Der Autor

Chris Carter wurde 1965 in Brasilien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Er studierte in Michigan forensische Psychologie und arbeitete sechs Jahre lang als Kriminalpsychologe für die Staatsanwaltschaft. Dann zog er nach Los Angeles, wo er als Musiker Karriere machte. Gegenwärtig lebt Chris Carter in London. Seine Thriller um Profiler Robert Hunter sind allesamt Bestseller.
Von Chris Carter sind in unserem Hause bereits erschienen:
One Dead (E-Book)
Der Kruzifix-Killer
Der Vollstrecker
Der Knochenbrecher
Totenkünstler
Der Totschläger
Die stille Bestie
I am Death – Der Totmacher
Death Call – Er bringt den Tod
Blutrausch – Er muss töten
Jagd auf die Bestie
Bluthölle

Das Buch

Taschendiebin Angela Wood hatte einen guten Tag. Sie gönnt sich einen Cocktail, als ihr in der Bar ein Gast auffällt, der sich rüpelhaft benimmt. Um ihm eine Lektion zu erteilen, stiehlt sie seine teure Ledertasche. Ein schwerer Fehler, die Tasche enthält nichts Wertvolles, nur ein kleines Notizbuch. Ein Albtraum beginnt. Das Buch enthält Skizzen und Fotos von 16 Folter-Morden. 16 Polaroids der Opfer, 16 DNA-Analysen. In Panik schickt Angela das Buch an das LAPD, wo Robert Hunter und Carlos Garcia sofort erkennen, dass der sadistische Täter ein Experte sein muss. Das ist ihr einziger Hinweis. Eine blinde Jagd beginnt, bis der Killer Hunter ein Ultimatum stellt.
Der 11. Fall Robert Hunter und seinem Partner Garcia.

Chris Carter

Bluthölle

Thriller

Aus dem Englischen
von Sybille Uplegger

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2020
© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© Chris Carter 2020
Published in Arrangement with Luiz Montoro
Titel der englischen Originalausgabe:
Written in Blood (Simon & Schuster Inc.)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Polskapresse
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2218-6

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Widmung

Ursprünglich sollte dieses Buch dem liebenden Andenken
an meine Lebensgefährtin Kara Louise Irvine gewidmet
sein, die im September 2019 verstorben ist. Als sie ging, hat
sie mein Herz mitgenommen und eine Leere in mir hinterlassen,
die für immer bleiben wird.

Doch seitdem hat die Welt einen unsanften
Weckruf erhalten.

Für die meisten von uns hat sich sehr viel verändert.

Deshalb möchte ich diesen Roman nicht nur meiner Kara
widmen, sondern darüber hinaus auch all jenen, die den
Kampf gegen Covid-19 verloren haben. Wir waren nicht
vorbereitet.

Für uns andere geht der Kampf weiter, also bitte:
Bleibt sicher.

Der einsamste Moment im Leben eines Menschen ist der,
in dem er machtlos zusehen muss,
wie seine ganze Welt zusammenbricht.

1

Los Angeles, Kalifornien, Samstag, 5. Dezember


Es waren noch knapp drei Wochen bis Weihnachten. Für Angela Wood markierte dieser Samstag den Startschuss dessen, was sie gerne als »Hochsaison« bezeichnete. Shoppingmalls, Einkaufsstraßen, selbst die kleinen Eckläden waren mit Kunstschnee, Lichterketten und buntem Weihnachtsschmuck herausgeputzt, und überall wimmelte es von Leuten, denen das Geld lockerer saß als sonst, weil sie nach dem perfekten Geschenk suchten. Es war die Zeit im Jahr, in der die meisten Menschen nicht an ihren Kontostand dachten. Stattdessen lautete das Motto: »Ach, was soll’s? Schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten« – eine Haltung, die sie dazu veranlasste, tief in die Tasche zu greifen und mehr auszugeben, als vielleicht ratsam gewesen wäre. Mitunter sogar deutlich mehr, als der Dispo hergab.

Für Angela bedeutete die Vorweihnachtszeit gut gelaunte Menschen mit prall gefüllten Portemonnaies in Hosen-, Jacken- oder Handtaschen. Wenn das Fest der Liebe vor der Tür stand, feierte das Bargeld ein Comeback. Normalerweise trug der Großteil der Einwohner von Los Angeles kein Bares mehr mit sich herum, viele hatten nicht einmal Kleingeld dabei – alles lief bargeldlos ab, egal ob man im Kiosk an der Ecke ein Päckchen Kaugummi kaufen wollte oder auf dem Rodeo Drive ein Vermögen ausgab. Kein Cash, keine Umstände. Man war endgültig und unwiderruflich in der Ära des elektronischen Zahlungsverkehrs angekommen.

Für die meisten Verkäufer und Ladenbesitzer machte das natürlich keinen Unterschied. Aber Angela war keine Verkäuferin. Sie war auch keine Ladenbesitzerin. Sie war eine professionelle Taschendiebin, und als solche logischerweise nicht unbedingt ein Fan des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Klar, sie konnte auch geklaute Kreditkarten und Smartphones zu Geld machen, aber in ihrer Welt war nach wie vor nur Bares wirklich Wahres, und deshalb war auch sie in der Vorweihnachtszeit fröhlicher gestimmt als sonst.

In diesem Jahr hatte Angela beschlossen, die Hochsaison in einer lauschigen kleinen Einkaufsstraße in Tujunga Village einzuläuten.

Die Tujunga Avenue lag in der Nähe des Ventura Boulevards in Studio City, zwischen den Vierteln Colfax Meadows und Woodbridge Park. Die unter dem Namen Tujunga Village oder einfach nur »The Village« bekannte Gegend umfasste ein drei Blocks langes Straßenstück zwischen Moorpark und Woodbridge, und es gab hier eine Vielzahl hübscher Läden, Boutiquen, Restaurants, Bars und Cafés. Das Village zog ganzjährig viele Menschen an, vor allem an den Wochenenden. Während der Adventszeit jedoch stieg die Zahl der Besucher exponentiell an, und die Straßen waren überschwemmt von einem Meer glücklicher Menschen mit dicken Geldbörsen.

Nach Möglichkeit zog Angela es vor, abends zu arbeiten. Das war ein weiterer Grund, weshalb sie die Vorweihnachtszeit so mochte. Um der großen Zahl von Einkäufern gerecht zu werden, hatten viele Geschäfte länger geöffnet. Angela wusste dies natürlich und machte sich auf den Weg nach Tujunga Village, gerade als die Sonne im Begriff war, hinter dem Horizont zu verschwinden. Zufrieden stellte sie fest, dass die Anzahl der Menschen, die die Straßen bevölkerten, sich im Vergleich zum letzten Jahr beinahe verdoppelt zu haben schien.

»Ach, ich liebe die Adventszeit«, sagte sie zu sich selbst und ließ die Fingerknöchel knacken, ehe sie sich ein Paar dünne rote Lederhandschuhe überstreifte.

Da die Sonne schon fast untergegangen war, waren die Temperaturen draußen auf den Straßen auf etwa acht Grad gesunken – nicht schlecht für einen Winterabend, aber in einer Stadt, in der Hitze und Sonne gewissermaßen als ständige Ehrenbürger betrachtet wurden, brachten solche Temperaturen jeden stolzen Angelino dazu, seinen Kleiderschrank nach der dicksten, wärmsten Jacke zu durchforsten, die er finden konnte. Für jemanden wie Angela waren dicke Winterjacken und Mäntel ein Segen. Die Leute trugen jede Menge Zeug in den Außentaschen mit sich herum, und dicke Jacken waren wie eine Schutzschicht zwischen dem Körper des Trägers und dem Inhalt der Tasche, sodass man nicht einmal besonders geschickt sein musste, um einem Opfer seine Habe abzunehmen. Im Gedränge, das auf den Straßen und in den Geschäften herrschte und in dem sich die Leute ständig gegenseitig anrempelten, war es sogar noch einfacher. Für einen routinierten Profi wie Angela war das Gewimmel in Tujunga Village, wo sich achtzig Prozent der Passanten dick eingemummelt hatten, der reinste Selbstbedienungsladen.

»Los geht’s«, sagte sie, ehe sie sich ins Getümmel stürzte und mit scharfem Blick nach potenziellen Opfern Ausschau hielt.

Bevor sie auch nur die Hälfte des Blocks zurückgelegt hatte, waren bereits drei Geldbörsen in ihren Rucksack gewandert. Sie hätte mit Leichtigkeit noch mehr stehlen können, aber während der Hochsaison hatte Angela keinen Grund, wahllos zuzugreifen, ohne wenigstens eine grobe Vorstellung davon zu haben, ob es sich überhaupt lohnte.

Ihre Methode war ebenso unkompliziert wie effektiv: Sie beobachtete zunächst, wie jemand im Laden oder auf der Straße für etwas bezahlte. Dieser simple Ansatz war doppelt vorteilhaft: Erstens ließ sich auf diese Weise schnell ermitteln, wer Bargeld dabeihatte und wer nicht. Zweitens fand sie dabei heraus, wohin die Zielperson ihr Portemonnaie steckte. Danach musste sie der betreffenden Person nur noch folgen und den richtigen Moment zum Zuschlagen abpassen. Dabei ging sie nie übereilt vor. Trotzdem war es diesmal schon nach fünfzehn Minuten Zeit für eine erste Inventur.

Angela blieb stets bescheiden. Nur ein einziges Mal hatte sie sich von ihrer Gier leiten lassen, und das war ihr prompt zum Verhängnis geworden. Sie hatte eine kurze Zeit im Gefängnis verbracht – ein Ort, an den sie unter keinen Umständen zurückwollte. Seitdem stahl sie nie mehr als drei Börsen, ehe sie die nach Bargeld und Kreditkarten durchsuchte. Bei guter Ausbeute machte sie Feierabend. Wenn es noch nicht reichte, warf sie die ausgeräumten Geldbörsen weg und begab sich auf eine zweite Tour.

Nachdem sie die dritte Börse an sich gebracht hatte, suchte sie sich einen sicheren Ort, um ihr Diebesgut in Augenschein zu nehmen. In einer Seitenstraße hinter dem alteingesessenen und stets gut besuchten Restaurant Vitello’s mitten im Herzen von Tujunga Village lag der Rendition Room – eine billige Cocktailbar im Stil der Dreißigerjahre. Die Toilette dort war der ideale Ort für das, was Angela vorhatte.

Sie war bereits häufiger im Rendition Room gewesen, aber sie hatte die Bar noch nie so voll erlebt wie an diesem Abend. Auf der Damentoilette musste sie über fünf Minuten anstehen.

Sobald eine Kabine frei wurde, holte sie die Börsen heraus und prüfte sie auf Bargeld. Sie hatte einen sehr guten Fang gemacht.

»Sechshundertsiebenundachtzig Dollar für nicht mal fünfzehn Minuten Arbeit«, murmelte sie, ehe sie den Großteil des Geldes in ihren BH stopfte. »Nicht schlecht für den ersten Tag.«

Einen Sekundenbruchteil lang spielte sie mit dem Gedanken, noch mal rauszugehen und weiterzumachen. »Da draußen lauert fette Beute auf dich«, raunte die leichtsinnige Angela ihr ins Ohr. »Am Ende des Abends könntest du genug haben für den ganzen Monat.«

Aber die vernünftige Angela war auch noch da, und sie schmetterte den Vorschlag sofort ab.

»Nein, das reicht für heute. Statt leichtsinnig zu werden, geh lieber und feiere deinen Erfolg mit einem Drink. Schließlich bist du in einer Cocktailbar.«

Angela war besonnener als früher. Seit sie im Knast gesessen hatte, siegte bei ihr immer die Vernunft.

Ehe sie die Kabine verließ, zog sie sich noch ihre schwarze Perücke vom Kopf, dann nahm sie die dunklen Kontaktlinsen heraus und verstaute sie sorgfältig.

Draußen in der belebten Bar dauerte es mehrere Minuten, bis die Bedienung auf sie aufmerksam wurde. Sie hatte die Cocktailkarte überflogen und sich für einen Klassiker entschieden – den Sidecar. Was einen freien Tisch anging, hatte sie mehr Glück. Gerade als sie der Theke den Rücken kehrte, wurde wenige Meter entfernt ein kleiner runder Stehtisch frei. Rasch nahm Angela ihn in Beschlag.

Während sie ihren Cocktail schlürfte, blickte sie sich aufmerksam um. Nicht, dass sie ihre Entscheidung, für heute Schluss zu machen, bereut hätte. Sie hatte einfach die Angewohnheit, die Menschen in ihrem Umfeld zu beobachten, ganz egal, wo sie war. Es war wie eine Art Reflex … oder eine Berufskrankheit, wenn man so wollte. Oft merkte sie es nicht einmal.

Innerhalb von zwanzig Sekunden hatte sie drei Gäste identifiziert, die leichte Beute für sie gewesen wären.

Vier Tische rechts von ihr standen zwei Männer in den Vierzigern. Beide waren stark angetrunken. Einer der beiden, der mit der Brille, hatte sein Portemonnaie in der Sakkotasche stecken und das Sakko neben sich auf einen freien Barhocker gelegt, die Tasche mit dem Portemonnaie nach oben.

Drei Tische vor ihr saßen zwei Frauen Anfang zwanzig und schlürften Margaritas. Eine von ihnen, die mit dem Rücken zu Angela saß, hatte ihre Handtasche über die Stuhllehne gehängt. Der Reißverschluss stand offen.

Am Tisch rechts neben ihr stand ein großer Mann, der ganz in sein Handy vertieft zu sein schien. Er hatte eine sehr elegante Ledertasche bei sich, die er zu seinen Füßen auf den Boden gestellt hatte. Angela hatte keine Ahnung, was sich in der Tasche befand, aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass es etwas Wertvolles war.

Manche Leute sind wirklich unfassbar dumm, dachte sie und schüttelte kaum merklich den Kopf. Lernen die denn nie dazu?

Als ihr Blick von der Tasche am Boden zurück zu ihrem Besitzer und dessen Handy wanderte, trat ein älterer Mann auf ihn zu. Angela konnte hören, was er sagte.

»Entschuldigen Sie, hätten Sie was dagegen, wenn ich mein Getränk bei Ihnen auf dem Tisch abstelle? Ist ganz schön voll heute.«

Der große Mann riss den Blick nicht von seinem Telefon los.

»Ja, hätte ich.«

Angela runzelte verdutzt die Stirn und fragte sich, ob sie sich verhört hatte.

Auch der ältere Herr wirkte ein wenig irritiert.

»Ich brauche auch nicht viel Platz«, versuchte er es aufs Neue. »Ich möchte nur mein Glas abstellen. Ich störe Sie auch nicht.«

»Das tun Sie bereits«, sagte der Typ mit dem Handy, der nun endlich den Kopf hob und den älteren Herrn ansah. »Suchen Sie sich einen anderen Tisch für Ihr Glas, alter Mann. Der hier ist besetzt.«

Angela war fassungslos. Was für ein Vollarsch.

Im ersten Moment wirkte der ältere Mann wie erstarrt. Er hatte keine Ahnung, wie er auf die Abfuhr reagieren sollte.

»Verpiss dich, Alter«, sagte der Handytyp mit schneidender Stimme.

Schockiert wandte sich der alte Herr ab und ging.

Angela wollte ihm gerade ihren Tisch anbieten, als die leichtsinnige Angela ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Der Typ ist ein Wichser, Angie. Du solltest ihm eine Lektion erteilen.«

Abermals beäugte Angela die teure Ledertasche.

Der Kerl hatte sich längst wieder seinem Smartphone zugewandt.

Angela leerte ihr Glas und ging ein Stück um ihren Tisch herum, bis sie direkt hinter dem Mann stand. Zur Sicherheit, um keinen Verdacht zu erregen, zückte sie ihr eigenes Handy und hob es ans Ohr. Während sie so tat, als würde sie telefonieren, bewegte sich ihr rechter Fuß unauffällig nach vorn, bis sie den Schulterriemen der Tasche angeln konnte.

Der Mann tippte emsig auf seinem Smartphone.

Angela drehte ihm die Seite zu und machte zwei Schritte in seine Richtung. Dabei reckte sie den Hals und sah sich in der Bar um, als suche sie nach jemandem. Gleichzeitig zog sie mit dem rechten Fuß vorsichtig die Ledertasche zu sich heran.

Der Mann war so sehr mit seinem Smartphone beschäftigt, dass er nichts bemerkte. Und selbst wenn er auf sie aufmerksam geworden wäre, hätte Angela ganz einfach behauptet, ihr Fuß habe sich im Riemen der Tasche verfangen, weil es so voll war. Ein dummes Missgeschick, nichts weiter.

Noch ein kleiner Schritt, noch ein kurzer Ruck am Riemen, und dann kam ihr der Zufall zu Hilfe. Einige Tische entfernt ließ jemand ein volles Tablett fallen. Der Lärm zerbrechender Gläser und Flaschen führte dazu, dass alle sich umdrehten, auch der Mann. Als er sich wenige Sekunden später wieder seinem Telefon zuwandte, war Angela bereits auf dem Weg zum Ausgang – mit seiner Tasche unter der Jacke. Weitere fünf Minuten später saß sie im Bus Nummer 237 Richtung Colfax Avenue.

Sie platzte fast vor Neugier und brannte darauf, nachzuschauen, was in der Tasche war, doch obwohl sie sich einen Platz ganz hinten gesucht hatte, widerstand sie der Versuchung. Sie wollte keine neugierigen Blicke auf sich ziehen.

Von Tujunga Village aus brauchte sie eine gute Dreiviertelstunde bis nach Hause. Sie wohnte in einem kleinen Zweizimmer-Apartment am südlichen Ende der Colfax Avenue. Sobald sie die Wohnungstür hinter sich zugeworfen hatte, streifte sie die Schuhe von den Füßen und machte es sich im Schneidersitz auf dem Bett bequem. Sie legte die Ledertasche vor sich hin und öffnete den Reißverschluss.

Eine Woge der Enttäuschung überkam sie.

Vielleicht lag es an der Größe und Form der Tasche oder daran, dass sie so schwer war, aber Angela hätte darauf wetten können, dass sie einen Laptop oder ein Tablet enthielt. Stattdessen war der einzige Gegenstand in der Tasche ein etwa DIN-A4-großes, in dickes schwarzes Leder gebundenes Notizbuch.

»Wow. Statt eines Laptops kriege ich ein Buch? Genial.«

Angela musste über ihr Pech lachen. Gut, dass sie die Tasche in erster Linie geklaut hatte, um dem Arschloch in der Bar eins auszuwischen.

»Was für ein unhöflicher Mistkerl«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich kann nur hoffen, dass dir dieses Buch sehr, sehr wichtig ist.«

Einer spontanen Eingebung folgend, schlug sie es auf und blätterte ein wenig darin herum.

Das Erste, was ihr auffiel, war, dass die Seiten eng beschrieben waren und der Verfasser, vermutlich der Mann aus der Bar, über eine sehr saubere Handschrift verfügte. Nicht alle Seiten enthielten ausschließlich Text. Einige waren voller primitiver Zeichnungen und Skizzen, denen Angela jedoch nicht viel Beachtung schenkte. An einige Seiten waren Polaroidfotos geheftet. Als Angelas Blick am ersten Foto hängen blieb, geriet ihr Herzschlag ins Stolpern.

Sie blätterte um … noch ein Polaroid. Diesmal hörte ihr Herz praktisch ganz auf zu schlagen. Mit zitternden Fingern hob sie das Foto an, um zu sehen, ob auf der Rückseite oder darunter etwas geschrieben stand. Nichts.

»Was ist das?«, murmelte sie tonlos. Instinktiv wanderte ihr Blick weiter zum Text unter dem Foto. Sie kam nur wenige Zeilen weit, ehe sie am ganzen Leib zu zittern begann.

»O Gott. Was hast du angestellt, Angie? Was zum Teufel hast du da bloß angestellt?«

2

Montag, 7. Dezember


Das Büro der Ultra Violent Crime Unit des LAPD lag am hinteren Ende der Etage, auf der das Raub- und Morddezernat untergebracht war, im berühmten Police Administration Building mitten im Zentrum von Los Angeles. Detective Robert Hunter, Leiter der UV-Einheit, war gerade aus der Mittagspause zurückgekommen, als der Festnetzapparat auf seinem Schreibtisch klingelte.

Nach dem zweiten Klingeln nahm er ab. »Detective Hunter, UV-Einheit?«

»Robert, hier ist Susan. Haben Sie einen Moment Zeit?«

Dr. Susan Slater galt als eine der besten Forensikerinnen Kaliforniens. Sie hatte schon bei mehreren Fällen eng mit der UV-Einheit zusammengearbeitet.

»Klar, Doc. Stimmt irgendwas nicht?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Dr. Slater und machte eine kurze Pause. »Möglicherweise.«

Neugierig geworden, setzte Hunter sich bequemer auf seinem Bürostuhl zurecht. »Okay. Ich bin ganz Ohr.« Sein Blick ging zu dem Terminkalender auf seinem Schreibtisch, und er blätterte ein paar Seiten darin zurück, nur um ganz sicherzugehen, dass keine Testergebnisse ausstanden.

Nichts.

»Es ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit«, begann Dr. Slater. »Als ich heute früh aus dem Haus ging, um ins Labor zu fahren, habe ich wie jeden Morgen in den Briefkasten geschaut. Abgesehen von den üblichen Werbesendungen, die man übers Wochenende so bekommt, lag auch ein dicker Umschlag drin. Darauf stand in großen Buchstaben mein Name geschrieben, sonst nichts.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Hunter.

»Dass meine Adresse nicht draufstand, Robert«, erklärte Dr. Slater. »Nur mein Name. Keine Briefmarke, kein Poststempel, auch keine Absenderadresse.«

»Jemand hat Ihnen den Umschlag also direkt in den Briefkasten gesteckt.«

»Genau«, sagte Dr. Slater.

»Haben Sie ihn schon aufgemacht?«

»Ja, habe ich – natürlich nicht ohne die üblichen Vorsichtsmaßnahmen. In dem Umschlag war ein Buch.«

»Aha?« Hunter runzelte die Stirn.

»Um genauer zu sein … eine Art Notizbuch.«

»Was für ein Notizbuch denn?«

Diesmal wirkte Dr. Slaters Schweigen deutlich angespannter.

»Ein Notizbuch, von dem ich finde, dass Sie und Carlos es sich dringend ansehen sollten.«

3

Hunters langjähriger Partner in der UV-Einheit war Detective Carlos Garcia. Sie teilten sich ein Büro – eine zweiundzwanzig Quadratmeter große Betonschachtel mit einem einzigen Fenster, zwei Schreibtischen und ein paar alten Aktenschränken. Immerhin war es ein separater Raum, in dem sie vor neugierigen Kollegen und dem Stimmengewirr des übrigen Raub- und Morddezernats größtenteils geschützt waren.

Während Hunter mit Dr. Slater telefonierte, saß Garcia an seinem Rechner und füllte Formulare aus.

»Lust auf einen Ausflug zum Kriminallabor?«, fragte Hunter, sobald er aufgelegt hatte. Er griff bereits nach seiner Jacke.

Das kriminaltechnische Labor, Teil der Forensics Science Division, kurz FSD, bestand aus insgesamt acht Speziallaboren, die die verschiedenen Dezernate des LAPD bei ihren Ermittlungen unterstützten. Die meisten dieser Labore waren im Hertzberg-Davis Forensic Science Center auf dem Campus der California State University in Alhambra im westlichen San Gabriel Valley untergebracht.

»Ins Kriminallabor?« Garcia sah seinen Partner mit zusammengekniffenen Augen an. »Stehen noch irgendwelche Ergebnisse aus?«

»Nein«, antwortete Hunter, ehe er in knappen Worten seine Unterhaltung mit Dr. Slater wiedergab.

»Ein Notizbuch?«

»So hat sie es genannt.«

»Mehr hat sie nicht gesagt?« Garcia stand auf und schnappte sich ebenfalls seine Jacke.

»Nur, dass wir unbedingt einen Blick drauf werfen sollen.«

»Klar komme ich mit«, sagte Garcia. »Ich stehe drauf, wenn man mich auf die Folter spannt.«

4

An einem Montagnachmittag und im dichten Stadtverkehr benötigten Hunter und Garcia rund achtundzwanzig Minuten für die knapp sechs Meilen vom Police Administration Building in der West 1st Street bis zur Universität in Alhambra. Nachdem sie den Wagen auf einem eigens für Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden reservierten Parkplatz abgestellt hatten, machten sich die beiden auf den Weg zum Hertzberg-David Forensics Science Center – einem imposanten fünfstöckigen Gebäude im südwestlichen Teil des Campus. Nachdem sie den Empfang passiert hatten, nahmen sie die Treppe in den zweiten Stock, wo sich die Abteilung für Spurenanalyse befand. Dort wollte Dr. Slater sich mit ihnen treffen.

»Und? Freust du dich schon auf morgen?«, erkundigte sich Garcia, als sie am ersten Treppenabsatz ankamen.

»Meinst du den Weihnachtsball des LAPD?« In Hunters Miene spiegelte sich nicht mal ein Hauch von Vorfreude wider. »Freust du dich etwa?«

»Ja.« Garcia wirkte regelrecht aufgekratzt. »Ich habe sogar schon ein Zombie-Weihnachtsmannkostüm.«

»Zombie-Weihnachtsmannkostüm?« Hunters Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Ernsthaft?«

»Klar doch! Solche Partys sind so langweilig, da muss man selber für ein bisschen Spaß sorgen.«

»Und ein Zombie-Weihnachtsmannkostüm ist deine Vorstellung von Spaß?«

»Du bist bloß neidisch, weil du dich nicht verkleiden darfst«, konterte Garcia. »Du und Captain Blake sitzt am Tisch des Bürgermeisters, oder?«

Hunter nickte und verdrehte gleichzeitig die Augen. »Wird bestimmt ein richtig toller Abend.«

Garcia lachte leise. »Ja, jede Wette.«

Wie der Name bereits andeutete, bestand die Hauptaufgabe der Abteilung für Spurenanalyse darin, organisches sowie anorganisches Spurenmaterial zu analysieren, das im Zusammenhang mit Straftaten entweder vom Täter auf das Opfer übertragen oder in der Umgebung eines Tatortes sichergestellt worden war.

Als sie die Doppeltür erreichten, die zu den Räumlichkeiten des Labors führte und die stets verschlossen gehalten wurde, betätigte Hunter den Summer. Sie warteten. Wenige Sekunden später ertönte das gedämpfte Zischen der Türentriegelung.

Im Labor, das mindestens so viel Raum einnahm wie das gesamte Raub- und Morddezernat, war es unangenehm kühl, wenngleich immer noch etwas wärmer als im Freien. Mehrere Kriminaltechniker in langen weißen Laborkitteln waren an verschiedenen Arbeitsplätzen beschäftigt. Im Hintergrund lief leise Klassik.

»Hier drüben, Gentlemen«, hörten sie Dr. Slater rufen, während sich hinter ihnen die Türen langsam wieder schlossen.

Dr. Slater saß unweit von Hunter und Garcia vor einem inversen Mikroskop.

Sie war Mitte dreißig, etwa eins siebzig groß, schlank und athletisch gebaut, mit hohen Wangenknochen und einer schmalen Nase. Ihre langen blonden Haare waren oben auf dem Kopf zu einem unordentlichen Knoten zusammengedreht. Wie meistens trug sie nur ein ganz dezentes Make-up, das das Blau ihrer Augen betonte.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Sie begrüßte die Detectives mit einem Nicken.

»Tja. Ihr rätselhafter Anruf hat uns neugierig gemacht«, gab Garcia mit einem Lächeln zurück. »Was haben Sie denn Spannendes für uns?«

»Genau das, was ich Robert am Telefon bereits erklärt habe«, antwortete sie. Ihre Stimme klang sanft und freundlich, aber kein bisschen unsicher. Man hörte ihr die langjährige Berufserfahrung an. »Jemand hat mir irgendwann im Laufe des Wochenendes ein Päckchen in den Briefkasten gesteckt – wahrscheinlich gestern Nacht oder heute am sehr frühen Morgen. Schon allein der Umschlag hat mich stutzig gemacht.« Sie lenkte die Aufmerksamkeit der beiden auf einen großen transparenten Asservatenbeutel, der vor ihr auf dem Tisch lag. Darin befand sich ein großer brauner Umschlag, auf dessen Vorderseite in großen schwarzen Buchstaben »Susan Slater« stand.

»Darf ich?«, fragte Hunter.

»Nur zu.«

Er hob den Asservatenbeutel auf, sodass er und Garcia den Umschlag aus der Nähe betrachten konnten.

»Ich nehme mal an, Sie haben ihn schon auf Fingerabdrücke untersucht?«, fragte Garcia.

Dr. Slater nickte. »Es gab keine – nur meine eigenen.«

»Und die Handschrift?«, wollte Hunter wissen.

»Alles Versalien, keine hervorstechenden Merkmale erkennbar. Der Stift war irgendein billiger Filzstift mit dünner Spitze. Es hat keinen Sinn, sich die Mühe zu machen, die Tinte einer bestimmten Marke zuzuordnen, höchstwahrscheinlich ist es ein handelsüblicher Fineliner, der sogar in allen größeren Supermärkten geführt wird.«

Hunter nickte und legte den Asservatenbeutel wieder hin. »Sie erwähnten etwas von einem Notizbuch?«

»Ja«, sagte Dr. Slater und zeigte in den hinteren Bereich des Labors. »Jetzt wird es interessant. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Hunter und Garcia folgten ihr, vorbei an einer Gruppe von Kriminaltechnikern, die allesamt zu beschäftigt waren, um die Detectives auch nur wahrzunehmen. Als sie einen von insgesamt zwei separaten Räumen am hinteren Ende des Labors erreichten, warteten sie, während Dr. Slater einen achtstelligen Code in das Keypad unterhalb des Türgriffs eingab.

Der Raum, den sie betraten, war etwa acht Meter lang und sechs Meter breit. Darin befanden sich drei einzelne Arbeitsplätze mit insgesamt fünf Computern und sechs verschiedenen Mikroskopen – zwei Laserrastermikroskope, zwei Stereolupen, ein inverses Mikroskop sowie ein konfokales Lasermikroskop. Hier war es noch kälter als im großen Labor nebenan.

Dr. Slater führte sie zu einer freien Arbeitsfläche gleich links neben der Tür.

»Als ich den Umschlag heute Morgen aus dem Briefkasten geholt habe«, begann sie, »war ich so kurz davor, ihn einfach aufzumachen.« Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger einen praktisch nicht existenten Zwischenraum an. »Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, irgendwas im Internet bestellt zu haben, aber hin und wieder kommt es vor, dass ich was vergesse, vor allem wenn die Lieferzeit länger als drei Tage beträgt. Außerdem schicken mir das FSD oder andere forensische Labore manchmal unaufgefordert Proben oder Materialien zu – einfach nur weil …« Sie hob die Schultern. »Na ja, so ist es eben. Wie auch immer. Ich wollte den Umschlag schon aufreißen, kam dann aber noch gerade rechtzeitig zur Besinnung.«

»Als Sie gemerkt haben, dass keine Adresse oder Briefmarke drauf ist«, sagte Hunter. »Sondern nur Ihr Name.«

»Genau. Niemand vom FSD oder einem anderen Labor im Land würde mir einfach so eine Sendung zu Hause vorbeibringen. Allerhöchstens, wenn es sich um etwas Dringendes handelt – und dann würden sie klingeln und mir das Päckchen persönlich übergeben, statt es in den Briefkasten zu werfen.«

»Also haben Sie es hergebracht«, sagte Garcia. »Der ideale Ort, um ein paar Tests zu machen.«

Dr. Slater nickte. »Der Umschlag ist bereits durch drei verschiedene Scanner gewandert: ein normales Röntgengerät, das gezeigt hat, dass es sich bei dem Inhalt um ein Notizbuch handelt; dann ein Gerät, das Sprengstoffe nachweist – mit negativem Ergebnis; und schließlich wurde der Umschlag noch auf giftige oder anderweitig gesundheitsschädliche Substanzen getestet, das fiel ebenfalls negativ aus. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel, weil ich in meiner Paranoia öffentliche Gelder für so einen Unsinn verschwendet hatte. Aber dann habe ich den Umschlag aufgemacht.« Sie deutete auf einen zweiten Asservatenbeutel, der hinter ihr auf der Arbeitsfläche lag. Darin lag ein in Leder gebundenes Notizbuch. »Und dabei kam das hier zum Vorschein. Vergessen Sie nicht die Handschuhe, bevor Sie den Beutel öffnen.«

Hunter und Garcia zogen jeweils ein Paar blaue Einmalhandschuhe aus einem Spender an der Wand und streiften sie sich über.

Auch ohne dass sie das Notizbuch aus dem Beutel nehmen mussten, fiel ihnen gleich als Erstes auf, dass der schwarze Ledereinband ungewöhnlich dick und stabil war. Er hatte keinen Aufdruck, keine Prägung und war auch sonst weder vorne noch hinten in irgendeiner Weise gekennzeichnet.

Das Zweite, was sie bemerkten, war, dass das Buch deutlich mehr wog als ein normales Notizbuch, obwohl es nur etwa einhundertzwanzig Seiten stark zu sein schien. Wenn man es von der Seite betrachtete, sah man außerdem sofort, dass die Seiten nicht bündig aufeinanderlagen. Das Papier war gewellt und stellenweise dicker, mit Ausnahme der letzten fünfzehn bis zwanzig Blätter. Das deutete darauf hin, dass die Seiten entweder feucht geworden waren oder etwas hineingeklebt worden war – vielleicht auch beides.

Hunter und Garcia stellten sich nebeneinander vor die Arbeitsfläche, ehe Hunter das Notizbuch aus dem durchsichtigen Beutel holte, es hinlegte und aufschlug.

Entgegen dem, was man von einem persönlichen Tagebuch erwartete, enthielt die erste Seite keine persönlichen Angaben über den Besitzer. Auch auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels stand nichts geschrieben – kein Name, keine Anschrift, keine Handynummer oder E-Mail-Adresse.

Sie warfen einen Blick auf den ersten Eintrag. Dort war nirgends ein Datum oder eine Zeitangabe verzeichnet, weder ganz oben auf der Seite noch an einer anderen Stelle. Der Text selbst wies keinerlei Absätze oder Zeilenumbrüche auf. Ein Wort folgte auf das andere in einem scheinbar endlosen Block. Immerhin hatte der Verfasser Satzzeichen verwendet, was das Ganze ein wenig lesbarer machte.

Sämtliche Texte waren mit schwarzer Tinte und in sauberer Schreibschrift geschrieben. Fehler waren mit einer einzelnen horizontalen Linie durchgestrichen worden. Der Verfasser hatte weder irgendwo Tipp-ex benutzt noch einzelne Stellen ausradiert oder durch Gekritzel unkenntlich gemacht. Alles war sauber und ordentlich. Es gab auch keine Anzeichen von Vergilbung an den Seitenrändern – ein Hinweis darauf, dass das Tagebuch noch nicht sehr alt sein konnte. Hunter staunte über die schnurgeraden Zeilen, denn das Papier war nicht liniert.

Garcia wollte gerade weiterblättern, als Hunter ihm eine Hand auf den Arm legte. Sein Blick war an der ersten Textzeile hängen geblieben, und er hatte zu lesen begonnen.


Ihr Name war Elizabeth Gibbs, geboren am 22. 10. 1994. Nicht, dass es mich interessiert, wie sie heißen oder wer sie sind. Ihr Leben ist mir vollkommen egal. Mittlerweile waren es schon so viele, dass sie nichts weiter sind als Gesichter in der Dunkelheit. Eins verschwimmt mit dem anderen … und das wieder mit nächsten … und immer so weiter. Der Kreislauf endet nie. Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher. Ich vergesse Dinge. Ich vergesse sehr viele Dinge, und es wird immer schlimmer. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich entschieden habe, dieses Tagebuch anzufangen. Der zweite dreht sich um Sicherheit. Ich hätte schon vor langer Zeit auf die Idee kommen sollen, alles aufzuschreiben – gleich als das mit den Stimmen anfing. Aber das ist Schnee von gestern, und jetzt habe ich ja dieses Buch. Ich habe versucht, mich an die Fakten zu erinnern … an Einzelheiten über die früheren Subjekte, aber wie gesagt, mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste, und ich muss mich damit abfinden, dass es von jetzt an immer nur noch weiter bergab geht. Die Stimmen haben sehr genaue Angaben gemacht, was das Subjekt angeht. Weiblich. Größe: mindestens 1,70 m. Haare: schwarz, lang, glatt. Augen: dunkel. Gewicht: maximal 75 kg. Hautfarbe: weiß. Ich brauchte nur wenige Tage, bis ich sie gefunden hatte. Es war nicht schwer. Nachdem ich ihr eine Zeit lang durch die Stadt gefolgt war, ergab sich schließlich die Gelegenheit zum Zuschlagen. Datum und Uhrzeit: 3. 2. 2018–1930 h. Ort: Parkplatz vor dem Albertsons, Rosecrans Avenue, La Mirada. Foto: aufgenommen am selben Abend, wenige Stunden nach der Entführung.


Hunter blätterte um. Die Rückseite war leer. Der Verfasser hatte sich offenbar dazu entschieden, immer nur die Vorderseite der Blätter zu beschreiben. Die nächste Seite begann mit einer Lücke von circa acht Zentimetern oder, grob geschätzt, fünfzehn Zeilen. Zwei winzige Löcher ganz oben ließen erkennen, dass dort etwas eingeheftet gewesen war. Der rechte Rand der Seite war durch eine kleine Schmierspur verunreinigt, die aussah wie Blut. Hunter hob den Kopf und suchte Dr. Slaters Blick.

»Da war ein Foto drin?«, fragte er.

»Ja, ganz richtig«, antwortete sie, ehe sie zu einem anderen Arbeitsplatz ging, um einen dritten Asservatenbeutel zu holen, den sie an Hunter weiterreichte. Darin steckte ein Foto wie von einer Instax-Mini-Sofortbildkamera – zweiundsechzig mal zweiundvierzig Millimeter groß. Es zeigte das Gesicht einer Frau von schätzungsweise Mitte zwanzig. Ihre langen schwarzen Haare fielen ihr offen über die Schultern. Der Ausdruck in ihren dunklen Augen spiegelte sich auch in ihrem restlichen Gesicht wider und war unverkennbar: Sie litt Todesangst. Sie musste geweint haben, denn ein Großteil ihrer Mascara und ihres Eyeliners war verlaufen und hatte ein Geflecht aus wässrig schwarzen Zickzacklinien auf ihren Wangen hinterlassen. Der hellrote Lippenstift, den sie getragen hatte, war verschmiert. Der Kragen und die Schultern ihrer himmelblauen Bluse waren offenbar durchgeschwitzt. Das Foto war vor dem Hintergrund einer Betonziegelwand aufgenommen worden.

»Das ist der Grund, weshalb ich mich entschieden habe, Sie anzurufen«, erklärte Dr. Slater. »Ich war so frei und habe schon mal ihren Namen und das Foto mit der Vermisstendatenbank abgeglichen. Es gibt sie wirklich … und das Datum passt.«

Hunter und Garcia wechselten einen unbehaglichen Blick.

»Sie wurden alle eingetütet«, fügte Slater hinzu. »Für die Analyse.«

»Sie?«, fragte Garcia, dessen Blick von dem Foto zu Dr. Slater wanderte.

Sie nickte und atmete tief ein. »In dem Buch waren insgesamt sechzehn Fotos. Sechzehn verschiedene ›Subjekte‹.«

Hunter und Garcia hatten bereits den kleinen Stapel Asservatenbeutel auf der Arbeitsplatte unmittelbar hinter Dr. Slater bemerkt, allerdings waren sie davon ausgegangen, dass es sich um Beweismittel für einen anderen Fall handelte.

»Was ist mit der Schmierspur hier oben auf der Seite?«, wollte Hunter wissen. »Ist das Blut?«

»Ja. Neben jedem Bild, das ich aus dem Buch entfernt habe, gab es einen solchen Blutfleck. Die logische Schlussfolgerung ist wohl, dass es sich um das Blut der Person auf dem dazugehörigen Foto handelt. Ich habe von diesem Schmierfleck hier einen Abstrich genommen und ihn sofort zur Sequenzierung in die DNA-Abteilung geschickt.« Dr. Slater verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber bitte, lesen Sie nur weiter. Die richtig gute Stelle kommt erst noch.«

Hunter legte den Asservatenbeutel mit dem Foto neben das Notizbuch, ehe er sich wieder dem Text widmete und direkt unterhalb der Lücke weiterlas. Auf der Seite befand sich auch eine Skizze, die eine rechteckige Kiste darstellte. Darunter stand das Wort »Holz«. Die Maße der Kiste, auch die des Deckels, waren fein säuberlich angegeben.


Anders als beim letzten Mal, das extrem aufwendig und schmutzig war, liefen Vorbereitung und Durchführung diesmal ziemlich simpel. Kein Blut. Keine Folter. Keine Erniedrigung. Die Anweisung der Stimmen war eindeutig: »Sie soll lebendig begraben werden.«

5

Hunter schwieg. Er betrachtete noch einmal kurz das Polaroid im Asservatenbeutel, ehe er sich erneut an Dr. Slater wandte.

»Ist das alles überhaupt echt?«, fragte Garcia mit skeptischer Miene. »Sind Sie sicher, dass das nicht bloß ein dummer Scherz ist?«

»Na ja«, sagte Slater. »Sonst hätte ich Sie wohl kaum angerufen. Ich verschwende nur ungern Ihre Zeit, deshalb habe ich, wie ich eben bereits sagte, das Foto mit den Einträgen in der Vermisstendatenbank abgeglichen.« Sie zog die Augenbrauen hoch, ehe sie in die Tasche ihres Laborkittels langte und einen Ausdruck hervorholte. »Elizabeth Gibbs«, las sie ab. »Geboren am 22. Oktober 1994 hier in Los Angeles. Wohnhaft in La Mirada. Sie wurde am 4. Februar 2018 von ihrem Freund Phillip Miller, mit dem sie zu der Zeit zusammengelebt hat, als vermisst gemeldet. Sie wohnte unweit des Ortes, der im Buch erwähnt wird – der Parkplatz vor dem Albertsons-Supermarkt an der Rosecrans Avenue. Das Sheriffbüro hat ihr Fahrzeug, einen weißen Nissan Sentra, auf diesem Parkplatz sichergestellt. Spuren gab es keine – weder Fingerabdrücke noch sonst irgendwelche verwertbaren Hinweise. Elizabeth Gibbs wurde nie gefunden. Sie gilt immer noch als vermisst.« Dr. Slater faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in ihre Tasche. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte, das Datum passt genau zum Eintrag in dem Buch.«

»Ja, ist mir aufgefallen«, sagte Hunter, der die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt hatte.

»Steht auf dem Ausdruck auch der Name des Detectives, der in ihrem Fall ermittelt hat?«, fragte Garcia.

Dr. Slater holte ihn noch einmal aus der Tasche und faltete ihn erneut auf. »Detective Henrique Gomez. Von der Vermisstenstelle des LAPD. Kennen Sie ihn?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, war Miss Gibbs’ Freund zunächst der Hauptverdächtige, aber er hatte ein wasserdichtes Alibi.«

Garcia rieb sich die Stirn und seufzte unbehaglich. »So langsam kommt mir das hier vor wie ein besonders heftiger Fall von Déjà vu.« Er warf Hunter einen vielsagenden Blick zu. »Schon wieder ein Notizbuch, in dem sich jemand übers Töten auslässt?«

Hunter wusste, dass sein Partner auf Lucien Folter anspielte – den ohne Zweifel gefährlichsten und wahnsinnigsten Serienmörder, den sie jemals gejagt hatten. Dank ihrer gemeinsamen Anstrengungen war Lucien seit einiger Zeit ständiger Bewohner des Hochsicherheitsgefängnisses in Florence, Colorado.

»Das ist nicht vergleichbar, Carlos«, sagte er.

»Das behaupte ich ja auch gar nicht. Ich wollte damit lediglich sagen, dass ein Notizbuch, in dem Opfer und Mordmethoden beschrieben werden, bei mir einige ziemlich unangenehme Erinnerungen weckt.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Dr. Slater neugierig. »Was für Erinnerungen?«

»Ein alter Fall«, antwortete Hunter. Mehr sagte er nicht dazu. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Notizbuch, damit er auch den Rest des Eintrags lesen konnte.


Die Kiste zu zimmern war einfach. Die Stimmen hatten sie nicht näher beschrieben, deshalb konnte ich sie nach meinen eigenen Vorstellungen bauen. Ein paar dicke Bretter und ein Sack Nägel – mehr brauchte ich nicht dafür. Das Innere bequem zu machen war ja nicht notwendig. Es kostete mich einen ganzen Tag, die nötigen Vorbereitungen zu treffen, aber am Ende funktionierte alles reibungslos. Das Subjekt liegt bis heute an seiner letzten Ruhestätte. 34°15'16,9" N/118°14'52,4" W.


Garcia fiel die Kinnlade herunter. »Ist das da, was ich glaube, das es ist?«

Hunter spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen. Der Verfasser hatte seinen Eintrag durch die Angabe geografischer Koordinaten ergänzt.

»Ich denke schon«, sagte er.

Beide Detectives schauten fragend zu Dr. Slater, die mit beinahe entschuldigender Miene nickte.

»Vielleicht bin ich ein sehr neugieriger Mensch, aber ich konnte einfach nicht abwarten. Ich habe die Koordinaten im Internet in eine Karten-App eingegeben.«

»Und?«, fragte Garcia ungeduldig.

»Eine Stelle in der Nähe eines kleinen Baumbestands im Deukmejian Wilderness Park in Glendale. Ziemlich weit abgelegen«, fügte sie hinzu. »Aber man gelangt hin.«

Einen Moment lang war es totenstill im Raum.

Garcia bemerkte Hunters Gesichtsausdruck und brach als Erster das Schweigen.

»Okay.« Er nickte seinem Partner zu. »Den Blick kenne ich, Robert. Ich weiß, was du denkst, aber sollten wir nicht wenigstens die DNA-Ergebnisse vom Blutfleck abwarten, ehe wir damit zu Captain Blake gehen und um grünes Licht für ein Grabungsteam bitten? Elizabeth Gibbs’ DNA müsste doch in der Vermisstendatenbank gespeichert sein. Wenn sie übereinstimmen, kriegen wir sicher das Okay für die Exhumierung, aber wenn wir jetzt sofort zum Captain rennen, obwohl wir nichts weiter in der Hand haben als zwei miteinander übereinstimmende Daten und ein verdächtiges Notizbuch, gibt sie uns niemals die Erlaubnis. Denk an die jüngsten Etatkürzungen, die haben die Abteilung hart getroffen.«

»Wir haben ja auch noch die Polaroids«, gab Slater zu bedenken.

»Trotzdem«, hielt Garcia dagegen. »Das reicht nie im Leben, um Captain Blake davon zu überzeugen, uns die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit wir irgendwo im Wald ein Loch graben. Dafür ist die Abteilung viel zu klamm, und so eine Grabungsaktion ist teuer. Wir müssten eine ganze Mannschaft da rausschicken, einschließlich Bagger … Scheinwerfer … Generatoren … was weiß ich. Blake braucht mehr als ein Datum und ein paar Fotos.«

»Ja, du hast recht«, sagte Hunter. »Aber so eine DNA-Analyse braucht Zeit, selbst wenn sie vorgezogen wird.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

Auch diesmal ahnte Garcia bereits, was sein Partner dachte.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte er ungläubig.

»Es ist kurz vor zwei. Wenn wir sofort losfahren, können wir um drei, spätestens um halb vier dort sein. Dann haben wir noch eine bis anderthalb Stunden Tageslicht. Falls das nicht reicht, kommen wir morgen noch mal wieder.«

Garcia traute seinen Ohren nicht. »Bist du wahnsinnig geworden? Doc Slater hat doch gerade eben gesagt, dass die Koordinaten im Deukmejian Park liegen. Du warst schon mal da, oder? Das ist unwegsames Gelände, Robert. Teilweise felsig, fast überall harter Boden …« Er hob die Schultern. »Du weißt das wahrscheinlich, aber selbst bei optimaler Bodenbeschaffenheit braucht ein Totengräber circa sechs Stunden, um von Hand ein Grab auszuheben. Wie oft schwingst du so die Schaufel?«

»Eher selten«, gab Hunter zu.

»Mit anderen Worten: nicht oft genug«, sagte Garcia. »Und ich auch nicht. Selbst zu zweit würden wir wahrscheinlich einen ganzen Tag brauchen, um so eine Grube zu schaufeln. Wir müssten den gesamten Abend, die ganze Nacht und vermutlich auch noch morgen daran arbeiten, Robert. Für so was brauchen wir Profis.«

»Du hast recht mit allem, was du sagst«, räumte Hunter ein. »Allerdings hast du ein paar Dinge außer Acht gelassen.«

»Ach ja? Welche denn?«

wurde

»Dann erinnerst du dich bestimmt auch daran, dass diese Gräber allesamt flach waren. Nicht ein einziges Mal hatten wir es mit einem Grab zu tun, das tiefer als einen Meter war – aus genau den Gründen, die du eben genannt hast: Ein erfahrener Totengräber braucht etwa sechs Stunden, um unter idealen Bedingungen ein zwei Meter tiefes Grab auszuheben. Ein Amateur, noch dazu in unwegsamem Gelände?« Hunter schüttelte den Kopf. »Der würde einen ganzen Tag dafür benötigen – mindestens.«

»Im eigenen Garten wäre so was vielleicht machbar«, fuhr Hunter fort. »Aber wir reden hier von einem öffentlich zugänglichen Naturpark. Sicher, da oben gibt es ziemlich abgeschiedene Stellen, trotzdem könnte jederzeit jemand vorbeikommen – zumindest theoretisch. Niemand würde riskieren, an so einem Ort einen ganzen Tag lang ein Loch zu schaufeln, um eine Leiche darin zu vergraben. Ein paar Stunden vielleicht, aber niemals einen ganzen Tag. Deshalb würde es mich sehr wundern, wenn wir tiefer graben müssten als sechzig bis achtzig Zentimeter.«

»Und wo kriegen wir Schaufeln und Ausrüstung her?«, fragte er.

»Die haben wir da«, sagte sie und nickte Hunter zu. »Unten stehen ein paar Lieferwagen mit den nötigen Gerätschaften. Sie können sich ausborgen, was immer Sie brauchen.«