Buch
Sie kam 1887 auf einem Adelssitz zur Welt und durfte doch nie Prinzessin sein. Mit zwölf steckte man sie auf Geheiß ihres Vaters für mehrere Monate in eine Streckapparatur, um sie dem Schönheitsideal der Zeit anzupassen. Erfolglos. Edith Sitwell hat geliebt, aber nie geheiratet. Sie wuchs zu einer spitzzüngigen Dichterin und Schriftstellerin heran, lebte ein selbstbestimmtes Leben und machte aus sich ein in Brokat, Seide und Samt gehülltes Gesamtkunstwerk. Reisen führten sie nach Berlin, Paris, Hollywood und New York. Überall wollte man sie sehen, alle Welt wollte mit ihr sprechen. Die berühmtesten Zeitgenossen zählten zu ihren Bekannten, sie wurde unzählige Male von Starfotograf Cecil Beaton porträtiert, war mit Aldous Huxley und Marilyn Monroe befreundet und zelebrierte legendäre Feindschaften mit ihren Kritikern. In ihrem bewegten Leben spiegelt sich das Bild einer Epoche, die sowohl in politischer wie in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht von tiefen Brüchen und Umbrüchen geprägt war.
Der Roman verknüpft das Leben der historischen Figur Edith Sitwell (1887–1964) mit den fiktiven Lebensgeschichten von Emma und Jane Banister, Tochter und Enkelin des obersten Gärtners von Renishaw Hall, dem Familiensitz der Sitwells. Emma Banister ist bereits seit gemeinsamen Kindertagen mit der jungen Edith befreundet und arbeitet dann eine Zeit lang als Hausmädchen auf Renishaw. Ihre Tochter Jane, die Erzählerin des Romans, begleitet Edith Sitwell in den späteren Jahren als Bedienstete und Vertraute und bleibt bis zu ihrem Tod an ihrer Seite.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Wunderraum-Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Random House GmbH.
Originalveröffentlichung September 2019
Copyright © 2019 by Veronika Peters
Copyright © dieser Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München
Umschlagmotiv: © Ruth Botzenhardt/shutterstock
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24667-9
V001
www.wunderraum-verlag.de
Gabriel Cosack in dankbarer
Erinnerung gewidmet.
»I always was a little outside life.«
Edith Sitwell
(aus »Colonel Fantock«)
London, 1964
Von der Straße aus ist nicht viel mehr zu erkennen als ein dunkler Schemen. Sie sitzt dort oben und beobachtet alles, was hier unten vor sich geht. Die grob gewebten Stores ihres Schlafzimmerfensters sind einen Spalt auseinandergeschoben, gerade so weit, dass sie nach draußen schauen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Jedenfalls glaubt sie das. Den anderen Passanten, dem jungen Mann mit dem Geigenkasten unterm Arm, der Frau mit dem hinkenden Hund oder den drei Nachbarmädchen, die auf dem Bürgersteig Himmel und Hölle spielen, ist bestimmt nichts aufgefallen. Aber mich täuscht sie nicht. Sie ist während meiner Abwesenheit aufgewacht und in den Rollstuhl gestiegen, allein oder mit Hilfe von Schwester Farquhar. Ich vermute Letzteres, denn gestern Abend war sie sehr schwach.
Eins der Kinder lacht laut und schadenfroh, ein anderes brüllt: »Du bist so gemein!«
»Esther, Susan, Lilly, sofort rein mit euch!«, schreit die Nachbarin von der anderen Seite über die Straße. Die Mädchen gehorchen augenblicklich, wütend kläfft der Hund, als kleine Füße dicht neben ihm über das Pflaster rennen.
Der Schatten am Fenster bewegt sich. Vielleicht notiert sie gerade etwas in eins der kleinen schwarzen Hefte, verarbeitet den hinkenden Hund zu einem Vers, die schreiende Mutter oder den Mann mit der Geige zu einer Szene. Möglicherweise schreibt sie auch ein Spottgedicht, vielleicht endlich einmal eins über mich.
Wenn sie denn heute die nötige Kraft für Spott und Dichtung aufbringen kann – wenn nicht, wird sie Zuspruch brauchen. Und dafür bin ich zuständig.
Kurz bevor ich das Haus erreiche, winke ich zu ihrem Fenster hinauf. Nichts rührt sich. Wie zu erwarten. Ich lächle, weiß genau, dass sie auch das zur Kenntnis nimmt. Den Einkaufskorb stelle ich kurz auf dem Boden ab, als ob ich ihn kaum noch halten kann. Sie soll sehen, dass der Korb heute schwerer ist als gestern. Sie wird daraus schließen, dass ich neben Fisch, Gemüse und Gebäck für Schwester Farquhar und mich auch Brandy gekauft habe, zwei Flaschen.
In einer halben Stunde, wenn ich den Tee serviere, wird sie überrascht tun und behaupten, sie habe gar nicht mitbekommen, dass ich wieder da sei, und ich werde es auf sich beruhen lassen.
Wir spielen dieses Spiel schon lange, in vielen Wohnungen, an vielen verschiedenen Orten. Und wahrscheinlich hat sie es in ihrer Jugend schon genauso mit meiner Mutter gespielt.
Ich kenne Dame Edith, wie niemand sonst sie kennt. Besser als ihre Brüder und Freunde, viel besser als diese angeblichen und tatsächlichen Berühmtheiten, die bei uns ein und aus gehen und so vertraut mit ihr tun. Ich helfe ihr abends aus den Kleidern, wasche den faltigen alten Rücken, sehe sie nackt und ungeschützt. Ich halte ihre Launen aus, höre mir die Geschichten und Zornesreden an, bleibe bei ihr, wenn die namenlose Unruhe sie quält, versuche Trost zu spenden, wenn sie Trost braucht.
Meine Familie dient ihrer Familie bereits in der dritten Generation.
Lang-kurz-kurz-lang. Nach dem Klopfzeichen lasse ich ein paar Sekunden verstreichen, bevor ich mit dem Tablett das Zimmer betrete. Das gibt ihr Zeit, sich auf die Art und Weise zu präsentieren, die ihr in dem Moment passend erscheint.
Und da sitzt sie, mit dem Rücken zum Fenster, ganz und gar in ein Buch vertieft, das auf ihrem Schoß liegt, als läse sie schon den ganzen Tag darin. Die breite Pelzstola hat sie um die knochigen Schultern gelegt, den tannengrünen Turban mit den drei Straußenfedern über das schüttere Haar gestülpt, die weiche Alpakadecke, die ihr Cecil zum Geburtstag geschickt hat, liegt über ihren Knien, und ihre nackten Füße stecken in den mit gelben Perlen bestickten Straußenlederpantoffeln aus New York. Unter der Pelzstola sehe ich ein Stück ihres weißen Flanellnachthemds aufblitzen. Sie hat also nicht nach Schwester Farquhar geklingelt, sondern sich alleine angezogen.
Nicht vielen Menschen gelingt es, in einem derartigen Aufzug Würde auszustrahlen.
Es geht ihr eindeutig besser als gestern Abend.
»Höchste Zeit für eine Pause, Dame Edith!«
Sie schaut auf wie jemand, der nur widerwillig in die Gegenwart zurückkehrt, lächelt huldvoll.
»Ach, du bist es, Jane! Hattest du eine angenehme freie Zeit heute?«
Ich sage nicht: »Ich war für Sie unterwegs, Dame Edith«, sondern: »Ich war einkaufen, und die Sonne hat geschienen.«
»Schön für dich.«
»Und wie war Ihr Tag bislang?«
Sie legt theatralisch den Handrücken an die Stirn und stöhnt: »Ich sterbe vor Durst!«
»Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen!«
Ein amüsiertes, beinahe jugendliches Lächeln huscht über ihr Gesicht.
»Tee?«, frage ich.
»Ja, bitte!«
Wir haben uns stillschweigend drauf geeinigt, es weiterhin Tee zu nennen, und ich bemühe mich, es auch so aussehen zu lassen: serviere den Brandy in der Silberkanne, füge Milch hinzu, bis die Farbe in etwa stimmt. Dann reiche ich ihr das Gemisch an, achte darauf, die Untertasse erst loszulassen, wenn die zitternden Finger fest um das feine Porzellan geschlossen sind.
Wir sind in diesen alltäglichen Verrichtungen ein gut eingespieltes Gespann, sie und ich.
Dame Edith hebt die Tasse an ihre Nase, schließt die Augen, saugt vernehmbar die Luft ein, kräuselt ihre Oberlippe, einen Hauch zu beseelt. Vielleicht hat Schwester Farquhar sich heute Morgen doch erbarmt und ihr einen Schluck zum Frühstück gestattet. Gegen die Schmerzen, gegen den Kummer, gegen das Grübeln und Vermissen.
»Gut so?«, frage ich.
»Wunderbar!«, antwortet sie. »Meine Rettung! Was würde ich nur ohne dich tun? Verloren wäre ich, ganz und gar verloren!«
Madame zelebriert wieder ihre hymnischen fünf Minuten, denke ich und sage unfreundlicher, als ich es eigentlich will: »Ist schließlich meine Pflicht.«
Der jämmerliche Ton, den sie daraufhin anschlägt, lässt mich meine leichte Gereiztheit augenblicklich bereuen. Manche Dinge lerne ich anscheinend nie.
»Pflicht? Tust du es denn nicht gerne, Jane? Sind wir nicht auch Freundinnen?«
Ich nicke. »Aber ja. Das wissen Sie doch.«
»Wirst du bei mir bleiben, bis ich sterbe?«
»Gestorben wird noch lange nicht, Dame Edith! Ich verbiete es!«
Ihre noch immer schöne schlanke Rechte, heute mit zwei Aquamarinen am Mittelfinger vergleichsweise bescheiden geschmückt, flattert anmutig durch die abgestandene Luft des Schlafzimmers, die Tasse in ihrer Linken klappert dabei bedenklich auf dem Unterteller. Ich berühre ihren Arm, ganz leicht, so dass es ebenso ein Versehen sein könnte.
»Meine liebe Jane«, sagt sie leise.
Manchmal geht sie mir furchtbar auf die Nerven. Sie kann launisch und boshaft sein und aus allem ein Drama machen, aber es ist wahr: Ich bin gerne für sie da. In ihrer Gegenwart habe ich mich noch nie gelangweilt. Selbst ihre spitze Zunge gefällt mir, solange sie sich nicht gegen mich richtet. Trotz all ihrer Marotten, der hysterischen Überspanntheit ist sie auch gütig und großherzig. Vor allem aber behandelt sie Leute wie mich nie als Menschen zweiter Klasse. Sie richtet nicht nach Herkunft, Besitz, der Art zu lieben oder dem gesellschaftlichen Erfolg – und am allerwenigsten danach, wie jemand aussieht.
Vielleicht, weil sie nur zu gut weiß, wie sich das anfühlt.
Versonnen setzt sie die Tasse an die Lippen, leert sie in einem Zug, reicht sie mir zurück.
»Ich bin immer noch so durstig«, jammert sie.
»Sie müssen auch essen!«, sage ich streng.
»Wa wawa wa wawa«, äfft sie mich nach. Aber dann zieht sie doch mit spitzen Fingern ein Scheibchen Räucherlachs von einem der Toasts. Ich gieße Champagner in den Silberbecher und reiche ihn ihr. Fast ohne zu kauen spült sie den Fisch hinunter.
»Sehr gut!«, lobe ich.
Sie schnauft, leicht verächtlich, aber auch ein bisschen verschmitzt, ringt sich sogar dazu durch, erneut zuzugreifen. Es gibt Tage, da nimmt sie außer der Milch im Brandy nichts Nahrhaftes mehr zu sich.
Als ich ihr den Teller noch einmal hinhalte, hebt sie abwehrend die Hand und schnalzt mit der Zunge. Der Kater hebt den Kopf vom Kissen in ihrem Bett, wo er in sich zusammengerollt geschlafen hat, und kommt angelaufen. Bevor ich ihn davon abhalten kann, ist er auf ihren Schoß gesprungen, maunzt, reibt seinen Kopf an ihrer Brust und lässt sich mit einem Happen Fisch belohnen. Ich verdrehe die Augen.
»Ich bitte dich, Jane, hast du kein Herz? Er ist ganz ausgehungert, der arme kleine Kerl!«
Shadow, der für einen Siamkater viel zu fett ist, langt mit der Pfote nach einem weiteren Bissen. Edith zupft mehr Lachs vom Brot und teilt ihn sich mit dem Kater.
»Siehst du, wir essen beide! Du musst uns loben!«
Ich schüttele den Kopf und reiche ihr schweigend den Becher.
Die Tiere sind ein Dauerthema. Mir sind sie ein Gräuel, aber für Edith gibt es kaum noch etwas, das ihr so viel Freude bereitet wie diese nervtötenden Katzen, die überall herumlungern, wo wir gerade wohnen. Zurzeit treiben sich vier Stück im Haus herum, sind lästig wie zehn, schlagen ihre Krallen in Polster und Strümpfe, kreischen mitten in der Nacht wie fieberkranke Kleinkinder. Und während ich kein Auge zutue, lauscht Dame Edith weinbrandselig den Gesängen ihrer Lieblinge. Der bösartige Kater, der mich jedes Mal giftig anfaucht, sobald ich nur in seine Nähe komme, ist ihr erklärter Favorit.
»Offensichtlich bin ich keine Person, die sich dazu eignet, von Menschen geliebt zu werden«, sagte sie neulich zu Miss Elizabeth und fügte hinzu, dass allein Shadow ihr in aufrichtiger und fragloser Liebe zugetan sei. Natürlich bin ich einiges gewöhnt nach siebenunddreißig Jahren mit ihr, aber in diesem Moment schnürte es mir doch den Hals zu.
Das Schlucken fällt ihr mit jedem Tag schwerer. Heute schafft sie immerhin fast die Hälfte vom Lachs, der Rest verschwindet in Shadows unersättlichem Maul. Für mich bleibt Toast mit Butter, da sie auf keinen Fall will, dass etwas weggeworfen wird.
»Bedien dich!«, befiehlt sie, und ich gehorche.
»Schwester Farquhar wird schimpfen«, sage ich, aber Edith lacht nur. Ein albernes helles Kichern, das so gar nicht zu ihrem Alter passt. Dann wird sie schlagartig ernst, richtet sich in ihrem Rollstuhl auf und wirft mir einen finster-gefährlichen Blick zu, wird die scharfzüngige, bewunderte und gehasste Dichterfürstin, die sie in ihren schlimmsten und zugleich besten Jahren war: die Frau, die erbarmungslose Rachefeldzüge gegen ihre Kritiker führte – die im kriegsgebeutelten London vor versammeltem Publikum seelenruhig ihr Gedicht zu Ende rezitierte, während draußen die deutschen Bomben niedergingen. Wie sehr habe ich sie in diesem Augenblick geliebt und verehrt, als sie uns alle mit nichts als der Kraft ihrer Worte in ihrem Bann hielt: »Lautlos fällt der Regen auf die blutgetränkten Felder, wo die kleinen Hoffnungen gedeihen …« – jeder Einzelne im Saal folgte atemlos ihrer Stimme, niemand geriet in Panik, als das Donnern der Explosionen näher kam.
»Welches Recht hat Schwester Farquhar, sich zu echauffieren? Ich mag alt und klapprig sein, aber ich bin immer noch eine unabhängige Frau, ich kann tun und lassen, was ich will! Schließlich finanziere ich das alles hier mit meiner Arbeit, bezahle Farquhars Gehalt und auch deins, Jane, nicht anders als das Brot, das du mir aufdrängen willst. Verschont mich also mit euren Bevormundungen!«
Das entspricht nur bedingt den Tatsachen, aber ich erwidere nichts. Zurzeit kommt das Geld, das Woche für Woche in einem feinen Büttenkuvert vor meiner Zimmertür liegt, von Lady Ellerman. Edith hat zwar immer auch freigebig ausgeteilt, wenn sie selbst etwas hatte, aber solange ich mich erinnere, wurde sie immer wieder von Freunden, Förderern, ihren Brüdern oder anderen Familienmitgliedern unterstützt. Ohne diese Hilfe hätte es Hering statt Lachs gegeben, Fusel statt Champagner und niemanden, der sie bedient oder ihre Korrespondenz erledigt. Natürlich weiß sie, dass ich das weiß, aber wozu soll ich sie kränken? Stattdessen fülle ich stumm den restlichen Brandy in die Tasse und stecke mir das letzte Stück Toast in den Mund, während sie gierig trinkt.
»Danke, Jane, ich danke dir sehr!«, sagt sie. »Du bist nicht wie diese boshaften Kreaturen dort draußen, die nur auf einen Moment der Schwäche warten, um sich auf mich zu stürzen, widerwärtige Lügen über mich zu verbreiten und …« Abrupt bricht der Satz ab, als ihr Blick auf das Ölgemälde über der Kommode fällt, eines der unzähligen Porträts, die von ihr gemalt wurden. Anscheinend hat sie vergessen, was sie sagen wollte. Ich atme auf. Ihre Schimpftiraden sind schwer zu ertragen, wenn sie sich erst einmal in Rage geredet hat.
Während ich das Geschirr zusammenräume, starrt sie noch immer auf das Bild, eine junge Frau von dreißig Jahren: das Kinn auf der rechten Hand aufgestützt, den Zeigefinger an die Wange gelegt, ein ebenso nachdenklicher wie wissender Blick, der leicht spöttisch am Betrachter vorbei ins Weite zielt. Von all den Edith-Porträts, die ich gesehen habe, ist mir dies das liebste. Gut sieht sie darauf aus, so anziehend, wie sie es in natura nie gewesen ist.
»Jane?«
»Ja?«
»Ich habe es nicht herablassend gemeint, dass ich dich bezahle und über dich bestimmen kann.«
»Das weiß ich, Dame Edith.«
»Edith genügt.«
»Wir beide wollen doch jetzt nicht die gut eingespielten Bahnen verlassen.«
Sie lächelt schalkhaft aus ihrem Rollstuhl zu mir herauf und sieht für den Bruchteil einer Sekunde der jungen Frau auf dem Ölgemälde fast wieder ähnlich.
Beim Verlassen des Zimmers drehe ich mich, das Tablett in der Hand, noch einmal nach ihr um. Sie hat den Kopf auf die Brust sinken lassen, ihre Hände streichen gedankenverloren über den hellen Pelzbauch des Katers, der sich lang ausgestreckt über ihre Oberschenkel geworfen hat und mit den Krallen nach ihrer Stola hakelt.
»Ich bin gleich wieder da, Dame Edith. Bleiben Sie noch ein bisschen wach, heute lohnt es sich.«
Sie antwortet nicht, aber ihre Hände verharren mitten in der Bewegung und bedeuten mir, dass sie mich sehr wohl gehört hat. Egal, wie erschöpft sie ist, jetzt wird die Erwartung sie vom Wegdämmern abhalten.
Tage ohne Post gab es früher nicht, da nahm die Lektüre der Briefe, Karten und Publikationen, die ins Haus kamen, den ganzen Nachmittag und nicht selten auch noch einen Teil der Nacht in Anspruch. Sie regte sich auf, sie schimpfte, sie lamentierte, sie liebte es.
Obwohl der Bote immer schon am Vormittag kommt, darf ich die Post seit etwas über einem Jahr erst nach dem Tee ankündigen. Sie hat mir keinen Grund für die Anweisung genannt, und ich habe sie nicht danach gefragt. Ich vermute, sie will länger darauf hoffen und sich vorher gestärkt haben, damit schlechte oder gar ausbleibende Nachrichten ihr die Stimmung nicht verderben.
Aber heute sieht alles gut aus: Den Brief von Cecil habe ich ganz oben auf den kleinen Stapel gelegt, zur glanzvollen Ouvertüre. Er kommt normalerweise persönlich und unangekündigt ins Haus, schreibt Edith nur, wenn er sie zu einer seiner Gesellschaften einlädt oder sie zum Fotografieren in sein Studio bittet. Beides versetzt sie in Hochstimmung. Gleich unter Beatons Umschlag findet sich eine Notiz, die Lady Ellermans Besuch für morgen Nachmittag ankündigt, auch das wird sie freuen, und vor allem bedeutet es frisches Geld. Ein Brief von der Universität Durham, korrekt adressiert mit all ihren Titeln, so wie sie es gern hat, und zum Abschluss eine Ansichtskarte aus Italien: Ihr Bruder Osbert schickt die besten Wünsche, denkt also an sie, auch wenn er gegenwärtig, nach allem, was ich mitbekomme, weiß Gott genug Probleme am Hals hat mit seiner schlechten Gesundheit und seinem kapriziösen Liebhaber.
»Sonntagmittag soll ich schon wieder zu Cecil kommen«, beschwert sie sich, als sie den Stapel durchgesehen hat. »Was für eine Strapaze!«
»Strapaze« ist zwar eigentlich das richtige Wort, aber ich sehe, dass sie sich über die Maßen freut, nicht vergessen worden zu sein.
»Dieser ulkige Amerikaner wird auch dort sein, wie hieß er noch? Dieser Capote, den die kleine Marilyn so gemocht hat. Cecil schreibt, dass ich kommen MUSS, in Großbuchstaben. Da kann ich ihm die Bitte unmöglich abschlagen. Oder, Jane?«
»Natürlich werden Sie hingehen, Dame Edith.«
»Aber wie sollen wir das ohne Elizabeth schaffen?«, fragt sie und schaut mich mit gespielter Verzweiflung an.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sage ich. »Ich werde Sie begleiten, und alle werden ganz reizend sein.«
Das war es dann also mit meinem freien Sonntag. Miss Elizabeth jagt noch immer in Paris hinter Ediths verschollenen Besitztümern her, Schwester Farquhar weigert sich, abends außer Haus zu arbeiten – dessen ungeachtet meckert sie, wenn zu viel Gin in Ediths Glas landet. Es bleibt also wieder an mir hängen. Abgesehen davon, dass es mit jedem Mal schwieriger wird, sie in den Krankenwagen hinein- und die Stufen zum Atelier hinaufzubekommen, sind die Gesellschaften bei Cecil die Anstrengung wert. Auch für mich. Ich darf ihn, trotz meines Standes, als einen alten und guten Freund betrachten. Was habe ich bei ihm schon für interessante und aufregende Menschen getroffen! Mich, die Dienstbotentochter aus der Provinz, hat die Königinmutter einmal für jemanden aus Cecils Künstlerkreisen gehalten und nach meinem Namen gefragt, Aldous Huxley hat mir nach Mitternacht mit Ediths Füllfederhalter eine weinselige Widmung auf den Unterarm gekritzelt, Adele Astaire hat direkt vor meiner Nase mit ihrem Bruder Fred getanzt … Allein in Cecils Salon habe ich vermutlich mehr herausragende Persönlichkeiten kennengelernt als meine Mutter in fünfzig Jahren auf Renishaw.
Wobei Mutter recht einsilbig werden konnte, wenn sie beschlossen hatte, etwas lieber für sich zu behalten. So weiß ich manches über ihre Kindheit und Jugend, aber so gut wie nichts aus der Zeit danach.
Als mein Vater zum Beispiel gilt ein Mann namens James Smith, ein langjähriger Gärtnereigehilfe meines Großvaters, der meine Mutter auf dem Krankenbett geehelicht hatte, um nur vier Wochen später an Tuberkulose zu sterben. Das ist im Grunde schon alles, was ich über ihn weiß. Es gab kein Foto von ihm in unserem Haus, wir pflegten kein Totengedenken, gingen nicht einmal am Jahrestag an sein Grab. James Smith blieb meine gesamte Kindheit hindurch so etwas wie ein rätselhafter Unbekannter, der zufällig in meiner Geburtsurkunde erwähnt wurde. Meine Mutter bestand darauf, dass wir weiterhin den Namen Banister statt des »Allerweltsnamens« Smith führten, egal, was in den Papieren stand, und allein das gab mir Rätsel auf. Nachfragen meinerseits wurden von meiner Mutter stets gleichlautend abgeschmettert: »Das ist eine zu traurige Geschichte, Janie, lass uns nicht darüber sprechen.«
Ich kann rechnen: Zwischen dem Hochzeitstag meiner Eltern und meiner Geburt liegen knapp sieben Monate. Das muss natürlich nichts heißen, man wäre aber schon mehr als naiv, wenn man sich nicht zumindest darüber wunderte.
Weitere Fragen, die ich mir stelle: Weshalb durfte meine Mutter mit mir im Gärtnercottage wohnen bleiben, auch als Großvater Victor längst nicht mehr am Leben war? Wovon hat sie unseren und später ihren alleinigen Unterhalt bestritten? Von den gelegentlichen Näharbeiten wohl kaum. Meine Angebote, sie zu unterstützen, sobald ich eigenes Geld verdiente, wies sie jedenfalls kategorisch von sich mit dem Hinweis, sie zehre von Rücklagen und sei versorgt.
Gern und oft erzählte sie mir, wie es zu der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen ihr und Edith gekommen war, der sie später auch ihre Anstellung im Herrschaftshaus verdankte. Aber all diese Berichte endeten mit der Zeit, kurz bevor meine Mutter aus dem Dienst ausschied. »Und dann habe ich geheiratet, meinen Mann verloren, ein Kind bekommen, und den Rest kennst du.« Jede Aufforderung, mehr zu erzählen, wurde mit einem freundlichen Kopfschütteln zurückgewiesen. Im Dorf ging das Gerücht um, Emma Banisters Dienstende habe etwas mit der großen Feier von Ediths einundzwanzigstem Geburtstag zu tun gehabt, zu der aus allen Teilen des Landes Gäste angereist gekommen waren. Meine Mutter dementierte das.
In welcher Beziehung sie zu Sir George stand, Ediths Vater, dem Dienstherren meines Großvaters und für einige Jahre auch der ihre, war mir ein weiteres Rätsel. Dass sie sich zum Beispiel nie am Tratsch über den Baronet beteiligte, der für mich als Kind ein sehr sonderbarer Kauz war und dessen Marotten das Personal mit Gesprächsstoff versorgten, war schon auffällig. Wenn es nämlich darum ging, sich über Lady Ida den Mund zu zerreißen, stand meine Mutter immer in vorderster Linie.
Und dann gab es diese eigenartige Szene zwischen meiner Mutter und Sir George, bevor ich von Renishaw wegzog.
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag tauchte Edith, die damals bereits fast vierzig war und seit vielen Jahren in London lebte, im Gärtnercottage auf und trug uns die Idee vor, mich als Hausmädchen anzustellen.
»Vertraust du mir deine Tochter an, Emma?«
Statt Edith zu antworten, wandte sich meine Mutter an mich: »Willst du das? Mit Miss Edith nach London gehen?« Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern antwortete ich: »Ja!«, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, auf was ich mich einließ. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits über drei Jahre mit der Dorfschule fertig und wusste nicht viel mit mir anzufangen. Ich bewunderte Edith für ihre Unabhängigkeit, stellte mir ihr Londoner Leben und ihre vielen Reisen glamourös und abenteuerlich vor und wollte dringend raus aus der mich anödenden Enge des Gärtnercottages.
»Ich gehe mit Miss Edith überallhin, wo sie mich brauchen kann«, erklärte ich.
»Gut«, sagte meine Mutter. Sie nickte Edith zu, die über meinen Eifer belustigt zu sein schien, und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Schnurstracks lief sie aus dem Gärtnercottage, durch die Anlagen die Allee zum Haupteingang hinauf, Edith und ich hinterher. Oben angekommen, verlangte sie, Sir George zu sprechen, einfach so, als sei das für sie ein völlig normales Anliegen. Ich traute meinen Augen kaum, als er meiner Mutter persönlich in der großen Eingangshalle entgegenkam, gleich nachdem sie ihm gemeldet worden war. Der große schlanke Mann mit dem ergrauten Bart würdigte Edith und mich keines Blickes, bat meine Mutter allerdings nach einer förmlichen Begrüßung in die Bibliothek, als sei sie die Fürstin von irgendwas.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte ich. Ediths Antwort war ein Schulterzucken. Ich musterte sie schüchtern von der Seite, wie sie da so mager und riesengroß in ihrem bodenlangen schwarzen Piratenmantel neben mir stand, finster den Marmorboden anstarrte und sich wütend eine Strähne ihres streng in der Mitte gescheitelten Haars hinter das rechte Ohr strich. Wollte ich wirklich im Dienst dieser Person die nächsten Jahre verbringen? Ja, das wollte ich.
Nach etwa zehn Minuten, während derer wir schweigend gewartet hatten, öffnete meine Mutter die Tür und bat uns herein. Im Türrahmen legte Edith mir ihre Hand zwischen die Schulterblätter und schob mich mit sanftem Druck in das mit Polstermöbeln und weiß gestrichenen Bücherregalen vollgestellte Zimmer, wo Sir George mit einer ähnlich finsteren Miene wie seine Tochter hinter einem kleinen hölzernen Sekretär in der Fensternische saß und auf uns wartete.
Edith, die an diesem Punkt ihres Lebens bereits mehrere Bücher publiziert hatte, wurde von ihrem Vater immer noch behandelt, als sei sie ein junges, unerfahrenes Ding.
»Ein Mädchen von meinem Gut willst du beschäftigen? Du kannst dir von deiner Verseschmiederei ja nicht mal die Miete leisten.«
Edith antwortete ihm nicht. Während ich vor Aufregung beinahe das Atmen vergaß und einen unbeholfenen Knicks andeutete, blieb sie etwas abseits stehen, steif wie ein Brett, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem steinernen Gesichtsausdruck, den ich später noch oft zu sehen bekam, wenn es um ihre Eltern ging.
»Wie dem auch sei«, sagte Sir George. »Folgende Vereinbarung wurde getroffen …«
Scheinbar ungerührt ließ Edith die Ausführungen ihres Vaters über sich ergehen. Sir George setzte uns über das Ergebnis seiner Unterredung mit meiner Mutter in Kenntnis, nüchtern, als handele es sich um die Neuaufteilung der Tulpenbeete: Ich durfte zu Ediths Unterstützung mit nach London gehen, er übernahm mein Gehalt sowie die Finanzierung meiner Erstausstattung, sofern ich im Gegenzug versprach, mich ausschließlich um seine Tochter und nicht um die mit ihr zusammenwohnende Ex-Gouvernante zu kümmern. An dieser Stelle hörte ich Edith neben mir heftig ein- und ausatmen, auch meine Mutter zuckte kurz zusammen.
»Sind wir uns da einig?«, fragte Sir George.
Ich verstand überhaupt nichts mehr, nickte aber: »Sehr wohl, Sir George«, weil mir in dem Moment nichts anderes in den Sinn kam, als totales Einverständnis zu signalisieren.
»Edith?« Der Baronet klang sehr unwirsch, als er seine Tochter ansprach.
»Sehr wohl, Sir George«, wiederholte sie meine Worte mit beißender Kälte in der Stimme. Der Hausherr sprang aus seinem Sessel auf. »Du wirst mir …«
»Bestens, dann ist ja alles geklärt, schönen Tag noch, Sir George, und herzlichen Dank für Ihre Unterstützung«, fuhr meine Mutter dazwischen, zog sowohl Edith als auch mich jeweils am Arm hinter sich her aus dem Raum, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Der Baronet ließ sich das gefallen, und ich war ziemlich sicher, dass das mit einer irgendwie besonderen Beziehung zu meiner Mutter zu tun hatte, ohne den Gedanken zu Ende zu denken.
Als die Bibliothekstür hinter uns geschlossen war, reichte mir Edith lächelnd die Hand, als sei nichts weiter vorgefallen.
»Wir sehen uns dann also nächste Woche in Bayswater, deine Mutter hat die Adresse«, und zu meiner Mutter gewandt: »Ich passe gut auf sie auf, Emma, versprochen!«
Ich sah ihr nach, wie sie die Treppe zum Oberstock hinaufeilte. Meine Mutter sagte: »Nichts wie raus hier!« und marschierte dem großen Ausgang zu, ohne die Dienstbotentreppe auch nur anzusehen.
Die Versprechen, die ich Ediths Vater gab, waren schlicht gelogen – von Anfang an hatte ich nicht vor, mich daran zu halten. Ich war der Ansicht, Edith könne gut selbst entscheiden, was ich als ihr Hausmädchen zu tun oder zu lassen hatte, und was diese ehemalige Gouvernante anging, teilte ich die Einschätzung meiner Mutter, die es schließlich wissen musste: Helen Rootham war das Beste, das Edith hatte passieren können.
Trotz all der Schwierigkeiten, denen wir uns wegen Helen in den folgenden Jahren ausgesetzt sahen, muss ich zugeben: Auch mein Leben wäre völlig anders verlaufen, hätte es die zumindest zeitweise sehr glückliche Verbindung dieser beiden Frauen nicht gegeben. Ich wäre wohl nie über Sheffield hinausgekommen, hätte kaum mehr als das monatliche Kirchenblatt zu lesen gehabt und würde jetzt als alternde Haushaltshilfe mein Dasein bei im besten Falle nicht bösartigen Menschen fristen. Was ohne Helen aus Edith geworden wäre, mag ich mir gar nicht vorstellen.
Von einem auf den anderen Tag wurde ich also »Ediths Mädchen«, wie meine Mutter es nannte. Ich war schrecklich aufgeregt angesichts dieser für mich völlig unerwarteten Wendung, die mein Leben nahm. Auch ließ mir die sonderbare Szene zwischen Sir George und meiner Mutter keine Ruhe. Einige Nächte lang lag ich schlaflos im Bett und versuchte, abwechselnd Beweise und Gegenbeweise für den Verdacht zu finden, der sich aufdrängte. Am Morgen meiner Abreise nach London hielt ich es nicht mehr aus und fragte meine Mutter frei heraus: »Ist Sir George mein Vater?« Sie reagierte so heftig, wie ich es nie zuvor und nie mehr danach erlebt habe: »Bist du völlig verrückt geworden, Kind? Der Baronet hat damals sehr viel mehr für mich getan, als seine Fürsorgepflicht als Gutsherr ihm geboten hätte. Aus Zuneigung zu meinem Vater und aus Mitgefühl mit mir, so jung verwitwet und obendrein noch schwanger, wie ich war. Unsere gesamte Familie wird ewig in Sir Georges Schuld stehen, und gerade du solltest ihm dankbar sein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Ich glaubte ihr damals und glaube ihr bis heute, was eine mögliche Vaterschaft des Gutsherrn angeht, aber es sind doch einige Fragen geblieben, die ich zu ihren Lebzeiten zu stellen versäumt habe.
Vielleicht sollte ich endlich mit Edith über all das offen sprechen, solange es noch möglich ist. Sie kannte meine Mutter seit Kindertagen, die beiden haben eine lange, wechselvolle Geschichte miteinander, von der ich trotz allem vermutlich noch längst nicht jede Episode kenne.
Wenn wir unsere Puzzlestücke aus dem oberen und dem unteren Trakt von Renishaw Hall zusammenfügen, kommt womöglich ein vollständiges Bild dabei heraus, und wir lösen eine der anderen Rätsel.
Was aber dann?
»Jane Banister! In welcher Hemisphäre verweilst du? Kümmere dich um mich!«
Edith schaut mich interessiert und belustigt zugleich an. Die Pelzstola ist ihr von der rechten Schulter gerutscht, auch der Turban sitzt schief. Ich zucke entschuldigend mit den Achseln, trete näher, will Stola und Kopfbedeckung wieder zurechtrücken, da umklammert sie mit einer erstaunlich schnellen Bewegung meine Hand. »Verrate mir erst, woran du gerade gedacht hast!«
So sanft es trotz des Klammergriffs geht, entziehe ich ihr meine Rechte und sage: »An all die Rätsel von früher.«
»Oh!«, sagt sie, lässt ihre Hände in den Schoß fallen, sieht plötzlich ebenso wachsam wie besorgt aus.
»Denken Sie denn nicht auch manchmal an früher, Edith?«, frage ich.
»Ich wünschte, ich dürfte vergessen, was gewesen ist, aber wie du sehr wohl weißt, bin ich momentan gezwungen, über mein Leben nicht nur nachzudenken, sondern auch zu schreiben«, antwortet sie.
»Ist das denn so schlimm?«, frage ich.
»Ja«, sagt sie. »Das ist es.«
Es muss noch jemand anderes ihre Geschichte erzählen. Jemand, der sie liebt.
Ich.
An einem milden Spätsommerabend im Jahr 1887 saß die fünfjährige Emma Banister, die dann später meine Mutter wurde, vor einem dampfenden Teller Sheperd’s Pie im Gärtnercottage von Renishaw und hörte gebannt einer Unterhaltung ihrer Eltern zu.
Emma Banisters Mutter Alice, meine künftige Großmutter, war vor ihrer Hochzeit mit Victor Banister, dem obersten Gärtner auf Renishaw, mehrere Jahre als Küchenmagd im Haupthaus tätig gewesen und half dort gelegentlich aus, seit Emma entwöhnt war. So hatte sie nachmittags beim Apfelgelee-Einkochen erfahren, dass die junge Gutsherrin Lady Ida in Scarborough, im Haus ihrer Schwiegermutter, ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte, das auf den Namen Edith Louisa getauft worden war.
»Da hat sie doch tatsächlich einmal etwas leisten müssen, die feine Dame. Bei Presswehen zeigt sich, dass die Natur keine Stände kennt.«
Victor ignorierte den giftigen Kommentar seiner Frau und bestand darauf, das Glas zu Ehren des jungen Paars und seiner Erstgeborenen zu erheben: »Auf Sir George, Lady Ida und die kleine Edith Louisa. Möge ihr Leben reich gesegnet sein, und möge bald ein männlicher Erbe das Glück der Familie vollkommen machen!«
»Pah!«, schnaubte Alice und blieb für den Rest der Mahlzeit untypisch einsilbig.
Emma machte einen Versuch, das Gespräch wieder in Gang und in die von ihr gewünschte Richtung zu bringen: »Wann werden sie denn mit dem Kind zurück nach Renishaw kommen?«
Alice zuckte mit den Schultern. Victor fragte: »Warum möchtest du das wissen, Emma?«
»Einfach so«, antwortete Emma, obwohl es gelogen war.
Wovon Alice und Victor nämlich keine Ahnung hatten: Emma kannte die junge Gutsherrin persönlich und pflegte eine verschwiegene, aber nichtsdestoweniger glühende Kinderschwärmerei für sie. Auch wenn sich diese Verehrung wenig später ins Gegenteil verkehren sollte, konnte meine Mutter noch fünfzig Jahre danach von ihrer ersten Begegnung mit Lady Ida erzählen, als sei es erst gestern gewesen.
An jenem Morgen war Alice Banister mit einer fiebrigen Erkältung im Bett geblieben, und Victor hatte die kleine Emma mit zur Arbeit genommen, damit seine Frau etwas Ruhe bekam.
»Warte kurz, bis ich James erklärt habe, was er mit den Rosen machen soll, dann gehen wir zu den Obstbäumen«, hatte Victor Emma angewiesen, als die beiden bei den Treibhäusern angekommen waren. Emma kletterte auf ein niedriges altes Mäuerchen neben dem Eingang, ließ ihre Beine baumeln und vertrieb sich die Zeit damit, in die Wolken zu schauen.
Nach einigen Minuten kam Victor aus dem Treibhaus zurück und erklärte Emma, dass er, wenn er die Gloria Dei so behandelt sehen wolle, wie er es für richtig hielt, seinen Gehilfen James bei der Arbeit beaufsichtigen müsse. Es würde also noch dauern, bis sie weiterkönnten.
»Willst du nicht lieber solange mit reinkommen?«
»Nein!«, rief Emma trotzig. Sie mochte die stickige Luft in den Treibhäusern nicht und ärgerte sich, dass ihr Vater das vergessen hatte.
»Du wirst dich langweilen, so alleine.«
»Kann ich im Garten herumlaufen? Dann langweile ich mich nicht.«
»Aber geh nur so weit, dass du die Glashäuser noch sehen kannst, und pass auf, dass du dem See nicht zu nahe kommst!«
Emma versprach, brav und vorsichtig zu sein, und hüpfte fröhlich singend davon. Bei den Kräuterbeeten balancierte sie über die Einfassung, dann lief sie über die Grünfläche vom weißen Garten in den blauen Garten, wo im Sommer alles voller Schlüsselblumen war. Sie gelangte zu der Wiese mit dem kleinen Pavillon, der sie mit seinen kreisförmig angeordneten Säulen und der halbnackten Steinfrau in der Mitte an ein Bild aus ihrem Märchenbuch erinnerte. Zunächst dachte sie darüber nach, sich in den Pavillon zu setzen und entführte Prinzessin zu spielen, entschied sich dann aber dafür, den kleinen Wald hinter der Wiese zu erforschen, der so verwunschen aussah.
Nachdem sie eine Weile ausprobiert hatte, wie viele Sprünge sie von einem Stamm zum anderen benötigte, legte sie sich rücklings ins Gras, obwohl es noch ein wenig kalt und feucht war. Über ihr funkelte und glitzerte es, die Sonne fand ihren Weg durch das dichte Buchenlaub, ließ Lichtflecken über Emmas Arme und Beine tanzen. Gerade dachte sie darüber nach, woran man es wohl merken würde, wenn man in einen Feenwald geraten war, da kam etwas Großes, Leuchtendes aus dem Durchbruch zwischen den Hecken seitlich des Pavillons auf sie zugeschwebt. Emma sprang erschrocken auf. Das große Etwas stoppte, riss die Arme hoch und stieß einen schrillen Schrei aus.
Im ersten Moment glaubte Emma, es sei tatsächlich eine Fee gekommen, so wunderschön und überirdisch-fremd erschien ihr die große schlanke Person mit den dunklen Locken und dem wehenden weißen Seidenkleid. Als sie genauer hinsah, wurde ihr jedoch klar, dass es sich bei dieser Erscheinung eher nicht um ein Zauberwesen handelte. Sie kannte Feen aus ihrem Märchenbuch, die liefen nicht einfach so über Wiesen und rissen dann furchtsam die rot verweinten Augen auf, wenn ein kleines Mädchen vor ihnen stand. Feen hatten immer lächelnde Gesichter, sie boten Menschen die Erfüllung geheimer Wünsche an, jedenfalls die guten unter ihnen. Dies hier war eine menschliche Person, wenn auch keine von der Sorte, mit der Emma schon einmal zu tun gehabt hatte. Emma machte einen etwas wackeligen Knicks und streckte der Frau die Hand entgegen, weil ihr das in jedem Fall angemessener erschien, als wegzulaufen.
Die Fremde ergriff die Kinderhand, ging dabei vor Emma in die Hocke, so dass ihre beiden Gesichter nahe beieinander waren.
»Hast du mich erschreckt!«, japste die Dame, atemlos vom Laufen oder vom Weinen oder von beidem zusammen.
»Tut mir leid«, murmelte Emma, der das Herz bis zum Hals schlug. Sie schaute an sich herunter, entdeckte braungrüne Schmutzflecken auf ihrer alten Schürze, fühlte das Kittelkleid feucht an ihrem Rücken kleben und bereute es, am Morgen nicht etwas Besseres zum Anziehen bekommen zu haben, etwas, das nicht mehrfach geflickt war, in dem sie nicht nach »Kobold« aussah, wie der Kosename ihres Vaters für sie lautete.
Die schöne Fremde verströmte einen Duft von Veilchen und Jasmin, ihre Hand fühlte sich unfassbar zart und weich an, viel weicher als die rauen, abgearbeiteten Hände von Emmas Eltern. Vielleicht war sie so etwas wie ein Zwischenwesen, der Vater ein König, die Mutter eine Fee. Gab es so etwas wie Halbfeen? Während Emma angestrengt über diese komplizierte Frage nachdachte, schaute die Dame sie an, als überlege sie ebenfalls, welcher Spezies das Kind wohl angehörte.
»Wie heißt du?«
»Emma«, sagte Emma und rang mit sich, ob sie es wagen dürfe, irgendetwas zu unternehmen, um die Fremde aufzuheitern. Falls sie tatsächlich eine Halbfee war, würde sie vielleicht zumindest einen kleinen Wunsch erfüllen können.
»Was für ein wunderhübsches Kind du bist!«, sagte die Erscheinung, und Emma war beeindruckt. Ihr Vater hatte zwar schon oft gesagt, sie sei das schönste Mädchen von ganz Derbyshire, aber es aus diesem Mund zu hören, war doch etwas anderes.
»Ich bin übrigens Ida und wohne neuerdings in diesem schrecklichen dunklen und kalten Haus da drüben hinter all diesem komischen grünen Gestrüpp. Weißt du zufällig, wie man das Zeug nennt?«
Emma spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, denn ihr war plötzlich klargeworden, wen sie da vor sich hatte.
»Eibe, man nennt das Eibenhecke«, wisperte sie heiser. Ihr Vater schnitt diese Hecken mit großem Aufwand zu klaren geometrischen Formen, und es würde ihn sicher aufregen, wenn er mitbekäme, dass die neue Gutsherrin sie als »komisches Gestrüpp« bezeichnete.