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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, GmbH Norderstedt

ISBN: 9783755762348

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Poseidon – der Gott des griechischen Meeres, der Ägäis … den Wogen des Meeres lauschen, Tauchen in kristallklarem, sonnendurchschienenem Wasser, Sandstrände, Felsküsten, Olivenhaine, Weinranken-bedeckte Lauben … in der Abenddämmerung genüßlich speisen – geharzter Wein, Grillspieße, gefüllte Weinblätter und noch so manches mehr … weiße marmorne Tempel, hohe Säulen, Statuen voller Stärke, Schönheit und Anmut … die griechischen Sagen, der trojanische Krieg, der Streit zwischen Athen und Sparta, die Odyssee und die Ilias, die homerischen Hymnen …

Das ist das Land, das Klima, die Stimmung, in dem Poseidon zu dem geworden ist, was er ist. Aber er ist nicht einfach nur die Verkörperung des Meeres – er ist weit mehr: Er ist auch der Bruder des Zeus, der diesem fast ebenbürtig ist; er ist ein starker und leicht cholerischer Gott; er ist der Herr des Jenseits in der Wasserunterwelt; er ist der Gott der Erdbeben – und kann sogar mit Inseln werfen! Er ist der Ahnherr der Könige von Atlantis; er ist der Geliebte von vielen Göttinnen, Nymphen und irdischen Frauen und seine Kinder sind zahlreich; ihm wurden viele Tempel und Kultstätten errichtet; und er ist großer Magier.

I Vorgeschichte

Um die Mythen des Poseidon verstehen zu können, ist es hilfreich, die Vorgeschichte der griechischen Religion in groben Zügen zu kennen, denn viele Motive ergeben sich erst aus der Entwicklung der Mythologie, deren Symbolik zu Beginn der griechischen Kultur schon viele Entwicklungsstufen durchlaufen hatte.1

I A Die Geschichte

Die Geschichte der Zivilisation und Kultur der Menschen beginnt vor ca. 7 Millionen Jahren mit den gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen, die Stöcke als Werkzeuge benutzt haben.

Vor 1,9 Millionen Jahren haben die damaligen Menschen, die noch sehr viel kleiner waren als die heutigen Menschen, die ersten einfachen Hütten errichtet, die aus einem Kreis aus aufgeschichteten Steinen mit einer Kuppel aus Ästen, Laub und evtl. auch Fellen bestanden.

Vor 1,75 Millionen Jahren wurde der Faustkeil als Allzweckwerkzeug erfunden. Spätestens um diese Zeit muß sich auch eine komplexere Sprache entwickelt haben, was das Entstehen einer Kultur ermöglicht hat, also das Bewahren von Erfahrungen im Kollektiv durch das Erzählen über diese Erfahrungen und die Weitergabe dieser Erinnerungen.

Ab dem Beginn der letzten Eiszeit vor 600.000 Jahren sind in Eurasien die Hütten besser mit Fellen u.ä. abgedichtet worden. Zudem wurden sie mit Steinen beheizt, die man in Feuern außerhalb der Hütte zum Glühen gebracht und dann in die Hütte getragen hat. Diese Hütten bekamen zu diesen Zeit manchmal auch einen kurzen Gang vor dem Eingang wie bei den heutigen Iglus hinzugefügt. Spätestens zu dieser Zeit ist auch die Fellkleidung entwickelt worden.

Vor 200.000 Jahren hat sich der Homo erectus in Südwestafrika zu dem heutigen Homo sapiens weiterentwickelt. In Eurasien lebte weiterhin der Homo erectus. In Europa hatte sich aus dem recht kleinen Homo erectus der deutlich größere Neandertaler entwickelt, der die damalige Kälte besser ertragen konnte.

Vor 50.000 Jahren gelangte der Homo sapiens von Afrika aus nach Eurasien, wo es zu dem ersten großen Kulturaustausch gekommen ist. Dadurch entstanden die Höhlenmalereien, die Frauen-Statuetten, die Totempfähle, die Musikinstrumente, ein komplexes Weltbild usw.

Als die Eiszeit um 10.000 v.Chr. geendet ist, konnten die damaligen Jäger teilweise seßhaft werden, weil es in den warmen, regenreichen Gebieten so viel Wild gab, daß kein nomadisches Leben mehr notwendig gewesen ist.

Um 8500 v.Chr. wurden in Mesopotamien der Ackerbau und die Viehzucht entwickelt, die es ermöglichten, daß nun fast 500-mal mehr Menschen zusammenleben konnten als zuvor bei den Jägern und Sammlern. Das erforderte eine komplexere Kultur, die u.a. die neue Vielfalt der damaligen Gemeinschaften mit Vergleichen organisiert hat – das Weltbild wurde dadurch zur Mythologie, d.h. zu einer Sammlung von Erzählungen und Vergleichen, die beschreiben, wie die Welt ist und wie man sich am besten in ihr verhält.

Um 7000 v.Chr. zog ein Teil dieser Bauern von Mesopotamien aus über den Kaukasus in die Ebene nördlich des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres. Dies waren die Vorfahren der Indogermanen. Als die starken Regenfälle der Nacheiszeit um 6000 v.Chr. nachließen, wurde diese Ebene allmählich zu der heutigen (südrussischen) Steppe. Dadurch waren die Indogermanen gezwungen, sich auf halbnomadische Weise vor allem von der Viehzucht zu ernähren – das Land war für den Ackerbau zu trocken. Durch das ständige Beschützen der Herden vor Raubtieren und vor den Nachbarstämmen wurden die Indogermanen zunehmend kriegerischer.

Um 3250 v.Chr. wurde in Ägypten das erste Königreich gegründet, das 1000 Jahre lang auch das einzige Königreich blieb.

Ab 2800 v.Chr. begannen die Indogermanen ihr Gebiet auszuweiten und die umliegenden Völker zu plündern und zu versklaven. Dabei entwickelten sich die verschiedenen indogermanischen Stämme zunehmend unabhängig voneinander weiter und bildeten dadurch nach und nach die verschiedenen indogermanischen Völker. Die Tocharer zogen nach Osten in die Wüste Gobi, die Inder zogen weit nach Südosten, die Perser weit nach Süden, die Mitanni zogen nach Süden ins nördliche Mesopotamien, die Hethiter zogen ebenfalls nach Süden in die heutige Mittel-Türkei, die Griechen nach Südwesten, die Thraker an die Westküste des Schwarzen Meeres, die Römer nach Südwesten, die Kelten nach Westen, die Germanen nach Nordwesten und die Slawen und Balten nach Norden.

Um 1200 v.Chr. hatten die Griechen ganz Griechenland besetzt und hatten mittlerweile auch die Seefahrt erlernt. Sie bauten eine große Flotte, taten sich mit anderen seefahrenden Völkern zusammen und plünderten die gesamte westliche Mittelmeerküste. Diese „Seevölker“ eroberten alle küstennahen Städte und sie zerstörten alle küstennahen Reiche außer dem Ägyptischen Reich, das ihnen als einziges widerstehen konnte. Zu diesen zerstörten Reichen gehörten unter anderem auch Kreta und das Hethiterreich. Die Zerstörung des Hethiterreiches ist die Grundlage für den Bericht des Homer über den trojanischen Krieg.

Die klassische Kultur Griechenlands beginnt um ca. 800 v.Chr. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten schriftlichen Berichte: Homers „Ilias“ und „Odyssee“. Damals begannen die Griechen mit der Gründung von Kolonien vor allem in Süditalien und auf Sizilien, aber auch fast überall an der Küste des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres.

Ab 500 v.Chr. kommen auch Vasenmalereien und Skulpturen als Quellen für die heutige Kenntnis über die damalige Kultur hinzu.

Um 340 v.Chr. hat Alexander der Große das Griechische Reich, das bis dahin mehr oder weniger aus Stadtstaaten bestand, vereint und bis nach Indien hin ausgedehnt.

Um 140 v.Chr. wurde Griechenland zu einem Teil des römischen Reiches.

Erst seit 1828 ist Griechenland wieder ein eigenständiger Staat.

Die Kenntnisse über Poseidon stammen vor allem aus der Zeit von 800v.Chr. bis 200n.Chr.


1 Eine ausführliche Darstellung dieser Zusammenhänge und Entwicklungen findet sich in meinem Buch „Die sieben Schritte des Lebens“.

I B Das Jenseits

Bei einem Nahtod erlebt man, wie man selber seinen Körper verläßt und über ihm schwebt: eine „Astralreise“. Solch ein Nahtod kann ein Unfall, eine Gefahrensituation, ein Angriff durch ein Raubtier oder einen anderen Menschen und vieles anderes sein. Solch eine Astralreise geschieht, wenn die Seele den eigenen Körper aufgibt und ihn verläßt, um z.B. nicht mitzuerleben, wie ihr Körper von einem Löwen gefressen wird. In den meisten Fällen liegt der Körper dann reglos da, d.h. man ist ohnmächtig geworden.

Durch derartige Erlebnisse haben die Menschen schon früh erkennen können, daß der Mensch mehr als nur sein Leib ist. Dieses Erlebnis wurde durch einen Vogel dargestellt – einfach, weil man dabei das eigene Bewußtsein und die eigene Wahrnehmungsfähigkeit als über dem eigenen physischen Leib schwebend erlebt. Dies ist der Ursprung des weltweit verbreiteten Motivs des Seelenvogels.

In der späten Altsteinzeit wurde dies als Vogel-Stab, also als ein Vogel auf einem Stab dargestellt. Eine solche Szene findet sich in den Höhlenmalereien von Lascaux.

Lascaux, ca. 15.000 v.Chr.: Jagdunfall – ohnmächtiger oder toter Mann mit Seelenvogel auf einem Stab

Aus diesen Vogelstäben entwickelte sich dann der Totempfahl, der im Wesentlichen den Leib (Stamm) und die Seele (Vogel oben auf ihm) dargestellt hat. Dies ist das erste religiöse Symbol gewesen. Die Aussage dieses Symbols ist einfach: „Der Mensch hat eine Seele.“

Diese Totempfähle müssen schon in der späten Altsteinzeit (50.000-10.000 v.Chr.) weit verbreitet gewesen sein, da sie sich überall außer in Afrika finden (dort sind nur die Vogel-Stäbe üblich) und da es bereits um 10.000 v.Chr. in Göbekli Tepe sehr verschiedene steinerne Totempfähle mit einer komplexen Symbolik gabt, die hölzerne Vorläufer gehabt haben müssen.

Aus der weltweit verbreiteten Seelenvogel-Symbolik haben sich verschiedene Motive entwickelt: der Vogel, der Vogel-Stab, der Totempfahl, die Vögel auf dem Weltenbaum als dem Jenseitsweg, Menschen mit Vogelköpfen, Vögel mit Menschenköpfen, Menschen mit Flügeln (Engel); Menschen mit Federkleid, Menschen mit Federkrone (Indianer) usw.

Damals hat es weder Schulen noch Sozialversicherungen oder ähnliches gegeben – wenn man Rat und Hilfe brauchte, war man auf die eigenen Eltern angewiesen. Es war daher verständlich, daß man nach dem Tod der eigenen Eltern den Kontakt zu deren Seelen bewahren wollte, um von ihnen weiterhin Rat und Hilfe zu erhalten.

Nachdem einige Menschen es gelernt hatten, ein Nahtod-Erlebnis willentlich zu wiederholen, waren diese Menschen in der Lage, in ihrem „körperlosen Seelen-Zustand“, also während der willentlichen Astralreise, den Kontakt zu den Ahnen, die ja ebenfalls „körperlose Seelen“ waren, herzustellen. Diese Menschen waren die Schamanen, d.h. die ersten religiösen Spezialisten.

Es wird nicht lange gedauert haben, bis man sich gefragt hat, wo sich die Seelen der Toten eigentlich befinden. Da man sie nicht sehen konnte, mußten sie an einem Ort sein, an den man nicht lebend gelangen konnte. Dafür kam die Tiefe der Erde, die tiefen Wasser und der Himmel infrage – so entstand die Vorstellung eines Erd-Jenseits, einer Wasser-Unterwelt und eines Himmels-Jenseits.

Man hat schon in der späten Altsteinzeit (oder noch früher) den Lauf der Sonne mit dem Leben des Menschen verglichen:

Sonnenaufgang = Geburt

Tag = Leben

Sonnenuntergang = Tod

Nacht = Jenseits

Das führte dazu, daß man das Jenseits selber im Norden unter dem Polarstern vermutet hat – so wie sich dies u.a. auch bei den Griechen findet: das „Hyperborea“ genannte Paradies im hohen Norden. Dort steht auch der Weltenbaum – als Jenseitsweg und als Drehachse der Erde am Nordpol.

Eine zweite Vorstellung war, daß sich das Tor in die Unterwelt im fernen Westen befindet, da dort die Sonne untergeht, d.h. in die Unterwelt eintritt. Daher war das Meer im fernen Westen oder die Insel im fernen Westen ebenfalls ein Symbol des Jenseits. Diese Insel ist als „Duat“ (Ägypter), als die „Hesperiden“ (Griechen), als „Avalon“ (Kelten), als „Walaskialf“ (Germanen), als „Atlantis (Griechen) usw. bekannt.

Die Ankunft der Seele im Jenseits hat man offenbar schon in der späten Altsteinzeit der Ankunft eines Menschen im Diesseits, also einer Geburt verglichen. Dies war eine „zweite Geburt“, also eine „Wiedergeburt“.

Dem ging logischerweise eine „Wiederzeugung“ voraus und dem folgte ein „Wiederstillen“.

Aus der Wiedergeburt hat sich die Erd- und Jenseitsgöttin entwickelt, die die Toten im Jenseits wiedergebiert. Diese Göttin war somit eine zweifache Muttergöttin: die Mutter der Lebenden und der Toten. Dies wurde in der späten Altsteinzeit, in der Jungsteinzeit und auch noch im frühen Königtum dadurch dargestellt, daß diese Göttin zwei Köpfe oder zwei Leiber hatte, zwei Schwestern war oder mit einem Arm nach oben und mit einem Arm nach unten gezeigt hat.

Aus dem Wiederstillen haben sich die verschiedenen Ritualtränke entwickelt, die schon im Diesseits die Verbindung zu der Muttergöttin im Jenseits herstellen sollten und schließlich sogar die Wiedergeburt im Jenseits, d.h. die Unsterblichkeit selber sichern sollten. Daher heißt dieser Trank bei den Griechen „Nektar ambrosia“, d.h. „Honig-Trank des Nicht-Todes“, also „Unsterblichkeitstrank“. Die indische Bezeichnung „Soma amrita“ hat genau dieselbe Bedeutung. Auch der Ritualtrank im ägyptischen Hathor-Kult, der Met bei den Kelten und Germanen, der Balché-Trank bei den Mayas usw. haben diese Symbolik. Daraus ist dann schließlich das Lebenselixier der Alchemisten in Europa und in Indien entstanden.

Die Wiederzeugung ist eine Symbolik, die offensichtlich eine reine Männer-Symbolik ist. Nachdem diese Symbolik entstanden war, die sich zwangsweise aus der Vorstellung einer Wiedergeburt der Seele im Jenseits ergeben hat, gab es natürlich auch die Angst der Männer, bei ihrer eigenen Wiederzeugung im Jenseits Potenzprobleme zu haben und sich dann nicht wiederzeugen zu können und folglich auf ewig tot zu sein – also der maximale Streß beim Sex …

Um dem vorzubeugen, hat man auf die Tiersymbolik zurückgegriffen. Wie die Mythen in der ganzen Welt zeigen, sind damals Tiernamen wie Adjektive verwendet worden: das Großraubtier war „stark“ und die Herdentiere waren „zeugungskräftig und fruchtbar“. Man konnte also ein männliches Herdentier opfern, es häuten und den Toten in das Fell dieses Tieres wickeln, um dem Toten auf magische Weise die Zeugungskraft des betreffenden Herdentieres zu übertragen.

Auf diese Weise ist die Vorstellung entstanden, daß der Tote ein Herdentier/Mann-Mischwesen ist. Dies findet sich bei den Griechen als Pan, die Satyrn, die Silenen, die Centauren, der Minotaurus usw. In der Wasserunterwelt wurde der Tote als Pferde-Mann dann zum Hippokampus, also zu einem Pferd mit Fischschwanz. Ein ähnliches Motiv findet sich bei den Sumerern bei Ea, der die Gestalt eines Steinbocks mit Fischschwanz hat.

Die Göttin mußte bei der Wiederzeugung natürlich die dem Toten entsprechende weibliche Tier-Gestalt annehmen: Stier und Kuh, Hirsch und Hindin, Hengst und Stute, Keiler und Bache, Eber und Sau, Widder und Schaf; Ziegenbock und Ziege usw.

Am weitesten verbreitet ist die Kuh-Gestalt der Göttin: von der ägyptischen Göttin Hathor über die heiligen Kühe in Indien bis zu der Weißen Büffelfrau der Dakotas. Aufgrund dieser Symbolik kann Poseidon die Gestalten eines Hengstes, Stieres und Widders annehmen. Bei seiner Vereinigung mit Demeter nimmt er z.B. die Gestalt eines Hengstes und sie die Gestalt einer Stute an – das Kind der beiden ist dann natürlich ein Fohlen.

I C Der Urriese

Die Wichtigkeit der Ahnen, die ihren Nachkommen weiterhin Rat und Hilfe gaben, führte dazu, daß man den Kontakt zu ihnen bewahrt hat und evtl. auch noch die Großväter und die Urgroßväter um Rat und Hilfe gebeten hat.

Ein zweites Element in den damaligen Weltbild ist die Assoziation, die das einfachste Ordnungs- und Verarbeitungsprinzip für die Erlebnisse gewesen ist – und die das auch heute noch ist. Wenn man etwas durch Assoziationen ordnen will, braucht man einen Bezugspunkt – und der einfachste Bezugspunkt ist der eigene Leib.

So wurde bereits in der späten Altsteinzeit (oder schon früher) der Himmel dem Schädel des Menschen verglichen, die Knochen den Felsen und Bergen, das Fleisch der Erde, das Blut dem Wasser, die Haare den Pflanzen, und die Sonne und der Mond den beiden Augen. Dadurch ergab sich von selber die Vorstellung der Welt als eines großen Menschen: der Urriese. Er findet sich bei den Germanen als Ymir, bei den Persern als Yima, bei den Indern als Yama und als Purusha, bei den Juden als Adam, bei den Ägyptern als Atum und bei den Chinesen als Pan Gu. Außer den beiden Namen „Purusha“ und „Pan Gu“ haben alle diese Namen einen gemeinsamen Ursprung in dem Wort „dug-mänu“, d.h. „Erd-Mann“ oder „Erdling“ der Menschen in Mesopotamien in der frühen Jungsteinzeit (10.000 v.Chr.).

Das Bild der Zerstückelung des Urriesen zur Herstellung der Welt, das heute als ziemlich brutal erscheint, ist damals recht normal gewesen, da die Menschen in der Altsteinzeit von der Jagd gelebt haben und mehr oder weniger täglich Tiere zerlegt haben. Zudem hat es gelegentlich auch den Brauch des Kannibalismus gegeben, der jedoch nicht der Ernährung, sondern der Bewahrung der Kraft des Toten in der Sippe gedient hat. Dieser Brauch wird noch von dem Griechen Herodot über die Skythen berichtet, die die nordöstlichen, ebenfalls indogermanischen Nachbarn der Griechen gewesen sind – und Herodot war darüber nicht entsetzt, sondern tief beeindruckt.

Der „Mensch, der der Welt gleicht“, wird schnell zu der „Welt als Mensch“, d.h. zu dem „Erd-Riesen“. Dieser Erd-Riese ist natürlich auch der „Erste Mensch“, d.h. der Urahn aller Menschen.

Daraus ergibt sich, daß die Nachkommen des Urriesen zwar kleiner als dieser, aber noch immer Riesen gewesen sein müssen. Da die Götter sich aus den Ahnen entwickelt haben, ergibt sich somit die Folge „Urriese – Riesen – Götter – Menschen“. Diese Riesen sind bei den Griechen die Titanen, von denen die Götter abstammen.

Die morgendliche Wiedergeburt der Sonne hat aufgrund der Wiederzeugungs-Symbolik dazu geführt, daß die am Morgen wiedergeborene Sonne der Sohn der am Abend gestorbenen Sonne ist.

Dieses friedliche Motiv hat sich bei den Indogermanen schon früh zu einem kriegerischen Motiv weiterentwickelt, bei dem der Sonnen-Sohn seinen Sonnen-Vater erst ins Jenseits verbannt hat (schließlich ist er am Abend gestorben) und dann in späteren Versionen entthront, kastriert und getötet hat.

Dieses Motiv hat sich dann auch mit dem Motiv der Abstammung der Götter von den Riesen verbunden – man faßte die Riesen tendenziell als die Toten im Jenseits auf, die Götter hingegen zwar ebenfalls als Jenseits-Wesen, die jedoch auch im Diesseits tätig sind. Dadurch entstand das Motiv des Kampfes der Götter gegen die Riesen, das sich bei allen Indogermanen findet.

Bei den Griechen ist dies der Kampf des Zeus und seiner Geschwister, zu denen auch Poseidon gehört, gegen die Titanen.

I D Die Zahl „3“

In der Altsteinzeit gab es ein sehr einfaches Zahlensystem, das sich in vielen alten Kulturen noch in Resten wiederfindet. Es bestand aus den Zahlen „1“, „2“, „4“ und „8“. Aus diesen vier Zahlen hat man alle Zahlen zusammengesetzt. Eine „5“ ist eine „4+1“, eine „11“ ist eine „8+2+1“ und eine „15“ ist eine „8+4+2+1“. Größere präzise Zahlen brauchte man in der Altsteinzeit noch nicht …

In der damaligen Zeit gab es in der Grammatik neben dem Singular („einer“) und dem Plural („viele“) noch den Dual („zwei“). Den Dual benutzte man für „zwei Hände“, „zwei Füße“, „Mann und Frau“ und ähnliche Dinge, die man heute als „Paar“ bezeichnen würde.

Da der Singular etwas Einzelnes bezeichnet und der Dual Dual ein Paar, also zwei, lag es nahe den Plural durch die „3“ zu symbolisieren. Dieses System findet sich z.B. in der ägyptischen Hieroglyphen-Schrift, in der ein einzelner, kleiner, senkrechter Strich den Singular bezeichnet ( ∣ ), zwei solche Striche den Dual ( ∣ ∣ ) und drei solche Striche den Plural ( ∣ ∣ ∣ ).

Der Plural als grammatische Form für „viele“ konnte leicht auch die Bedeutung „endlos viele“ und dann auch die Bedeutung „Zyklus“ im Sinne von „endlose Wiederkehr“ erhalten. Da das wichtigste Beispiel für eine „endlose Wiederkehr“ die Sonne ist, wurde die „3“ schließlich auch mit der Sonne selber assoziiert. Das führte in ganz Eurasien zu dem Motiv der dreibeinigen Sonnenscheibe. Bei den Griechen und Kelten ist sie z.B. das Triskelis, aber dieses Symbol ist auch am anderen Ende von Eurasien in Japan zu finden.

Davon abgeleitet ist z.B. der dreibeinige Frosch und die dreibeinige Schildkröte in China (die Sonne in der Wasserunterwelt) und das dreibeinige Roß Helhest bei den Germanen (das Roß des Sonnengottes in der Unterwelt).

Die Symbolik der dreibeinigen Sonne beruht offenbar auf der Auffassung der Sonne als Himmelswanderer – dieses Motiv muß es schon in der späten Altsteinzeit gegeben haben, da es sich sowohl in Europa als auch in China und Japan findet. Dieses Motiv hat sich bei den Griechen in der Geschichte über Iason erhalten – es ist allerdings schon in die Sage übertragen worden.

Als nächstes wurde die Sonne zu einem Gott auf einem Schiff – auch dies könnte schon in der späten Altsteinzeit geschehen sein, da es damals zumindestens schon Flöße und Fellboote gab. Diese Variante hat sich bei den Griechen ansatzweise bei Poseidon erhalten.

Das dritte Motiv war die Sonne als Streitwagenfahrer. Diese Variante findet sich bei Zeus, bei Hades und bei Poseidon – sie ist das prägende griechische Motiv der Reise des Sonnengott-Göttervaters.

Das vierte und neueste Motiv ist der Sonnengott als Reiter. Dieses Motiv findet sich bei den Griechen nur selten und fast nur bei Poseidon.

Die mythologische Entwicklungsfolge dieser vier Motive, also Wandern, Schifffahrt, Streitwagenfahrt und Reiten entspricht der realen Folge der Entwicklung der Fortbewegungsmöglichkeiten der Menschen – der Sonnengott-Göttervater war bei den Indogermanen immer auf dem neusten technischen Stand …

I E Der Göttervater

Schon in der Altsteinzeit hat die Sonne eine große Rolle gespielt: Sie bestimmte die Tages- und Jahreszeiten und mithilfe des Sonnenstandes konnte man auch die Himmelsrichtungen bestimmen.

Offensichtlich hat man den Sonnenlauf bereits in der späten Altsteinzeit dem Leben des Menschen gleichgesetzt, da sich diese Symbolik bereits um 10.000 v.Chr. zu beginn der Jungsteinzeit in den Tempeln von Göbekli Tepe findet.

Während der Jungsteinzeit ist der Sonnengott nach und nach zum Göttervater aufgestiegen. Sein Name in Mesopotamien war „Ba’al“, was „Sonne, Herr, Gott, König“ bedeutet. Dieser Name findet sich auch noch bei den Indogermanen: u.a. der Sonnenriese Beli bei den Germanen und der Sonnengott Bel bzw. Belenus sowie der Riese Balor bei den Kelten.

Bei den Indogermanen setzte sich jedoch schon früh der neue Name „Dhyaus“ durch, der „Aufsteigender, Leuchtender, Scheinender“ bedeutet und die am Morgen wiedergeborene Sonne bezeichnet hat. Er findet sich später bei vielen indogermanischen Völkern als „unsterblicher Sonnen-Vater“ wieder.

Der indogermanische Göttervater
Volk Dhyaus (Sonnengott) Papa (Vater) Dhyaus pater (Sonnenvater) Gott unsterblicher Sonnengott
Indogermanen Dhyaus Pater Dhyaus Pater Deiuos Deiuos nmrtos
Altinder Dhyaus   Dhyauh Pita Devah Devah amritah
Altgriechen Zeus   Zeus Pater Theos Theoi ambrotoi
Thraker Zeus   Saba Zeus    
Hethiter Shiun        
Palaier Tiyaz        
Luwier Tiwat        
Skyten   Papaios      
Phrygier Deos Papas   Tios  
Litauer Dievas        
Germanen Diar, Tyr     Diar  
Römer     Ju-Piter   Di immortales

Bei den Mittel-Indogermanen (Skythen) und West-Indogermanen (Kelten, Germanen, Römer, Slawen, Balten) sowie bei den Griechen wurde Dhyaus auch zu einem Schwert- und Kriegsgott mit einer ausgeprägten eigenen Mythologie – diese Völker lebten nördlich, westlich und südwestlich des Schwarzen Meeres und bilden einen zusammenhängenden Bereich.

Der abendliche bzw. herbstliche Tod des Dhyaus wurde bei diesen Völkern zu einem Tod in der Schlacht, bei dem sein Schwert zerbrach und bei dem er einen Arm oder später auch beide Arme, beide Beine und seinen Kopf verlor.

Als Gott in der Unterwelt, der sein Schwert neu schmiedete, wurde er zum hinkenden Schmiedegott – sein Hinken ist eine Umdeutung seines verlorenen Beines bzw. Armes. Der Schmiedegott ist bei den Indogermanen stets der Sohn des Sonnengott-Göttervaters, da der am Morgen wiedergeborene Sonnengott auf Grund der Wiederzeugungs-Symbolik sein eigener Sohn war. Auch bei den Griechen ist der Schmiedegott Hephaistos der Sohn des Zeus.

Bei einigen indogermanischen Völkern löste sich der Schwert- und Kriegsgott von den dem Sonnengott-Göttervater Dhyaus ab. Bei den Vorfahren der Griechen und Römer ist dies der Gott „Mares“ gewesen, aus dem dann der römische „Mars“ und der griechische „Ares“ wurden.

Bei einigen Völkern wurde der Sonnengott-Göttervater Dhyaus am Tageshimmel zunehmend von dem Sonnengott-Göttervater Dhyaus in der nächtlichen (Wasser-) Unterwelt unterschieden. So entstand bei den Kelten das Götterpaar Dagda („Dag-Da“ = „Tages-Gott“) und Nuada, dem eine Hand abgeschlagen worden war („Nua-Da“ = „Wasser-Gott“). Bei den Germanen sind dies u.a. der Tages-Gott Tyr und der Nacht-Riese Thiazi – beide Namen sind Varianten der germanischen Version von „Dhyaus“.

Da es damals drei Jenseits-Motive (Himmel, Erdunterwelt, Wasserunterwelt) gegeben hat und da die Sonne aufgrund der Symbolik der „3“ eng mit dieser Zahl verbunden war, gab es auch einige Verdreifachungen des Sonnengott-Göttervaters Dhyaus. Bei den Griechen herrscht Zeus über das Himmelsjenseits, Hades über die Erd-Unterwelt und Poseidon über das Wasser-Jenseits – über die Diesseits-Erde herrschen diese drei gemeinsam. Bei den Inder ist die „3“ zu einer zeitlichen Entwicklungs-Symbolik geworden: Brahma der Erschaffer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer.

I F Der Drache

Schlangen leben auf dem Erdboden und verstecken sich in Höhlen und Felsspalten. Sie waren also wie die bestatteten Toten „in der Erde“. Daher wurden die Toten mit den Schlangen assoziiert, weshalb man Tote als Schlangen darstellen konnte.

Es lag somit nahe, den Weg in das Jenseits und den Weg zurück aus dem Jenseits ebenfalls als Schlange, d.h. als „Schlangenweg“ darzustellen.

Die wichtigste Gabe der Ahnen an ihre lebenden Nachkommen ist damals die Stärke der Jäger gewesen, die daher auch als Schlange, also als „Gabe der Ahnen“ oder „Gabe der Göttin“ und somit als „Gabe der Erde“ dargestellt werden konnte.

Wenn die Schamanen die willentliche Astralreise erlernen wollten, mußten sie ihre Aufmerksamkeit von ihrem physischen Körper auf ihren Lebenskraftkörper (Astralkörper, Seele) verschieben. Wenn sie dann mit ihrem Bewußtsein ganz in ihrem Lebenskraftkörper angekommen waren, konnten sie ihn auch willentlich bewegen, d.h. eine Astralreise beginnen.

Dieser Vorgang ist eng mit der Erweckung der Kundalini verbunden, da man auch dafür seine Aufmerksamkeit vom physischen Körper auf den Lebenskraftkörper verschieben muß. Anschließend bewegt man jedoch nicht den Lebenskraftkörper als Ganzes (Astralreise), sondern man bewegt die Lebenskraft in dem Lebenskraftkörper.

Diese weitgehende Übereinstimmung hat dazu geführt, daß die Schamanen schon früh auch das innere Kundalini-Feuer entdeckt haben. Da dieses Feuer von unten her in den Körper aufsteigt, hat man auch diese Kraft als Schlange dargestellt – eben als Kundalini-Schlange.

Hinterkopf mit Kundalini-Schlange, Nevali Cori, ca. 9000 v.Chr.

Diese drei Motive, also die Schlangen-Ahnen, der Schlangen-Jenseitweg und die Kundalini-Schlange erscheinen alle schon auf den Pfeilern und steinernen Totempfählen von Göbekli Tepe. Die Kundalini-Schlange wurde am deutlichsten als eine Schlange, die an dem Hinterkopf eines Menschenkopfes emporkriecht, dargestellt – das ist auch heute noch die übliche Darstellungsweise der erwachten Kundalini z.B. bei Statuen von Buddha oder Shiva.

Aus dieser Schlangen-Symbolik hat sich der u.a. der Schlangen-Stab als Symbol der Schamanen, Jenseitsboten, Zauberer, Seher und sonstiger Jenseitsreisenden entwickelt. Der Stab ist der Weltenbaum als die Verbindung zwischen dem Erd-Diesseits und dem Himmels-Jenseits. Die Schlange ist das Symbol des Jenseitsweges.

Bei den Griechen findet sich diese Symbolik als der Caduceus-Stab des Hermes, an dem sich zwei Schlangen emporringeln, und als der Stab des Heilers Äskulap, an dem sich eine Schlange befindet. Der Schlangen-Stab des Äskulap ist noch heute das Symbol der Apotheken.

Eine neue Schlangen-Symbolik hat sich um 6000 v.Chr. entwickelt, als die Dürre nach den reichen Regenfällen in der Nacheiszeit begann. Da diese Dürre die Indogermanen, die nördlich des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres gewohnt haben, besonders hart getroffen hat, da sich das dortige fruchtbare Land damals in die heutige südrussische Steppe verwandelt hat, haben sich die damaligen Indogermanen gefragt, wie diese Dürre entstanden ist.

Offensichtlich hielt jemand den Regen den Sommer über gefangen. Da das Süßwasser aus der Erde in den Quellen heraufkam und auch die Wolken am Horizont (vermeintlich) aus der Erde aufsteigen, befanden sich der Regen und das Süßwasser ganz allgemein unter der Erde. Wer dort unten hielt also den Regen fest? Die Erdgöttin konnte es nicht sein, da sie den Menschen wohlgesonnen war. Aber es gab dort noch ein zweites Wesen, das groß genug war, um den Regen festhalten zu können …

Die Ahnen wurden als Schlangen dargestellt. Davon hatte sich die Vorstellung des Jenseitsweges als Schlangenweg abgeleitet. Nun geht die Sonne im Westen unter und wird im Osten wiedergeboren – sie reist also unter der ganzen Erde von Westen bis nach Osten hindurch. Auch dies ist ein Jenseitsreiseweg, also ein Schlangenweg. Diese Schlange reichte folglich von Westen bis nach Osten – eine wahrhaft riesige Schlange. Sie mußte der Täter sein: sie war eine Regenräuberschlange.

Da der Regen im Herbst wiederkehrte, ist diese Schlange offenbar im Herbst besiegt worden. Die Spätsommergewitter zeigten deutlich, daß es ein Gott am Himmel sein mußte, der diese riesige Regenräuberschlange besiegt hat – das konnte nur der Sonnengott-Göttervater sein: Er hat sie mit seinen Blitzen besiegt. Dies ist bei den Griechen der Blitzeschleuderer Zeus und auch Apollo mit seinen Pfeilen, der der ausgelagerte Sonnengott-Aspekt des Zeus ist.

Allerdings reiste auch der Sonnengott in der Nacht und im Winter in die Unterwelt und begegnete dort dieser Riesenschlange. Es lag nahe, daß sie den Sonnengott-Göttervater schon aus Rache für ihre Niederlage im Herbst angriff.

Die Umdeutung des abendlichen bzw. herbstlichen Todes des Sonnengott-Göttervaters zu einem Kampf, bei dem er einen Arm verlor und bei dem seine Beine abgeschlagen bzw., seine Beinsehnen durchtrennt wurden, hatte zu dem Motiv des hinkenden Gottes, der in der Unterwelt sein Schwert neuschmiedet, geführt – dieser hinkende Schmiedegott ist der Sohn des Sonnengott-Göttervater, d.h. der Sonnengott-Göttervater nach seinem abendlichen bzw. herbstlichen Tod in der Unterwelt.

Dieses Motiv hat sich bei den Griechen als das Rauben der Kniesehnen des Zeus durch die Riesenschlange Typhon erhalten. Der Götterbote Hermes, der aufgrund seiner Flügel an Helm und Sandalen als der Seelenvogel des Zeus erkennbar ist, raubte die Sehnen von Typhon zurück und setzte sie Zeus wieder ein – eine Umdeutung der Wiedergeburt des Sonnengott-Göttervater Zeus am Morgen bzw. im Frühling.

Auch bei Apollo, der der Sonnengott-Aspekt des Zeus ist, findet sich dieses Motiv: Apollo erschießt die Riesenschlange Phyton mit seinen Pfeilen.

Die Schlange wurde gelegentlich auch mit dem Seelenvogel verbunden, da beides Ahnen-Symbole gewesen sind – so entstand die geflügelte Schlange, d.h. der Drache.

Wenn man den Ahnen etwas opfern wollte, d.h. wenn man sie an dem gemeinsamen Mahl der Lebenden teilhaben lassen wollte, mußte man die Opfergabe töten – wie sollte sie sonst zu Toten gelangen können? Eine Möglichkeit dieses „Tötens“ war das Verbrennen.

Davon hat sich dann später das Feuer als Jenseitstor abgeleitet und davon wiederum die Feuerbestattung, der Feuerlauf als Jenseitsreise, die ewigen Feuer in den Tempeln, das Entzünden eines Feuers um zu Ritualbeginn das Tor zu den Göttern zu opfern, die Kerzen in den Kirchen usw. Daher wurde auch das Feuer mit der Schlange assoziiert – so entstand der feuerspuckende, geflügelte Drache.

Manchmal wurden auch noch weitere Symbole in diesen Drachen mitaufgenommen: die Tatzen und die Mähne des Löwen (Stärke), die Geweih des Hirsches (Zeugungskraft), die Barteln der Fische (die Toten in der Wasserunterwelt) usw.

Gelegentlich erhielt die Schlange auch sieben Köpfe, was dann den sieben Chakren oder den sieben klassischen Planeten entsprach, oder neun Köpfe, weil die „9“ in ganz Eurasien die Zahl des Jenseits gewesen ist.

I G Der Tempel

Zu Beginn der letzten Eiszeit vor 600.000 Jahren wurde die mit glühenden Steinen beheizbare Hütte erfunden, um in der damaligen Kälte überleben zu können.

Aus der Kombination der beheizten Hütte, dem Anrufen der Ahnen, der damaligen Tiersymbolik, der Auffassung der Erde als Mensch und aus der Assoziation des Hütten-Innenraumes mit dem Mutterbauch entstand die Schwitzhütte, die aus genau diesen Elementen besteht. Eine Schwitzhütten-Zeremonie ist eine Rückkehr in den Schwangerschafts-Bauch der Erdgöttin und eine Bitte an die Ahnen und an die Tiere um Rat und Hilfe.

Die Tiere, die in den heutigen indianischen Schwitzhütten gerufen wurden, sind vermutlich dieselben, die auch damals in der Altsteinzeit gerufen wurden: das Großraubtier (Stärke, Jagderfolg), das Herdentier (Gemeinschaft, Zeugungskraft, Fruchtbarkeit), der Raubvogel (Seelenvogel) und die Schlange (Ahnen, Kundalini).

Aus dieser Symbolik hat sich ergeben, daß man auch bei Bestattungen die Toten in den Schwangerschafts-Bauch der Erde gelegt hat, wo er dann wiedergeboren wurde. Das hat man vermutlich durch eine Schwitzhütte über dem Grab oder vereinfacht als einen Reisighaufen über dem Grab dargestellt. Diesen Reisighaufen-Grabhügel findet man noch in dem alljährlichen Ritual der Skythen für ihren Sonnengott-Göttervater Papaios.

In der frühen Jungsteinzeit sind in Göbekli Tepe in Nord-Mesopotamien die ersten steinernen Tempel errichtet worden, die letztlich Schwitzhütten mit steinernen Fundamenten sind. Diese Iglu-förmigen Tempel haben das Motiv des Schwangerschafts-Bauches der Erde sehr differenziert dargestellt:

Relativ früh in der Jungsteinzeit ist der Reisighügel zumindestens bei Fürsten-Bestattungen durch einen Hügel aus Steinen und Erde ersetzt worden, also durch ein Hügelgrab. Auch ein Hügelgrab besteht wie ein Schwitzhütte aus einem zentralen Raum, zu dem ein Gang führt. Das Hügelgrab ist wieder der Schwangerschafts-Bauch der Erd- und Jenseitsgöttin.

Die Steinkreise mit der Steinallee, die zu ihnen führt, sind in der mittleren Jungsteinzeit aus den frühen Tempeln entstanden. Diese Bauten der Megalith-Kultur sind einfach eine Reduzierung der Tempel auf die Pfeiler in diesen Tempeln, die in den Steinkreisen und Steinalleen als die Menhire erscheinen.

Die Pyramiden als Pharaonen-Grab sind Hügelgräber, die ganz aus Stein errichtet worden sind. Auch zu ihnen führt ein Gang.

Die beiden Panther vor dem Eingang der „Schwitzhütten-Tempel“ von Göbekli Tepe sind zu den beiden hohen Menhiren am Anfang der Steinalleen, zu den beiden Pylonen (Türmen) vor den ägyptischen Tempeln, zu den beiden Löwen vor dem Eingang von Tempeln und Palästen, zu den beiden Kirchtürmen über dem Eingang von Kirchen usw. geworden.

Bei den Griechen ist die Kammer zu dem Raum in der Mitte der Tempel geworden, während der Kreis von Pfeilern in den Tempeln von Göbekli Tepe und die Menhire in den Steinkreisen zu den Säulen um diese Kammer in der Mitte weiterentwickelt worden sind.

II Poseidon

Vor dem in dem vorigen Kapitel kurz skizzierten Hintergrund der damaligen religiösen Weltanschauungen kann nun der Gott Poseidon in der griechischen Mythologie betrachtet werden.

II A Der Name „Poseidon“

Nostratisch: In der Sprache der Bewohner Mesopotamiens in der frühen Jungsteinzeit lautete das Wort für das Wasser „Nu“. Dieses Wort findet sich in später z.B. als Wort für „Süßwasser“ im Sumerischen und generell für „Wasser“ im Altägyptischen.

Der Name des sumerischen Himmelsgott „Anu“, der zusammen mit der Erdgöttin Urash die erste Gottheit gewesen ist, bedeutet „Wasser“, d.h. Himmelsmeer“. Sein Name taucht bei den Römern als Bestandteil des Gottesnamens „Uranus“ (Griechen: Kronos) auf. Das „ur“ in diesem Namen ist eine indogermanische Bezeichnung für das Wasser. Dieses „Ur“ findet sich im Deutschen z.B. noch als „Auer“ in „Auerochse“, d.h. „Wasserbüffel“. Auch die beiden Worte „Aue“ und „Eiland“ (Insel) haben diesen Ursprung.

Indogermanisch: Da die Indogermanen in der südrussischen Steppe gelebt haben, ist bei ihnen kein Meeresgott zu erwarten. Allerdings grenzte ihr Siedlungsgebiet an das Schwarze Meer und an das Kaspische Meer, weshalb ein Name für das Meer und eine Meeresgottheit nicht ganz auszuschließen ist.

Gut nachgewiesen ist jedoch die Flußgöttin Dehnu, deren Name bei den Kelten als die Urgöttin „Dana“ erscheint und von dem auch die Flußnamen „Donau“, „Don“, „Dnjepr“, „Dnjestr“ und „Donets“, die alle in das Schwarze Meer münden und in dem Siedlungsgebiet der frühen Indogermanen liegen. Ihr Name ist wahrscheinlich aus „diu-nu“ gebildet worden und bedeutet daher „Göttin des Wassers“.

Der Gottesname „Neptun“ (Griechen: Poseidon) stammt von dem Wort indogermanischen „apam nepots“ ab, das „Sohn des Wassers“ bedeutet. Damit ist anscheinend ein Gott, der der Sohn des Wassers ist, gemeint – wofür hauptsächlich der Sonnengott-Göttervater in Frage kommt, da dieser am Morgen von der Jenseitsgöttin wiedergeboren wird und der Sohn des am Abend gestorbenen Sonnengott-Göttervaters ist. Der Sonnengott-Göttervater in seinem Palast am Grunde des Meeres ist bei den Indogermanen gut bekannt: Poseidon bei den Griechen, Neptun bei den Römern, Lir bei den Kelten, Ägir bei den Germanen, Forseti bei den Friesen (ein Stamm der Germanen) usw.

Da Lir und Ägir sowie die übrigen Meeresgötter der Kelten und Germanen wie Mannan oder Hler alle deutlich als der Sonnengott-Göttervater in der nächtlichen bzw. winterlichen Wasserunterwelt erkennbar sind, ist anzunehmen, daß dies auch für Neptun und Poseidon zutrifft. Neptun wäre dann ursprünglich Jupiter in der Wasserunterwelt gewesen und Poseidon Zeus in der Wasserunterwelt.

Das Wasser, auf das sich der Name „apam nepots“ („Sohn des Wassers“) bezieht, ist daher wahrscheinlich nicht das Meer, sondern das Süßwasser unter der Erde, also die Wasserunterwelt. Dieser unterirdische Süßwasser-Ozean ist u.a. auch aus der sumerischen Mythologie bekannt – das Motiv muß also bis mindestens um 7000 v.Chr. zu den gemeinsamen Vorfahren der Indogermanen und Sumer in Mesopotamien zurückreichen.

Mit dem Wort „nu“ für Wasser und mit dem Gottesnamen „apam nepots“ steht nicht nur der Name „Neptun“, sondern auch Namen wie „Nixe“, „Najade“, Nöck“, „Nereide“ und ähnliche Wasserwesen-Namen in Verbindung.

Es besteht die Möglichkeit, das auch der griechische Meeresgott Triton mit dem altirisch Wort „triath“ für „Meer“ zusammenhängt und auf ein indogermanisches „trihaton“ zurückgeht. Das ist jedoch sehr unsicher.

Linarschrift A: Diese Schrift wurde in der minoischen Kultur auf Kreta um 1800 v.Chr. als Ergänzung zu der kretischen Hieroglyphenschrift entwickelt, als die Griechen sich dort niederließen. Die gleichzeitige, noch schriftlose griechische Kultur auf dem Festland wird zur Unterscheidung „helladische Kultur“ genannt.

Die Schrift „Linear A“, die sehr wahrscheinlich eine Silbenschrift ist, ist noch nicht entziffert worden. Daher ist nicht bekannt, ob der Name „Poseidon“ in ihr vorkommt. Ihre Verwendung endete um ca. 1500 v.Chr.

Linear B: Diese Schrift wurde um 1500 v.Chr. in Knossos auf Kreta aus der Schrift „Linear A“ entwickelt. Sie ist eine Silbenschrift, die bis ca. 1200 v.Chr., also bis zum Untergang der kretischen Kultur durch den Ansturm der vorwiegend griechischen Flotte der Seevölker untergegangen ist. Ein Teil dieses groß angelegten Piraten-Überfalls an der gesamten westlichen Mittelmeerküste ist auch der trojanische Krieg der Griechen gegen die Hethiter, über den Homer in der „Ilias“ und teilweise auch noch in der „Odyssee“ berichtet.

In dieser Schrift erscheint der in Silben geschriebene Name „Po-se-da-o“, mit dem Poseidon gemeint ist. Es fällt auf, daß im Linear B der Name Poseidon (po-se-da-wone) häufiger vorkommt auf den Tontäfelchen vorkommt als der Name Zeus (di-u-ja). Poseidon scheint damals demnach wichtiger als Zeus gewesen zu sein. Poseidon ist auch bei den Griechen der einzige Gott, der stark genug ist, um mit Zeus einen Streit beginnen zu können.

Es gab auch eine weibliche Form des Namens „Poseidon“, der „Po-se-de-ia“ gelautet hat. Sie ist offenbar eine „Frau des Poseidon“, d.h. entweder seine Frau, oder die Göttin, die ihn in der Wasserunterwelt wiedergebiert. Das paßt genau zu den bisherigen Betrachtungen über den Meeresgott bei den Indogermanen.