Zum Buch

Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie musste dringend raus aus der Stadt, auch wenn sie nicht genau weiß, wovor sie auf der Flucht ist. Großstadt, Lockdown, stressiger Job, ein übereifriger Freund, dazu Donald Trump, Brexit und Rechtspopulismus – wann ist die Welt eigentlich dermaßen durcheinander geraten? Dass Bracken, dieses kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht die ländliche Idylle ist, von der manche Städter träumen, war Dora klar. Alle haben sie vor der Provinz gewarnt. Jetzt sitzt sie trotzdem hier, in einem alten Haus auf einem verwilderten Grundstück, mit einem kahlrasierten Nachbarn hinter der Gartenmauer, der sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Doch dann passieren Dinge, die ihr Weltbild ins Wanken bringen. Sie trifft Menschen, die in kein Raster passen, und steht vor einer Herausforderung, die Antwort auf die große Frage verlangt, worauf es im Leben eigentlich ankommt. Juli Zehs neuer großer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart und den Menschen, die sie hervorbringt. Von ihren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten. Und von ihren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn sie sich trauen, Mensch zu sein.

Zur Autorin

JULI ZEH, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2019). 2018 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Mehr unter www.juli-zeh.de.

JULI ZEH

Über
Menschen

Roman

Luchterhand

Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

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© 2021 Luchterhand Literaturverlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Covermotiv: Plainpicture/DEEPOL

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27718-5
V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

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Inhalt

TEIL EINS
RECHTE WINKEL

1 Bracken

2 Robert

3 Gote

4 Müllinsel

5 Gustav

6 Pfandflaschen

7 R2-D2

8 Pflanzkanacken

9 Taschenlampe

10 Bus

11 Center

12 Axel

13 Tom

TEIL ZWEI
SAATKARTOFFELN

14 AfD

15 Jojo

16 Brandenburg

17 Steffen

18 Mon Chéri

19 Franzi

20 Horst Wessel

21 Rochen

22 Krisse

23 Hortensien

24 Soldaten

25 E-Mail

26 Farbe

27 Sadie

28 Museum

29 Messer

30 Über Menschen

TEIL DREI
RAUMFORDERUNG

31 Au revoir

32 Skulptur

33 Vater, Tochter

34 Herr Proksch

35 Raumforderung

36 Frühkartoffeln

37 Einhorn

38 Fleischlappen

39 Pudding

40 Pieps

41 Gebrüll

42 Floyd

43 Blühende Freundschaften

44 Fest

45 Schütte

46 Hochsitz

47 Power Flower

48 Stau

49 Proksch ist tot

50 Regen

TEIL EINS
RECHTE WINKEL

1 Bracken

Weitermachen. Nicht nachdenken.

Dora rammt den Spaten in den Boden, zieht ihn wieder heraus, durchtrennt mit einem Hieb eine hartnäckige Wurzel und wendet das nächste Stück sandiger Erde. Dann wirft sie ihr Werkzeug beiseite und presst die Hände ins Kreuz. Rückenschmerzen. Mit – sie muss kurz rechnen – 36 Jahren. Seit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss sie immer nachrechnen, wenn es um ihr Alter geht.

Nicht nachdenken. Weitermachen. Der schmale Streifen umgegrabener Erde taugt noch lange nicht zum Erfolgserlebnis. Wenn sie sich umsieht, wird das Gefühl existenzieller Chancenlosigkeit übermächtig. Das Grundstück ist viel zu groß. Es sieht nicht aus wie etwas, das »Garten« heißen könnte. Ein Garten ist ein Stück Rasen, auf dem ein Würfelhaus steht. Wie in dem Münsteraner Vorort, in dem Dora aufgewachsen ist. Oder vielleicht auch eine Miniaturblumenwiese auf einer Baumscheibe in Berlin-Kreuzberg, wo Dora zuletzt gewohnt hat.

Was sie jetzt umgibt, ist kein Garten. Es ist auch kein Park oder Feld. Am ehesten ist es ein »Flurstück«. So heißt es im Grundbuch. Aus dem Grundbuch weiß Dora, dass eine Fläche von 4.000 Quadratmetern zum Haus gehört. Ihr war nur nicht klar, was 4.000 Quadratmeter sind. Ein halbes Fußballfeld, darauf ein altes Haus. Eine verwilderte Brachfläche, platt gedrückt und ausgeblichen von einem Winter, der gar nicht stattgefunden hat. Eine botanische Katastrophe, die sich durch Doras Anstrengung in einen romantischen Landhausgarten verwandeln soll. Mit Gemüsebeet.

Das ist der Plan. Wenn Dora im Umkreis von 70 Kilometern schon niemanden kennt und keine Möbel besitzt, will sie wenigstens eigenes Gemüse. Weil Tomaten, Möhren und Kartoffeln täglich davon erzählen würden, dass sie alles richtig gemacht hat. Dass der plötzliche Kauf eines alten Gutsverwalterhauses, sanierungsbedürftig und fernab aller Speckgürtel, keine neurotische Kurzschlussreaktion war, sondern der nächste logische Schritt auf dem Wanderweg ihrer Biographie. Wenn sie einen Landhausgarten besitzt, werden Freunde aus Berlin am Wochenende zu Besuch kommen, auf alten Stühlen im hohen Gras sitzen und seufzen: »Mann, hast du es schön hier.« Falls ihr bis dahin einfällt, wer ihre Freunde sind. Und falls man sich jemals wieder gegenseitig besuchen darf.

Dass Dora vom Gärtnern nicht die geringste Ahnung hat, ist kein Hindernis. Wozu gibt es YouTube. Glücklicherweise gehört sie nicht zu den Menschen, die glauben, man müsse Maschinenbau studieren, bevor man den Heizungszähler ablesen kann. Wie Robert mit seiner Bedenkenträgerei und seinem Perfektionismus. Robert, der ihre Beziehung einfach weggeworfen und sich in die Apokalypse verliebt hat. Die Apokalypse ist eine Nebenbuhlerin, mit der es Dora nicht aufnehmen kann. Die Apokalypse verlangt Gefolgschaft, hinauf zu den Höhen kollektiver Schicksalsbewältigung. Dora ist nicht gut im Folgen. Warum sie fliehen musste und dass es nicht um den Lockdown ging, hat Robert nicht verstanden. Als sie ihre Sachen die Treppe hinuntertrug, sah er sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

Nicht nachdenken. Weitermachen. Aus dem Internet weiß sie, dass die Pflanzzeit im April beginnt, dieses Jahr aufgrund des milden Winters sogar noch früher. Jetzt ist Mitte April, also muss sie sich mit dem Umgraben beeilen. Vor zwei Wochen, kurz nach ihrem Umzug, hat es plötzlich geschneit. Das erste und einzige Mal in diesem Jahr. Große Flocken schwebten vom Himmel und sahen aus wie etwas Künstliches, ein Special Effect der Natur. Das Flurstück verschwand unter einer dünnen weißen Decke. Endlich sauber, endlich still. Dora erlebte einen Moment tiefer Ruhe. Ohne Schnee erzählt das Flurstück unablässig von Verwüstung und Vernachlässigung. Ein ständiger Imperativ, alles in Ordnung zu bringen, und zwar schnell.

Dora ist kein typischer Großstadtflüchtling. Sie ist nicht hergekommen, um sich mithilfe von Biotomaten zu entschleunigen. Natürlich ist das Leben in der Stadt oft stressig. Überfüllte S-Bahnen und die ganzen Spinner auf den Straßen. Dazu Deadlines, Meetings, der hohe Zeit- und Konkurrenzdruck in der Agentur. Aber das kann man auch mögen, und der Stress in der Stadt ist wenigstens einigermaßen gut organisiert. Hier draußen auf dem Land herrscht eine Anarchie der Dinge. Dora ist umgeben von Sachen, die tun, was sie wollen. Gegenstände, die reparaturbedürftig, halb funktionstüchtig, verdreckt, verwahrlost, völlig zerstört oder gar nicht vorhanden sind, obwohl man sie dringend benötigt. In der Stadt sind die Dinge halbwegs unter Kontrolle. Städte sind Kontrollzentren für die dingliche Welt. Für jeden Gegenstand gibt es dort mindestens eine Person, die zuständig ist. Es gibt Orte, an denen man Sachen bekommt und an die man sie bringen kann, wenn man sie nicht mehr will. Auf dem Flurstück hingegen gibt es nur Dora als Zuständige sowie eine herrschsüchtige Natur, die alles überwuchert, was sie in die rankigen Finger kriegt.

Ein paar Amseln fliegen heran, um in der umgegrabenen Erde nach Regenwürmern zu suchen. Einer der schwarzen Vögel setzt sich auf den Spatenstiel, eine Impertinenz, die Doras kleine Hündin namens Jochen-der-Rochen den Kopf heben lässt. Eigentlich erholt sich Jochen-der-Rochen gerade in der Frühlingssonne von einer weiteren Nacht im kalten Landhaus. Aber jetzt muss sie aufstehen, mit der Würde eines Großstadttiers, das den gefiederten Landpomeranzen die Meinung sagt. Danach kehrt sie auf ihr sonnenwarmes Plätzchen zurück, lässt sich auf den Bauch sinken und spreizt die Hinterbeine, was ihrem Körper die dreieckige Rochenform verleiht, der Jochen ihren Namen verdankt.

Manchmal bleibt Doras Verstand an Sätzen hängen, die sie irgendwo gelesen hat, oder, besser gesagt, die Sätze bleiben an ihr haften, und ihr Geist betastet sie wie eine Kruste, die sich nicht entfernen lässt. So eine Kruste ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass Unordnung immer ihrem maximalen Wert zustrebt, wenn man nicht enorme Energie aufbringt, um wieder Ordnung zu schaffen. Entropie. Daran muss Dora denken, wenn sie sich umsieht, nicht nur auf ihrem Flurstück, sondern im ganzen Dorf, im ganzen Landkreis. Bröckelnde Straßen, halb eingestürzte Scheunen und Ställe, von Efeu überwucherte ehemalige Kneipen. Schrottberge auf den Brachflächen, aufgeplatzte Mülltüten im Wald. Die Gärten mit ihren neuen Zäunen und frisch gestrichenen Häusern sind Inseln, auf denen die Menschen gegen die Entropie kämpfen. Als reiche die Kraft jedes Einzelnen nur für ein paar Quadratmeter Welt. Dora hat noch keine Insel. Sie steht gewissermaßen auf einem Floß, bewaffnet mit rostigen Werkzeugen, die sie im Schuppen gefunden hat, und stemmt sich der Entropie entgegen.

Sie hat das Dorf gegoogelt, damals vor sechs Monaten, in einer anderen Epoche, in einer anderen Welt, als sie die Anzeige auf eBay Kleinanzeigen entdeckte. Laut Wikipedia ist »Bracken ein Wohnplatz der Gemeinde Geiwitz nahe der Stadt Plausitz im Landkreis Prignitz des Landes Brandenburg. Zugehörig ist der Siedlungsplatz Schütte, unbewohnt. Das Dorf wird erstmals in einer Urkunde des Bischofs Siegfried vom Jahre 1184 erwähnt. Aufgrund slawischer Funde in der Ortslage lässt sich davon ausgehen, dass Bracken aus einer slawischen Siedlung hervorgegangen ist«.

Ein typisches ostdeutsches Straßendorf. In der Mitte eine Kirche mit Dorfplatz. Bushaltestelle, Feuerwehr, Briefkasten. 284 Einwohner. Mit Dora 285, wobei sie noch nicht beim Meldeamt gewesen ist. Das hat wegen Corona geschlossen. Derzeit kein Publikumsverkehr. So steht es auf der Homepage vom Amt Geiwitz.

Dora wusste gar nicht, dass sie zu einem Publikum gehört. Wer sind die Schauspieler? Nicht darüber nachdenken. Nicht hängen bleiben. Es gibt jetzt so viele seltsame neue Begriffe. Social Distancing. Exponentielles Wachstum. Übersterblichkeit und Spuckschutzscheibe. Dora kommt schon seit Wochen nicht mehr mit. Vielleicht auch schon seit Monaten oder Jahren, aber durch Corona ist das Nicht-mehr-Mitkommen manifest geworden. Die neuen Begriffe umschwirren ihren Kopf wie Fliegen, die sich nicht vertreiben lassen, egal, wie heftig man mit den Armen wedelt. Deshalb hat Dora beschlossen, dass alle diese Wörter sie nichts mehr angehen. Sie stammen aus einer fremden Sprache in einem fremden Land. Zum Ausgleich hat sie das Wort »Bracken« bekommen. Auch dieses Wort fühlt sich noch fremd an. Es klingt nach einer Mischung aus Brachen und Baracken. Oder nach einer Tätigkeit, die auf Baustellen ausgeübt wird, unter starker Lärmentwicklung, mit schwerem Gerät. Morgen wird gebrackt. Wir brauchen noch ein paar Leiharbeiter zum Bracken. Bevor die Fundamente gegossen werden können, müssen wir das hier noch einmal gründlich bracken.

En-tro-pie, En-tro-pie, skandieren die Gedanken. Weitermachen, setzt Dora bewusst dagegen. Sie kann das: weitermachen, auch wenn es sich unmöglich anfühlt. In der Werbeagentur gehört das Weitermachen zum Alltag. Neue Deadline, neuer Pitch. Zu wenig Leute, zu wenig Zeit. Präsentation lief super, Präsentation lief scheiße. Etat gewonnen, Etat verloren. Wir müssen digitaler denken, wir müssen 360 Grad denken, von der Karussell Ad über den Funkspot bis zum Social Video, sagt Susanne, die Gründerin von Sus-Y, bei jedem Monday Breakfast, einem als Frühstück getarnten Zwei-Stunden-Meeting. Wir verdienen an kreativer Exzellenz und unserer einzigartigen Positionierung. Und daran, dass wir unsere Kunden wirklich verstehen. Dass wir ihnen helfen, ihre Probleme nachhaltig zu lösen. – Das Monday Breakfast vermisst Dora nicht. Was das Monday Breakfast betrifft, könnte Corona noch ewig dauern.

Wenn man weitermacht, obwohl es sich unmöglich anfühlt, kommt manchmal das Würgen. Als hätte man etwas Verdorbenes auf dem Teller, das es trotzdem zu schlucken gilt. Dagegen hilft nur Augen schließen, Nase zuhalten und durch. Den Spaten in die Erde stechen. Entropie. En, zustechen. Tro, nachtreten. Pie, die nächste Ladung heraushebeln.

Sie hat eine schöne Stelle zwischen den Obstbäumen ausgesucht – Äpfel, Birnen und eine Kirsche, die gerade zaghaft zu blühen beginnt. Ein Stück entfernt vom Haus, aber nah genug, um das Beet vom Küchenfenster aus zu sehen. Die Fläche ist einigermaßen eben und nicht so dicht mit Jungbäumen bewachsen wie der vordere Teil des Flurstücks, der stellenweise vergittert wirkt von daumendicken Stämmchen. Ahorn und Robinie. Mit Bäumen kennt Dora sich aus. Robert hat Biologie studiert und ihr bei jedem Spaziergang im Tiergarten ausführlich von den Bäumen erzählt. Wie sie wachsen, wie sie sich vermehren. Was sie denken und fühlen. Dora mochte diese Gespräche, und sie hat einiges gelernt. Die Robinie ist ein invasiver Neophyt, ein Baum-Migrant. Sie vermehrt sich schnell und verdrängt andere Arten. Von den Bienen wird die Robinie allerdings heiß geliebt. Die unzähligen Bäumchen mit Gartenschere und Handsäge zu entfernen wird Wochen in Anspruch nehmen.

Zwischen den Obstbäumen wächst kein Robiniendickicht, dafür aber Brombeeren, besser gesagt ein trockenes Rankengewirr vom Vorjahr, das den Boden bei Doras Ankunft fast vollständig bedeckte. Die alte Sense kann sie zwar führen, trotz YouTube-Tutorial aber nicht richtig schärfen, weshalb sie mit der stumpfen Klinge auf die Brombeeren eingedroschen hat, als wollte sie mit einer Machete den Dschungel durchqueren. Am ersten Tag ist sie nach einer durchfröstelten Nacht noch in Winterkleidung rausgegangen: langes Baumwollhemd, dickes Sweatshirt, gefütterte Jacke. Eine Viertelstunde später fing sie an, sich wie eine Zwiebel zu häuten, und stand bald im Unterhemd neben einem Berg Klamotten. Seitdem geht sie nur noch im T-Shirt vor die Tür, egal, wie frostig der Morgen wirkt. Morgens ist die Luft wie frisch gewaschen; die Gänsehaut fühlt sich angenehm an. Während es im Haus kühl bleibt, klettert die Temperatur draußen im Lauf des Tages fast auf zwanzig Grad. Sehr zur Freude von Jochen, die seit dem Umzug ins neue Domizil darauf besteht, die Nächte unter Doras Bettdecke zu verbringen. Tagsüber zieht die Hündin auf der Suche nach den kräftigsten Sonnenstrahlen durch den Garten wie eine wandelnde kleine Solarzelle.

Ostern ist geräuschlos vorübergegangen. Der Lockdown, heißt es, vergrößere viele Unterschiede; den zwischen Werktagen und Feiertagen ebnet er ein. Nach der Rodung hat Dora zwischen den Obstbäumen ein Rechteck von zehn mal fünfzehn Metern freigelegt und die Grenzen mit einer gespannten Schnur markiert. Die Kanten sind herrlich gerade geworden und die Winkel extrem rechts. Die roten Schnüre ließen die neu eröffnete Baustelle professionell und den Rest der Aufgabe wie reine Formsache wirken.

Was sich als Irrtum herausstellt. Seit Tagen stößt Dora den Spaten entlang der Schnüre in die Erde, um die Grasnarbe in großen Brocken zu entfernen. Wobei von Gras eigentlich keine Rede sein kann; »Unkrautnarbe« müsste es heißen. Die Wurzeln halten den Boden so fest zusammen, dass sich Dora mit beiden Füßen aufs Spatenblatt stellen und mehrmals auf und nieder springen muss, um es in die Erde zu treiben. Ein Knochenjob und erst der Anfang der Probleme, denn die eigentliche Herausforderung beginnt ein Stück tiefer. Sie besteht in den Hinterlassenschaften eines Systems, in dem anscheinend niemand glaubte, für den Kampf gegen die Entropie zuständig zu sein. Wer auch immer zu DDR-Zeiten im alten Gutsverwalterhaus gelebt hat, fand es angemessen, Schutt, Schrott und Müll in den Garten zu werfen. Doras Spaten trifft auf zerbrochene Ziegelsteine, rostige Metallteile, alte Plastikeimer, kaputte Flaschen, einzelne Schuhe und rostige Kochtöpfe. Auch Kinderspielzeug ist dabei: bunte Sandförmchen, Räder von kleinen Autos, einmal sogar ein Puppenkopf, der unheimlich aus der Erde heraufschaute. Die Fundstücke sammelt Dora am Rand, sie säumen den Streifen umgegrabener Erde.

Sie hebt den Spaten auf und stützt sich auf den Griff. Langsam kehrt die Kraft in Arme und Beine zurück. Schon nach zwei Wochen Landleben wirken ihre Hände rot und schwielig. Dora wendet sie hin und her und betrachtet sie wie Gegenstände, die nicht zu ihrem Körper gehören. Die Hände waren schon immer zu groß. Manchmal bekommt Dora Angst, sie könnten sich ohne ihr Zutun bewegen. Als stünde ein größerer Mensch hinter ihr und hätte seine Arme durch ihre Ärmel gesteckt. Früher hat sie ihr Bruder Axel deswegen gehänselt. »Doraflossen!«, rief er, worüber sie stets in heftige Wut geriet. Bis zum Tod der Mutter. Danach ärgerten sie einander nicht mehr, sondern waren unentwegt nett zueinander. Als wäre alles, sogar Doras große Hände, zu zerbrechlichem Glas geworden.

Robert hat immer behauptet, ihre Hände zu mögen, jedenfalls solange er überhaupt noch etwas an ihr gemocht hat. Bevor sie sich erst in ein CO2-Problem, dann in eine potenzielle Corona-Keimschleuder verwandelt hat.

Aus Erfahrung weiß Dora, dass sie sich nicht zu lange ausruhen darf. Wenn die Pause zu lang dauert, beginnt sie zu rechnen, und auf Berechnungen folgt die Sinnfrage. Vor knapp zwei Wochen hat sie mit dem Roden begonnen; seit drei Tagen verausgabt sie sich beim Umgraben. Der fertige Streifen ist etwa anderthalb Meter breit. Folglich hat Dora nicht einmal ein Sechstel der Gesamtfläche geschafft. Wenn sie in diesem Tempo weitermacht, geht noch der halbe Mai vorbei, bis sie aussäen kann. Das Schlimme ist, dass das nicht schlimm ist. Gemüse kann man im Supermarkt kaufen. Wahrscheinlich ist es dort sogar günstiger als im eigenen Garten, wenn man die Kosten der Bewässerung einberechnet. Der Lockdown ist unheimlich, aber nicht bedrohlich genug, um den Anbau eigener Kartoffeln zwingend zu machen. Es gibt keinen Grund für einen Gemüsegarten. Außer Landhausromantik und Freunde, die zu Besuch kommen sollen. Nur dass Dora mit Landhausromantik nichts anfangen kann und keine Freunde hat. In Berlin fiel das nicht auf. Die Arbeit ließ wenig Zeit, und Robert hatte genug Freunde für sie beide. Hier auf dem Land wird die Nicht-Existenz von Freunden zu einem dumpfen Grollen am Horizont.

Es war idiotisch, gleich ein so großes Terrain abzustecken. Typischer Anfängerfehler. Fünfzehn Quadratmeter statt hundertfünfzig hätten für den Einstieg vollkommen gereicht. Aber Dora hat keine Lust, ihre sauber gespannten Fäden wieder abzubauen. Immerhin lebt sie seit Jahren von der Fähigkeit, angefangene Projekte zu Ende zu bringen, ganz egal, wie absurd es sich anfühlt. Der Umgang mit Kunden, die ihre Meinung täglich ändern, die immer wieder neue Varianten verlangen, sich gegenseitig widersprechen und aus Angst vor ihren Vorgesetzten keine Entscheidungen treffen, ist mit Sicherheit schwieriger als Gartenarbeit.

Weitermachen. Wenn sie den Garten nicht schafft, muss sie sich fragen, warum sie das Haus gekauft hat.

Die Antwort wäre einfach, wenn sie behaupten könnte, schon im letzten Herbst geahnt zu haben, dass Corona im Anmarsch war. Dann wäre das Haus auf dem Land ein Refugium, in dem sie sich verstecken kann, bis die Pandemie vorbei ist. Aber sie hat nichts geahnt. Als Dora anfing, Immobilienanzeigen im Internet zu lesen, schienen Klimawandel und Rechtspopulismus die wichtigsten Probleme zu sein. Als sie im Dezember heimlich zum Notar in Berlin-Charlottenburg ging, war Corona eine Schlagzeile, für die man weit nach unten scrollen musste, irgendetwas, das in Asien stattfand. Als sie das kleine Erbe ihrer Mutter sowie sämtliche Ersparnisse zusammenkratzte, um den Eigenkapitalanteil des Kaufpreises zu überweisen, wusste Dora immer noch nicht, ob sie überhaupt aufs Land ziehen wollte. Sie wusste nur, dass sie das Haus brauchte. Dringend. Als Idee. Als mentale Überlebenstechnik. Als hypothetischen Notausgang aus dem eigenen Leben.

In den vergangenen Jahren hat Dora immer wieder gehört, dass Menschen ein Haus auf dem Land erwerben. Meist als Zweitwohnsitz. Sie tun das in der Hoffnung, dem Kreislauf der Projekte zu entkommen. Alle Leute, die Dora kennt, sind mit diesem Kreislauf vertraut. Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt. Es gibt kein Ankommen. Streng genommen gibt es nicht mal ein Weiterkommen. Es gibt nur Kreisbahnen, auf denen sich alle bewegen, weil sie Angst vor dem Stillstand haben. Inzwischen hat fast jeder heimlich verstanden, dass das sinnlos ist. Auch wenn man ungern darüber spricht. Dora sieht es in den Augen ihrer Kollegen, im tief verunsicherten Blick. Nur Neueinsteiger glauben noch, man könne »es« schaffen. Dabei ist »es« unschaffbar, weil »es« die Gesamtheit aller denkbaren Projekte darstellt und weil in Wahrheit nicht das Eintreffen, sondern das Ausbleiben des nächsten Projekts die größte anzunehmende Katastrophe wäre. Die Schaffbarkeit von »es« ist die Grundlüge der modernen Lebens- und Arbeitswelt. Ein kollektiver Selbstbetrug, inzwischen lautlos zerplatzt.

Seit diese Erkenntnis in die U-Bahn-Schächte der Metropolen eingesickert ist und an jedem Kaffeeautomaten, in jedem Fahrstuhl, auf jeder Etage der Bürotürme heimlich umgewälzt wird, bekommen die Menschen Burn-out. Gleichzeitig dreht sich das Rad immer schneller. Als könnte man der Unsinnigkeit des Rennens durch Schneller-Rennen entkommen.

Das kann man auch. Jedenfalls hat Dora es immer gekonnt. Sie hat sich nie gegen den Kreislauf der Projekte gewehrt, sondern ihn als zeitgemäßes Lebensmodell akzeptiert. Aber dann hat sich etwas verändert. Nicht in Dora, sondern außen herum. Dora kam nicht mehr mit, und die Idee vom Landhaus hat dem Nicht-mehr-Mitkommen ein Gehäuse gegeben. Das war letzten Herbst, und jetzt steht sie hier, inmitten ihrer Brackener Brache, und bekommt es mit der Angst zu tun. Der Kreislauf der Projekte könnte außer Kontrolle geraten. Der Anblick des Flurstücks macht das klar. Das Flurstück ist ihr nächstes verdammtes Projekt, und vielleicht ist es dieses Mal eine Nummer zu groß.

Verärgert beschließt sie, mit dem Weitermachen aufzuhören. Sie wird sich zwingen, eine halbe Stunde Nichtstun zu ertragen. Sie lässt den Spaten los und stapft durch die Brennnesseln vom Vorjahr Richtung Haus, wo im Schatten der Linde eine kleine Sitzgruppe steht. Die wackligen Gartenmöbel hat Dora im Schuppen gefunden, genau wie die anderen Requisiten ihrer Landhauszukunft. Wie sagte der Makler? »Idylle ist, wenn man sich’s gemütlich macht.« Wahrscheinlich einer der Sprüche, die man dringend braucht, um in dieser Gegend kaputte Häuser zu verkaufen.

Dora setzt sich auf einen der Stühle, streckt die Beine und fragt sich, ob sie inzwischen genauso bescheuert ist wie die Leute in Prenzlauer Berg, die zur Entschleunigung Yoga-Stunden und Meditation in ihre übervollen Zeitpläne packen. Sie weiß, dass der Projekte-Kreislauf eine Falle ist, der man nicht leicht entkommt. Er verwandelt auch die Ent-Projektierung des Daseins in ein neues Projekt. Andernfalls würde er nicht Millionen von Opfern fordern. Dora atmet tief in den Bauch und sagt sich, dass ihr Problem völlig anders gelagert ist. Sie hat kein Problem mit Projekten, sondern mit Robert. Etwas ist passiert, und sie kommt einfach nicht mit.