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Für die beiden netten Annetten – die aus Münchens Norden und die aus Osterreinen am Forggensee

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

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ISBN 978-3-492-96662-7

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2014

Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung der Fotos von Warren Photographic, Rich Seymour/Getty Images, AnnaNem/iStockphoto, gunnar3000/iStockphoto, mu_mu_/iStockphoto

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

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Tippehøne satt på gjerdet,

Tippehøne falt ned.

Ingen doktor kunne hjelpe,

for tippehøne var død.

Tippehøne kom til himmelen,

Tippehøne fikk det godt.

Tippehøne blei engel

i himmelens slott.

Norwegischer Kinderreim

Hühnchen saß auf dem Zaun ganz munter.

Hühnchen fiel hinunter.

Kein Arzt konnt helfen in der Not,

denn Hühnchen war schon tot.

Hühnchen kam in den Himmel droben,

Hühnchen konnt es dort nur loben.

Hühnchen wurd ein Engel schnell

in des Himmels Schloss so hell.

1

Ein sauberes Dekolleté, aus dem die Brüste appetitlich hervorquollen. Bierkrüge, die zusammenkrachten. Als er mit dem Tandemradl an den Schleierfällen vorbeifuhr, riefen ein paar Kinder: »Du musst immer einen Helm anziehen, Helm anziehen, Helm anziehen …« Die Frau mit dem Dekolleté lachte mit sehr roten Lippen. Ein alter Schulfreund, der zweite Mann auf dem Tandemrad, legte ihm die Hand auf die Schulter und grölte. Dann begann er zu wackeln und zu ruckeln. Sie würden umfallen, der Weg war doch so steinig …

Es war zwei Uhr achtundvierzig, als Herbert Springer aus dem Tiefschlaf fuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich noch erinnern, was er geträumt hatte. Einen ziemlichen Schmarrn, denn den Schulfreund hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, der war nach Kanada ausgewandert, und natürlich konnte man an den Schleierfällen nicht radeln, man konnte dort ja kaum gehen, wenn man schlecht zu Fuß war.

Herbert sprang aus dem Bett. Der Traum war weggewischt, die Zeitspanne zwischen Schlaf und Wachen war so kurz gewesen wie ein Wimpernschlag. Hätte er die Augen noch geschlossen gehalten, hätte er den Traum vielleicht noch eine Weile festhalten können, aber in seinen Körper war schon so viel Adrenalin geströmt, dass sein Herz raste. Es war der nervige Piepser, der ihn geweckt hatte. Er las die Nachricht auf dem Display: eine Adresse, es waren Personen in Gefahr, die Einsatzart war ein B5. Als erster Kommandant wusste er, dass dies der feuerwehrinterne Code für einen Großbrand war.

Zwei Sekunden später schallten die Sirenen durch das Dorf, und schon drei Minuten nach der Alarmierung saß Herbert im ersten Fahrzeug. Er konnte fast in einem Rutsch in Hose und Stiefel springen. Als er mit dem Jeep durchs Dorf raste, war es zwei Uhr zweiundfünfzig. Der LF 20, das erste Angriffsfahrzeug, so hieß das nun mal, war ihm auf den Fersen. Zum Glück wohnten viele seiner Leute unweit des Feuerwehrhauses.

Ein schwarzer Himmel wölbte sich über die Schneeflächen, und das fahle Mondlicht verschwand immer wieder hinter faserigen Wolken. Das Kreischen der Sirenen schallte auch durch die Nachbardörfer, und man hätte schon einen sehr guten Schlaf haben müssen, um nicht vom Geräusch aufzuschrecken. Fenster klappten, Köpfe reckten sich hinaus. Gestalten in Morgenmänteln, Pantoffeln oder eilig übergestülpten Stiefeln hasteten durch die verschneiten Bauerngärten. Wo brennt es? Hoffentlich nicht bei uns! Viele sahen am nachtschwarzen Himmel den Feuerschein, der hinaufzüngelte wie ein Feuer speiender Drache.

Es brannte beim Schmid, und das war gar nicht gut, schließlich lag der Hof mitten im Dorf. Die Tenne hatte bereits zur Hälfte Feuer gefangen, und zwar in der rechten Hälfte, die direkt ans Wohnhaus angrenzte. Immerhin gab es eine gute Brandschutzmauer dazwischen. Herbert wusste, dass dennoch immer alles passieren konnte, aber er hatte Routine und Nerven wie Drahtseile, zumindest solange das Adrenalin ihn begleitete, und das würde heute wohl noch eine Weile der Fall sein.

Die Wehren aus Oberammergau und Altenau heulten nun auch heran, und für einen Sekundenbruchteil fragte sich Herbert, ob die Saulgruber mal wieder in die falsche Richtung gefahren waren. Dann lächelte er, heute war kein Nebel, da würden die Nachbarn es ja wohl schaffen. Rotes Kreuz und Polizei lichtorgelten ebenfalls heran. Herbert wies die Kollegen von den anderen Wehren ein. Eigentlich hätte der Kreisbrandinspektor aus Ogau – so lautete die saloppe Abkürzung für Oberammergau – übernehmen sollen, doch der war im Urlaub.

Inzwischen hatte Herbert seinen Atemschutztrupp ins Wohnhaus geschickt, der Sicherungstrupp stand bereit, und auf die Tenne lief bereits voller Angriff. Bei einem Brand dieser Größe würde das Hydrantennetz in jedem Fall zusammenbrechen. Deshalb waren die anderen Wehren – Saulgrub und Ettal waren mittlerweile auch eingetroffen – damit beschäftigt, die Ansaugstellen an der Ammer zu besetzen.

Als die Kollegen Burgi Schmid auf einer Trage durch den Bauerngarten bugsierten, war es drei Uhr zehn. Ihr Mann Xaver humpelte, auf zwei Feuerwehrler gestützt, hinterher und brüllte irgendwas Unverständliches. Der Notarzt hastete den beiden Alten entgegen. Zu allem Überfluss hatte sich ein Ettaler Feuerwehrmann, ein Zuagroaster mit großer Klappe und Sendungsbewusstsein, den Knöchel gebrochen, als er vom Einsatzfahrzeug gesprungen war – wie ein Keltenkrieger, der sich in die Schlacht stürzen will. Dadurch wurden unnötig Sanitäter abgezogen, die den übereifrigen Kollegen mit einem Krankenwagen abtransportieren mussten.

Einige Kollegen aus Altenau hielten dicke Decken hoch, um damit die heranbrandende Flut von Dorfbewohnern abzuhalten. Der Atemschutztrupp hatte abgeklärt, dass nun niemand mehr im Wohnhaus war. Zwei benachbarte Bauern waren in den Stall des Schmid-Hofs gelaufen, der einen kleinen Teil der brennenden Tenne bildete, und hatten die Tiere herausgetrieben. Es waren zum Glück nicht mehr viele: sechs Kühe, ein Geißbock, sieben Schafe. Eine Frau, die über dem Nachthemd eine Daunenjacke trug und deren nackte Beine in den viel zu großen Latschen ihres Mannes steckten, versuchte die flatternden und gackernden Hühner zusammenzuhalten. Bei Katastrophen taten Menschen oft instinktiv das Richtige, das wusste Herbert.

Irgendwo war ein Schrei zu hören: »Da kommt nix!« Wie so oft hatte jemand im Durcheinander die Schläuche an den falschen Verteiler angeschlossen, Schlauchordnung war eben nicht jedermanns Sache. Die Nachbarhäuser standen unter Wasserbeschuss, und Herbert befürchtete nun kein Übergreifen der Flammen mehr aufs Wohnhaus.

Es war drei Uhr zwanzig, als plötzlich alle in eine Richtung starrten: Im linken Teil der Tenne brannte es auf einmal taghell. Das Licht schmerzte in den Augen wie bei einer Explosion. Herbert, der erste Kommandant, vermutete Metallbrand, womöglich auch Kunstdünger oder Ammoniak, irgendetwas in der Art, und das war schlecht, sehr schlecht sogar. Dennoch gelang es der Feuerwehr, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Herberts Adrenalinspiegel war weiterhin auf Spitzenniveau.

Drei Stunden später hatten sie schließlich jeden Balken abgelöscht, und die Wärmebildkamera zeigte keine Brandnester mehr an. Zwei Journalisten vom Garmischer Tagblatt waren inzwischen aufgelaufen, hatten fotografiert und waren im Weg herumgestanden. Herbert hasste ihre hartnäckigen Fragen, ob man zu diesem Zeitpunkt schon etwas über die Brandursache sagen könne. Die vordringlichste Aufgabe der Feuerwehr war es schließlich, Menschenleben zu retten und die Flammen zu löschen, und in dieser Hinsicht war heute ja einiges geboten gewesen.

Bevor die Brandermittler aus Garmisch eintreffen würden, wollte Herbert eine erste Inspektion in dem abgebrannten Gebäude machen. Doch plötzlich fragte ihn ein Kollege: »Wo is eigentlich die Pflegerin? Du woaßt scho, des Madel. Wo is die?«

Das Adrenalin, das eine kurze Pause eingelegt hatte, schoss wieder ein. Aus Herberts Magen stieg Säure auf.

»Such den Franz«, antwortete er. Franz Schmid, einen der Söhne der beiden Alten, hatte er vorhin noch irgendwo im Getümmel gesehen.

Der erste Kommandant stieg über die vor sich hin dampfenden Balken. Wo der blendend helle Schein ins Schwarz der Nacht herausgefahren war, hielt Herbert inne. Es war offensichtlich, dass hier etwas mit gewaltiger Wut und Hitze gebrannt hatte. Die genauen Umstände zu untersuchen würde Aufgabe der Brandermittler sein, aber Herbert war sich sicher, dass hier etwas den Brand in Gang gesetzt und beschleunigt hatte.

Der Schmid hatte noch ein altes Holzhochsilo in seiner Tenne gehabt, auch das war fast vollständig heruntergebrannt. Draußen gab es noch ein neueres Fahrsilo, aber der alte Xaver hatte immer noch das unpraktische Holzmonstrum mit Silage vollgepackt. Von dem einst fünf Meter hohen Turm war nur noch ein Ring von etwa einem Meter fünfzig übrig geblieben, und lediglich die untere der beiden Entnahmeluken war erhalten. Herbert spähte über den Rand, und sein ganzer Körper war auf einmal stocksteif. Die Magensäure schwappte ihm bis in die Kehle, sein Herz raste.

»Alle zruck!«, rief er. »Zruck!«

Im Silo lagen zwei verkohlte verbogene Gestalten, die gerade noch als Menschen zu erkennen waren. Das war nun Sache der Kriminaler. Herbert informierte die Polizisten, und schon war ein zweites Feuer entfacht: ein Lauffeuer, das von den Kollegen sofort auf die Neugierigen übergriff. Zwei Tote im Silo! Wer? Warum? Was war passiert? Das Lauffeuer eilte durch das Dorf.

Es war halb acht, als Kathi Reindl und ihre Kollegin Andrea in Unterammergau eintrafen. Zehn Minuten später spähten sie über den Rand des Silos.

»Scheiße!«, entfuhr es Kathi. »Irgendeine Idee, wer das sein kann? Wird jemand vermisst?«

»Es gibt eine rumänische Pflegekraft, über deren Aufenthaltsort momentan nichts bekannt ist«, meinte Herbert langsam.

»Und die andere Leiche?«

»Liabs Madel, wir haben hier die ganze Nacht einen Brand gelöscht, der aufs gesamte Dorf hätte übergreifen können. Und mit Bränden hat Ugau in seiner Geschichte ja durchaus schlechte Erfahrungen gemacht«, sagte Herbert nun etwas schärfer.

Kathi drehte sich um und beäugte ihre Kollegin mit einer Mischung aus Verachtung und Bedauern. Andrea war blass wie der Schnee und sah aus, als müsse sie gleich kotzen. Kathi hatte sich vorgenommen, netter zu ihr zu sein. Vor allem jetzt, wo Irmi nicht da war. Deshalb schickte sie Andrea zu den Spurensicherern, weg vom Fundort der Leichen.

Auch Kathi fühlte sich irgendwie zittrig, wenn sie ehrlich war. Zwei verbrannte Menschen in einem Silo in Unterammergau. Was für ein Wahnsinn. Und was für ein Wintermorgen, der doch still hätte sein müssen. Stad wie die ganze stade Zeit, wo die Tage kurz waren und weniger forderten als der aufdringliche Sommer, der einem den Schlaf raubte, weil man bis nachts um halb elf draußen saß und am nächsten Morgen das Licht schon so früh ins Zimmer fiel. Irmi sagte immer, dass sie den Sommer hasste. Sie mochte diese frühe Dunkelheit, darum war sie wohl auch dorthin gereist, wo es noch dunkler war. Sie fehlte hier.

Schließlich gaben die Spurensicherer das Startzeichen, die Leichen aus der Ruine zu holen. Herbert wusste, was das hieß. Dafür waren nun wieder sie zuständig. Sie, die Männer fürs Grobe. Zusammen mit seinen Kollegen Sepp, Willi und Hans verrichtete er diesen gruseligen Dienst. Sie schoben die Brandopfer in zwei Leichensäcke. Es war leicht, die Toten wogen fast nichts.

»Der Leib hebt lang gut zamm«, sagte Willi.

Herbert schwieg, jeder hatte seine eigene Art, mit solcher Pein umzugehen. Zusammen mit Sepp trug er den ersten Sack und lud ihn ins Auto der Gerichtsmedizin.

Willi stand derweil in der Tenne. Was do no alls rumflackt, dachte er und kickte das dunkle Gebilde, das er neben dem ausgebrannten Silo entdeckt hatte, mit dem Stiefel aus dem Gebäude. Sein Kollege Hans hatte davon gar nichts mitbekommen.

Allmählich wurde es ruhiger. Die Nachbarwehren waren davongefahren. Kathi war im Gespräch mit den Brandermittlern, die Herberts Ansicht teilten und den Brandherd jetzt schon lokalisieren konnten. Sie wollten noch jemanden aus München hinzuziehen und versprachen, rasch zu arbeiten. Die Gerichtsmedizin stand in den Startlöchern. Kathi hatte Franz Schmid zu ihrem Wagen gebeten.

»Ich habe gehört, die Pflegerin Ihrer Eltern wird vermisst. Sie war nicht im Haus, wo sie ja wohl eigentlich hätte sein müssen.«

Franz Schmid, der um die fünfzig sein musste, hatte wirres, graubeigeblondes Haar, das vermutlich selten einen Schnitt bekam. Kathi blickte auf die geplatzten Äderchen, die wie ein feines Gespinst seine Wangen überzogen. Sein linkes Augenlid hing leicht nach unten, ein schöner Mann war das nicht. Wahrscheinlich war er das nicht einmal in jungen Jahren gewesen, bevor er viel zu viel gesoffen hatte.

»Ja, sie war dann wohl nicht da«, sagte der Mann mürrisch.

Kathi riss die Augen auf. »Das ist alles, was Sie mir zu sagen haben? In der Tenne Ihrer Eltern lagen zwei Tote! Ist Ihnen vielleicht schon mal die Idee gekommen, dass Ihre Pflegerin die eine davon sein könnte?«

»Die Idee scho.«

Selbst wenn man dem Mann eine gewisse Verwirrung nach so einer Nacht zubilligen wollte, erzeugte so viel Einsilbigkeit bei Kathi starke Aggressionen.

»Schmid!«, brüllte sie. »Zwei Tote! Und die Pflegerin fehlt. Hat sie einen Freund? Wo könnte das Madel stecken? Verstehen Sie mich?«

Er schwieg, von Kathis Ausbruch wenig beeindruckt. An diesem Mann schien alles abzutropfen.

»Das weiß man bei solchen doch nicht«, sagte er schließlich.

»Solchen was?«

»Na ja, Ostweibern halt. Sind doch alle nur auf Männer aus, die sie heiraten und rausholen aus den Karpaten.«

Kathi sah wieder Irmi vor sich, die in solchen Momenten ganz leise wurde und Eiseskälte in ihre Stimme zu legen vermochte. Sie war nahe dran, dem Schmid Franzl eine zu scheuern.

»Ich frag Sie nun zum letzten Mal: Haben Sie eine Idee, wo das Madel sein könnte?«

»Nein, normal müsst sie da sein. Dafür wird sie ja bezahlt, die Trutschn.« Franz Schmid war so kooperativ und gesprächig wie ein zermergelter Hackstock.

Kathi atmete tief durch. Dann zählte sie innerlich bis fünf. Irmi hatte ihr mal geraten, bis zehn zu zählen, aber so weit kam sie nicht, ehe es aus ihr herausschrie: »Und wenn sie doch im Silo lag? Was hat sie da gemacht?«

»Sich vor dem Brand versteckt? Was woaß denn i?«, murmelte er und schaute grimmig.

So dumm war doch wohl keiner, sich bei Feuer in ein Silo zu flüchten? Andererseits: Wussten alle Menschen, welche Gefahr von Silogasen ausging?

»Wo war das Zimmer der Pflegerin? Hat die vielleicht auch einen Namen?«

»Ionella. Ionella Adami.«

»Und das Zimmer?«

»Oben. Aber da können Sie jetzt ned eini!«

»Sie glauben gar nicht, was ich alles kann!«

Kathi stampfte davon und auf Herbert zu, der angesichts der herannahenden Rachegöttin unwillkürlich einen Schritt zur Seite machte.

»Ich muss ins Wohnhaus. Es gibt die berechtigte Sorge, dass eine der Leichen die Pflegerin ist.«

Herbert sah Kathi in die Augen, und obwohl Kathi alles andere als der sensible Typ war, spürte sie in diesem Blick eine schwere Last. Der Mann machte sich Vorwürfe, und sie hatte auf einmal das Gefühl, ihn trösten zu müssen.

»Sie konnten nichts tun. Sie haben doch Wärmebildkameras. Die haben ja auch nichts mehr angezeigt. Sie haben das Haus und das Dorf gerettet.«

»Von mir aus können Sie reingehen. Gefahr besteht jedenfalls keine.« Er zögerte. »Wo ist eigentlich Frau Mangold?«

»Im Urlaub. Kennen Sie Irmi?«

»Eher ihren Bruder, den Bernhard. Der ist bei der Wehr in Eschenlohe. Man kennt sich oiwei.«

Ein kleiner Plausch über Bekannte, wie man das im ländlichen Raum eben so machte. Hätte da nicht die schwarze Ruine gestanden, hätte nicht der Brandgeruch in den Lungen gebissen und wären da nicht zwei Tote gewesen.

»Wenn wir mal annehmen, die eine Leiche ist die Pflegerin. Wer ist dann die zweite?«, fragte Kathi.

»Ich bin kein Hellseher.«

»Aber Feuerwehrkommandant in Ugau. Nicht in New York oder Mexiko City. Sie kennen doch jeden hier. Hatte diese Ionella einen Freund?«

»Klar san s’ der brutal nachg’stiegen. Schlange san s’ g’standen. Aber es wird ja wohl kaum einer ein Schäferstündchen im Silo ausmachen!«

Kathi schwieg. »Ich geh dann mal rein«, sagte sie schließlich.

»Ich komm mit, falls was wär’«, meinte Herbert.

Kathi widersprach nicht, sondern winkte Andrea heran. Zu dritt gingen sie durch den Bauerngarten und betraten das Wohnhaus. Der Gestank war überall, er würde auch noch eine Weile bleiben und penetrant an den Brand erinnern.

Im Gänsemarsch stiegen Kathi, Andrea und der Feuerwehrler die kleine Treppe hinauf, die vom Gang aus in den ersten Stock führte. Gleich vorn gab es rechts und links je einen Raum, von denen der eine ein altes Kinderzimmer war. An einem Schrank pappten noch Mainzelmännchen-Sammelaufkleber und Fußballerbilder aus Zeiten, in denen Beckenbauer noch ein Bürscherl gewesen war und Breitner noch nicht gewusst hatte, dass er mal Pädagogik studieren würde. Im anderen Zimmer standen ein altes, mit Bauernmalerei verziertes Doppelbett und ein Bauernschrank, offenbar das Schlafzimmer der beiden Alten. Weiter hinten am Gang befanden sich zwei weitere Räume: ein kleines Duschbad, das neu eingebaut zu sein schien, und ein Zimmer, das ebenfalls mit Jugendmöbeln aus den Siebzigern ausgestattet war. An der Wand hing ein offenbar mehrfach umgeklebtes Pferdeposter von einem Haflinger. Es war zerknittert und hatte abgeschnittene Ecken. Die Einrichtung war spartanisch: Schrank, Bett, ein Schreibtischchen, ein Holzstuhl, ein Regal. Über der Stuhllehne hing ein BH, im Regal lagen ein paar Bücher mit dramatisch anmutenden Umschlägen. Es schien sich um einige rumänische und mehrere deutsche Liebesromane zu handeln. Auch eine Möglichkeit, Deutsch zu lernen, dachte Kathi. Neben den Büchern standen zwei gerahmte Bilder, ein Familienfoto und das Porträt eines Mannes, das mit »Franz Davidis« betitelt war. Darunter stand ein Spruch: Die vom Geist Gottes Erleuchteten dürfen nicht aufhören zu reden, noch dürfen sie die Wahrheit unterdrücken. So ist die Kraft des Geistes, dass der menschliche Verstand, jede falsche List beiseitelassend, allein bestrebt ist, die Ehre Gottes zu vergrößern, sollte auch die ganze Welt toben und sich widersetzen.

Kathi runzelte die Stirn.

»War wohl religiös, diese Pflegerin«, sagte Andrea.

»Und wer ist Franz Davidis?«, fragte Kathi.

Andrea zuckte mit den Schultern.

Im Regal lagen außerdem die Tablettenboxen des Ehepaars Schmid. Zumindest nahm Kathi an, dass sich darin deren Medikamente befanden. Wahrscheinlich hatte die Pflegerin sichergehen wollen, dass die beiden Alten nicht versehentlich die falschen Tabletten in einer falschen Dosierung einnahmen. Der Schrank war mit Kleidung nur spärlich bestückt, auf dem säuberlich gemachten Bett saß ein Plüschhase, der sehr abgegriffen aussah.

Als die drei wieder das Zimmer verlassen hatten, blickte Kathi auf eine Tür am Ende des Gangs.

»Da tät ich nicht rausgehen. Da ist ja … also … da ist ja nix mehr«, sagte Herbert.

Kathi stutzte. Klar, an das Haus schloss sich der kleine Stall an, der von der mehrstöckig gebauten Tenne quasi umschlossen war. Und die Tenne war ja nun komplett abgebrannt. Da war wirklich nichts mehr …

Aus dem kleinen Bad, das kaum mehr als ein paar Schminkutensilien, ein Duschgel, einen Deoroller und ein billiges Parfüm enthielt, holte Kathi die Zahn- und Haarbürste von Ionella und packte sie in Plastikbeutel – für den DNA-Abgleich. Eine Weile standen sie alle unschlüssig im Gang.

Andrea warf noch einen Blick in das Zimmer und auf den Hasen. »Ist das traurig«, sagte sie leise.

Kathi war schlecht, und sie hatte Hunger.

Momentan war wenig zu tun. Sie mussten auf eine schnelle Identifizierung der Leichen hoffen. Als Nächstes würden sie mit den beiden Alten reden und mit der übrigen Familie. Aber für den Moment lag eine gespenstische Stille über dem Haus, das noch vor wenigen Stunden von den Sirenen umjault gewesen und vom Feuerschein hell beleuchtet gewesen war.

Herbert ging langsam zu seinem Jeep. Vorbei an dem Jägerzaun, vorbei an den flackernden Lichtern der Polizei, die immer noch den Himmel durchzuckten. Dann spie er. Auf seine Schuhspitzen, auf die Feuerwehrstiefel. Haix, »Schuhe für Helden«, trug man bei den Wehren – doch wie ein Held fühlte er sich in diesem Moment nicht gerade.