Originalcopyright © 2021 Südpol Verlag, Grevenbroich
Autorin: Maike Siebold
Illustrationen: Kai Schüttler
E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim
ISBN: 978-3-96594-126-7
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Mehr vom Südpol Verlag auf:
www.suedpol-verlag.de
Das Leben beginnt mit dem Tag, an dem man einen Garten anlegt.
Sprichwort
Inhalt
Was macht die Frau im Brummermantel?
Wie kommt der Stick ans Tageslicht?
Was steckt in dem Püppchen?
Was wird Grete sagen?
Wie sieht der Plan aus?
Wo ist der märchenhafte Garten?
Wie wird das Grüne rund?
Was sollen wir bei Regen machen?
Was ist ein Garten ohne frische Luft?
Wo bekommen wir mehr Hände her?
Wie schlau sind Erbsen?
Was wird aus meiner weltklasse Idee?
Wer versteckt sich im Gartenhaus?
Wer gewinnt das Spiel?
Wie kann man unsterblich werden?
Was verbirgt sich in der Villa?
Warum nicht einen Ausflug machen?
Wo ist das Glück hin?
Wie soll ich es ihm sagen?
Was geschieht jetzt mit dem Garten?
Wie sieht die Rettung aus?
Was hat Imad vor?
Wann macht das Pech eine Pause?
Warum läuft es immer anders, als man denkt?
Was stimmt mit unseren Eltern nicht?
Fraglos glücklich
Extra: Bastel dir deinen eigenen Flaschengarten
Was macht die Frau im Brummermantel?
Alfred Brockhaus ist am gleichen Tag gestorben, an dem ich geboren wurde – am 28. April. Das fällt mir jetzt erst auf, obwohl ich oft neben ihm stehe, also neben seinem Grabstein, und warte. Ich muss ständig auf Papa warten und dazu noch an diesem Ort, zu dem andere Eltern ihre Kinder nicht freiwillig bringen würden.
Als ich Grete in der sechsten Stunde gefragt habe, ob sie morgen nach der Schule mit zu mir nach Hause kommt, hat sie wieder mal mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Nicht, wenn du noch vorher einen Abstecher zu deinem Papa machen musst. Du weißt ja, meine Mama findet, ein Friedhof ist kein guter Ort für mich. Sie bringt mich lieber später zu euch nach Hause.“
Ein Schatten löst sich aus meinem rechten Augenwinkel. Eine Frau läuft auf dem Weg hinter der frisch geschnittenen Hecke entlang. Mein Blick bleibt an ihrem schimmernden schwarzgrünen Regenmantel kleben. Seine Farbe und der Glanz erinnern mich an die dicken Schmeißfliegen, von denen es hier im Sommer eindeutig zu viele gibt. Allein ihr Surren kann unglaublich nerven.
„Karline, hier tummeln sich so viele Goldfliegen, weil sie besonders blühende Blumen und faulig riechende Pflanzen lieben. Von beidem gibt es hier mehr als genug“, hat mir neulich noch Frau Breitmoser erklärt. Das muss sie als Friedhofsgärtnerin ja wissen. Trotzdem finde ich sie eklig, auch wenn die dicken Brummer diesen tollen Namen tragen.
Frau Breitmoser setzte noch einen drauf. „Wusstest du, dass man früher in der Medizin die Larven der Goldfliege in Wunden gesetzt hat, da sie die Heilung begünstigen können?“
Angewidert verzog ich das Gesicht. „Nein, das wusste ich nicht“, antwortete ich höflich, während ich gegen die langsam aufsteigende Übelkeit ankämpfte.
„Die Larven haben eine hübsche rosafarbene Färbung. Man nennt sie Pinkies. Wenn ich das nächste Mal welche entdecke, zeige ich sie dir.“
„Nein, nein, vielen Dank. Muss nicht sein“, entgegnete ich schnell.
Ich hoffe, sie hat ihr Angebot inzwischen wieder vergessen.
Mittlerweile ist die Frau im Fliegenregenmantel stehen geblieben. Suchend schaut sie sich um. Ich könnte ihr meine Hilfe anbieten. Kaum jemand kennt sich hier so gut aus wie ich. Während ich überlege, wie ich sie ansprechen soll, dreht sie sich nach rechts und steuert zielstrebig auf etwas zu. Sie scheint gefunden zu haben, wonach sie sucht. Ihre Schritte werden langsamer. Vor dem frischen, noch offenen Grab von heute Mittag bleibt sie stehen. Sie stellt sich gefährlich nah an den Rand.
Ich höre in meinem Kopf Papas mahnende Stimme: Karline, geh von der Kante zurück. So nah an der Grube zu stehen, ist gefährlich. Die frisch ausgehobene Erde kann an dieser Stelle nachgeben und schneller als gewollt, liegt man selbst eine Etage tiefer.
Die Frau scheint das nicht zu wissen. Eine Weile steht sie still da und schaut gedankenverloren hinab. Dann steckt sie ihre Hand in die Tasche ihres Regenmantels und kramt darin herum. Sie schaut nach links und nach rechts, als ob sie sicher sein möchte, dass niemand sie beobachtet, und lässt das, was sie gerade aus ihrer Manteltasche gefischt hat, in das offene Grab fallen.
Danach verneigt sie sich vor dem Erdloch. Wieder geht mir Papas Warnung durch den Kopf.
Karline, beuge dich nicht so weit vor. Du wärst nicht die Erste, die das Gleichgewicht verliert und auf das Holz knallt.
Doch im nächsten Augenblick strafft die geheimnisvolle Besucherin ihre Schultern, dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet mit schnellen Schritten durch das gusseiserne Tor mit dem verschlungenen Alpha- und Omega-Zeichen1.
Kaninchen auf dem alten Friedhof zu beobachten, ist ja ganz nett, aber irgendwann auch langweilig. Was die Frau im Fliegenmantel heimlich in die Grube geworfen hat, ist entschieden spannender.
Natürlich geht es mich nichts an, aber Nachschauen ist nicht verboten. Ich warte noch zwei oder drei Minuten, um sicher zu sein, dass die seltsame Besucherin nicht wiederkommt. Dann verlasse ich meinen Beobachtungsposten und laufe die Grabreihe entlang, bis ich auf Höhe des rechteckigen Erdlochs bin. Dort zwänge ich mich zwischen zwei Grabstätten hindurch. Gut, dass mich niemand sieht. Man soll nicht über Gräber laufen.
Karline, bitte bleib auf den Wegen, sonst störst du die Toten. Das ist auch so ein Spruch von Papa, den ich nicht nur einmal gehört habe. Doch diesen Ratschlag verstehe ich nicht. Wie soll man Tote noch stören?
Am offenen Grab angekommen suche ich mit den Augen das Erdloch ab. Unten erkenne ich einige weiße Rosenblüten, die schon aufgeweicht sind, seltsame Stäbchen und eine dünne Holztafel mit schwarzen Schriftzeichen. Aber das, was die Frau ins Grab geworfen hat, war eindeutig kleiner.
Meine Augen wandern zum zweiten Mal über den glänzenden schwarzen Holzsarg. Am Kopfende liegt eine kleine Figur, nicht viel größer als eine Kaugummipackung. Sie sieht aus wie eine Minipuppe.
„Hey Karline, was geht ab?“ Luca, der Sohn der Friedhofsgärtnerin, steht auf einmal wie hingezaubert neben mir.
Ich kann meine Augen noch immer nicht von dem kleinen Gegenstand lösen.
„Was gibt’s da unten bei Victor Windeck zu sehen?“, fragt Luca neugierig.
„Da liegt etwas im Grab. Ich glaube, es ist eine kleine Puppe.“ Mit ausgestrecktem Arm zeige ich auf meine Entdeckung.
„Da liegt so einiges“, bestätigt Luca. „Jürgen kümmert sich gleich drum, wenn er das Grab zumacht. Da unten darf schließlich nichts liegen bleiben, was dem Grundwasser schadet.“
„Und was schadet dem Grundwasser?“, erkundige ich mich höflich, obwohl ich ihn ganz schön besserwisserisch finde.
„Also, auf jeden Fall sind Fahrradhelme, Batterien und Handys nicht gut.“
„Holztafeln können drinbleiben?“, frage ich und deute auf das Holz mit den schwarzen Schriftzeichen.
Hinter uns ist ein leises Rumpeln zu hören.
Luca schaut sich um. „Das werden wir gleich erfahren.“
Wie kommt der Stick ans Tageslicht?
Am Ende des Weges taucht ein Mann auf einem gelben Minibagger auf. Soweit ich es aus der Entfernung erkennen kann, ist es ein Mitarbeiter aus der Friedhofsgärtnerei von Lucas Mutter.
Während sich der kleine Bagger langsam nähert, fragt mich Luca: „Warum wartest du eigentlich nicht in der Trauerhalle auf deinen Vater? Da kannst du mit den Sargträgern quatschen. Die sind doch meistens lustig drauf.“
„Darf ich nicht mehr. Vor zwei Wochen hat mir einer der Männer ein kleines Gläschen zu trinken angeboten. Ich wusste nicht, was es war, und habe es probiert.“
„Lass mich raten – es war Schnaps?“
„Jap. Hat schrecklich geschmeckt, das Zeug. Das brennt im Hals und man muss gleichzeitig husten und würgen. Das hat sogar Papa gehört. Er kam angerannt und hat ganz schön rumgebrüllt und die Männer gefragt, ob sie noch ganz bei Trost sind, einer 11-Jährigen Schnaps zu geben.“
Luca nickt. „Echt krass.“
„Hinterher hat es ihnen, glaube ich, leidgetan. Vor allem dem alten Herrn Gartmann. Tja, seitdem meint Papa, die Männer wären nicht der richtige Umgang für mich und ich soll lieber draußen warten.“
„Aber draußen ist es kalt und windig und du kannst noch nicht mal deine Hausaufgaben machen, sondern einfach nur blöd rumstehen und warten“, wendet Luca ein.
„Papa meint, die frische Luft nach der Schule wäre gesund und außerdem wäre es gut, einfach mal nichts zu tun und sich in Geduld zu üben. Eine Fähigkeit, die ich angeblich noch mein ganzes Leben gebrauchen könnte.“
„Geduld ist was für Anfänger. Ich flippe lieber gleich aus.“
Ich muss lachen. Luca ist nett, nur ab und zu macht er auf cool. Das nervt. Dann erzählt er mir von einem Totenkopf-Tattoo, das er sich stechen lassen will oder davon, dass er raucht. Papa meint, Luca sei ein feiner Kerl, er würde nur die falschen Freunde haben. Oft riecht er seltsam. Nach feuchter Erde und irgendetwas anderem, von dem ich nicht weiß, was es ist. Trotzdem freue ich mich immer, wenn ich ihn treffe. Nach der Schule muss er oft seiner Mutter in der Gärtnerei oder auf dem Friedhof helfen. Wenn er Unkraut jätet oder Blumen gießt, helfe ich ihm manchmal.
Gerade als ich ihn fragen will, was er heute noch tun muss, hält Jürgen mit seinem Bagger neben uns.
„So, Kinder, jetzt geht mal ein Stück zur Seite. Es gibt auch Leute, die arbeiten müssen“, knurrt er mürrisch.
Luca und ich springen wie auf Kommando einen Schritt zurück.
„Warte, Jürgen! Guck mal, da unten liegt noch einiges drin“, ruft Luca.
Grummelnd schiebt sich der Mann vom Sitz herunter und lässt seinen Blick einmal über die Grube wandern.
„Die Leute werden immer verrückter. Was soll das ganze Zeug da bloß?“ Kopfschüttelnd geht er zurück zu seinem Bagger, hievt sich wieder auf den Sitz und startet die Maschine. Sanft fährt er mit der Schaufel über das Holz und schiebt die schwarzen Täfelchen, die Blumen und die kleine Figur bis an den Rand.
„Karline“, schallt die Stimme meines Vaters plötzlich über den Friedhof, „wo bist du? Wir können fahren!“
„Schade, ich muss los. Tschüss, Luca.“
Doch der hört mir gar nicht richtig zu, sondern beobachtet gebannt den Bagger bei der Arbeit.
Ich laufe zu Papa, der neben dem Beerdigungswagen am Ausgang wartet.
„Tut mir leid, heute hat es etwas länger gedauert“, entschuldigt er sich, während er seine braune Aktentasche und meinen Rucksack hinten im Auto verstaut.
Als wir langsam vom Hof rollen, klopft jemand an mein Seitenfenster. Es ist Luca. Papa stoppt den Wagen und ich lasse die Scheibe herunter. Offensichtlich ist Luca gerannt, denn er ist noch ganz außer Atem und ziemlich rot im Gesicht.
„Was gibt’s?“, frage ich gespannt.
Wortlos drückt er mir etwas in die Hand und grinst verschmitzt. Dann dreht er sich auf dem Absatz wieder um und läuft zurück auf den Friedhof.
„Was war das jetzt?“, fragt Papa neugierig.
„Weiß ich auch nicht.“ Verstohlen schaue ich in meine Hand. Luca hat mir tatsächlich die kleine Puppe aus dem Grab gebracht. Obwohl ich mich freue, fühle mich nicht ganz wohl bei der Sache.
Papa bohrt weiter. „Was hat er dir denn gegeben?“
Ich öffne die Hand und tue so, als ob ich die Figur zum ersten Mal sähe. „Eine kleine Puppe. Er dachte vielleicht, dass ich sie verloren hätte.“
„Soll ich Luca die Figur morgen zurückgeben und ihm ausrichten, dass es nicht deine ist?“
„Nein, Papa, muss du nicht. Mache ich selber, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“
Luca hat es bestimmt nett gemeint, denke ich, als wir weiterfahren. Aber bei nächster Gelegenheit bringe ich das Püppchen einfach zum Grab zurück.