. Beide Kinder der Callahans waren durch seine Hilfe zur Welt gekommen.
»Ihr müsst Euch auf das Schlimmste einstellen«, meinte er ernst. »Nicht selten schreiten die Lähmungen fort und befallen auch die Atmungsorgane, aber auch wenn das – Gott gebe es – nicht eintreten wird, können die Lähmungen in den Beinen von Dauer sein. Eure Tochter wird möglicherweise für immer ein Krüppel sein.«
Das Letzte, was Amber vor ihrem endgültigen Eintauchen in einen tiefen Schlaf vernahm, war das trockene Schluchzen ihres Vaters.
Die nun folgenden Wochen und Monate sollten die schlimmsten in Ambers Leben werden. Betäubt von Schmerzmitteln hatte sie in einem abgedunkelten Zimmer vor sich hin deliriert. Sobald sie zu sich kam, wurde sie von einer Welle von Ängsten überrollt. Niemals würde sie das Entsetzen vergessen, das sie überfallen hatte, als ihr endgültig bewusst wurde, dass sie gelähmt war. Ihre Beine, mit denen sie noch vor Kurzem so schnell zu rennen vermocht hatte, waren plötzlich nur noch nutzlose Glieder – wie die ihrer Schlenkerpuppe, mit der sie so gern spielte. Der Gedanke, nie wieder über die Wiesen im Park zu tollen, auf ihrem Pony zu reiten oder mit Camden durch die Wälder ihres Anwesens zu stromern, war ihr anfangs unerträglich gewesen. Als der Schmerz jedoch nach Monaten endlich etwas nachließ, wurden auch ihre Gedanken nach und nach klarer, und ihr Lebensmut kehrte zurück. Sie war fest entschlossen, sich von dieser Krankheit nicht besiegen zu lassen.
Als Doktor Swanson, der sie fast täglich besuchte, erkannte, dass sie bereit war zu kämpfen, hatte er ein ernstes Gespräch mit ihr geführt.
»Die Lähmung in deinen Beinen wird in den nächsten Wochen nachlassen«, erklärte er ihr. »Allerdings heißt das nicht, dass du sofort wieder laufen kannst. Deine Muskeln sind durch die lange Bettruhe geschwächt. Jede Bewegung wird dir große Schmerzen verursachen. Nur wenn du sehr tapfer bist und die Beine trotzdem bewegst, besteht die Chance, dass du wieder laufen lernst. Ich werde dir Übungen zeigen, die du mit Molly machen kannst. Doch ich warne dich. Schonst du deine Beine, werden sie für immer lahm bleiben und auch verkümmern. Ich sage es dir noch einmal: Nur wenn du deine Beine bewegst, stärkst du damit deine Muskeln und kannst die Krankheit besiegen. Es liegt nun an dir.«
Die siebenjährige Amber hatte die Herausforderung angenommen. Sie hatte keineswegs vor, ihr Leben in einem Rollstuhl oder gar im Bett zu verbringen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Weg so mühsam werden würde. Schon nach der ersten Woche hatte sie ihren Mut verloren. Es war nicht nur der Schmerz gewesen, der sie verzweifeln ließ, sondern die Tatsache, dass sie keinen auch noch so kleinen Erfolg sehen konnte.
Da kam Molly ihr zu Hilfe. Noch heute war sich Amber sicher, dass sie für immer ein Krüppel geblieben wäre, wenn die tatkräftige Irin und ihre Leprechaun-Geschichten nicht gewesen wären.
Nachdem sie sich einige Tage lang standhaft geweigert hatte, mit ihren Übungen fortzufahren, war Molly eines Tages mit einer kleinen Handpuppe erschienen.
»Das ist ein Leprechaun«, hatte sie ihr ohne Umschweife erklärt. »Er ist für dich aus meiner Heimat Irland gekommen, um dir zu helfen. Für jede Übung, die du mit mir machst, wird er dir eine Geschichte erzählen.«
Die Puppe auf Mollys Hand begann sich plötzlich zu bewegen und mit einer seltsam tiefen Stimme zu ihr zu sprechen. Amber war sofort fasziniert gewesen. Der Leprechaun schien wirklich zu leben. Und dann begann er auch schon die erste Geschichte zu erzählen. Sie handelte von einer verzauberten kleinen Prinzessin, deren Geist in dem Körper einer warzigen Kröte gefangen war. Nur wenn sich jemand in ihre hässliche Gestalt verliebte, würde sie von ihrem Schicksal erlöst. Als die Geschichte gerade richtig spannend geworden war, unterbrach der Leprechaun seine Erzählung. Er war nur bereit, sie fortzusetzen, wenn Amber mit ihm den vorgeschlagenen Handel einging. Ihre Neugier war schließlich stärker als die Angst vor den Schmerzen gewesen. Sie nahm ihre lästigen Übungen wieder auf. Zu ihrer eigenen Verwunderung wurde der Schmerz um einiges erträglicher, wenn als Belohnung eine gut erzählte Geschichte folgte.
In den nächsten Monaten machte sie nicht nur gute Fortschritte, sondern sie lernte auch Disziplin und Ausdauer. Nach gut einem Jahr gelangen ihr die ersten eigenen Schritte.
Heute war Ambers rechtes Bein trotz der fleißigen Übungen immer noch etwas kürzer und auch schwächer als ihr linkes. Dadurch war ihr ein nicht zu übersehendes Hinken geblieben. Amber hatte gelernt, damit umzugehen. Mitleid oder gar Häme prallten mittlerweile an ihr ab wie Regentropfen an einer Hauswand. Sie hatte sich damit abgefunden, anders zu sein als andere Menschen. Bei gesellschaftlichen Anlässen ging sie meist ihre eigenen Wege. Während die anderen Mädchen ihres Alters mit ihren gefüllten Tanzkarten prahlten und sich eifrig über ihre Galane austauschten, verfolgte sie lieber die politischen Diskurse der anwesenden Herren. Anfangs noch schweigend, doch bald schon diskutierte sie in der Runde mit und gewann durchaus auch die Anerkennung einiger Herren. Natürlich gefiel das weder den jungen Damen noch ihren Müttern. Ein wohlerzogenes Mädchen hatte sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, sich anständig zu kleiden und zu benehmen, um möglichst rasch eine gute Partie zu machen. Doch Amber lachte nur über solche Dinge. »Wieso sollte ich mir da Mühe geben?«, spottete sie über sich selbst. »Ich kann weder tanzen, noch kann ich mit der Anmut der anderen Mädchen konkurrieren. Das Einzige, worin ich ihnen überlegen bin, ist vielleicht mein Verstand. Aber für den interessieren sie sich ohnehin nicht.« Damit war die Sache für sie abgetan.
In Wahrheit war Amber durchaus nicht hässlich, wenngleich sie aufgrund ihrer eurasischen Mutter auch nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen mochte. Sie war nicht sehr groß und von schlanker, fast ein wenig magerer Figur. Dichte, dunkelbraune Haare, die kaum zu bändigen waren, fielen ihr wie ein schwerer Vorhang über den Rücken. Ihre makellose Haut hatte einen sanften Olivton und stand in einem aufregenden Kontrast zu ihren weit auseinanderliegenden, ungewöhnlich hellbraunen Augen. Wenn sie wütend war, verglich ihr Vater ihren Blick gern mit dem einer Raubkatze. Für gewöhnlich schimmerten sie jedoch in einem warmen Bernsteinton. Ein kleiner, sensibler Mund mit vollen Lippen gab ihrem Gesicht je nach Laune etwas Koboldhaftes oder Strahlendes.
Neben einer lebhaften Mimik zeichnete sie ihr klarer Verstand aus. Da Amber als Kind viel Zeit im Haus verbringen musste, hatte der Vater ihr erlaubt, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder Camden bei dessen Privatlehrer Unterricht bekam. Schon bald war sie die eifrigere von den beiden Schülern gewesen. Während Camden seine Zeit viel lieber mit seinen Freunden oder im Pferdestall verbrachte, liebte Amber die Unterrichtsstunden und begann schon bald, erst mit ihrem Lehrer und dann mit ihrem Vater über allerlei Dinge zu diskutieren. Kurzum, Amber hatte durch die Unterstützung ihres Vaters genügend Selbstbewusstsein entwickelt, um sich in der Gesellschaft nicht als Mauerblümchen vorkommen zu müssen. In der langen Zeit ihrer Genesung war sie nicht nur zu einer raffinierten Schachspielerin geworden, sondern hatte sich außerdem in Latein, Griechisch und Geschichte umfangreiches Wissen angeeignet. Und sie hatte ihre künstlerische Begabung im Zeichnen entdeckt. Mit ihren kaum zwanzig Jahren studierte Amber mittlerweile in der angesehenen Lady Margret Hall in Oxford Geschichte und Orientalistik und interessierte sich für übernatürliche Phänomene wie Séancen, Geisterbeschwörungen und Magie.
Plötzlich geriet wieder Bewegung in die wilde Krähenschar. Laut protestierend flogen die Vögel auf, weil ein Reiter in halsbrecherischem Tempo direkt auf sie zugaloppierte. Da er gegen die bereits tief stehende Sonne ritt, musste Amber ihre Augen mit der Hand beschirmen, um ihn näher ins Visier zu nehmen. Schnell erkannte sie ihren Bruder. Sein Pferd, ein graziler und doch kraftvoller Anglo-Araber, dampfte, als Camden sich mit Schwung aus dem Sattel schwang.
»Ich habe gleich vermutet, dass du dich hierher zurückgezogen hast«, begrüßte er sie mit schelmischem Lächeln. »Kann es sein, dass du das Wiedersehen mit Vater und unserer neuen Stiefmutter noch etwas hinauszögern willst?«
Amber rümpfte missgestimmt die Nase, während sie ihren Bruder mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte.
»Sag bloß, dass du dich darüber freust. Du warst genauso gegen diese Verbindung wie ich.«
Camden zuckte mit den Schultern.
»Ich habe meine Meinung diesbezüglich eben geändert«, meinte er möglichst beiläufig. »Seit Vater die Baroness kennt, ist er mir gegenüber viel toleranter als früher.«
»Typisch Camden«, spottete Amber. »Du denkst wieder einmal nur an dich selbst. Siehst du denn nicht, dass Lady Maeve unseren Vater nur ausnehmen will? Sie ist viel jünger als er und passt überhaupt nicht zu ihm. Bestimmt ist sie nur auf sein Vermögen aus. Ich habe mich ein wenig umgehört. Ihre Familie ist völlig verarmt und dennoch verhält sie sich uns gegenüber, als entstamme sie dem Königshaus persönlich.«
»Sie kommt immerhin aus einer sehr ehrwürdigen Adelsfamilie. Ihre Vorfahren haben schon zur Zeit der Rosenkriege dem König …«
»Na und?«, unterbrach Amber ihn aufgebracht. »Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, sich als unsere Stiefmutter aufzuspielen. Wir brauchen diese Lady nicht!«
»Da ist unser Vater offensichtlich ganz anderer Meinung«, widersprach Camden. Er legte ihr versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Außerdem sind die beiden seit über vier Monaten verheiratet. Du solltest dich endlich damit abfinden!«
Amber schüttelte ärgerlich die Hand ab und erhob sich. Sie war immer noch empört.
»Ich glaube, ich werde mich heute Abend zum Dinner entschuldigen«, meinte sie trotzig. »Lady Maeve soll spüren, wie gleichgültig sie mir ist.«
»Vater wird sehr enttäuscht sein. Er war immerhin monatelang nicht zu Hause.«
»Das ist seine Sache. Schließlich hat ihn keiner dazu gezwungen, drei Monate lang mit Lady Maeve kreuz und quer durch Europa zu reisen«, meinte Amber schnippisch.
»Gib zu, du bist eifersüchtig, weil Maeve und nicht du Vater begleiten durfte«, spottete ihr Bruder.
Amber bedachte ihn mit einem zornig funkelnden Blick.
»Vater hatte mir die Reise versprochen. Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut. Aber seit er diese Frau kennt, erinnert er sich offensichtlich an keines seiner Versprechen mehr.« Schmollend verzog sie ihr Gesicht. »Ich bleibe dabei. Wenigstens heute Abend werden die beiden auf mich verzichten müssen.«
Sie packte ihre Staffelei und die Malutensilien zusammen und begab sich zu ihrem Pferd, das sie an einem Busch angebunden hatte.
»Warte noch!« Camden hielt sie auf. Der bittende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Seine eben noch etwas überhebliche Art, den großen Bruder hervorzukehren, war mit einem Mal wie weggewischt. »Du kannst mich heute Abend nicht allein lassen …«
Amber fuhr herum.
»Und wieso nicht?« Plötzlich ahnte sie etwas. »Hast du etwa wieder Schulden?«, fragte sie missbilligend.
Camden schüttelte etwas zu energisch den Kopf.
»Das ist es nicht«, wehrte er ab. »Ich hatte in der letzten Zeit eine ziemliche Glückssträhne. Langdon schuldet mir fast fünfhundert Pfund. Damit kann ich all meine Außenstände decken. Es ist vielmehr …«
Er geriet plötzlich ins Stocken und sah Amber hilflos an.
»Nun sag schon«, drängte sie ihn. Sie kannte ihren Bruder nur allzu gut und ahnte, dass er wieder einmal etwas ausgefressen hatte. »Was ist es diesmal?«
Es war ein offenes Geheimnis, dass Camden lieber mit seinen Freunden Karten spielte und bei Pferderennen sein Geld riskierte, als sich um sein Studium zu kümmern.
»Sie haben mich von der Universität gefeuert«, gestand er kleinlaut. Amber hob die Augenbraue und wartete darauf, dass er fortfuhr. Camden schluckte. »Ich wurde während der Prüfung beim Betrügen erwischt.«
»Wie konntest du nur!«
Amber war schockiert. Im Gegensatz zu ihrem Bruder nahm sie ihre Studien sehr ernst und wäre niemals auf die Idee gekommen zu täuschen.
»Mir blieb keine andere Wahl«, verteidigte er sich halbherzig. »Ich hatte einfach nicht genügend Zeit, um mich darauf vorzubereiten.«
Er sah Amber mit seinen dunkelbraunen Augen Verständnis suchend an. In diesem Moment erinnerte er sie an einen reumütigen Hund.
»Und Vater weiß noch nichts davon«, stellte sie pragmatisch fest.
»Du musst mir beistehen. Allein schaffe ich das nicht«, flehte er sie wie ein kleines Kind an.
Sie gab ihren Widerstand auf. Es war sinnlos. Camden mochte zwar älter sein als sie, aber er war ohne Zweifel wesentlich unreifer. Mit seinen fast fünfundzwanzig Jahren war er immer noch ein unsteter Bursche, der sich beharrlich weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Er fing ständig etwas an, um es kurz darauf wieder gelangweilt aufzugeben, weil er etwas Neues, viel Aufregenderes gefunden zu haben meinte. Amber schrieb diese Sprunghaftigkeit der fehlenden Erziehung durch ihren Vater zu. Während sie von seiner liberalen Einstellung ihr gegenüber nur profitiert hatte, war ihr Bruder mehr oder weniger an den unklaren Erwartungen gescheitert. Er war sehr sensibel, in vielen Dingen aber auch aufsässig und suchte klare Grenzen, die ihm Sir Reginald leider nur ungern vorgab. Er war viel zu lange der Meinung gewesen, dass sein Sohn von selbst auf den richtigen Weg kommen würde, und stellte nun plötzlich hohe Ansprüche. Vor über einem Jahr war es dann zu einem Eklat gekommen, bei dem Sir Reginald in ungewohnter Schärfe seinem Sohn klargemacht hatte, dass er dessen aufwendigen Lebensstil nur noch dann finanzieren werde, wenn Camden binnen Jahresfrist sein Studium in Cambridge beendete, um dann endlich in seine Fußstapfen in der Spinnerei zu treten. Andernfalls werde er ihn enterben, hatte er gedroht.
Als Camden erkannte, wie ernst es seinem Vater damit war, hatte er Besserung gelobt und für ein paar Monate tatsächlich seinen ausufernden Lebensstil aufgegeben. Doch als im nächsten Frühling die ersten Pferderennen stattfanden, wurde er wieder schwach. Sir Reginald war ihm nur nicht auf die Schliche gekommen, weil er zu der Zeit bereits Lady Maeve den Hof machte und für nichts anderes mehr Augen gehabt hatte. Doch nun nahte die Stunde der Wahrheit. Und Amber ahnte, dass Camden dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen würde. Auf einmal tat er ihr leid.
»Also gut«, lenkte sie widerstrebend ein. »Ich werde beim Dinner erscheinen. Aber nur, wenn du Vater gleich zu Beginn alles gestehst.«
»Er wird mir den Kopf abreißen und mich enterben«, fürchtete Camden.
»Das geschieht dir nur recht«, meinte Amber ungerührt. Als sie seinen entsetzten Blick sah, lenkte sie sofort wieder ein. »Das wird er natürlich nicht, aber er wird sich bestimmt etwas für dich ausdenken. Du tätest gut daran, es nicht gleich wieder auszuschlagen.«