Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit als Kinderpsychiater liegt in der Beratung der Eltern. Die Behandlung der Symptome des Kindes allein würde bei einer in der Tiefe liegenden Entwicklungsstörung als Ursache nicht ausreichen. Auffällige Kinder sind keine auffälligen Kinder, weil ihnen das so viel Spaß macht und sie die Erwachsenen ärgern wollen. Es gibt Gründe für ihre Auffälligkeiten, die außerhalb ihrer selbst liegen.
Aber auch Erwachsene, die nicht mehr auf der richtigen Ebene zum Kind agieren und damit über die gestörte Beziehung die Entwicklungsprobleme bei Kindern auslösen, agieren nicht absichtlich, um die Kinder zu schädigen.
Beide sind Bestandteil des Systems Gesellschaft, und in diesem System sind in den letzten 20 Jahren Entwicklungen zu beobachten, die dafür gesorgt haben, dass Erwachsene nicht mehr in sich ruhen und Kinder sich auf Grund dieser Tatsache nicht ungestört so entwickeln können, dass sie selbst als Erwachsene ein selbstbestimmtes, glückliches Leben führen können.
Eigentlich ist es ein Paradox. Obwohl wir in einem sehr individualistisch ausgerichteten Zeitalter leben, in dem das Wohl des Einzelnen einen sehr hohen Stellenwert besitzt, tun wir uns schwer damit, uns abzugrenzen, uns mit uns selbst eins zu fühlen und die Außenwelt nicht an uns und unsere Psyche herankommen zu lassen.
Anders gesagt: Je hektischer wir nach unserem individuellen Wohl suchen, desto weiter entfernen wir uns davon. Wir müssen es eigentlich auch nicht suchen, denn es liegt immer in uns. Unsere Mitte, aus der die Kraft entspringt, das Leben zu meistern und auch glückliche Kinder aufzuziehen, ist in uns; angesichts der scheinbaren alltäglichen Katastrophe entfernen wir uns nur immer mehr von ihr.
Die Analyse in diesem Buch zeigt klar auf, wo die entscheidenden Punkte zu finden sind. Es geht darum zu verstehen, dass es nicht darauf ankommt, nach individueller Schuld und individuellen Gründen zu suchen. Diese wären dem Finden einer Lösung abträglich. Nein, wir können uns ganz neutral mit den unbewussten, übergeordneten Gründen für den Katastrophenmodus unserer Psyche beschäftigen.
Es geht eben nicht um die Schwierigkeiten Einzelner, mit dem Leben fertig zu werden. Es geht um unsere Kinder, es geht um die nachwachsende Generation; es geht darum, wie diejenigen, für die wir jetzt und hier Verantwortung tragen, wie unsere Kinder leben werden. Damit hat die Problematik eine ganz andere Dimension. Sie ist der individuellen Sphäre entzogen und erhält eine gesamtgesellschaftliche Dynamik. Damit jedoch betrifft sie letztlich wiederum jeden Einzelnen.
Es geht eben nicht nur um Eltern oder nur um Pädagogen. Auch jeder, der keine Kinder hat oder beruflich nicht direkt mit ihnen zu tun hat, lebt und arbeitet mit den Kindern anderer Menschen zusammen; gemeinsam gestalten wir unsere Gesellschaft. Das wird immer schwieriger, wenn ein Teil der Heranwachsenden nicht mehr in der Lage ist, diesen sozialen Anforderungen in ausreichendem Maße zu genügen, weil es in der Jugend zu Entwicklungsstörungen im emotionalen und sozialen Bereich gekommen ist.
Positiv stimmen sollte uns, dass wir der Situation Herr werden können. Der Katastrophenmodus unserer Psyche entspricht nicht der realen Situation. Das zu erkennen ist die große Chance, um nicht länger im Hamsterrad zu rotieren und zu einer gelasseneren Lebenseinstellung zu kommen, sowohl anderen Erwachsenen als vor allem auch Kindern gegenüber.
Insofern ist dieses Buch auch die logische Weiterführung meiner Analyse, die mit »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« begonnen hat. Der Ansatz, die sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen einer steigenden Anzahl von Kindern und Jugendlichen auf Beziehungsstörungen zu den Erwachsenen zurückzuführen, wird durch die hier dargelegten Thesen zum Katastrophenmodus um den entscheidenden Aspekt erweitert. Wurden bisher schwerpunktmäßig die Defizite und die unbewusste Kompensation dargestellt, so tritt hier der dahinterliegende Mechanismus in unserer Psyche hervor. Für die Rückkehr in die Intuition ist das der zentrale Baustein.
Erwachsene, die in sich ruhen, intuitiv mit Kindern umgehen, sind damit automatisch im richtigen Verhältnis zu Kindern. Sie schaffen die Voraussetzung, dass die kindliche Psyche sich ungestört entwickeln kann; und das lässt wiederum beziehungsfähige neue Erwachsene heranwachsen.
Um das zu gewährleisten, mussten wir einen neuen Blick auf die mittlerweile oft diagnostizierten Phänomene wie Stress und Burn-out entwickeln. Der individualistische Ansatz, bei dem in der Lebensgeschichte des Betroffenen gesucht wird, trägt allzu häufig nicht mehr. Das scheinbare Problem, nicht mehr »runterkommen« zu können, immer weiter zu rotieren, ist immer seltener ausschließlich auf spezielle Lebensumstände zurückzuführen, als vielmehr auf die beschriebene Kombination aus erhöhtem persönlichen Druck und der ständigen Beschallung durch Negativnachrichten in den Medien.
Diese Entwicklung enthält ohne Frage gesellschaftlichen Sprengstoff. Eine Gesellschaft, die sich immer weiter von ihrer Mitte entfernt und in einem dauerhaft hochgedrehten Modus agiert, rotiert sich damit selbst ins Abseits. Diese Gesellschaft jedoch besteht aus Individuen, diese Gesellschaft sind wir alle. Bei dieser Erkenntnis müssen wir ansetzen.
Vielleicht hilft das Bild vom Hebel in der Psyche, das ich an verschiedenen Stellen benutzt habe. Solange dieser Hebel auf Katastrophe steht, wird es wenig nutzen, scheinbar wirkungsvolle Entspannungsstrategien anzuwenden. Ist der Hebel jedoch umgelegt, wird es umso wichtiger, die wiedergefundene innere Ruhe anhand individueller Möglichkeiten des Ausruhens beizubehalten.
Es ist ein wenig wie beim Umgang mit Kindern: Alle ErZiehung nützt wenig, wenn es auf der Be-Ziehungsebene zwischen Erwachsenem und Kind nicht stimmt. Und genauso wenig nützen Yoga, Urlaub oder Lektüreabende als Entspannung, wenn die Psyche sich im Katastrophenmodus dreht. Das eine kann erst funktionieren, wenn auf der anderen Ebene die Voraussetzung dafür vorhanden ist.
Glückliche Erwachsene sorgen für glückliche Kinder. Wer ständig wie vor oder in einer Katastrophe lebt, kann nicht glücklich sein. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass der Katastrophenmodus in unserer Psyche so schnell wie möglich abgeschaltet wird.