Sophie Kinsella
Kein Kuss
unter dieser
Nummer
Roman
Aus dem Englischen von
Jörn Ingwersen
Buch
Poppy Wyatt schwebt im siebten Himmel, schließlich steht sie kurz vor der Hochzeit mit ihrem Traummann. Unglücklicherweise verliert sie ihren äußerst wertvollen Verlobungsring, dann wird ihr auch noch das Handy gestohlen. Als Poppy ein weggeworfenes Smartphone findet, behält sie es kurzerhand, um die Suchaktion für ihren Ring organisieren zu können. Dummerweise gehört das Handy dem Geschäftsmann Sam Roxton, dessen Leben bald kopfsteht. Denn Poppy kann dem Impuls nicht widerstehen, in Sams Nachrichten zu stöbern und dabei auch gleich ein paar Kleinigkeiten für ihn zu regeln – mit den besten Absichten, aber chaotischen Folgen. Gleichzeitig laufen Poppys Hochzeitsvorbereitungen aus dem Ruder, und ihr Privatleben gerät in die Krise. Bald ist klar: Sam und Poppy sind aufeinander angewiesen, wenn sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen wollen …
Autorin
Sophie Kinsella ist Schriftstellerin und ehemalige Wirtschaftsjournalistin. Ihre Schnäppchenjägerin-Romane um die liebenswerte Chaotin Rebecca Bloomwood werden von einem Millionenpublikum verschlungen. Die Verfilmung ihres Bestsellers »Shopaholic – Die Schnäppchenjägerin« wurde zum internationalen Kinohit. Sophie Kinsella eroberte die Bestsellerlisten aber auch mit Romanen wie »Göttin in Gummistiefeln«, »Kennen wir uns nicht?«, »Frag nicht nach Sonnenschein« oder mit ihren unter dem Namen Madeleine Wickham verfassten Romanen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.
Die Romane mit Schnäppchenjägerin Rebecca Bloomwood
in chronologischer Reihenfolge:
Die Schnäppchenjägerin · Fast geschenkt · Hochzeit zu verschenken · Vom Umtausch ausgeschlossen · Prada, Pumps und Babypuder · Mini Shopaholic · Shopaholic in Hollywood · Shopaholic und Family
Außerdem lieferbar:
Sag’s nicht weiter, Liebling · Göttin in Gummistiefeln · Kennen wir uns nicht? · Charleston Girl · Frag nicht nach Sonnenschein · Das Hochzeitsversprechen · Schau mir in die Augen, Audrey
Sophie Kinsella schreibt als Madeleine Wickham:
Die Heiratsschwindlerin · Reizende Gäste · Cocktail für drei
Für Rex
Anmerkung
Hallo!
Danke, dass Sie meinen Roman heruntergeladen haben. Ich hoffe, Sie lesen ihn auf einem wunderschönen, glänzenden Gerät. Bevor Sie anfangen, wollte ich Sie darauf hinweisen, dass »Kein Kuss unter dieser Nummer« Fußnoten enthält. Aber keine Angst, ich habe keine wissenschaftliche Abhandlung verfasst!
Die Fußnoten sind in diese E-Book-Ausgabe clever integriert:
Wenn Sie über eine kleine Ziffer stolpern, bitte darauf tippen oder sie anklicken und Sie kommen direkt zum Text der Fußnote.
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Ich hoffe, das Buch gefällt Ihnen!
Love,
Sophie x
EINS
Es ist alles eine Frage der Perspektive. Ich muss es nur aus der richtigen Perspektive betrachten. Es ist kein Erdbeben, kein Amokläufer und auch kein Atomunglück. Auf der Katastrophenskala steht es nicht sehr weit oben. Nicht sehr weit jedenfalls. Eines Tages werde ich mich bestimmt an diesen Augenblick erinnern und lachen und denken: »Wie dumm ich war, mich deswegen so verrückt zu machen …«
Vergiss es, Poppy. Netter Versuch. Ich lache nicht … mir ist speiübel. Blindlings laufe ich durch den Ballsaal des Hotels, mit hämmerndem Herzen, und suche erfolglos das blaue Teppichmuster ab. Ich schaue hinter vergoldeten Stühlen nach, unter weggeworfenen Servietten, an Stellen, wo er unmöglich sein kann.
Ich habe ihn verloren. Das Einzige auf der ganzen Welt, das ich nicht verlieren durfte: meinen Verlobungsring.
Dieser Ring ist gelinde gesagt etwas ganz Besonderes. Seit drei Generationen befindet er sich im Besitz von Magnus’ Familie. Es ist ein atemberaubender Smaragd mit zwei Diamanten, und Magnus musste ihn aus einem speziellen Banktresor holen, bevor er mir seinen Heiratsantrag machte. Drei ganze Monate habe ich ihn problemlos getragen. Nachts habe ich ihn abgelegt und auf einen speziell dafür vorgesehenen Porzellanteller gelegt, und wenn ich ihn tagsüber trug, habe ich alle dreißig Sekunden nach ihm getastet. Aber heute, an dem Tag, an dem seine Eltern aus den Staaten wiederkommen, habe ich den Ring verloren. Ausgerechnet.
Die Professoren Antony Tavish und Wanda Brook-Tavish sitzen in diesem Moment im Flugzeug, auf dem Rückweg von einem Forschungssemester in Chicago. Ich sehe sie direkt vor mir, wie sie gesalzene Erdnüsse knabbern und wissenschaftliche Zeitschriften auf ihren Kindles lesen. Ich weiß ehrlich nicht, wer von beiden mir mehr Angst macht.
Er. Er ist so sarkastisch.
Nein, sie. Mit ihren krausen Haaren. Und dauernd fragt sie einen, wie man über den Feminismus denkt.
Okay, sie sind beide ziemlich furchteinflößend. Und sie landen in etwa einer Stunde, und natürlich werden sie den Ring sehen wollen.
Nicht hyperventilieren, Poppy! Bleib positiv! Ich muss das Ganze nur aus einer anderen Perspektive betrachten. Zum Beispiel … was würde Poirot tun? Poirot würde nicht panisch mit den Armen rudern. Er würde die Ruhe bewahren und seine kleinen grauen Zellen benutzen, um sich an ein winziges Detail zu erinnern, das dann den entscheidenden Hinweis gibt.
Ich kneife die Augen zu. Kommt schon, kleine graue Zellen! Strengt euch mal ein bisschen an!
Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Poirot drei Gläser rosa Champagner und einen Mojito intus hatte, als er den Mord im Orient-Express löste.
»Miss?« Eine grauhaarige Putzfrau versucht, mich mit einem Staubsauger zu umschiffen. Erschrocken stöhne ich auf. Sie saugen schon den Ballsaal? Was ist, wenn sie den Ring mit aufsaugen?
»Entschuldigen Sie …« Ich tippe an ihre blaue Kittelschulter. »Könnten Sie mir nicht noch fünf Minuten Zeit geben, bevor Sie den Staubsauger anwerfen?«
»Suchen Sie immer noch Ihren Ring?« Skeptisch schüttelt sie den Kopf, dann lächelt sie. »Bestimmt finden Sie ihn zu Hause wieder. Wahrscheinlich liegt er schon die ganze Zeit da.«
»Vielleicht.« Ich zwinge mich, höflich zu nicken, obwohl ich viel lieber schreien würde: »So blöd bin ich nicht!«
Auf der anderen Seite des Ballsaals sehe ich eine weitere Putzfrau, die Krümel und zerknüllte Servietten in einen schwarzen Müllbeutel schüttelt. Sie passt überhaupt nicht auf. Hat sie mir denn nicht zugehört?
»Verzeihung!«, kreischt meine Stimme, als ich zu ihr hinübersprinte. »Sie suchen doch hoffentlich immer noch nach meinem Ring, oder?«
»Bis jetzt ist er nicht aufgetaucht.« Ohne die Reste eines Blickes zu würdigen, wischt die Frau sie vom Tisch, direkt in den Müllbeutel.
»Moment!« Ich greife nach den Servietten und hole sie wieder heraus, taste jede einzelne nach einem harten Klumpen ab, auch wenn ich mir dabei die Hände mit Buttercreme vollschmiere.
»Junge Frau, ich versuche hier aufzuräumen.« Sie reißt mir die Servietten aus der Hand. »Sehen Sie mal, was Sie hier für eine Sauerei veranstalten!«
»Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid.« Ich sammle die Cupcake-Papierförmchen auf, die mir heruntergefallen sind. »Aber Sie verstehen nicht. Wenn ich diesen Ring nicht wiederfinde, kann ich mir gleich die Kugel geben.«
Am liebsten würde ich mir die Mülltüte schnappen und den Inhalt per Pinzette einer forensischen Prüfung unterziehen. Am liebsten würde ich den ganzen Raum mit einem Plastikband einzäunen und zum Tatort erklären. Er muss hier sein, er muss es einfach!
Es sei denn, jemand hätte ihn an sich genommen. Das ist die einzige Möglichkeit, an die ich mich noch klammern kann. Eine meiner Freundinnen trägt ihn, ohne es zu merken. Vielleicht ist er in eine Handtasche gerutscht … vielleicht ist er in eine Jackentasche gefallen … er hängt an einem Pulloverfaden fest … Die diversen Möglichkeiten, die mir einfallen, werden immer unwahrscheinlicher, aber ich darf die Hoffnung nicht aufgeben.
»Haben Sie es schon in der Damentoilette probiert?« Die Frau schwenkt aus, um an mir vorbeizukommen.
Selbstverständlich habe ich es in der Toilette probiert. Auf allen vieren habe ich jede einzelne Kabine abgesucht. Und dann sämtliche Waschbecken. Zweimal. Danach habe ich versucht, den Mann am Empfang zu überreden, dass er die Toiletten verriegelt und die Abflussrohre untersuchen lässt, aber er hat sich geweigert. Er meinte, es wäre etwas anderes, wenn ich genau wüsste, dass ich ihn dort verloren habe, und war überzeugt davon, dass sicher auch die Polizei seiner Meinung wäre, und ob ich wohl so nett sein könnte beiseitezutreten, weil hinter mir noch andere Leute warteten.
Polizei. Pah. Ich hatte gedacht, sobald ich anrief, kämen die mit ihren Streifenwagen angeheult, aber die haben mir am Telefon nur mitgeteilt, dass ich aufs Revier kommen und Anzeige erstatten soll. Ich habe keine Zeit für den ganzen Papierkram! Ich muss meinen Ring finden!
Eilig gehe ich noch einmal zu dem runden Tisch, an dem wir heute Nachmittag gesessen haben, und krieche darunter, taste zum wiederholten Mal den Teppich ab. Wie konnte ich das geschehen lassen? Wie konnte ich so dumm sein?
Meine alte Schulfreundin Natasha hatte die Idee, Karten für den »Marie Curie Champagne Tea« zu besorgen. Sie konnte nicht an dem Wellness-Wochenende zu meinem offiziellen Junggesellinnenabschied teilnehmen, also war das eine Art Ersatz. Insgesamt saßen wir zu acht am Tisch, kippten fröhlich Schampus und stopften Cupcakes in uns hinein, und kurz bevor die Tombola begann, sagte jemand: »Komm schon, Poppy, lass mich mal deinen Ring probieren!«
Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wer es war. Annalise vielleicht? Annalise war mit mir auf der Fachhochschule, und jetzt arbeiten wir beide bei First Fit Physio, gemeinsam mit Ruby, die auch zu unserem Jahrgang gehörte. Ruby war heute ebenfalls da, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie den Ring anprobiert hat. Oder doch?
Ich kann gar nicht fassen, wie unfähig ich bin. Wie kann ich hier den Poirot mimen, wenn ich mich nicht mal an die grundlegendsten Dinge erinnere? Tatsächlich scheint es mir, als hätten alle den Ring anprobiert: Natasha und Clare und Emily (alte Schulfreundinnen aus Taunton) und Lucinda (meine Hochzeitsplanerin, mit der ich mich ein bisschen angefreundet habe) und ihre Assistentin Clemency und Ruby und Annalise (nicht nur Kommilitoninnen und Kolleginnen, sondern meine beiden besten Freundinnen. Sie werden auch meine Brautjungfern sein).
Ich gebe es zu. Ich habe mich in der allgemeinen Bewunderung gesonnt. Ich kann auch jetzt noch nicht fassen, dass etwas derart Erhabenes und Schönes mir gehören soll. Ehrlich gesagt kann ich das Ganze sowieso nicht glauben. Ich bin verlobt! Ich, Poppy Wyatt. Mit einem großen, gutaussehenden Universitätsdozenten, der ein Buch geschrieben hat und sogar schon mal im Fernsehen war. Noch vor einem halben Jahr glich mein Liebesleben einer Trümmerlandschaft. Ein Jahr lang war nichts Entscheidendes passiert, und widerstrebend kam ich zu dem Entschluss, diesem match.com-Typen mit dem Mundgeruch noch eine zweite Chance zu geben … und jetzt sind es nur noch zehn Tage bis zu meiner Hochzeit! Jeden Morgen wache ich auf und sehe Magnus’ weichen, von Sommersprossen übersäten Rücken und denke: »Mein Verlobter, Dr. Magnus Tavish, Dozent am Londoner King’s College1« – und kann es kaum glauben. Doch dann drehe ich mich um und sehe mir den Ring an, der dort teuer glitzernd auf meinem Nachtisch liegt – und kann es schon wieder nicht glauben.
Was wird Magnus wohl dazu sagen?
Mein Magen krampft sich zusammen, und ich muss schlucken. Nein, denk nicht dran! Kommt schon, kleine graue Zellen! Gebt alles!
Ich erinnere mich, dass Clare den Ring lange trug. Sie wollte ihn gar nicht wieder abnehmen. Dann fing Natasha an, daran herumzuzerren, und sagte: »Ich bin dran, ich bin dran!« Und ich weiß noch, dass ich sie gewarnt habe: »Vorsichtig!«
Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich verantwortungslos gehandelt. Ich hatte den Ring die ganze Zeit im Blick, als er am Tisch herumgereicht wurde.
Aber danach war ich abgelenkt, denn die Tombola fing an, und die Preise waren einfach fantastisch. Eine Woche in einer italienischen Villa, ein Haarschnitt in einem Top-Salon, ein Gutschein für Harvey Nichols … Überall im Ballsaal zückten die Leute ihre Eintrittskarten, von der Bühne her wurden Zahlen gerufen, und Frauen sprangen auf und riefen: »Ich!«
Und genau das war der Moment, in dem mir ein Fehler unterlief. Das war der Moment, den ich so schmerzlich gern rückgängig machen möchte. Könnte ich durch die Zeit reisen, wäre das der Moment, in dem ich auf mich selbst zugehen und feierlich sagen würde: »Poppy, du musst Prioritäten setzen!«
Aber man kriegt davon gar nichts mit, oder? Der Moment ist da, einem unterläuft dieser entscheidende Fehler, und schon ist der Moment vorbei. Man hat gar keine Chance mehr, etwas zu unternehmen.
Es lag daran, dass Clare bei der Tombola Tickets für Wimbledon gewann. Ich habe Clare von Herzen lieb, aber sie war schon immer etwas zaghaft. Sie stand nicht auf und rief laut: »Ich! Hier drüben!« Sie hob ihre Hand nur ein klitzekleines Stückchen. Nicht mal wir an ihrem Tisch merkten, dass sie gewonnen hatte.
Dass Clare ihr Los hochhielt, sah ich erst, als der Moderator auf der Bühne schon sagte: »Wenn es keine Gewinnerin gibt, ziehen wir ein neues Los …«
»Melde dich!« Ich pikste Clare und winkte wie wild. »Hier! Die Gewinnerin ist hier drüben!«
»Und die neue Nummer lautet … 4-4-0-3.«
Ungläubig musste ich mit ansehen, wie drüben auf der anderen Seite des Raumes ein dunkelhaariges Mädchen jubelte und sein Los schwenkte.
»Die hat nicht gewonnen!«, rief ich entrüstet. »Du hast gewonnen.«
»Ist doch egal.« Clare lehnte sich zurück.
»Das ist überhaupt nicht egal!«, rief ich, bevor ich mich bremsen konnte, und alle am Tisch fingen an zu lachen.
»Gib’s ihnen, Poppy!«, rief Natasha. »Gib’s ihnen, Weiße Ritterin! Sag es, wie es ist!«
»Hau rein, Ritterlein!«
Das ist ein sehr alter Scherz. Nur weil ich einmal an der Schule eine Petition zur Rettung der Hamster eingereicht hatte, fingen damals alle an, mich »Weiße Ritterin« zu rufen. Oder kurz Ritterlein. Mein Wahlspruch ist angeblich: »Selbstverständlich ist es wichtig!«2
Egal. Jedenfalls stand ich innerhalb von zwei Minuten oben auf der Bühne, neben dem dunkelhaarigen Mädchen, und stritt mit dem Moderator darum, ob das Los meiner Freundin mehr zählte als ihres.
Inzwischen weiß ich, dass ich den Tisch nie hätte verlassen sollen. Ich hätte den Ring nicht aus den Augen lassen dürfen, nicht mal eine Sekunde. Ich sehe ein, wie dumm es war. Allerdings wusste ich ja auch nicht, dass es einen Feueralarm geben würde, oder?
Ich dachte, ich träume. Eben sitzen noch alle nett beim Champagner. Dann plötzlich heult eine Sirene, und es herrscht allgemeines Chaos, weil alle aufspringen und zu den Ausgängen rennen. Ich konnte sehen, wie Annalise, Ruby und alle anderen ihre Taschen nahmen und sich auf den Weg machten. Ein Mann im Anzug kam auf die Bühne, fing an, mich, das dunkelhaarige Mädchen und den Moderator zu einer Seitentür zu manövrieren, und wollte uns nicht in die andere Richtung von der Bühne lassen. »Ihre Sicherheit ist uns das Wichtigste«, sagte er immer wieder.3
Selbst da war es nicht so, als hätte ich mir Sorgen gemacht. Ich dachte ja nicht, dass der Ring weg wäre. Ich nahm an, eine meiner Freundinnen hätte ihn an sich genommen, und ich würde die anderen draußen treffen und ihn dort zurückbekommen.
Draußen jedoch herrschte absolutes Chaos. Neben unserer Veranstaltung fand im Hotel eine große Konferenz von Geschäftsleuten statt, und die zahllosen Teilnehmer strömten aus allen Türen auf die Straße. Das Hotelpersonal versuchte, mit Flüstertüten Anweisungen zu geben, und Autos hupten, und ich brauchte eine Ewigkeit, um Natasha und Clare in dem Tohuwabohu ausfindig zu machen.
»Habt ihr meinen Ring?«, wollte ich sofort wissen und gab mir alle Mühe, nicht vorwurfsvoll zu klingen. »Wer hat ihn?«
Beide sahen mich mit leerer Miene an.
»Keine Ahnung.« Natasha zuckte mit den Achseln. »Hatte Annalise ihn nicht?«
Also stürzte ich mich wieder in die Menge, um Annalise zu suchen, aber die hatte ihn auch nicht. Sie meinte, Clare hätte ihn. Aber Clare meinte, Clemency hätte ihn. Aber Clemency sagte, vielleicht hätte Ruby ihn, aber war die nicht schon gegangen?
Das Problem mit der Panik ist, dass sie sich anschleicht. Im einen Moment ist man noch ganz ruhig, sagt sich: »Mach dich nicht lächerlich. Der Ring kann doch nicht weg sein.« Im nächsten sagen die Leute von Marie Curie, die Veranstaltung werde aufgrund unvorhergesehener Umstände abgebrochen, und verteilen Präsenttütchen. Und alle deine Freundinnen sind verschwunden, um noch ihre U-Bahn zu kriegen. Und dein Finger ist immer noch nackt. Und eine Stimme in deinem Kopf kreischt: »O mein Gott! Ich wusste, dass es passieren würde! Man hätte mir einfach kein wertvolles Erbstück anvertrauen dürfen! Das war ein Fehler! Ein Riesenfehler!«
Und so findet man sich eine Stunde später unter einem Tisch wieder, tastet einen versifften Hotelteppich ab und betet verzweifelt um ein Wunder. (Selbst wenn der Vater deines Verlobten einen ganzen Bestseller darüber geschrieben hat, dass es keine Wunder gibt und schon der Ausspruch »O mein Gott« als Anzeichen für Geistesschwäche gelten kann.)4
Plötzlich merke ich, dass mein Handy blinkt, und ich nehme es mit zitternden Fingern. Drei Nachrichten sind gekommen, und voller Hoffnung sehe ich sie mir an.
Schon gefunden? Annalise xx
Tut mir leid, Süße, hab ihn nicht gesehen. Keine Sorge, von mir erfährt Magnus nichts. N xxx
Hi, Pops, wie schrecklich, so einen Ring zu verlieren! Eigentlich dachte ich, ich hätte ihn gesehen … (Eingehende Nachricht)
Erschüttert starre ich mein Handy an. Clare hat ihn gesehen? Wo?
Ich krieche unter dem Tisch hervor und wedele mit meinem Handy herum, doch der Rest der SMS weigert sich standhaft durchzukommen. Der Empfang hier drinnen ist das Letzte. Wie können die sich hier als Fünfsternehotel bezeichnen? Ich muss extra vor die Tür gehen.
»Hi!« Ich trete an die grauhaarige Putzfrau heran und schreie gegen den Lärm des Staubsaugers an: »Ich gehe mal eben raus, um eine SMS zu lesen. Aber falls Sie den Ring finden, rufen Sie mich an! Ich habe Ihnen meine Handynummer ja gegeben, ich geh nur kurz mal eben vor die Tür …«
»Das ist bestimmt eine gute Idee«, sagt die Putzfrau geduldig.
Ich haste durch die Lobby, umrunde Pulks von Konferenzteilnehmern und bremse etwas ab, als ich am Empfang vorbeikomme.
»Irgendeine Spur von …?«
»Hier ist noch nichts abgegeben worden, Madam.«
Die Luft draußen ist mild mit einem Hauch von Sommer, obwohl wir erst Mitte April haben. Ich hoffe, dass das Wetter in zehn Tagen auch noch so gut ist, denn ich werde ein rückenfreies Hochzeitskleid tragen und baue darauf, dass die Sonne scheint.
Die Stufen draußen vor dem Hotel sind breit und flach, und ich laufe auf und ab, schwenke mein Handy hin und her, versuche erfolglos, ein Netz zu finden. Schließlich gehe ich hinunter bis auf den Bürgersteig, wedele noch wilder mit meinem Handy herum, halte es über meinen Kopf, dann beuge ich mich auf die Straße hinaus, halte mein Telefon mit den Fingerspitzen.
Komm schon, Handy, sage ich im Stillen. Du schaffst das! Tu es für Poppy! Such die Nachricht! Irgendwo muss hier ein Netz sein … du schaffst das …
»Aaaaah!« Ich höre meinen eigenen Schreckensschrei, bevor ich überhaupt merke, was passiert ist. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner Schulter. Meine Finger tun weh. Eine Gestalt auf einem Fahrrad hält eilig auf das Ende der Straße zu. Ich sehe nur noch einen alten grauen Kapuzenpulli und enge schwarze Jeans, als das Rad um die Ecke biegt.
Meine Hand ist leer.
»Was zum Teufel …?«
Ungläubig starre ich meine Handfläche an. Der Typ hat mir mein Handy weggenommen.
Mein Handy ist mein Leben. Ohne komme ich nicht zurecht. Es ist ein lebenswichtiges Organ.
»Madam, ist alles in Ordnung?« Eilig kommt der Portier die Treppe heruntergelaufen. »Ist was passiert? Hat er Sie verletzt?«
»Ich … ich bin überfallen worden«, bringe ich stotternd hervor. »Man hat mir mein Handy gestohlen.«
Der Portier schnalzt mitfühlend mit der Zunge. »Windhunde sind das. In dieser Gegend muss man unheimlich aufpassen …«
Ich höre nicht zu. Ich zittere am ganzen Leib. Noch nie habe ich mich so verloren gefühlt. Was mache ich ohne mein Handy? Wie soll ich funktionieren? Unwillkürlich greift meine Hand in die Tasche, in der ich es normalerweise aufbewahre. Instinktiv möchte ich jemandem simsen: »O mein Gott, ich habe mein Handy verloren!«, aber wie kann ich das ohne ein gottverfluchtes Telefon?
Mein Handy ist mein Zuhause. Mein Freundeskreis. Meine Familie. Meine Arbeit. Meine Welt. Es ist einfach alles. Ich fühle mich, als hätte man meine Herz-Lungen-Maschine abgeschaltet.
»Soll ich die Polizei rufen, Madam?« Besorgt sieht mich der Portier an.
Ich bin zu abgelenkt, um antworten zu können. Plötzlich kommt mir eine schreckliche Erkenntnis. Der Ring. Ich habe allen meine Handynummer gegeben: den Putzfrauen, den Toilettenfrauen, den Leuten von Marie Curie, allen. Was ist, wenn jemand den Ring findet? Was ist, wenn jemand ihn hat und genau in diesem Moment versucht, mich anzurufen, aber keiner rangeht, weil der Kapuzenmann längst meine SIM-Karte rausgenommen und in den Fluss geworfen hat?
O Gott.5 Ich muss mit dem Concierge sprechen. Ich muss ihm meine Festnetznummer geben.
Nein. Keine gute Idee. Wenn sie eine Nachricht hinterlassen, könnte Magnus davon erfahren.6
Okay, also … also … gebe ich meine Nummer bei der Arbeit raus. Ja.
Nur dass heute Abend niemand in der Praxis ist. Und ich kann da nicht stundenlang rumsitzen, für alle Fälle.
Langsam gerate ich ernstlich in Panik. Langsam wird mir das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst.
Zu meinem weiteren Unglück ist der Concierge beschäftigt, als ich in die Lobby renne. Sein Tresen ist von Konferenzteilnehmern umringt, es geht offensichtlich um Tischreservierungen. Ich versuche, seinen Blick aufzufangen, hoffe, er winkt mich vor, weil mein Fall Priorität genießt, doch er gibt sich alle Mühe, mich zu ignorieren, was mich doch leicht verletzt. Ich weiß, ich habe ihn heute Nachmittag lange mit Beschlag belegt – aber merkt er denn nicht, in welch himmelschreiender Not ich mich befinde?
»Madam.« Der Portier ist mir in die Lobby gefolgt und runzelt vor Sorge die Stirn. »Können wir Ihnen etwas gegen den Schock geben? Arnold!« Barsch ruft er einen Kellner herüber. »Einen Brandy für die Dame, bitte, aufs Haus. Und wenn Sie mit unserem Concierge sprechen, wird er Ihnen gleich helfen, was die Polizei angeht. Möchten Sie sich vielleicht setzen?«
»Nein, danke.« Plötzlich kommt mir ein Gedanke. »Vielleicht sollte ich mein Handy anrufen! Den Dieb anrufen! Ich könnte ihn bitten zurückzukommen, ihm eine Belohnung anbieten … Was meinen Sie? Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?«
Der Portier schreckt ein wenig zurück, als ich meine Hand ausstrecke.
»Madam, ich glaube, das wäre doch ausgesprochen unklug«, sagt er ernst. »Sicher würde mir die Polizei zustimmen, dass Sie dergleichen keineswegs tun sollten. Vermutlich stehen Sie unter Schock. Nehmen Sie doch bitte Platz und versuchen Sie, sich zu entspannen.«
Hm. Vielleicht hat er recht. Ich bin nicht scharf auf ein Stelldichein mit einem kriminellen Kapuzenträger. Aber ich kann mich auch nicht hinsetzen und entspannen. Dafür bin ich viel zu überdreht. Um meine Nerven zu beruhigen, fange ich an herumzulaufen, lasse meine Absätze auf dem Marmorboden knallen. Vorbei an einem mächtigen Gummibaum … vorbei am Tisch mit den Zeitungen … vorbei an einem großen glänzenden Abfalleimer … zurück zum Gummibaum. Es ist ein tröstlicher kleiner Rundkurs, und die ganze Zeit über behalte ich den Concierge im Auge und warte darauf, dass er frei wird.
In der Lobby drängen sich nach wie vor die Konferenzteilnehmer. Durch die Glastüren kann ich den Portier draußen auf der Treppe stehen sehen, wo er Taxis heranwinkt und Trinkgeld einsteckt. Ein untersetzter Japaner im blauen Anzug steht in meiner Nähe, zusammen mit einigen europäisch wirkenden Geschäftsleuten, und schimpft lauthals etwas, das wie wütendes Japanisch klingt. Dabei gestikuliert er wild mit seinem Konferenzausweis herum, den er an einem roten Band um den Hals trägt. Er ist so klein, und die anderen Männer wirken dermaßen nervös, dass ich fast lächeln möchte.
Der Brandy kommt auf einem Tablett, und ich bleibe kurz stehen, um ihn in einem Zug auszutrinken, dann laufe ich weiter, folge meinem eintönigen Parcours.
Gummibaum … Zeitungstisch … Abfalleimer … Gummibaum … Zeitungstisch … Abfalleimer …
Nachdem ich mich nun etwas beruhigt habe, brodeln in mir Mordgelüste. Ist sich dieser Kapuzentyp darüber im Klaren, dass er mein Leben zerstört hat? Ist er sich darüber im Klaren, wie wichtig ein Handy ist? Es ist das Schlimmste, was man einem Menschen klauen kann. Das Allerschlimmste.
Und dabei war es nicht mal ein so tolles Handy. Es war ziemlich altmodisch. Da wünsche ich dem Kapuzenmann viel Glück, wenn er beim Simsen das »B« braucht oder ins Internet will. Ich hoffe, er scheitert kläglich. Dann wird ihm die ganze Sache noch leidtun.
Baum … Zeitungen … Eimer … Baum … Zeitungen … Eimer …
Und außerdem hat er meiner Schulter wehgetan. Scheißkerl. Vielleicht könnte ich ihn auf ein paar Millionen Schmerzensgeld verklagen. Falls sie ihn jemals schnappen, was nicht der Fall sein wird.
Baum … Zeitungen … Eimer …
Eimer.
Moment.
Was ist das?
Abrupt bleibe ich stehen und starre in den Abfall, frage mich, ob mir hier jemand einen Streich spielt oder ob ich Halluzinationen habe.
Da liegt ein Telefon.
Da unten im Eimer. Ein Handy.
1 Sein Spezialgebiet ist Kultureller Symbolismus. Ich habe sein Buch Die Philosophie des Symbolismus überflogen, gleich nach unserem zweiten Date, und dann habe ich so getan, als hätte ich es schon vor Urzeiten gelesen, rein zufällig, aus Vergnügen. (Was er mir, ehrlich gesagt, keinen Augenblick geglaubt hat.) Entscheidend ist aber, dass ich es gelesen habe. Und was mich am meisten dabei beeindruckt hat: Es gab so viele Fußnoten! Darauf fahr ich voll ab. Sind die nicht praktisch? Man klemmt sie einfach irgendwo dazwischen und sieht sofort schlau aus.
Magnus sagt, Fußnoten sind für Dinge, um die es einem eigentlich nicht geht, die aber trotzdem von Interesse sind. Okay. Das hier ist meine Fußnote zum Thema »Fußnoten«.
2 Was ich eigentlich nie sage. Genau wie Humphrey Bogart nie gesagt hat: »Spiel’s noch einmal, Sam.« Das ist ein moderner Mythos.
3 Natürlich stand das Hotel nicht in Flammen. Ein Kurzschluss hatte den Alarm ausgelöst. Das habe ich erst später herausgefunden. Nicht dass es mir ein Trost gewesen wäre.
4 Hat Poirot jemals »O mein Gott« gesagt? Bestimmt. Oder »Sacre bleu!«, was auf dasselbe hinausläuft. Und widerlegt das nicht Antonys Theorie? Schließlich funktionieren Poirots graue Zellen deutlich besser als die aller anderen. Darauf sollte ich Antony eines Tages mal hinweisen. Wenn ich den Mut finde. (Was, wenn ich den Ring wirklich verloren habe, vermutlich nie der Fall sein wird.)
5 Ein Zeichen von Geistesschwäche.
6 Es ist doch trotz allem immer noch im Bereich des Möglichen, dass ich den Ring wiederbekomme und er nie etwas davon erfährt, oder?