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Übersetzung aus dem Englischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Kollektiv Druck-Reif
ISBN 978-3-492-95876-9
Januar 2017
© Charles Foster, 2016
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Being a Beast« bei Profile Books Ltd, London, 2016.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Redaktion: Regina Carstensen, München
Der Verlag dankt für die freundliche Genehmigung zum Abdruck des Zitates zu Beginn aus: »Tiere essen« von Jonathan Safran Foer; aus dem amerikanischen Englisch von Isabel Bogdan, Ingo Herzke und Brigitte Jakobeit; © 2010, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln/Germany; Titel der Originalausgabe:»Eating Animals«; © Jonathan Safran Foer, 2009
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de mit einer Illustration von Peter Dyer.
Vorlagen © iStock
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für meinen Vater,
der nie ohne ein totgefahrenes Tier in der Plastiktüte
nach Hause kam,
der mir das Formalin und die Glasaugen bezahlte
und den ich liebe und ehre
Zu fragen: »Was ist ein Tier?« – man könnte hinzufügen:
einem Kind eine Geschichte über einen Hund vorzulesen oder
Tierrechte zu unterstützen –, rührt unweigerlich daran, woher
wir das Verständnis beziehen, dass wir Menschen
sind und keine Tiere. Es führt zu der Frage: »Was ist ein Mensch?«
Ich wollte wissen, wie es ist, ein Wildtier zu sein.
Möglicherweise kann man das erfahren. Die Neurowissenschaften helfen uns dabei, und ein bisschen Philosophie und eine Menge Lyrik von John Clare tun das Ihre dazu. Aber vor allem muss man den Stammbaum der Evolution gefährlich weit hinunterklettern, bis in ein Loch in einem walisischen Hügel und unter die Steine eines Flusses in Devon, man muss etwas über Schwerelosigkeit lernen, über die Gestalt des Windes, über Langeweile, Mulch in der Nase und das Zittern und Knacken sterbender Wesen.
Im Allgemeinen hieß Schreiben über die Natur, dass Menschen, die wie Kolonialherren durch die Welt stolzierten, schilderten, was sie aus 1,80 Meter Höhe sahen, oder dass Menschen so taten, als würden Tiere Kleider tragen. Dieses Buch ist ein Versuch, die Welt aus dem Blickwinkel unbekleideter walisischer Dachse, Londoner Füchse, Otter im Exmoor, von Mauerseglern aus Oxford und Rothirschen in Schottland und Südwestengland wahrzunehmen; zu lernen, wie es sich anfühlt, sich schlurfend oder gleitend durch Landschaften zu bewegen, die vor allem von Gerüchen und Geräuschen und weniger von visuellen Eindrücken geprägt sind. Es war der Versuch eines literarischen Schamanismus, und es hat sagenhaften Spaß gemacht.
Wenn wir einen Wald betreten, teilen wir die sensorischen Reize, die er bietet (Licht, Farbe, Geruch, Klang etc.), mit allen anderen Geschöpfen, die sich dort aufhalten. Aber würde auch nur eines von ihnen diesen Wald anhand unserer Beschreibungen wiedererkennen? Jedes Lebewesen erschafft in seinem Gehirn eine andere Welt. Es lebt in dieser Welt. Wir sind von Millionen unterschiedlicher Welten umgeben. Sie zu erforschen ist eine aufregende neurowissenschaftliche und literarische Herausforderung.
In den Neurowissenschaften hat es in letzter Zeit beträchtliche Fortschritte gegeben. Wir wissen oder können aufgrund der Arbeiten über ähnliche Spezies intelligent schlussfolgern, was in der Nase und den für den Geruchssinn zuständigen Gehirnregionen eines Dachses vorgeht, wenn er durch den Wald streift. Aber das literarische Abenteuer steckt noch in den Anfängen. Es ist eine Sache zu beschreiben, welche Hirnregionen eines Dachses in einem Kernspintomografen aufleuchten, wenn er eine Nacktschnecke riecht. Eine völlig andere ist es jedoch, das Bild eines ganzen Waldes zu malen, wie er sich dem Dachs darstellt.
Traditionelle Naturschilderungen kranken an zwei Fehlern: Anthropozentrismus und Anthropomorphismus. Die Anthropozentristen beschreiben die Natur, wie Menschen sie wahrnehmen. Da sie Bücher für Menschen schreiben, mag das in kommerzieller Hinsicht recht clever sein. Aber es ist ziemlich langweilig. Für die Anthropomorphisten sind Tiere einfach Menschen in anderer Gestalt: Sie stecken sie in echte (etwa Beatrix Potter) oder metaphorische Kleider (so Henry Williamson) und statten sie mit menschlichen Sinnesorganen aus.
Ich habe versucht, beide Fehler zu vermeiden, und natürlich ist es mir misslungen.
Wenn ich eine Landschaft beschreibe, wie ein Dachs, ein Fuchs, ein Otter, ein Rothirsch oder ein Mauersegler sie wahrnimmt, bediene ich mich zweier Methoden. Erstens vertiefe ich mich in die relevante physiologische Literatur und finde heraus, was man aus dem Labor über die Funktionsweise dieser Tiere weiß. Zweitens tauche ich in ihre Welt ein. Wenn ich ein Dachs bin, hause ich unter der Erde und esse Regenwürmer. Wenn ich ein Otter bin, versuche ich, im Wasser mit den Zähnen Fische zu fangen.
Bei der Beschreibung der physiologischen Erkenntnisse muss man die Aufgabe meistern, nicht langweilig zu sein oder in einen unverständlichen Fachjargon zu verfallen. Bei der Beschreibung, wie es ist, Regenwürmer zu essen, gilt es zu vermeiden, dass man als schrullig und lächerlich abgetan wird.
Die den Tieren zur Verfügung stehenden Sinnesorgane geben ihnen eine viel, viel größere Farbpalette an die Hand, mit der sie das Bild des Landes malen, als sie irgendein menschlicher Künstler je besaß. Dass die Tiere so eng mit dem Land verbunden sind, verleiht ihnen eine weitaus größere Autorität, als selbst ein Farmer sie beanspruchen kann, dessen Vorfahren hier schon seit dem Neolithikum die Scholle bestellen.
Das Buch ist anhand der vier klassischen Elemente aufgebaut, jedes wird durch ein, die Erde durch zwei Tiere repräsentiert: Für die Erde buddeln sich Dachse durch den Untergrund, und der Rothirsch galoppiert darüber hinweg; der Stadtfuchs, der helles Licht kennt, steht für das Feuer; der Otter für das Wasser; und für die Luft der Mauersegler, dieser ultimative Himmelsbewohner, der auf seinen Schwingen schläft, sich nachts von thermischen Strömungen in die Höhe schrauben lässt und kaum je landet. Hinter dieser Aufteilung steht die Vorstellung, dass etwas Alchemistisches passiert, wenn man die vier Elemente im richtigen Verhältnis mischt.
Kapitel 1 gibt einen Einblick in die Probleme meines Herangehens. Es versucht, einige davon durch Vorwegnahme aus der Welt zu schaffen. Wenn Sie keine Probleme sehen, überblättern Sie das Kapitel, und begeben Sie sich ohne Umweg in den Dachsbau von Kapitel 2.
Kapitel 2 handelt von Dachsen. Es spielt in den Black Mountains von Wales, wo ich viele Wochen zu verschiedenen Jahreszeiten verbracht habe. Ich habe etwa anderthalb Monate unter dem Erdboden gehaust, teils in Wales und teils anderswo, allerdings über mehrere Jahre verteilt. Das Kapitel verdichtet diese Aufenthalte auf wenige Wochen und eine Rückkehr und bildet eine Collage aus all diesen Zeitabschnitten.
Es ist ein langes Kapitel, denn es führt in viele Themen und wissenschaftliche Fragen ein, die für die folgenden Kapitel relevant sind – zum Beispiel geht es um die Vorstellung, dass eine Landschaft eher durch Geruchseindrücke als durch visuelle Wahrnehmung konstruiert sein kann. Wegen dieser Ausführungen sind andere Kapitel kürzer, als sie es sonst wären.
Kapitel 3 befasst sich mit Fischottern. Sie sind Wanderer, die weite Strecken zurücklegen, und so sind sie in einem weit größeren Gebiet »daheim« als die anderen Säugetiere in diesem Buch. Sie schlängeln sich die Furchen des Landes entlang; wer ihre Wege kennt, der weiß, wie sich die Erde aufgefaltet hat. Und sie leben in verdünnten Lösungen dieser Erde. Wie auch wir, obwohl wir es normalerweise nicht so sehen. Ihre und unsere Vorfahren kamen aus dem Wasser, und die Otter kehrten später wieder dorthin zurück. Allerdings nicht ganz. Was mir den Zugang zu ihnen leichter macht als zu Fischen.
Dieses Kapitel spielt im Exmoor, wo ich einen großen Teil des Jahres verbringe. Es erstreckt sich über ein weites Gebiet, wie es Ottern entspricht, aber die Ausgangspunkte bilden East Lyn River und Badgworthy Water sowie deren Zuflüsse aus dem Hochmoor und die Nordküste von Devon, in die sich der East Lyn River ergießt.
Kapitel 4 betrachtet den Stadtmenschen mit Nase, Ohren und Augen eines Fuchses.
Es ist im Londoner East End angesiedelt, wo ich viele Jahre gelebt habe. In dieser Zeit streunte ich nachts durch die Straßen und hielt Ausschau nach Fuchsfamilien.
In Kapitel 5 bin ich wieder im Exmoor und in den westlichen Highlands von Schottland, diesmal bei den Rothirschen.
Wir sehen sie vom Auto aus und glauben, wir würden sie besser kennen als die krabbelnden, wühlenden Wesen. Unsere Mythologie unterstützt diese anmaßende Vorstellung und widerspricht ihr zugleich. Gehörnte Götter wandeln anmutig durch unser Unbewusstes. Sie sind groß und sichtbar, aber dennoch Götter und stehlen sich davon, wenn sie uns bemerken.
Viel Zeit meines Lebens habe ich damit zugebracht, dass ich versuchte, Rothirsche zu töten. Dieses Kapitel ist eine andere Art von Jagd – es ist der Versuch, in den Kopf des Hirsches einzudringen anstatt aus zweihundert Meter Entfernung in sein Herz.
Kapitel 6 beschäftigt sich mit Mauerseglern, und der Handlungsort ist die Luft zwischen Oxford und Zentralafrika.
Mauersegler sind mehr als jedes andere Tier Geschöpfe der Lüfte und so schwerelos wie eine mikroskopisch kleine Qualle.
Ich bin von Mauerseglern besessen, seit ich ein kleines Kind war. Wenn ich in meinem Arbeitszimmer in Oxford am Schreibtisch saß, scharrte ein Pärchen in seinem Nest knapp einen Meter über meinem Kopf. Die kreischenden Sommerpartys in unserer Straße wurden genau auf meiner Augenhöhe gefeiert. Ich folgte den Mauerseglern quer durch Europa bis ins westliche Afrika.
Das Kapitel beginnt mit einer Reihe von Fakten, die viele verständlicherweise für umstritten und tendenziös halten. Ja, ich weiß, die Belege für viele dieser Annahmen werden sehr kontrovers diskutiert. Aber haben Sie Geduld mit mir, und lassen Sie uns sehen, wie weit wir damit kommen.
Indem ich mir die Mauersegler vornahm, habe ich mein Scheitern vorprogrammiert. Es war ziemlich dumm. Sie lassen sich nicht ansatzweise in Worte fassen. Man möge es mir als mildernden Umstand für meine Art von Annäherungsversuchen in diesem Kapitel anrechnen.
Im Epilog blicke ich auf meine Reisen in diese fünf Welten zurück. Waren sie vergebliche Liebesmüh? Habe ich etwas anderes beschrieben als das, was sich nur in meinem Kopf abspielte?
Ich hatte darauf gehofft, ein Buch zu schreiben, in dem nichts oder nur wenig von meiner eigenen Person aufscheint. Diese Hoffnung war naiv. Es wurde (viel zu sehr) ein Buch über meine Rückkehr zur Natur, mein Bekenntnis zu meiner vormals ungekannten Wildheit und meine Klage über den Verlust dieser Wildheit. Tut mir leid.
Oxford, Oktober 2015