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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2021 Sebastian Thiel
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783755747055
Im Dezember 2019 erkrankte ich an einer Depression. Bis dahin war ich 66 Marathons gelaufen und hatte an 20 Läufen, die länger als 42 Kilometer waren, teilgenommen. Außerdem war ich 20 Mal bei einem Ironman Triathlon ins Ziel gelaufen, einmal bei einem Double-Ironman- sowie zweimal bei einem Triple-Ironman-Triathlon. Aber im Januar 2020 schaffte ich es gerade noch, 4,4 Kilometer in 30 Minuten zu laufen. Drei Monate zuvor hatte ich mich zum Deutschlandlauf angemeldet. 1.300 km in 21 Tagesetappen standen auf der Ausschreibung.
Am 28. Juni 1988 trainierte ich das erste Mal für einen Marathon und schaffte drei Kilometer unserer 5-km-Runde, die vor der Haustür lag. Dann musste ich eine Gehpause einlegen. So ungefähr fühlte ich mich 31 Jahre später. Es würde ein weiter Weg werden, um den weiten Weg von Flensburg nach Lörrach zu bewältigen. Vor allem zählte alles, was ich bis dahin geleistet hatte, nicht mehr. Am Ende allerdings konnte ich feststellen, dass der erstere Weg der wichtigere war und ich das Ziel schon erreicht hatte, als ich in Flensburg am Start stand.
Sebastian Thiel
Dezember 2021
Berlin, den 5. Oktober 2019
Lieber B.!
Heute habe ich mich zum Deutschlandlauf 2021 angemeldet. Wenn alles gut geht, starte ich am 22. August in Flensburg und komme 21 Tage später nach circa 1.300 Kilometern in Lörrach ins Ziel.
Zurück zu den Wurzeln könnte man sagen, nachdem ich nun vier Jahre vergeblich darauf gehofft habe, noch mal meine Schnelligkeit zu verbessern. Man könnte aber auch sagen, dass ich mich jetzt wieder meinen anderen Träumen widme, nachdem dieser eine Traum bis hierhin ziemlich jämmerlich zerplatzt ist. Das Schöne ist aber nicht immer nur dieses eine Ziel oder vielmehr dieser eine Traum, sondern für mich auch ganz besonders der Weg dorthin. Dieser Tatendrang, den man verspürt, wenn solche Dinge auf einen warten.
So habe ich mir für erste vorgenommen, jeden Monat etwas Besonderes zu machen. Das kann zum Beispiel ein Marathon oder ein Ultralauf sein. Ich will noch nicht zu viel verraten, hoffe aber, dass ich Dir regelmäßig davon berichte.
Den Entschluss zu diesem Vorhaben, habe ich übrigens letztendlich vor einer Woche beim Berlin-Marathon gefasst. Ein einfacher Marathon, mal lapidar gesagt, vor vier Jahren noch ein Kinderspiel, war dieses Jahr eine große Herausforderung. Ein durchwachsenes Jahr mit Kränklichkeiten, so vielen Zahnarztbesuchen wie selten zuvor und anderen Schwierigkeiten neigt sich langsam dem Ende zu. So war ich in diesem Jahr auch nur ein paar Halbmarathons gelaufen und zweimal 25 Kilometer in Vorbereitung auf den Berlin-Marathon. Aber ich hielt meinen Schnitt von sechs Minuten pro Kilometer bis Kilometer 35, hatte dann ein paar Probleme mit meiner Einlage lief aber sicher ins Ziel; sicher mit dem Wissen, dass das Talent für langes und langsames Laufen noch in mir schlummert. Anja und auch ein paar Zuschauer feuerten mich am Ende an und riefen, dass ich noch locker aussehen würde. Wenn es von innen heraus vielleicht auch nicht mehr ganz so locker war, so tat es doch gut zu hören, dass es von außen noch so aussah. Neben der Wiederentdeckung meiner eigentlichen Fähigkeiten (wenn ich das mal so schreiben darf) war mir der Marathon auch so wichtig, weil sich mein Marathondebüt zum 30. Mal jährte. Vor 30 Jahren im Alter von 14 hat es 4:04 Stunden gedauert, bis ich im Ziel war, heute mit 44 knapp neun Minuten länger. Im Nachhinein war ich nur sehr traurig, dass ich meine Eltern bei ihrem Verpflegungspunkt bei Kilometer 40 nicht gesehen habe. Zum 21. Mal lief ich beim Berlin-Marathon Kilometer 40 entgegen und erwartete sie. Doch irgendwo waren sie beschäftigt. Danach haben sie erzählt, dass sie sich aus dem Helferleben zurückziehen wollen. Vielleicht verzichte ich daher und aus dem Grund, dass mir gerade zu Beginn das Gedränge zu groß war, im nächsten Jahr mal auf den Berlin-Marathon. Aber wie gesagt, es warten auch andere Dinge auf mich, und ich hoffe, Dir bald davon zu berichten.
Dein S.
Berlin, den 3. November 2019
Lieber B.!
Im ersten Monat war das Besondere, 21 Tage nacheinander zu laufen. Jeden Tag sollte das rund ein Sechstel der Distanz sein, die ich an den entsprechenden Tagen beim Deutschlandlauf vor mir habe. Ich habe zwischendurch Notizen gemacht, die ich Dir nun wiedergebe.
Tag 1 (So, 13. Oktober)
In den zwei Wochen nach dem Berlin-Marathon bin ich dreimal eine halbe Stunde gelaufen. Insofern fiel der erste Lauf über zehn Kilometer etwas schwer. Der Puls war etwas hoch, was aber vielleicht auch dem sonnigen und warmen Wetter geschuldet war.
Tag 2 (Mo, 14. Oktober)
Heute Abend zum Kino verabredet. Deshalb gleich nach der Arbeit gelaufen. Etwas besser, der Puls etwas niedriger. Trotzdem reichen mir die neun Kilometer, die auf dem Plan stehen.
Tag 3 (Di, 15. Oktober)
Sehr langsame zehn Kilometer. Langsam werden die Beine etwas schwerer. Doch der Puls geht weiter runter.
Tag 4 (Mi, 16. Oktober)
Heute Abend mit Anja zum Essen gehen verabredet. Deshalb gleich wieder nach der Arbeit gelaufen. Regen und nur noch 14 Grad. Mein Wetter. Allerdings nicht meine Beine da unten. Der erste Kilometer eine Katastrophe. Wie schon gestern. Aber wenn ich eingelaufen bin, geht es. Trotzdem merke ich, dass ich in trainingsreichen Wochen in der Regel meistens nach dem dritten Tag eine Pause eingelegt habe. Ich frage mich, werden die Beine jeden Tag etwas schwerer werden?
Tag 5 (Do, 17. Oktober)
Nachts vier Stunden geschlafen. Dann acht Stunden Arbeit. Nach Hause und eine halbe Stunde auf der Couch ausgestreckt. Danach weiter zum Zahnarzt. Heute ist ein wichtiger Tag. Werde ich meinen Plan einhalten können? Ja. Der Zahnarztbesuch ist kurz und auch nur kurz schmerzhaft. Ich schaffe es, noch vor Anbruch der Dunkelheit zehn Kilometer zu laufen. Sogar das Tempo ist für den Vorlauf vernünftig. Eine der größten Hürden dieser drei Wochen ist geschafft, denke ich.
Tag 6 (Fr, 18. Oktober)
Heute stehen nur acht Kilometer im Plan. Langsam, glaube ich, habe ich den Rhythmus des täglichen Laufens angenommen. Der Puls ist gut, das Tempo okay und das Loslaufen fällt auch nicht mehr so schwer.
Tag 7 (Sa, 19. Oktober)
Heute kommt Besuch. Deswegen muss ich früh laufen. Das fällt mir nach einer Woche Arbeit immer schwer. Dementsprechend ist der Puls wieder höher. Aber auch nach dem Lauf fällt er nicht so ab wie gewohnt. Gestern hatte ich leichtes Halskratzen. Das war heute erst vergessen, aber jetzt kommt doch der Gedanke, dass ein minimaler Infekt da sein könnte.
Tag 8 (So, 20. Oktober)
Ich fühle mich sehr bescheiden. Es ist auch wieder sonnig und warm. Ich schalte gleich den Pulsmesser ein, um nicht über 80 Prozent zu kommen. Das gelingt nur bei sehr langsamem Tempo. Mir wird bewusst, dass ich bei vielen Ultrawettkämpfen (wenn ich 24 Stunden oder länger unterwegs war) irgendwann im Eimer war und dass man dieses auch vorher einkalkulieren konnte. Über einen Zeitraum von drei Wochen fit zu sein, ist noch mal ein ganz anderes Unterfangen. Mit „fit sein“ meine ich nicht, dass ich täglich Glanzleistungen vollbringe, sondern einfach gesund zu sein. Insofern ist dieses Experiment, auch wenn ich täglich nur eine Stunde trainiere, schon ein guter Test.
Tag 9 (Mo, 21. Oktober)
11,6 Kilometer. Die bisher längste Distanz stand auf dem Programm. Die ersten fünf Kilometer bin ich noch sehr skeptisch, ob ich fit bin. Doch auf der zweiten Hälfte geht es viel besser. Der Puls hätte etwas niedriger sein können, doch für morgen habe ich eine Idee ...
Tag 10 (Di, 22. Oktober)
Heute standen zehn Kilometer auf dem Plan, und ich habe versucht, sie deutlich schneller zu laufen. Es klappt, denn ich bin 40 Sekunden pro Kilometer schneller als gestern.
Tag 11 (Mi, 23. Oktober)
Halbzeit. Natürlich spüre ich, dass ich gestern schneller unterwegs war. Ich trotte wieder in meinem Sechser Schnitt dahin. Doch das ist kein Problem.
Tag 12 (Do, 24. Oktober)
Heute muss ich zum ersten Mal zwölf Kilometer laufen. Zweimal stehen zwölf Kilometer als längste Einheiten auf dem Plan. Natürlich hört sich das etwas lächerlich an, ob nun zehn oder zwölf Kilometer auf dem Plan stehen. Doch die zehn bis fünfzehn Minuten mehr können schon schmerzen. Zumal man jetzt um diese Jahreszeit noch mit der früh hereinbrechenden Dunkelheit kämpfen muss. Aber es gelingt mir. Zwölf Kilometer in 71 Minuten.
Tag 13 (Fr, 25. Oktober)
Heute zur Belohnung nur zehn Kilometer. Kein Problem und das Wochenende steht auch vor der Tür.
Tag 14 (Sa, 26. Oktober)
Ich besuche meine Eltern und laufe im Düppeler Forst. Schön, mal eine andere Runde zu drehen. Außerdem der zweite 12-Kilometer-Lauf, den ich sogar auf 13 Kilometer ausdehne und auch etwas schneller absolviere.
Tag 15 (So, 27. Oktober)
Heute habe ich wegen des gestrigen Laufs wieder müdere Beine. Ich schleppe mich elf Kilometer auf meinen üblichen Wegen in Altglienicke herum.
Tag 16 (Mo, 28. Oktober)
Nur noch sechs Tage. 11,5 Kilometer etwas flotter sind kein Problem. Nieselregen dabei, ach, das ist auch einfach mein Wetter.
Tag 17 (Di, 29. Oktober)
Wieder zehn Kilometer. Wieder ein bisschen flotter. Jetzt könnte ich ewig weiter machen ...
Tag 18 (Mi, 30. Oktober)
Heute habe ich etwas verpennt. Es wird dunkel, als ich loslaufe. Mich nerven die Lichter von Autos und auch Radfahrern. Früher haben die nicht so geblendet. Aber trotzdem keine Probleme auf den zehn Kilometern, und der Puls ist sogar so niedrig wie noch nie in den letzten 18 Tagen.
Tag 19 (Do, 31. Oktober)
Heute nur neun Kilometer. Das habe ich verdient, finde ich. Ich laufe auch wieder eine Stunde früher los und komme so der Dunkelheit zuvor. Ich bin locker, aber schon ein bisschen angespannt wegen der kommenden zwei Tage.
Tag 20 (Fr, 1. November)
Auf der Heimfahrt von der Arbeit habe ich starke Zweifel, ob ich das Unterfangen tatsächlich morgen mit einem Marathon in Hamburg-Öjendorf beim 100-Marathon-Club beenden soll. Ich wollte 21 Tage nacheinander laufen und hätte das mit einem einstündigen Lauf heute und morgen auch vollbracht. Erst mal beschließe ich, heute statt zehn nur neun Kilometer zu laufen. Ich habe jeden Tag mein Soll erfüllt und oft ein paar Meter mehr gemacht. Ausruhen und mit Gelassenheit den morgigen Tag anzugehen, ist mir wichtiger.
Tag 21 (Sa, 2. November)
In den letzten Jahren habe ich zu viele Vorhaben frühzeitig abgebrochen. Daher raffe ich mich auf. Der Wecker klingelt um fünf Uhr. Um kurz vor sechs sitze ich im Auto und freue mich auf eine gemütliche Fahrt mit Kaffee und Brötchen. Doch es regnet und bis Neuruppin folgt Baustelle auf Baustelle. Erst danach wird es, wie ich es mir vorgestellt habe und ich freue mich, dass ich unterwegs bin. Um kurz nach acht Uhr bin ich am Öjendorfer See, bekomme meinen Chip für die Zeitmessung, aber keine Startnummer. Die hat einer zu Hause vergessen. Es ist mein fünfter Start hier beim Marathon-Club und es ist wie immer. Ein paar Verrückte treffen sich an einem Samstagmorgen, an dem man so viele andere schöne Sachen machen könnte. Zwischendrin auch immer ein paar Normale, die sich bestimmt fragen, wo sie hier hingeraten sind. Neben vielen Fragen, die ich mir vor dem Deutschlandlauf noch stellen werde, ist eine jetzt schon, wie ich mit den anderen Teilnehmern auskommen werde. Marathonsammler, Ultraläufer und Triathleten sind mitunter sehr spezielle, sehr eigene Menschen. Und ich weiß, dass ich auch dazu gehöre; in dem Sinne, manchmal sehr eigen zu sein.
Der Start erfolgt um neun Uhr. Noch ist es trocken und ein paar Grad wärmer als in den letzten Tagen. Ich bin zu warm angezogen. Aber als es nach einer halben Stunde zu regnen anfängt und nicht mehr aufhört, bin ich froh über das wärmere Laufhemd. Es gibt genügend Stellen, an denen man den Pfützen nicht ausweichen kann. Nach einer Weile ist der Weg schön aufgeweicht. Trotzdem laufe ich konstant knapp unter sechs Minuten pro Kilometer. Schneller als an manchen Tagen, in den letzten drei Wochen. Bis Kilometer 15 geht es gut, da war ich mir auch sicher. Doch lange Strecken habe ich ja nun gar nicht trainiert und auch nicht mehr so in petto wie in früheren Jahren. Aber ich erreiche die Halbmarathonmarke nach knapp 2:03 Stunden und werde auch bis Kilometer 34 nicht langsamer. Erst die letzten beiden der elf Runden werden mühsamer. Ich kann mich auch nicht mehr motivieren. Trost ist aber, dass ich keine Gehpausen machen muss. Ich trotte dem Ziel entgegen, sicher, dass ich schneller als beim Berlin-Marathon sein werde, aber auch viel zu kaputt, um mich über das Erreichen des Ziels hier und des Ziels meiner dreiwöchigen Laufperiode zu freuen. Nach 4:11 Stunden habe ich es geschafft. Möglicherweise hat es keiner mitbekommen. Die Helfer und Zeitmesser sitzen in ihrem Wohnmobil. Keiner hat mehr Lust bei dem Regen draußen zu sein. Aber ich schüttele mich doch noch kurz, bin etwas stolz, jetzt hier zu sein und es geschafft zu haben.
In Berlin angekommen streite ich allerdings mit Anja. Ich, der Super-Held, komme nach Hause. Aber sie hat ja auch ihren Alltag, ihr Wochenende, ihre Zeit gehabt. Es dreht sich nicht um mich und ich bin sauer. Meine Eltern fragen am nächsten Tag auch nur kurz nach dem Marathon, meine Geschwister gar nicht und Freunde kriegen es teilweise nicht mehr mit, was ich sportlich genau mache. Es stimmt mich schon traurig, dass ein Marathon in meinem Umkreis so unbedeutend geworden ist. Nur Henrik fragte heute genauer nach und ist bisher neben Anja auch der Einzige, der vom Deutschlandlauf weiß. Aber es ist wie es ist und es macht mich glücklich, solche Pläne zu haben und in die Tat umzusetzen. Diese Erlebnisse hallen lange nach.
Was mir nun das Ganze in Bezug auf den Deutschlandlauf bringt, werde ich vielleicht erst in knapp zwei Jahren wissen. Zehn Kilometer sind mit 60 Kilometern nicht zu vergleichen. Aber die Stunde täglichen Laufens musste ich in den Alltag integrieren und nach einem achtstündigen Arbeitstag schaffen. Dort habe ich ja eigentlich nicht mehr zu tun, als jeden Tag schätzungsweise zwischen sieben und zehn Stunden zu laufen ...
Dein S.
Berlin, den 25. November 2019
Lieber B.!
Das Besondere in diesem Monat sollte sein, dass ich zweimal an zwei Tagen nacheinander einen Halbmarathon laufe. Sonntags, acht Tage nach dem Marathon, lief ich den ersten Halbmarathon. Ich war gut drauf, auch schneller als erwartet, aber nach 13 Kilometern hatte ich einen Blackout. Mir wurde schummerig, ja teilweise schwindelig. Ich musste Gehpausen einlegen. Vermutlich lag es an fehlendem Trinken. Ich bin da immer noch zu blauäugig. Morgens zwei Tassen Kaffee und zwei Gläser Wasser, und dann laufe ich halt los. Nach 2:09 Stunden war ich wieder zu Hause und etwas irritiert. Am nächsten Tag startete ich behutsam. Es geschah genau das Gegenteil. Nach 13 Kilometern fühlte ich mich besser, sicherer und konnte noch etwas zulegen, sodass ich mit der exakt gleichen Zeit nach Hause kam.
Leider war ich eine Woche später gar nicht gut drauf und beließ es sonntags bei acht Kilometern. Am Montag startete ich völlig unmotiviert, und als ich nach zwei Kilometern den Puls sah, wusste ich auch, dass etwas nicht stimmt. Ich wurde zwar nicht richtig krank, aber immer wieder hatte ich Hals- und Ohrenschmerzen. Heute nun lief ich das erste Mal wieder nach einer einwöchigen Pause. Aber von einem Halbmarathon bin ich vorerst noch ein bisschen weg. So ist das besondere Vorhaben in diesem Monat also gescheitert. Aber wie wichtig Gesundheit ist und sich vor allem auch gesund zu fühlen, habe ich in diesem Jahr zu oft gespürt.
Dein S.
Berlin, den 3. Dezember 2019
Lieber B.!
Ich weiß nicht, was los ist. Heute stand ich bei der Arbeit gegen Ende der Entladung wie immer auf der Rampe und beaufsichtigte die 30 Arbeiter, die die Pakete von den Lkws auf die Bänder packen. 30.000 Pakete in drei Stunden. Das hört sich nach Akkordarbeit an, ist aber für einen jungen, gesunden Menschen gut zu schaffen. Damit sie aber nicht zu viel Zeit verquatschen und vertrödeln, stehe ich eben da als Schichtleiter. Was keiner merkte, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Immer wieder griff ich nach dem Geländer, das sich zwischen den Bändern befindet. Mir war schwindelig und gleichzeitig überfiel mich so etwas wie ein Tatterich.
Um acht Uhr war endlich die erste Entladewelle geschafft. Bis zur zweiten haben meine Kollegen und ich eine Stunde Zeit, während der ich in der Regel vor dem Computer sitze und den Morgen auswerte. Aber es rauschte in meinen Ohren und die Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm tanzten nur. Ich sagte, dass es mir nicht gut ginge und meldete mich ab.
Ich fuhr direkt zum Arzt bei mir um die Ecke. Bis zu meiner Hausärztin nach Steglitz schaffte ich es nicht, denn 30 Minuten mit dem Auto oder 60 Minuten mit der Bahn waren nicht drin. Hier habe ich einen Arzt, der den gelben Zettel schon in der Hand hielt, während ich noch vom Schwindel und den Ohrenschmerzen erzählte. Gut, dachte ich, Hauptsache eine Woche Ruhe. Ich hoffe, das hilft.
Dein S.
Berlin, den 10. Dezember 2019
Lieber B.!
Zwei Tage nachdem ich mich habe krankschreiben lassen, wollte ich oben bei Rewe auf dem Berg einkaufen gehen. Schon der Weg von 500 Metern forderte mich, aber ich hatte wenigstens Luft. Im Laden war es mit der Luft schlechter. Ich musste mittendrin stehen bleiben. Ich wusste nicht weiter. Ich zitterte am ganzen Leib, hatte einen Schweißausbruch, das Herz raste. Ich hielt mich lange am Einkaufswagen fest. Irgendwann konnte ich weiter.
Tags darauf wollte ich um die Ecke zur 200 Meter entfernt gelegenen Post. Da half es mir nicht, dass ich an der Luft war. Auf der Hälfte des Weges musste ich wieder stehen bleiben. Ich kam nicht weiter, zitterte wieder am ganzen Körper und wackelte wie jemand, der von einem Sturm geschüttelt wird. Aber ich trotzte. Darauf bin ich im Nachhinein stolz. Irgendwann konnte ich weitergehen, stand in der Post, riskierte, dort aus den Latschen zu kippen, aber ich wollte nicht aufgeben. Ich erledigte, was ich erledigen wollte, schwankte nach Hause und lag den Rest des Tages und das Wochenende auf der Couch.
Heute wurde ich noch mal für drei weitere Tage krankgeschrieben und hoffe, dass ich danach und bis Weihnachten wieder fit bin. Nach dem Arztbesuch fuhr ich zu meinen Eltern und habe versucht, dort im Wald in aller Ruhe ein bisschen zu laufen. Aber fünf Kilometer lang war nahezu jeder Schritt von größter Unsicherheit geprägt. Mit Absicht lief ich äußerst gemächlich. Trotzdem schwankte ich von links nach rechts. Der Puls war auch etwas hoch. Ich muss Ruhe finden, aber ich finde sie nicht. Auf dem Krankenschein steht übrigens: Erschöpfungszustand.
Dein S.
Berlin, den 23. Dezember 2019
Lieber B.!
Vorgestern, am Samstag, war um 3.30 Uhr Schichtbeginn. Schon eine Stunde vorher beim Kaffee kochen zu Hause in der Küche hatte ich einen Schweißausbruch. Aber ich musste nur diesen Tag überstehen. Dann, so wusste ich, kann ich mich ausschlafen, denn Weihnachten und fünf freie Tage stehen vor der Tür. Ich schaffte es nicht.