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Intense
Titelseite

INHALT

Playlist

Ein Ball ohne Kürbis-Kutsche
Lansberg an der Wupper, 18. Juni
Abiball des Konrad-Adenauer-Gymnasiums

Breeze in, breeze out

Ein Haufen Fjällräven-Kotze
Frankfurt am Main, 19. Juni
Flughafen, Terminal 1, Gate 5

Ein zu langes Fischdinner
Südportugal, 19. Juni
Hotel Navio Ouro

Ein stiller Abgang
Südportugal, 20. Juni
Hotel Navio Ouro

Ein Teufel trägt Prada
Südportugal, 26. Juni
Hotel Navio Ouro

Eine Ritterburg und eine Stirnlampe
Südportugal, 26. Juni
Strand des Navio Ouro

Eine sehr feuchte Schmirgelserviette
Südportugal, 27. Juni
Ein kleines Café ohne Namen

Ein neues Wort für Bekanntschaft
Südportugal, 27. Juni
Hunderettungsstation Casota do cão

Ein bitter benötigter Espresso
Südportugal, 27. und 28. Juni
Casota do cão

Ein einundzwanzigjähriger Boomer
Südportugal, 29. Juni
Casota do cão

Ein verdammt kühles Vorspiel
Südportugal, 1. Juli
Casota do cão

Ein ziemlich vorlauter David Attenborough
Südportugal, 1. und 2. Juli
Casota do cão

Ein großes Geschäft
Südportugal, 2. Juli
Casota do cão

Steh deinem Glück nicht so im Weg, Babe

Eine Eule ohne Federkleid
Südportugal, 2. Juli
Casota do cão

Ein ganz besonderer Neustart
Südportugal, 2. Juli
Hotel Navio Ouro

Ein Urlaubs-Ding mit Loverboy
Südportugal, 3. bis 10. Juli
Casota do cão

Ein gut reflektierter Grund
Südportugal, 20. Juli
Casota do cão

Ein Abend, an dem Milch und Honig fließen
Südportugal, 01. August
Casota do cão

YES doesn’t make you a slut. No doesn’t make you a bitch.

Ein Muskel mit Amnesie
Südportugal, 2. August
Casota do cão

Eine schwere Geburt
Südportugal, 2. August
Casota do cão

Ein Fall für Pommes
Südportugal, 3. und 4. August
Casota do cão

Eine perverse Mischung
Südportugal, 4. August
Beach Café

Eine Playboy-Bunny-Pyjama-Party
Südportugal, 5. August
Casota do cão

Eine Nacht, die kein Ende ist
Südportugal, 14. August
Casota do cão

Du bist nicht die Gerüchte über mich

Ein Beziehungsmensch und ein Gerücht
Südportugal, 28. August
Flughafen Faro

Eine Antwort ohne Frage
Südportugal, 30. und 31. August
Casota do cão

Ein falsches Profil
Südportugal, 1. September
Casota do cão

Ein unpassendes Timing
Südportugal, 2. September
Casota do cão

Eine Million und doch kein einziges
Südportugal, 2. September
Strand

Eine Erinnerung zum Trinken
Lansberg an der Wupper, 2. und 3. September
Haus der Jagodas

Ein Film mit bösem Ende
Lansberg an der Wupper, 17. September
Haus der Jagodas

Ein vergessener Schlüssel
Köln, 1. Oktober
Jonas’ Wohnung

Ein Mist namens Schicksal
Köln, 2. Oktober
Adems und Fynns WG

Put yourself first and watch yourself bloom

Ein Anfang
Lansberg an der Wupper, 9. Oktober
Haus der Jagodas

Danksagung

 

 

 

 

Für Julia und Kathinka

Kapitel

PLAYLIST

Halsey – 3am

Mae Muller – HFBD

YUNGBLUD – cotton candy

Miley Cyrus – Zombie

Frank Turner – Get Better

Frank Turner – Scavenger Type

Lulu And The Luvvers – Shout

Claire Rosinkranz – Backyard Boy

Chris Cresswell – Meet Me in the Shade

Christone »Kingfish« Ingram – Rock & Roll

P!nk, Willow Sage Hart – Cover Me In Sunshine

Amy Shark – All the Lies About Me

FINNEAS – Can’t Wait To Be Dead

Lewis Capaldi – Someone You Loved

Taylor Swift ft. Bon Iver – exile

Machine Gun Kelly – lonely

Kapitel

EIN BALL OHNE KÜRBIS-KUTSCHE

LANSBERG AN DER WUPPER, 18. JUNI
ABIBALL DES KONRAD-ADENAUER-GYMNASIUMS

Kapitel

Ich sitze auf der steinernen Einfassung eines Blumenkübels, in dem nur ein paar vertrocknete Sträucher vor sich hin vegetieren, und kann nur eines denken: Bälle sind etwas komplett Hirnverbranntes.

Während ich darauf warte, dass das Spektakel beginnt und die beiden einzigen Menschen eintreffen, die diesen Abend irgendwie erträglich machen können, geht es mir immer und immer wieder durch den Kopf, wie sehr mich das alles nervt. Allein schon der Name! Ball. Diese unpassende Assoziation mit dem Sportgerät, das uns die zurückliegenden zwölf Jahre beim Brennball um die Ohren gedonnert wurde und beim Basketball für unzählige gescheiterte Korbleger gesorgt hat.

Die rund einhundert Personen, die mich umgeben, scheinen allerdings überhaupt keine negativen Erinnerungen an den Sport-Grundkurs zu hegen. Die Abschlussklasse des Lansberger Gymnasiums vibriert nur so vor Aufregung.

»Anna, dein Kleid! Hammer, echt!« Cecilia Martins aus meinem Französisch-LK stakst auf Zehn-Zentimeter-Hacken an mir vorbei und bringt sich hinter den anderen in Position.

»Danke, Cecilia, deins aber auch, megaschön.« Ich lächle gleichgültig, während mein Hintern halb in der traurigen Botanik hängt und das neonorangefarbene Hammer-Kleid bestimmt schon einen braunen Fleck dort hat, wo es am Ungünstigsten ist. Doch es ist mir völlig egal. Es ist mir auch egal, dass Cecilia mir ein Kompliment gemacht hat. Ich habe nämlich nicht vergessen, wie sie auf dem Umtrunk nach der Mathe-Abiprüfung allen erzählt hat, ich würde mit jedem ins Bett gehen, der mir einen Long Island Iced Tea ausgibt.

Ich klappe die kleine Handtasche auf, die auf meinem Schoß liegt, und ziehe schwerfällig das Handy heraus. Welch Fehlkalkulation der modernen Zeit, dass Partyhandtaschen immer winziger und Smartphones immer gigantischer werden … Ich entsichere den Screen und sofort lachen mir drei Gesichter entgegen. Eins davon ist mein eigenes, die beiden anderen gehören zu den Personen, die mich hier schon viel zu lange im Gebüsch sitzen lassen. Polly und Anouk sind eigentlich nie zu spät, ich bin diejenige in unserem Dreiergespann, die gerne mal die Zeit vergisst. Doch ausgerechnet heute mussten die zwei ja eine Fahrgemeinschaft bilden, weswegen sie nun zu spät zu unserem Abiball kommen. Gott, wie mich dieser Abend nervt. Ich brauche meine besten Freundinnen hier. Ach ja, und ein Drink wäre auch nicht schlecht. Nur kein Long Island Iced Tea, bitte.

Ich öffne WhatsApp, um Polly und Anouk zum wiederholten Mal zu fragen, wo zum Teufel sie bleiben. Der Gruppenchat ganz oben in der App heißt Annapolonianouk – eine Wortneuschöpfung, die Polly sich ausgedacht hat. Anouk und ich wollten dem Chat ja den wesentlich catchyeren Namen The A-Team geben – immerhin fangen alle unsere Namen mit einem A an – aber unsere gute Apolonia kann ziemlich durchsetzungsfähig sein.

Während ich noch tippe, fährt ein Auto vor dem Vereinsheim des Lansberger Sängerchors vor. Ein Auto, das mittlerweile jeder im Umkreis kennt und an dem keiner vorbeigehen kann, ohne kindisch zu lachen oder vorwurfsvoll die Stirn krauszuziehen. Auf die Seite des ansonsten unscheinbaren Renaults ist vollflächig der Spruch Sexy Hexy! Für magische Momente im Schlafzimmer! gedruckt, umschwirrt von der Zeichnung einer Hexe in rosa Dessous, die einen Zauberstab schwingt, der mehr als nur ein bisschen an männliche Genitalien erinnert.

Da ich diesen Wagen schon eine Million Mal in der Auffahrt von Pollys Mutter gesehen habe, kann er mir nichts mehr anhaben. Doch erwartungsgemäß grölt der halbe Jahrgang los, als meine beiden besten Freundinnen aus der Hintertür aussteigen und auf mich zu rennen. Eine Gruppe Jungs johlt dem Auto besonders laut hinterher, was Pollys Mutter mit einem freundlichen Winken aus dem Fenster quittiert. Polly selbst sieht hingegen so aus, als wolle sie sich vierteilen und dann auch noch im Boden versinken.

»Hey, Polly, testet deine Mum die Sexy-Hexy-Produkte eigentlich an sich selbst, bevor sie sie vertickt?«

»Nein, Bennet«, schießt Polly, ganz außer Atem, aber nun wieder ihr selbstbewusstes Ich, heraus. »Sie nimmt Jungs wie dich als Versuchskaninchen. Wenn du dich dafür melden möchtest, gebe ich ihr sehr gerne deine Nummer.«

Bennets Clique lacht weiter. Dieses Mal über ihn. Er ringt sichtlich nach Worten und entscheidet sich schließlich für etwas Gehässiges: »Als würde ich jemandem wie dir meine Nummer geben.«

Er mustert Polly eindringlich. Uns ist allen klar, wie er das meint. Polly ist fast 1,80 groß und Plus Size und steht so einschüchternd in ihrem schwarzen Bodycon-Dress vor Bennet, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie ihn gleich wegschnippt wie ein abgebranntes Streichholz.

»Ich hab deine Nummer, seit du mich in der sechsten Klasse auf deinen Kindergeburtstag mit dem Motto Star Wars eingeladen hast, du Vollhonk.« Polly kehrt sich mit einem betonten Hüftschwung auf ihren Sandalen zu Anouk und mir um und fragt: »Wollen wir?« Mit deutlich besserer Laune erhebe ich mich aus meinem Kübel und hake mich unter Pollys linkem Arm ein. In diesem Moment öffnen sich die Türen des Lansberger Sängerheims und jemand ruft: »Los! Los!«

»Du bist eine Naturgewalt«, kommentiert Anouk und schnappt sich Pollys rechten Arm. So folgen wir als Dreiergespann den anderen aus unserem Abijahrgang in den Saal.

»Orkan oder Lawine?«

»Tsunami!«

»Könntest du dann bitte einfach diesen ganzen Abend wegschwemmen?«, frage ich flehend.

»Wieso eigentlich die miese Stimmung, Anna?«, höre ich Anouk von der anderen Seite.

»Genau? Musstest du gerade vor den Augen aller aus dem Sexy-Hexy-Mobil aussteigen oder wir?«

Wir treten durch die ausgehängten Flügeltüren und laufen wie Entenküken hinter ihrer Mama in den verdunkelten Saal ein. Alle Verwandten stehen auf und beklatschen uns. Oh mein Gott! Der Raum ist geschmückt, als würden darin heute Abend fünfzig Paare Hochzeit feiern. Überall goldene Schleifen und Gestecke aus weißen Rosen. Dazu ein paar Hundert Stuhlhussen und eine riesige gold-weiße Bühnendeko aus Luftballons, die aussehen wie die Ziffern unseres Jahrgangs.

Ich hole noch einmal tief Luft und gehe erhobenen Hauptes neben den zwei besten Menschen auf der Welt durch die Tischreihen.

»Haben Cecilia und der Rest vom Ball-Komitee zu viel Riverdale geguckt?«, zische ich durch die Zähne, mit denen ich beim Anblick der opulenten goldenen Tischdecken knirsche.

»Urghs«, macht Anouk nur. Sie ist ein ausgesprochener Serien- und Filmfreak. Allerdings deckt sich ihr Geschmack nicht immer mit dem von Netflix und Co. Dass Riverdale ein Guilty Pleasure von Polly und mir ist, hat sie uns nur verziehen, weil wir zur Wiedergutmachung mit ihr die Neuverfilmung von Stephen Kings It angesehen haben. Seitdem taucht Bill Skarsgård als Pennywise regelmäßig in meinen Albträumen auf.

»Wenn ich morgen eine Reise ins Paradies antreten würde, könnte ich es auch kaum erwarten, dass der heutige Abend vorbei ist.« Polly wirft mir einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.

Mein Lächeln verrutscht ein wenig. Ich wünschte, den beiden wäre klar, wie viel lieber ich mit ihnen hierbleiben, an den Badesee fahren und jeden zweiten Abend eine Tüte von den schokoummantelten Salzbrezeln futtern würde, auf die wir alle so stehen. Die beiden haben ja keine Ahnung, dass ich die zwei Wochen im portugiesischen Luxusresort, die meine Eltern mir zum Abschluss geschenkt haben, sofort für sie abblasen würde. Meine Eltern haben das halbe Resort belegt, um dort die nächste Sommerkampagne für ihr Fitnessprogramm Lose it & Love it zu shooten. Sie nannten es einen glücklichen Zufall, dass die Reise genau einen Tag nach meinem Abiball losgehe, und haben mir deshalb prompt ein Zimmer dazugebucht. Meine zögerlichen Proteste konterten sie mit der doch recht fragwürdigen Überraschung, dass mein Bruder Paul und meine Kindergartenfreundin Lara Matiasowski ebenfalls mitkämen. Wie undankbar und first-world-problem-mäßig wäre es da von mir gewesen, den Urlaub auszuschlagen, wo meine Eltern doch so glücklich darüber ausgesehen hatten?

»Ich werde euch einfach vermissen«, sage ich ausweichend, aber wahrheitsgemäß. Zu gerne würde ich Laras und Pauls Flugtickets gegen zwei Pässe für Polly und Anouk tauschen.

Fast automatisch gibt mein Gehirn das Memo für ein noch breiteres Lächeln an meine Gesichtsmuskeln weiter. Vielleicht weil ich nicht will, dass meine Freundinnen mir ansehen, wie sehr ich mit meiner Laune zu kämpfen habe. Vielleicht aber auch, weil wir in diesem Moment an meiner Familie vorbeilaufen. Mama winkt mir so enthusiastisch zu, als wäre ich gerade zur Miss America gekürt worden.

»Siehst du schön aus, mein Schatz!«, ruft sie laut, sodass es mindestens zwei Dutzend Umstehende hören können. Ich werfe ihr eine Kusshand zu. Mein Vater filmt begeistert mit seinem Handy, wie die Karawane aus Abiturienten an ihnen vorbeimarschiert. Mein ältester Bruder Paul sieht vollkommen fehl am Platz aus in seinem engen Anzug. Er hat so breite Schultern, dass ich mich manchmal wundere, wie er überhaupt noch durch normal große Türen gehen kann. Mein Bruder Jonas zu seiner Rechten setzt ein eindeutiges Schmunzeln auf, als sich unsere Blicke begegnen. Ihm ist glasklar, wie seltsam dieser Abend ist. Es ist erst zwei Jahre her, dass er selbst als Abiturient in diesen Raum einmarschieren musste.

Kurz vor der Bühne, auf der wir uns aufstellen müssen, fragt Polly: »Wo ist eigentlich Kaya?« Sie lässt unsere Arme fallen und dreht sich, um ihn in der Menge erspähen zu können.

»Vorne«, flüstert Anouk mit einem zarten Nicken zur Spitze des Abiturientenzugs. »Wir haben beschlossen, uns den Hand-in-Hand-Einmarsch zu sparen. Hat irgendwie zu sehr was von Hochzeit.«

Anouk und Kaya sind seit drei Jahren ein Paar und die absoluten Relationship-Goals. Sie sind derart süß zusammen, dass ich mir beim Gang auf die Bühne einen Moment lang ausmale, wie wir in ein paar Jahren wieder zusammenkommen und alle schicke Kleider tragen werden – Anouk erneut in Weiß, genau wie heute, nur in einem Hochzeits- statt in einem schlichten Sommerkleid. Hach … da drohe selbst ich zur Romantikerin zu werden.

Auf der Bühne angekommen, müssen wir uns zu einem Gruppenfoto aufstellen. Polly, Anouk und ich – sonst immer wie die Orgelpfeifen mit unseren unterschiedlichen Körpergrößen nebeneinander – werden getrennt. Polly muss zu den Jungs nach hinten, Anouk in die vorderste Reihe zu den kleingewachsenen Mädchen und ich lande irgendwo in der Mitte neben Elif, Cecilias bester Freundin.

»Sind das an dem Tisch da vorne deine Eltern, Anna?«, fragt sie mich mit einem kleinen Fingerzeig. Derweil betritt unsere Schulleiterin schwerfällig die Bühne. Frau Krassus ist ziemlich alt, ziemlich sehbehindert und ziemlich schlecht zu Fuß.

»Ja, direkt neben der Bühne«, bestätige ich.

»Krass«, meint Elif nickend und beißt sich dabei auf die Unterlippe. »Die sehen echt original aus wie auf Instagram. Und dein Bruder auch ey, scheiße …« In ihrem letzten Wort schwingt kein Tadel, sondern ehrliche Bewunderung mit. Uääh … Ich werde mich nie damit anfreunden können, dass Mitschülerinnen meine Brüder – oder noch schlimmer: meinen Vater! – heiß finden, weil sie sie auf dem Account von Lose it & Love it gesehen haben. Es ist einfach heuchlerisch: Mich nennen sie hintenrum eine selbstverliebte Bitch, weil ich bis vor einem Jahr noch oft auf den Social-Media-Kanälen zu sehen war, mit denen meine Eltern ihr – zugegebenermaßen verdammt erfolgreiches – Fitnessprogramm bewerben. Aber Paul, der sich viel häufiger und viel oberkörperfreier im Netz zeigt, würden sie am liebsten wie ein Stück Sashimi auf Reis betten und verspeisen.

»Ich muss deine Mum und deinen Dad auf jeden Fall anquatschen«, fährt Elif fort, »und ihnen persönlich dafür danken, dass ich heute in dieses Kleid passe.« Sie streicht mit einer dramatischen Geste über ihre Taille, die von einem fließenden silbernen Kleid umschmeichelt wird.

»Du hast Lose it & Love it gemacht?«, frage ich irritiert.

»Äh, jaha?« Elif zieht beide Augenbrauen hoch und ist sichtlich beleidigt, weil ich ihr den zehnwöchigen Fitness- und Diätplan nicht angesehen habe.

Wäre ich jetzt mit Polly und Anouk alleine, würden wir eine ausgiebige Diskussion über Diet Culture führen. Polly würde ausrasten, weil die eh schon schmale Elif das Bedürfnis hatte, mitten in den Abiprüfungen Diät zu machen, nur um ihr Kleid eine Nummer kleiner tragen zu können. Und Anouk würde ihr iPad zücken, das auf magische Weise immer wieder aus dem Nichts auftaucht, und eine ihrer typischen Illustrationen anfertigen: wunderschöne, bunte Frauenkörper, denen aus den ungewöhnlichsten Stellen Blumen und Blätter sprießen, verziert mit empowernden Sprüchen.

Aber wir sind hier, auf dem Abiball, den wir alle ganz toll finden sollen. Dummerweise fühlt sich der Abend jedoch mit jeder Sekunde mehr so an, als wäre ich in einer Kutsche vorgefahren, die sich um Mitternacht in einen Kürbis verwandelt.

abs

Nach einem klassischen Kleinstadt-Partyservice-Dinner aus fettigem Kartoffelgratin und Gemüse mit gewellten Karottenscheiben sitzen wir gemeinsam mit unseren Familien am Gruppentisch und unterhalten uns. Das heißt: Hauptsächlich unterhalten sich unsere Eltern, während wir versuchen, dabei nicht vor Fremdscham zu sterben. Polly wird ausgequetscht, wo ihre Mutter denn heute sei, und ihre Antwort »Sie ist arbeiten« führt dazu, dass alle wegen des Sexy-Hexy-Mobils ein bisschen unangenehm berührt sind.

Ich bin meiner Mama äußerst dankbar dafür, dass sie mit einer nachdrücklichen Geste sagt: »Ah, Silke war schon immer so fleißig«, statt sich darüber zu echauffieren, dass Pollys einziges Elternteil ihren Abiball schwänzt, um auf einem Junggesellinnenabend Schlafzimmermagie zu verkaufen. »Und wie geht’s dir eigentlich, Nicole?«, fragt sie stattdessen und beugt sich über den Tisch, um die Finger von Anouks Mutter zu berühren.

Polly wird in eine Unterhaltung mit meinen Brüdern verwickelt. Es geht um das Marketing von Lose it & Love it – ein Thema, über das Paul am liebsten rund um die Uhr reden würde. Paul ist sechs Jahre älter als ich und nach seinem Bachelor sofort als Marketingleiter in die Firma unserer Eltern eingestiegen. Er geht komplett darin auf, und auch wenn ich ihn manchmal für einen gigantischen Angeber halte, muss ich zugeben, dass er in Sachen Marketing ein Naturtalent ist.

»… deshalb ist es so cool, dass Anna mitkommt«, dringt plötzlich seine Stimme an mein Ohr und mir wird klar, dass ich die letzten Minuten teilnahmslos ein goldumwickeltes Glas mit Grissini angestarrt habe. Ich blicke auf und versuche, mir fieberhaft herzuleiten, worüber er nun schon wieder gefachsimpelt hat.

»Was hat dein Urlaub denn mit Lose it & Love it zu tun?«, fragt Polly mich skeptisch.

»Ich …«

»Wir haben das Programm erweitert«, schneidet Paul mir das Wort ab. Es ist schwer, ihn einmal zu bremsen, wenn er in den Modus des Geschäftsmannes gewechselt ist. »Viele Kunden wünschen sich nämlich eine Anleitung, wie sie auch im Urlaub on track bleiben können. Deshalb launchen wir im nächsten Frühjahr Lose it & Love it on Tour.« Er macht eine ausladende Handbewegung, die ausschaut, als würde er ein imaginäres Spruchband über Polly ausrollen. »Ein Urlaubsprogramm mit Ernährungstipps, die man auch am Büfett umsetzen kann, und Trainingseinheiten, für die man nur ein Hotel-Gym braucht.«

»Perfekt aus der Marketing-PowerPoint zitiert, Bruder«, scherzt Jonas und klopft dabei ziemlich heftig auf Pauls Schulter. Dieser quittiert es mit einer eindeutigen Willst du dir eine einfangen?-Geste und fährt fort: »Jedenfalls sind wir die nächsten zwei Wochen mit einem zwanzigköpfigen Team in Portugal und drehen das Material, das wir für den Media-Mix zum Launch brauchen.«

Hinter Pauls Rücken öffnet und schließt Jonas seine Hand zu einer Papperlapapp-Geste, weswegen Polly sich ein Grinsen verkneifen muss.

»Das hat Anna schon erzählt«, wirft sie souverän ein, dann wendet sie sich an mich: »Nur dachte ich, du wirst einfach bloß mitfahren und deinen Luxusurlaub an der Algarve genießen. Sag mir bitte, dass du nicht dort bist, um die Kalorien von portugiesischen Cremetörtchen zu zählen. Das wäre nämlich eine riesige Verschwendung!« Polly pustet sich den dunkelbraunen Pony aus der Stirn.

»Natürlich nicht«, werfe ich ein. »Da wir für das Fotoshooting eh das halbe Hotel reservieren mussten, haben meine Eltern mir eben ein Zimmer mitgebucht. Und weil Lara dieses Jahr auch ihr Abi gemacht hat, bekommt sie dasselbe Geschenk. Es war einfach praktisch.« Ich versuche, es so klingen zu lassen, als wäre ich ein großer Fan dieser Idee. Immerhin können meine Eltern jedes Wort mithören. Um mich nicht zu verzetteln, lenke ich schnell vom Thema ab und schlage vor, den Abend in einem Selfie festzuhalten. Polly schmeißt sich sofort in Pose.

»Hey! Sind wir hier bei Germany’s Next Topmodel und ich habe heute kein Foto bekommen?«, ruft Anouk vom anderen Ende des Tisches. Sie springt von Kayas Schoß auf, quetscht sich zwischen Polly und mich und lacht mit uns in die Kamera.

Als ich das Ergebnis ansehe, stelle ich überrascht fest, wie perfekt uns das Selfie widerspiegelt: Anouk mit ihrem frechen, hellbraunen Kurzhaarschnitt und einem zurückhaltenden Lächeln, Pollys vor Selbstbewusstsein strotzendes Grinsen und mein Freudestrahlen, das halb hinter einer welligen blonden Strähne verschwindet und nicht ganz auf meine Augen übergreift …

Auch wenn das Foto nicht makellos ist – Paul zeigt im Hintergrund Hasenohren wie ein Fünfjähriger und Jonas hat recht erfolglos versucht, sich aus dem Bildausschnitt zu winden –, weiß ich sofort, dass mein Handy ein neues Hintergrundbild bekommt, das mich im Urlaub an meine Mädels erinnern wird.

Abb-hoch
Kapitel

EIN HAUFEN FJÄLLRÄVEN-KOTZE

FRANKFURT AM MAIN, 19. JUNI
FLUGHAFEN, TERMINAL 1, GATE 5

Kapitel

Es ist viel zu früh und draußen regnet es in Strömen. Vor dem Aussichtsfenster des Gates ballen sich Gewitterwolken wie in einem Katastrophenfilm. Es fehlen nur noch ein paar tote Vögel, die auf die geparkten Flugzeuge stürzen, und der Himmel über dem Frankfurter Flughafen sähe aus wie eine Szene aus Anouks Lieblingsserie Dark. Gut einhundert Personen warten mit uns ungeduldig auf das verzögerte Boarding. Alle schauen aus dem Fenster, als könnten sie es kaum erwarten, von hier wegzukommen. In Anbetracht dieser Wetterprognose bin auch ich zum ersten Mal richtig froh, mich für die nächsten Tage aus dem Staub machen zu können.

»Mein Latte schmeckt, als hätte jemand seinen Fuß hineingehalten.« Lara guckt in ihren Pappbecher mit weißem Milchschaum und rührt mit geschürzter Oberlippe darin herum. Ich kenne Lara Matiasowksi quasi schon immer, weil unsere Mütter zusammen im Babyschwimmen waren. Daraus entwickelte sich eine dieser seltsamen Familienfreundschaften, in denen die Kinder befreundet sein müssen – ob sie nun wollen oder nicht. Nachdem vor einigen Jahren die Idee zu Lose it & Love it entstanden ist, bekam Laras Vater den Posten des CFO und die Freundschaft wandelte sich zu einem Geschäftskontakt. So bin ich Lara in den letzten acht Jahren nur noch auf Firmenevents oder größeren Geburtstagsfeiern begegnet. Alles, was ich heute noch über sie weiß, habe ich durch ihr Instagram-Profil erfahren oder aus Erzählungen meiner Eltern. Beides nicht gerade die verlässlichsten Informationsquellen.

»Du hast auch einen Flat White bestellt«, erinnere ich sie und deute zum Vergleich auf meinen viel größeren Becher, der tatsächlich einen Latte Macchiato beinhaltet.

»Ist das nicht dasselbe?« Ich stelle mir vor, wie Jonas, mein Hobbybarista von einem Bruder, bei diesen Worten dunkelrot anlaufen und Lara dann einen zweistündigen Vortrag über die unterschiedliche Zubereitung diverser Kaffeespezialitäten halten würde.

»Flat White sind zwei Espressi mit wenig Milch. Latte ist ein Espresso mit viel Milch. Vielleicht ist er dir deshalb zu bitter.«

»Urgggs«, macht sie und guckt drein, als habe der Kaffee sie persönlich beleidigt. Sie schlägt die Beine übereinander und lässt die Sohle ihrer Chanel-Espadrilles, die sie von den Fersen gestreift hat, gegen ihren Fuß klatschen. Zusammen mit dem gelben Tuch, das sie um ihr dunkelbraunes Haar gebunden hat, verleihen diese Schuhe ihr einen Look wie aus der Vogue-Sommerbeilage.

Ich beobachte ihr schönes Profil von der Seite und kann sehen, wie sie Paul beäugt. Paul ist praktisch in der Sekunde, als er sich auf die unbequemen Flughafensitze gefläzt hat, eingeschlafen. Die Beine weit ausgestreckt, der Mund offen und die tätowierten Arme locker vor dem Bauch verschränkt. Er hat heute Morgen sehr optimistisch ein Muskelshirt und Bermuda-Shorts angezogen, wodurch er aussieht wie der größte Angeber unter der Sonne. Laras bewunderndem Blick nach scheint sie das jedoch anders zu sehen. Iiih. Das Letzte, was ich brauche, ist eine Reisefreundin, die sich in meinen Bruder verknallt. Gott sei Dank erinnere ich mich in diesem Moment daran, dass auf ihrem Instagram-Profil immer mal wieder Knutschbilder mit einem Jungen zu sehen waren.

»Wie geht’s deinem Freund so?«, hake ich also nach.

»Mhm?« Lara schaut auf.

»Dein Freund … äh …« Mir fällt der Name nicht ein. Es war iiirgendetwas amerikanisches. Justin? Kevin?

»Du meinst Dan?« Ah. Dan! »Ach, wir sind schon seit März nicht mehr zusammen. Er hat es vorgezogen, eine Kommilitonin aus seinem Statistik-Seminar zu vögeln.«

»Oh Shit«, kommentiere ich. »Tut mir leid. Was für ein Arschloch.«

Sie fummelt an ihrem Handgepäck herum. Ich sehe ihr eindeutig an, dass sie nicht über die Sache hinweg ist, dennoch sagt sie: »Ich bin froh, ihn los zu sein. Ist doch eh viel besser, als Single in den Urlaub zu fahren.« Wieder flattert ihr Blick zu Paul, der in seinem Aufzug als sabbernder Pauschaltourist wirklich nicht sehr attraktiv aussieht.

»Meiner Erfahrung nach ist es in allen Lebenslagen besser, Single zu sein«, korrigiere ich und nehme einen tiefen Schluck von meinem Latte Macchiato. Was ich da sage, entspricht überhaupt nicht meiner wirklichen Gefühlslage, doch ich erziele die gewünschte Wirkung: Lara lacht. Ich überlege einen Moment, wie ich die Situation noch weiter aufheitern kann, und lecke mir dann entschlossen den Schaum von der Lippe.

»Wollen wir ein Foto vor dem Gate machen, damit Dan auch weiß, dass du als Single in den Urlaub fährst?« Ich wippe mit den Augenbrauen und grinse Lara vielsagend an.

Keine zwei Minuten später hat sie sich auch schon vor der Glasscheibe positioniert, durch die man zwischen den dichten Regengüssen vage Flugzeuge ausmachen kann. Auf meine Anweisungen hin hat sie einen Fuß elegant nach vorn ausgestreckt und eine Hand an ihr Haarband gelegt.

»Es lohnt sich wirklich, mit den Jagodas in den Urlaub zu fliegen! Es ist nur halb so komisch, für Fotos zu posen, wenn man eine professionelle Influencerin dabei hat. Von der man noch dazu Tipps bekommt, wie man darauf nicht aussieht wie eine fette Kuh.«

Ich halte kurz inne und lasse Laras iPhone, mit dem ich sie fotografiere, sinken. »Also erstens siehst du nie aus wie eine fette Kuh.« Lara grinst verlegen. Schon traurig, dass es manchmal nicht mehr braucht, um einer Frau den Tag zu retten, als ihr zu sagen, dass sie nicht aussieht wie ein übergewichtiger Wiederkäuer. »Und zweitens bin ich keine professionelle Influencerin.« Ich verstelle meine Stimme, um die Absurdität dieser Bezeichnung zu verdeutlichen.

»Aber du bist doch ständig bei LoLo vor der Kamera.« Ich verkneife es mir, Lara zu erklären, dass ich schon seit einem Jahr nicht mehr im Marketing von Lose it & Love it zu sehen bin. Sie würde es nicht nachvollziehen können. Sie würde nicht verstehen, dass ich mich zurückgezogen habe, weil ich die als Lob getarnten Sticheleien nicht mehr ertragen konnte. Also mich würde es ja stören, wenn fremde Typen sich an meinen Bikinibildern im Internet aufgeilen, aber wenn es für dich okay ist … Es war Cecilia, die das gesagt hat. Und es gibt eine Menge Cecilias da draußen. Frauen, die anderen Frauen nicht mal die Butter auf dem Brot gönnen und noch dazu zu feige sind, ihr Slut Shaming offen auszusprechen.

»Star Alliance Flug 713 von Frankfurt nach Lissabon. Bereit zum Boarding.« Die knisternde Computerstimme unterbricht unsere Fotosession und scheucht die wartenden Passagiere um uns herum auf. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass die Ansage auch meinen Bruder aufgeweckt hat. Er reibt sich den Sabber vom Kinn und spannt die Schultern an. Wahrscheinlich ist ihm bewusst geworden, dass er während seines Dornröschenschlafs nicht gerade wie ein Adonis ausgesehen hat.

»Oh no! Hast du ein gutes?«, fragt Lara und bricht in Hektik aus.

»Kein Stress«, beruhige ich sie. »Das dauert eh noch ein paar Minuten. Schnell, schau noch mal verträumt aus dem Fenster und schieb die Hand in die hintere Hosentasche!« Sie folgt meiner Aufforderung, sieht aber ein wenig verkrampft aus. »Vergiss die anderen Leute einfach. Denk besser daran, wie Dan es finden wird, wenn er bemerkt, dass du megagut aussiehst und ohne ihn in den Urlaub fährst!«

Nun macht sich ein breites Grinsen auf ihrem Mund bemerkbar. Laras Gesichtsausdruck wird deutlich entspannter und die Pose gleich natürlicher.

»Bleib so, bleib so«, weise ich sie an und trete bei jeder Silbe – nach vorn gebeugt mit dem Handy im Anschlag – einen Schritt zurück. Hinter ihr ist ein Flieger gestartet und ich möchte ihn unbedingt mit aufs Bild bekommen. Die sommerlich gekleidete Lara vor dem regenverhangenen Himmel mit dem aufsteigenden Airbus gibt einen total coolen Kontrast ab.

»So?«, fragt Lara durch die Zähne und schielt aus dem Augenwinkel zu mir.

»Eine Sekunde noch«, bemerke ich und mache einen weiteren großen Schritt nach hinten.

Plötzlich haben meine Pobacken viel zu intensiven Kontakt mit etwas Hartem … Oder etwas Weichem? Etwas, das hart und weich zugleich ist … wie ein … ein anderer Hintern! Shit!

Kurz bin ich orientierungslos – dann dämmert es mir: Ich muss mit dem Allerwertesten voran in die Schlange zum Boarding gelaufen sein. Oh Gott …

Ich will nach vorn wegstürmen, werde jedoch ruckartig zurückgehalten, ganz so, als würde ich bei einer Vollbremsung in den Gurt geschleudert werden. Ich will mich nach dem Widerstand umdrehen, aber … ich komme … einfach … nicht vom … Fleck. Arrrg. Ich hänge fest. Was zur …?

Doch mein Fluch bleibt meiner inneren Stimme im Hals stecken, als mich ein gepfefferter Schlag am Hinterkopf erwischt. Auuuutsch. Ich lasse einen Schrei los, dicht gefolgt von dem herzhaften »SCHEISSE!« einer fremden, tieferen Stimme.

»Was ist denn …?«, fange ich an und versuche, mich mit einem entschiedenen Schritt von der Person loszureißen, in die ich hineingerannt bin. In diesem Moment passiert es: Etwas – oder jemand! – streift meinen Po. »Hey! Lass mich los!«, entfährt es mir. Hat hier gerade allen Ernstes jemand meinen Hintern begrapscht??

»Lass DU mich los!«

Ich recke meinen Kopf nach hinten und sehe einen blonden Haarschopf mit verstrubbelten Locken, der ebenfalls versucht, sich in meine Richtung zu drehen.

»Ich mache doch überhaupt nichts!«

»Dein Hintern ist an meinem Hintern!«

»Deine HAND ist an meinem Hintern!« Ich brülle jetzt schon fast, ganz gleich, ob mir gut einhundert urlaubswillige Passagiere dabei zuhören. Ich mag diesen Fremden angerempelt haben, aber deswegen hat er noch lange nicht das Recht, mich anzufassen. Mein Allerwertester ist und bleibt für ihn Sperrzone!

»Meine Hand? MEINE HAND?«

Ich winde mich ein weiteres Mal. Doch dummerweise zieht der blonde Lockenkopf zeitgleich in die Gegenrichtung und einen Wimpernschlag später stehen meine Sandalen in einer Lache aus warmer Flüssigkeit.

»Wow. Herzlichen Glückwunsch«, sagt der Trottel trocken und hält symbolträchtig den Plastikdeckel eines Coffee-to-go-Bechers über die Schulter. Ich gucke zu Boden und sehe die braune Pfütze, in der ich stehe, sowie ein Paar schwerer, durchgetretener Wanderschuhe, die dem Bad knapp entgangen sind. Der deckellose Becher, aus dem sich der Kaffee ergossen hat, kullert unbeeindruckt einige Meter von uns weg.

Der Stiefelträger nutzt den Moment, versucht, dem Kaffee auszuweichen, und zieht mich dabei mit sich. »HEY!«

»Immer locker, immer locker.« Paul kommt auf mich zu, Lara in ihren halb ausgezogenen Espadrilles dicht dahinter, und beugt sich zwischen mir und dem arschgrapschenden Inhaber der Wanderschuhe nach vorn. Er fummelt ein wenig an uns beiden herum und schließlich bin ich frei. Peinlich berührt streiche ich mir die Haare hinter die Ohren und richte meine Off-Shoulder-Bluse, bevor ich mich umdrehe. Die dämlichen Ärmel sind bei der Karambolage nach oben gerutscht und haben dabei das halbe Oberteil mitgenommen. Klasse … Dieser Typ hat mich also nicht nur angegrapscht, ich habe mich wegen ihm auch noch in der Passagierschlange entblößt. Wie sagte er so schön? Herzlichen Glückwunsch.

»Ihr wart bloß verheddert.« Paul hält den Übeltäter hoch: die Gliederkette meiner Umhängetasche. Lara sieht Paul an, als hätte er mich soeben aus den Klauen eines Drachen befreit. Ich hingegen blicke fassungslos auf die Schlaufe meiner Tasche. Sie muss sich in einem der unzähligen Bänder oder Karabiner verhakt haben, die von Blondies Rucksack baumeln. Überhaupt baumelt eine ganze Menge an diesem Rucksack. Unter anderem eine Thermosflasche und ein Paar Laufschuhe, die mehr Kilometer auf dem Buckel haben müssen als die Boeing, die draußen auf dem Rollfeld steht.

Der Kerl dreht sich zu uns um. Er ist in etwa so groß wie ich, weswegen wir uns genau in die Augen sehen können. Wobei seine so eng zusammengekniffen sind, als plane er im Hinterstübchen gerade meine Hinrichtung.

»Vielleicht solltest du ein bisschen weniger auf dein Handy starren und ein bisschen mehr geradeaus«, schlägt er vor und verzieht zynisch den Mund. In diesem Moment hasse ich alles an ihm. Von den komischen Laufschuhen über den zerschlissenen Rucksack bis zu den Haaren, denen er offenbar noch nie in seinem Leben Aufmerksamkeit geschenkt hat.

»Sagt der Typ, der literally so unfähig war, geradeaus zu gucken, dass er seinen Kaffee verschüttet hat.«

»Ja!«, sagt er mit Nachdruck. »Weil ich literally von jemandem umgerannt wurde, der Fotoshooting gespielt hat, statt seinen Hintern in den Flieger zu bewegen.« Als er meinen Anglizismus nachäfft, schnippt er die gehässigsten Anführungszeichen in die Luft, die ich jemals gesehen habe.

Die übrigen Passagiere machen einen weiten Bogen um uns, als hätten wir begonnen, einander mit Schwertern zu duellieren. Lara und Paul steht die Fremdscham ins Gesicht geschrieben.

Ich räuspere mich und atme tief ein. Wie konnte es dieser Typ, der maximal Anfang zwanzig ist, überhaupt schaffen, mich derart auf die Palme zu bringen? Außer natürlich, dass er sich benimmt wie ein fünfundfünfzigjähriger Boomer, der uns ein schlechtes Gefühl vermitteln will, weil wir schöne Fotos von uns gemacht haben?

»Okay, jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder«, sagt Paul mit gebieterischer Strenge und spannt die Muskeln zwischen Rücken und Rumpf an. Er sieht aus wie ein zu groß geratenes Flughörnchen. Blondie mustert ihn und scheint abzuwägen, ob es sich lohnt, einen Streit anzufangen. Paul mag rein optisch einer Kampfmaschine gleichen, aber in Wahrheit ist die einzige Gefahr, die von ihm ausgeht, die, dass er einem mit seinem Marketing-Blabla das Ohr blutig quatscht.

Dem Typ scheint die Angriffslaune dennoch vergangen zu sein. Er zieht die Riemen seines Trekkingrucksacks straffer und rollt die Ärmel seines schlabberigen Leinenhemds bis zu den Ellbogen hoch. Die Härchen auf seinen sehnigen Unterarmen sind ganz blond. Bestimmt verbringt er jede Sekunde draußen und ist supergern in der Natur. So supergern, dass er selbst heute gekleidet ist wie zu einer Bergmission. Dabei muss er bloß ein Flugzeug besteigen – nicht den Kilimandscharo. Wieso läuft er für eine Reise nach Portugal so rum, als hätte sich ein Outdoor-Geschäft auf ihn übergeben?

»Was für ein Arschloch«, murrt Lara, während wir zu den Sitzbänken hasten und unser Handgepäck einsammeln, das wir vor unserer Fotosession dort liegen gelassen haben. »Sind wenigstens die Bilder gut geworden?«

Gemeinsam mit Paul schlängeln wir uns am Ende der Passagiermenge durch die Gangway. Einige Meter vor uns kann ich den blonden Lockenschopf auf und ab wippen sehen. Und das, obwohl der überdimensionale Rucksack sein Bestes gibt, um seinen Besitzer zu tarnen.

»Soll ich das Palmen-Emoji nehmen? Gibt es an der Algarve überhaupt Palmen?« Während Lara viel zu beschäftigt damit ist, die letzten Minuten mit stabilem Internet auszunutzen, lässt mich die Situation mit dem Ganzkörper-Fjällräven-Model nicht mehr los.

»Weißt du, was ich an dieser Sache so scheiße finde?«, werfe ich inbrünstig ein. »Warum muss er so tun, als wäre es etwas Schlimmes, Fotos zu machen? Ich wette, der ist am Wochenende immer auf irgendwelchen Trips in den Alpen und fotografiert sich dann mit Selbstauslöser und ausgestreckten Armen vor dem Abgrund oder so.«

»Reg dich ab, Anna. Du siehst ihn eh nie wieder. Weißt du, was ich mache? Ich nehme erst die Regenwolke, dann den Pfeil, unter dem SOON steht, und dann ein Bikini-Emoji. Soll ich dich taggen?«

Ich ziehe eine Schnute. Ich weiß ganz genau, dass meine besten Freundinnen sich jetzt eine halbe Stunde mit mir über Goldlöckchen aufgeregt hätten. Ach Mann … Wieso vermisse ich sie schon jetzt, wo ich noch nicht einmal richtig aufgebrochen bin?

Kapitel

EIN ZU LANGES FISCHDINNER

SÜDPORTUGAL, 19. JUNI
HOTEL NAVIO OURO

Kapitel

Das Hotel macht seinen fünf Sternen alle Ehre – und zwar auf eine heimelige, ganz und gar nicht proletenhafte Weise, die ich sogleich auf unzähligen Fotos festhalte. Ich knipse die cremefarbene Fassade, an der sich rosa blühende Pflanzen emporranken, die typisch portugiesischen Kacheln, die Wände und Pooleinfassungen zieren, und die urigen Gewölbedecken, die charmant-unperfekt restauriert wurden. Und das Beste: Egal, aus welchem Fenster man schaut, man blickt auf blauen Himmel, den Atlantik und jene zerklüfteten Klippen, die man angezeigt bekommt, wenn man bei Google nach Algarve sucht. Spätestens morgen will ich unbedingt an den Strand.

Nachdem wir in unserem Hotelzimmer die Koffer ausgepackt haben, wird mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass ich mir zwei Wochen lang mit Lara ein Bett teilen muss. Meine Eltern haben das gemeinsame Zimmer für eine gute Idee gehalten – Bonding und so, wo wir früher doch so enge Freundinnen waren. Jetzt frage ich mich, ob wir dafür wirklich gleich unsere Matratzen hätten bonden müssen.

»Wollen wir an den Pool, bevor es heute Abend so richtig losgeht?« Lara schwingt die Hüften, damit kein Zweifel besteht, womit sie die Nacht verbringen will.

Da wir mit den Fotoshootings streng genommen nichts zu tun haben, können wir ganz frei entscheiden, wie wir die kommenden zwei Wochen verbringen. Ihr Vorschlag, sie mit Feiern einzuläuten, passt mir außerordentlich gut. Ich liebe es, mich ein wenig aufzustylen und tanzen zu gehen. Es gibt eine Menge Leute, die das nicht verstehen. Leute, die glauben, dass ich das nur tue, um Jungs zu gefallen. Dabei denke ich in diesen vorfreudigen Stunden, in denen ich mir mit Freundinnen die Haare mache und Weißwein mit Früchten trinke, überhaupt nicht an die Typen, die ich später vielleicht treffen werde. Und das aus gutem Grund. Denn sobald Männer ins Spiel kommen, wird es immer scheiße kompliziert.

»Klingt gut«, erwidere ich auf Laras Vorschlag. »Aber vorher muss ich dringend eine Runde pennen.« Wie auf Kommando entfährt mir ein ausgiebiges Gähnen. Kein Wunder. Immerhin liegt eine stundenlange Autofahrt vom Lissabonner Flughafen an die Südküste des Landes hinter uns. Paul saß die ganze Strecke über am Steuer des kleinen Citroën, den unsere Eltern am Flughafen für uns gemietet haben. Er hat darauf bestanden, direkt loszufahren, dabei hätte ich gern einige Stunden in Lissabon verbracht. Ich bin noch nie dort gewesen, habe aber schon etliche schöne Fotos von den verwinkelten Gässchen, den bunt gekachelten Häusern und den ikonischen Törtchen gesehen, deren Kalorien ich Polly zuliebe auf keinen Fall zählen werde. Ich bin immer noch ein wenig enttäuscht, dass ich von Lara und ihm überstimmt wurde. Aber letztendlich habe ich eingelenkt, weil … na ja, ich eben so bin.

»Okay. Dann knallen wir uns ein bisschen hin und heute Abend gehen wir auf Tour. Glaubst du, Paul geht mit?«

Ich zucke mit den Schultern. Ich mag meinen Bruder. Doch durch unsere sechs Jahre Altersunterschied waren wir nie die Art Geschwister, die gemeinsam feiern gehen. »Bestimmt muss er morgen früh raus, um für den ersten Shootingtag alles vorzubereiten. Davor geht er wahrscheinlich in den Fitnessraum. Paul ist superstreng mit seiner Routine.« Ich verdrehe die Augen über so viel Disziplin.

»Mhm«, macht Lara und wirkt so enttäuscht, dass ich wieder daran denken muss, wie interessiert sie ihn am Flughafen gemustert hat. Bitte nicht … »Meinst du, wir können mit zum Fotoshooting morgen?«

»Ähm …« Mit einem unverhohlenen Zögern lasse ich mich auf dem gigantischen Bett nieder und versuche, Zeit zu schinden, indem ich mir meine kaffeeruinierten Sandalen von den Füßen schäle. »Das ist bestimmt nicht sehr spannend für uns.«

»Juckt es dir denn gar nicht in den Fingern, wieder ein Teil der Kampagne zu sein? Letzten Sommer warst du ständig auf den Bildern zu sehen.«

Ich öffne die Riemchen an der zweiten Sandale und reagiere ausweichend: »Eigentlich nicht.«

»Ich fänd’s so geil, mal dabei mitzumachen«, gibt Lara zu und gerät ins Grübeln. »Aber mich wollen sie bestimmt nicht.«

»Ach was.« Ich winke ab. »Ich kann Paul fragen, wenn du magst.«

Lara strahlt begeistert auf. »Oh, mein Gott, würdest du das echt tun?«

Ich bereue meinen Vorschlag sofort. Paul wird mit Sicherheit keinen Millimeter von der Marketing-PowerPoint abweichen, in der er die Shootingtage detailliert geplant hat. »Klar!«, sage ich, obwohl ich ihr eigentlich keine Hoffnungen machen sollte. »Fragen kostet ja nichts.« Shit … Resigniert lasse ich mich auf das Bett zurückfallen. Gott, wie riesig ist diese Matratze eigentlich? Ich kenne King-Size-Betten und Queen-Size-Betten. Worum es sich bei diesem weiß bezogenen Ungetüm handelt, ist mir hingegen schleierhaft. Wenn ich mich quer und mit beiden Armen von mir gestreckt hineinlegen würde, käme ich mit den Fingerspitzen noch immer nicht bis zum Rand. Vielleicht ist es ein Master-of-the-Universe-Size-Bett?

Nachdem Lara in das angrenzende Badezimmer verschwunden ist, um sich ihren Bikini anzuziehen, zücke ich mein Handy und sehe nach, ob Polly und Anouk schon gebührend auf meine Anekdote von Goldlöckchen am Flughafen reagiert haben. Ich habe ihnen natürlich detailgetreu davon berichtet, sobald wir im Auto gesessen haben und mein iPhone portugiesisches Netz empfangen hat.

Polly
Und dann saß er die ganze Zeit im selben Flieger wie du?
Lass mich raten! Ihr hattet Nachbarplätze!

Anouk
Es war Annas echtes Leben.
Keine RomCom aus den 90ern.

Polly
Ha! Wer hätte dann den Typen gespielt?

Anouk
Mhm … in den 90ern? Vermutlich Hugh Grant!

Anna
Nee, er war eher so Typ Heath Ledger.

Ich bereue meine Nachricht in dem Moment, in dem ich auf Senden drücke. Denn Anouk, die alte Filmexpertin, hat natürlich sofort eine Antwort parat, die sein Fehlverhalten so gut wie zunichtemacht. Sie schickt einen Screenshot aus einem Film, den ich nicht kenne – was kein Wunder ist, ich kenne nur ein Prozent der Filme, über die sie ständig faselt – auf dem ein ziemlich attraktiver Heath Ledger mit blonden, zerzausten Locken zu sehen ist, die sich über den Ohren kräuseln. Er trägt ein schlabberiges Hemd mit offen stehendem Schnürkragen und in den Händen ein langes Schwert. Also … wenn das Schwert ein Trekkingrucksack wäre, dann wäre die Ähnlichkeit geradezu erschreckend.

Anouk
Etwa wie Heath Ledger in
Ritter aus Leidenschaft?

Polly reagiert mit einem ganzen Heer aus sabbernden Smileys. Eine seit der fünften Klasse bestehende allerbeste Freundschaft basiert auf einer Grundfeste: bedingungslose Loyalität. Doch kaum wagt man es, ein Arschloch mit einem Schauspieler zu vergleichen, der in einem Film vor zwanzig Jahren mal ganz niedlich aussah, wird diese natürlich sofort über Bord geworfen und die Sabbersmileys kommen zum Vorschein.

Anna
NICHT. HILFREICH.

Polly
Läuft es wenigstens mit deiner Kindergartenfreundin besser, mit der du zuletzt Kontakt hattest, als es noch die D-Mark gab?

Wirklich nur Polly reißt Witze dieser Art. Wo Anouk Film- und Serienreferenzen macht, wartet sie mit Seitenhieben zu Politik und Zeitgeschehen auf.

Anna
Der Euro wurde literally vor unserer Geburt eingeführt.
OHMEINGOTT, hab ich erzählt, dass er sich darüber lustig gemacht hat, dass ich literally gesagt habe???

Polly
Nun ja, wie soll ich das sagen …
Ich kann’s ihm nicht ganz verübeln.
 smiley

Anna
Ich hab dich auch lieb.
Die Situation mit Lara ist okay. Ich habe etwas Angst, dass sie sich in meinen Bruder verknallt, während wir hier sind.
Dann kotze ich.

Anouk
Iiih. Pfui.
Zur Ablenkung hier noch ein paar Bilder von Heath Ledger.

Ein paar Stunden später sitze ich mit aufgestütztem Kinn neben Lara und Paul am Dinnertisch und habe nur eine einzige Frage: Wie bin ich in dieser Situation gelandet? Ungläubig blicke ich von Lara zu Paul zurück zu Lara und dann wieder zu Paul. Der Tag fing doch eigentlich okay an. Zumindest wenn man von der Tatsache absieht, dass meine Sandalen ruiniert wurden und eine fremde Hand nach meinem Po gegrapscht hat. Lara und ich bekamen gute Plätze am hoteleigenen Pool, streckten unsere Beine in die portugiesische Sonne und schmiedeten bei unserem ersten Cocktail Pläne für die Nacht.

Doch danach ging es steil bergab und nun sind wir meilenweit davon entfernt, unser Partyvorhaben umzusetzen. Seit geschlagenen drei Stunden bin ich mit ihr und meinem Bruder im Fischrestaurant der Hotelanlage und warte darauf, dass Paul endlich satt wird, damit wir aufbrechen können. Mein Bruderherz verleibt sich grade die vierte Portion mageren Fischs mit Salat ein und schildert Lara dabei jedes Detail des Fotoshootings, das morgen früh beginnen wird. Zu meinem Missfallen saugt sie seine Worte mit großen Augen auf und ist völlig unbeirrt davon, dass ihm dabei ständig halb verdauter Kabeljau aus dem Mund fällt. Ihr Ex, Justin-Kevin-Dan, scheint vergessen und die Clubnacht mit mir ebenfalls.

»Ja, also Domenico hat wirklich schon alle großen Stars vor der Linse gehabt. Er hat das Albumcover von Max Giesinger geschossen.«

»Wow«, wirft Lara beeindruckt ein. Seit etwa einer halben Stunde glaube ich, dass in ihrem Schädel eine Platte hängen geblieben ist. Denn sie sagt nichts anderes mehr als immer wieder Wow, Mega oder Hammer. Ganz egal, was Paul von sich gibt. Und dabei schmachtet sie ihn an, als hätte er ihr eben einen Verlobungsring von Tiffany’s angesteckt.

»Letztes Jahr war er in einer Top20-Folge von Germany’s Next Topmodel dabei. Daran erinnerst du dich bestimmt? Das Shooting mit den Alpakas.«

»Nicht dein Ernst, ehrlich? WOW!«

Paul vollführt ein aufschneiderisches Augenzwinkern und deutet dabei mit der Gabel auf Lara. Sie streicht sich bei dieser Geste eine schokobraune Locke hinters Ohr und setzt eine Art Schlafzimmerblick auf.

Oh nein! Ich möchte sterben. Oder zumindest allen Anwesenden an diesem Tisch ein Keuschheitsgelübde für den Urlaub abnehmen. Wie kann man meinen Bruder nur heiß finden, wenn ihm ein Brokkolistückchen am Kinn hängt und er immer noch dieses Muskelshirt trägt??

Ich schaue demonstrativ auf die Uhr und schauspielere ziemlich schlecht: »Oh Gott! Es ist ja schon nach elf! Wir sollten langsam los, oder?«

Paul horcht auf. Die eben noch als Flirtwerkzeug eingesetzte Gabel erstarrt auf halbem Weg zu seinem Mund. »Wo wollt ihr denn hin?«

»Feiern. Manche Leute sind schließlich zum Urlaubmachen hier!« Ich sehe halb hoffnungs-, halb vorwurfsvoll zu Lara rüber.

»Etwa in einen Club? Ganz alleine?«

»Na, jetzt lass nicht auf einmal den großen Beschützerbruder raushängen. Es ist dir doch sonst auch schnurz, wenn ich ohne Bodyguard vor die Tür gehe.«

»Du kannst ja auch mitkommen, wenn dir dabei wohler ist?«, schaltet sich Lara ein. Wenn sie noch subtiler wird, schlägt sie ihm mit dem Zaunpfahl den Blondschädel ein.

Paul hebt das Handy an, das während des gesamten Abendessens einsatzbereit neben seinem unbenutzten Fischmesser gelegen hat, und checkt die Uhrzeit. »Puh«, macht er dann und sieht einen Moment aus, als wolle er sich geschäftsmännisch die Hemdsärmel hochkrempeln, bis ihm aufgeht, dass er ein verfluchtes Tanktop trägt. »Muss echt früh raus.«

»Kein Problem«, erwidere ich schnell. »Wir schaffen es auch ohne dich.«

»Wann geht es denn morgen los?« Lara übergeht mich einfach komplett.

»Domenico und seine Assistenten sollten gegen acht ankommen. Dann heißt es aufbauen. Der kleine Pool hinter dem Fitnessstudio wird unsere erste Location sein. Die Models kommen so gegen zehn. Dann müssen sie natürlich in die Maske, ist klar.«

Ist klar, äffe ich ihn in Gedanken nach. Manchmal würde ich gern Anekdoten aus unserer Kindheit auspacken können, die entlarven, dass Paul noch vor wenigen Jahren ein unbeliebter Hosenscheißer war. Aber Paul war schon immer sportlich, schon immer groß, schon immer einer der Angesagten.

Lara wirft mir einen auffordernden Blick zu, wohl um mich an das Versprechen zu erinnern, das ich ihr heute Mittag in unserem Zimmer so gedankenlos gegeben habe.

»Ähm«, beginne ich, »wie viele Models sind noch mal engagiert worden?« Dabei kenne ich die Antwort auf diese bescheuerte Überleitung ganz genau. Schließlich kann Paul seit Monaten kaum die Klappe aufmachen, ohne dass dabei Auszüge aus seinem Marketingplan herausfallen.

»Sechs«, erwidert er und legt endlich sein Besteck beiseite. »Drei Paare unterschiedlichen Alters. Weil das Programm für jeden was ist, denn …«

»Schon gut, wir kennen LoLo, danke, Paul«, unterbreche ich zynisch und ernte vernichtende Blicke von beiden meiner Tischgesellen. »Jedenfalls