Der Autor

Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und Theoretiker der Psychoanalyse. Er hat zahlreiche Gastprofessuren inne, unter anderem an der Columbia University, in New York und in Princeton. Bekannt geworden ist er durch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse Lacans in das Feld der Populärkultur und Gesellschaftskritik. Zudem setzt er sich mit Hegel und Marx, Poststrukturalismus, Medientheorie, Feminismus und Cultural Studies auseinander. Žižek zählt zu den bedeutendsten Philosophen unserer Zeit.

Das Buch

Das Corona-Virus mag bald erledigt sein, die großen Probleme sind es nicht: der Klimakollaps, die digitale Manipulation unseres Lebens, die Explosion der Flüchtlingszahlen, menschenverachtender Populismus rechts, überbordende politische Korrektheit links… Befeuert wird all dies durch das System der Ausbeutung und Geldmacherei, in dem wir leben. Je größer der Triumph des globalen Kapitalismus, desto stärker werden die von ihm verursachten Gegensätze, die unser soziales Gleichgewicht, ja unsere ganze Existenz in Gefahr bringen. Mit einzigartiger Verve seziert Slavoj Žižek diese Phänomene und zeigt, dass man die Welt nur von einem kommunistischen Standpunkt aus verstehen kann, der eine radikale Lösung impliziert: Wir müssen die Herrschaft des Kapitalismus beenden, anstatt uns in Symbolpolitik, Kulturscharmützeln und Scheingefechten zu verlieren. Dafür brauchen wir eine Linke, die es wagt, sich in der realen Tagespolitik die Hände schmutzig zu machen, anstatt Attacken von der Seitenlinie zu fahren. Nur dann haben wir eine Zukunft.

Slavoj Žižek

Ein Linker wagt sich aus der Deckung

Für einen neuen Kommunismus

Aus dem Englischen
von Frank Born, Michael Adrian und Karen Genschow

Ullstein

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www.ullstein.de

Die Kapitel Einleitung, Das Unbehagen …, Donald Trump …, Lieber tot als rot!, „Es herrscht große Unordnung …“, Soyons réalistes …, Welche Idee von Europa …, Das Recht …, Serbski-Institut …, Willkommen in der schönen …, Cuaróns Roma …, Glück? Nein, danke!, Nur wir können Assange … übersetzte Michael Adrian.
Die Kapitel Warum Nebenwidersprüche …, Nomadische Proletarier, Wenn Unfreiheit …, Nur autistische Kinder …, Beide sind schlimmer!, Eine dringende Bitte …, Es ist derselbe Kampf …, Jordan Peterson …, (Keine Zeit für ein) Resümee übersetzte Frank Born
Die Kapitel 200 Jahre danach, Sollte die Antwort der Linken …, Katalonien und das Ende Europas, Die wahren Antisemiten …, Ja, der Rassismus …, Was tun …, Ist China …, Venezuela und die Notwendigkeit …, Willkommen in der wahren …, Ein wahres Wunder …, Für aktive Solidarität …, Haben Sexbots Rechte?, Brustwarzen, Penis, Vulva … übersetzte Karen Genschow

ISBN: 978-3-8437-2389-3
Die englische Originalausgabe des Buches erschien 2020 unter dem Titel A Left that Dares to Speak Its Name bei Polity Press, Cambridge und Medford.
© 2021 für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© 2020 Slavoj Žižek
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Umschlagmotiv: gettyimages/Ulf Andersen
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Widmung

Für meinen großen Freund Alain Badiou

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Einleitung: Vom kommunistischen
Standpunkt aus gesehen

Dieses Buch versammelt eine ganze Bandbreite an Themen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben: von den wirtschaftlichen Turbulenzen bis zum Kampf um sexuelle Befreiung, vom Populismus bis zur politischen Korrektheit, von der Launenhaftigkeit der Präsidentschaft Trumps bis zu den anhaltenden Spannungen in und mit China, von den ethischen Problemen im Zusammenhang mit Sexbots bis zur Nahostkrise. Unzeitgemäß sind all diese Interventionen, weil ihre Prämisse lautet, dass nur ein kommunistischer Standpunkt erlaubt, diese Themen angemessen zu durchdringen.

Warum aber Kommunismus? Nun, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass unsere globale Situation zunehmend nach einem solchen Standpunkt verlangt. Die Apologeten der bestehenden Ordnung verweisen gerne darauf, dass der Traum vom Sozialismus ausgeträumt sei und sich jeder Versuch, ihn zu verwirklichen, als Albtraum erwiesen habe (man schaue sich nur an, was in Venezuela los ist). Gleichzeitig mehren sich allerorts die Anzeichen von Panik: Wie sollen wir zurechtkommen mit der Erderwärmung, mit der drohenden totalen digitalen Kontrolle unseres Lebens, mit dem Zustrom von Flüchtlingen? Kurz gesagt, mit den Auswirkungen und Konsequenzen eben dieses triumphierenden globalen Kapitalismus?

All das ist keine Überraschung: Mit dem Sieg des Kapitalismus brechen seine Widersprüche auf. Auf der einen Seite mehren sich überall die Indizien für einen antiaufklärerischen Wahnsinn. In der nordpolnischen Stadt Koszalin (Köslin) verbrannten drei katholische Priester Bücher, denen sie die Förderung von Hexenwerk vorwarfen, darunter einen Harry-Potter-Roman. Sie trugen die Bücher in einem großen Korb aus einer Kirche zu einer gepflasterten Stelle nach draußen, um sie dort unter Gebeten und den Augen einer kleinen Zuschauermenge anzuzünden. Diese Zeremonie fotografierten sie und posteten sie auf Facebook.1 Shaun Walker: »Harry Potter among books burned by priests in Poland«, The Guardian, 1. April 2019, http://www.theguardian.com/world/2019/apr/01/. ↑ Ein Einzelfall, gewiss. Doch wenn wir ihn mit ähnlichen Vorfällen in Beziehung setzen, zeigt sich ein klares antiaufklärerisches Muster. Auf dem 106. Indischen Wissenschaftskongress (Januar 2019) in Punjab stellten lokale Wissenschaftler eine Reihe von Behauptungen auf, etwa die, dass die Kauravas aus dem Mahabharata mithilfe von Stammzell- und Retortentechnologien gezeugt worden seien, Prinz Rama »Astras« und »Shastras« benutzt habe, während Vishnu mit seiner gezackten Wurfscheibe, dem Chakra, auf seine Ziele losgegangen sei. All dies zeige, dass die Wissenschaft der Lenkflugkörper in Indien bereits vor Tausenden von Jahren bekannt gewesen sei, dass Ravana nicht nur über seinen fliegenden Palast, den Pushpaka Vimana, sondern über 24 Arten von Fluggeräten und Flughäfen in Lanka verfügt habe, dass die theoretische Physik (einschließlich Newton und Einstein) völlig falschliege und man Gravitationswellen in »Narendra-Modi-Wellen« sowie den Gravitationslinseneffekt in »Hashvardhan-Effekt« umbenennen werde, und nicht zuletzt, dass Brahma die Existenz von Dinosauriern auf der Erde entdeckt und in den Veden erwähnt habe.2 Rajani KS: »Outlandish claims at Indian Science Congress: A 6-point rebuttal by a science activist«, The News Minute, 8. Januar 2019, http://www.thenewsminute.com/article/outlandish-claims-indian-science-congress-6-point-rebuttal-science-activist-94691. ↑ Auch so kann man natürlich die Überreste des westlichen Kolonialismus bekämpfen, wie sich die Bücherverbrennung in Polen ja durchaus als ein Weg verstehen lässt, um sich gegen die kommerzielle westliche Konsumkultur zur Wehr zu setzen. Die Verbindung dieser beiden Beispiele aus dem hinduistischen Indien und dem christlichen Europa zeigt, dass wir es mit einem globalen Phänomen zu tun haben.

Während wir immer tiefer in diesem Wahnsinn versinken, der problemlos neben einem blühenden globalen Markt besteht, kommt die wahre Krise immer näher. Im Januar 2019 präsentierte ein internationales Team von Wissenschaftlern »eine neue Ernährungsweise, die ihren Worten zufolge die Gesundheit verbessern und gleichzeitig eine nachhaltige Lebensmittelherstellung sicherstellen könne, um weiteren Schaden für den Planeten abzuwenden. Die ›planetarische Gesundheitsdiät‹ beruht darauf, den Konsum von rotem Fleisch und Zucker zu halbieren und stattdessen den Verzehr von Obst, Gemüse und Nüssen zu steigern.«3 Nina Avramova: »New ›planetary health diet‹ can save lives and the planet, major review suggests«, CNN, 21. Januar 2019, http://edition.cnn.com/2019/01/16/health/new-diet-to-save-lives-and-planet-health-study-intl/index.html. ↑ Wir sprechen also von einer radikalen Neuorganisation unserer gesamten Nahrungsmittelproduktion und -verteilung – und wie kriegen wir das hin? »Der Bericht schlägt fünf Strategien vor, um sicherzustellen, dass die Menschen ihre Ernährung umstellen und dabei den Planeten schonen: Anreize für gesünderes Essen schaffen, Ausbau der nachhaltigen Landwirtschaft, strengere Regeln für die Nutzung von Meeren und Anbauflächen sowie die Verringerung der Verschwendung von Lebensmitteln.« Schön und gut – aber noch einmal, wie kriegen wir das hin? Ist nicht klar, dass wir eine starke globale Instanz brauchen, die die Macht hat, solche Maßnahmen zu koordinieren? Und deutet eine solche Instanz nicht in Richtung »Kommunismus«, wie wir das einst nannten? Und gilt nicht dasselbe für andere Bedrohungen des Überlebens unserer Spezies? Brauchen wir dieselbe globale Instanz nicht auch, um mit der explodierenden Zahl von Flüchtlingen und Einwanderern umzugehen und mit der problematischen digitalen Kontrolle unseres Lebens?4 Es sollte hier keine Tabus geben. So sollte man die Hypothese, dass der Zustrom von Millionen Flüchtlingen nach Europa nicht spontan, sondern zu bestimmten geopolitischen Zwecken gelenkt war, nicht kurzerhand als reine islamophobe Paranoia abtun. Sowohl die USA als auch Russland sind unübersehbar daran interessiert, Europa zu schwächen, und dulden diese muslimische Einwanderung stillschweigend, was auch erklärt, warum die reichen arabischen Länder (Saudi-Arabien, Kuwait, die Emirate) keine Flüchtlinge aufnehmen, während sie gleichzeitig den Bau von Moscheen in Europa großzügig finanzieren. ↑

Wir brauchen kommunistische Eingriffe, weil unser Schicksal noch nicht besiegelt ist – nicht in dem schlichten Sinn, dass wir eine Wahl haben, sondern in dem radikaleren Sinn, dass wir über unser Schicksal selbst bestimmen können. Nach landläufiger Auffassung steht die Vergangenheit fest; was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr geändert werden, während die Zukunft offen ist und von unvorhersehbaren Eventualitäten abhängt. Ich aber möchte geradezu das Gegenteil behaupten: Die Vergangenheit steht rückwirkenden Interpretationen offen, während die Zukunft abgeschlossen ist, da wir in einem deterministischen Universum leben. Das heißt nicht, dass wir die Zukunft nicht ändern können; es bedeutet nur, dass wir, um unsere Zukunft zu ändern, erst unsere Vergangenheit nicht »verstehen«, sondern ändern müssen, indem wir sie so neu interpretieren, dass sie sich einer anderen Zukunft öffnet als der, die in der vorherrschenden Sicht der Vergangenheit beschlossen ist.

Wird es zu einem neuen Weltkrieg kommen? Die Antwort kann nur paradox ausfallen: Wenn es zu einem neuen Krieg kommt, wird es ein notwendiger sein. So funktioniert eben die Geschichte – durch merkwürdige Umschwünge, die Jean-Pierre Dupuy so beschreibt:


Wenn ein außerordentliches Ereignis eintritt, eine Katastrophe beispielsweise, dann könnte es nicht nicht stattgefunden haben; dennoch ist es, soweit es nicht stattgefunden hat, nicht unvermeidlich. Es ist somit das Eintreten des Ereignisses – die Tatsache, dass es stattfindet –, die rückwirkend seine Notwendigkeit erzeugt.5 Jean-Pierre Dupuy: Petite Métaphysique des tsunamis. Paris 2005, S. 19. ↑

Genau dasselbe gilt für einen neuen globalen Krieg: Bricht der Konflikt (zwischen den USA und Iran, zwischen China und Taiwan) einmal aus, wird er unvermeidlich erscheinen, das heißt, wir werden die Vergangenheit, die zu ihm führte, automatisch als eine Reihe von Ursachen lesen, die ihn unausweichlich machten. Sollte es nicht dazu kommen, werden wir diese Vergangenheit auf die gleiche Weise lesen, wie wir heute den Kalten Krieg sehen: als eine Reihe von gefährlichen Momenten, in denen die Katastrophe abgewendet wurde, weil sich beide Seiten der tödlichen Konsequenzen eines globalen Konflikts bewusst waren. (So gibt es heute viele Stimmen, die behaupten, in den Jahren des Kalten Krieges habe nie wirklich die Gefahr eines Dritten Weltkriegs bestanden – beide Seiten hätten nur mit dem Feuer gespielt.) Diese tiefere Ebene ist es, auf der wir kommunistische Eingriffe brauchen.

Jürgen Habermas wird oft als Staatsphilosoph der deutschen (und sogar europäischen) liberalen Linken beschrieben – kein Wunder also, dass der damalige konservative spanische Ministerpräsident José María Aznar vor zwei Jahrzehnten sogar offiziell vorschlug, Habermas zum spanischen (und europäischen) Staatsphilosophen zu erklären. Der Grund lag in Habermas’ Vorstellung eines Verfassungspatriotismus, eines Patriotismus also, der in den emanzipatorischen Werten gründet, die in eine Verfassung eingebettet sind statt in den eigenen ethnischen Wurzeln. Obwohl ich mit Habermas in vielen Punkten nicht einverstanden bin, habe ich die Rolle, die zu spielen er den Mut hatte – die eines kritischen Unterstützers, ja Beteiligten der Macht – immer ehrenwert und notwendig gefunden: als einen höchst willkommenen Abschied von der grundsätzlich verantwortungslosen »Politik aus der Distanz«.

Denn das linke Denken hat sich in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend in die Falle einer Opposition um der Opposition willen verstrickt: Es hält die Behauptung für selbstverständlich, Politik sei nur aus der Distanz vom Staat und seinen Apparaten möglich – in dem Moment, in dem sich ein Akteur ganz auf den Staatsapparat und seine Verfahren (wie die parlamentarische Parteipolitik) einlasse, sei die authentische politische Dimension verloren. (Von diesem Standpunkt aus erscheint der Triumph der Bolschewiki – die Machtergreifung in Russland im Oktober 1917 – auch als ihr Selbstbetrug.)

Liegt in einer solchen Haltung aber nicht ein untilgbarer Aspekt der Vermeidung von Verantwortung? Auch der Rückzug in die Nichtbeteiligung ist ein positiver Akt, da einem ja bewusst ist, dass jemand anderes die Sache in die Hand nehmen wird, und am schmutzigsten ist es, jemand anderes die Schmutzarbeit machen zu lassen und ihn anschließend, wenn die Sache erledigt ist, eines prinzipienlosen Opportunismus zu beschuldigen. (Wie es unter anderem Éamon de Valera tat, als er Michael Collins die »schmutzigen« Verhandlungen mit den Briten führen ließ, die in die Gründung des Irischen Freistaats mündeten, um ihm dann, nachdem er selbst davon profitiert hatte, Verrat vorzuwerfen.) Ein echter politischer Akteur schreckt nie davor zurück, Macht zu erlangen und Verantwortung für das zu übernehmen, was passiert, ohne sich in Entschuldigungen (»unglückliche Umstände«, »feindliche Verschwörungen« oder was auch immer) zu flüchten. Darin liegt Lenins Größe: Nach der Machtübernahme war ihm klar, dass sich die Bolschewiki in einer unmöglichen Lage befanden, in der die Voraussetzungen dafür, tatsächlich den »Sozialismus aufzubauen«, nicht gegeben waren, aber er hielt daran fest und versuchte, aus einer Sackgassenposition das Beste zu machen.

Die wahre Dimension einer Revolution findet sich nicht in den berauschenden Momenten ihres Höhepunkts (eine Million Menschen, die auf dem zentralen Platz Sprechchöre abhalten …); besser, man konzentriert sich darauf, wie die Veränderung im alltäglichen Leben zu spüren ist, wenn sich alles wieder normalisiert. Deshalb zog Trotzki gegen Stalin den Kürzeren: Nach Lenins Tod, als die Bevölkerung der Sowjetunion langsam aus der zehnjährigen Hölle von Erstem Weltkrieg und Bürgerkrieg mit ihrem unsagbaren Leid erwachte, sehnten sich die Menschen nach der Rückkehr zu irgendeiner Form von Normalität. Das war es, was Stalin ihnen bot, wohingegen Trotzki ihnen mit seiner permanenten Revolution weitere soziale Umwälzungen und Leiden versprach.

Vielleicht brauchen wir heute also statt immer langweiligerer Variationen des Themas »Distanz vom Staat« ehrliche Staatsphilosophen – Philosophen, die sich nicht scheuen, sich die Hände im Kampf um einen anderen Staat schmutzig zu machen. In Bezug auf die Homosexualität zitierte Oscar Wilde eine Gedichtzeile von Lord Alfred Douglas über »die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt«. Was wir heute brauchen, ist eine Linke, die ihren Namen zu nennen wagt, keine Linke, die ihren Kern schamhaft mit einem kulturellen Feigenblatt verhüllt. Und dieser Name lautet Kommunismus.

Das globale Chaos

200 Jahre danach: Ist Marx lebendig,
tot oder ein lebender Toter?

Die Frage nach der anhaltenden Bedeutung von Marx’ Werk in unserer Zeit des globalen Kapitalismus muss eigentlich auf dialektische Weise beantwortet werden: Marx’ Kritik der politischen Ökonomie und sein Konzept der kapitalistischen Dynamik ist nicht nur vollkommen aktuell, sondern man muss sogar noch einen Schritt weitergehen und geltend machen, dass erst heute, mit dem globalen Kapitalismus – um es hegelianisch zu formulieren ‒, die Realität auf ihren Begriff gekommen ist. Dennoch wird hier eine echte dialektische Umkehrung wirksam: An genau diesem Punkt der vollständigen Aktualität muss die Beschränkung auftauchen, und der Moment des Triumphs ist derjenige der Niederlage. Nachdem die externen Hindernisse überwunden wurden, kommt die neue Bedrohung aus dem Inneren und verweist auf eine immanente Inkonsistenz. Wenn die Realität vollständig auf ihren Begriff gebracht ist, muss der Begriff selbst transformiert werden. Darin liegt das eigentliche dialektische Paradox: Marx hatte nicht einfach unrecht, er lag sogar häufig richtig – aber in einer wörtlicheren Weise, als er selbst erwartete.

Marx hätte sich beispielsweise nicht vorstellen können, dass die kapitalistische Dynamik, die alle partikularen Identitäten auflöst, zusätzlich auch die ethnischen und sexuellen Identitäten affizieren würde: dass sexuelle »Einseitigkeit und Beschränktheit […] mehr und mehr unmöglich«, dass im Bereich der sexuellen Praktiken »alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige […] entweiht« wird6 Friedrich Engels, Karl Marx, Slavoj Žižek: Das kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests. Frankfurt/M. 2018, S. 97 f. ↑, und dass der Kapitalismus dazu neigt, die normative Heterosexualität durch eine Vervielfältigung instabiler, wechselnder Identitäten und/oder Orientierungen zu ersetzen. Das heutige Feiern von »Minderheiten« und »Marginalisierten« ist die vorherrschende Mehrheitsposition: Selbst Alt-Rightisten, die sich über den Terror liberaler politischer Korrektheit beschweren, präsentieren sich als Beschützer bedrohter Minderheiten. Oder schauen wir uns jene Kritiker des Patriarchats an, die es angreifen, als handelte es sich weiterhin um eine hegemoniale Position, und dabei ignorieren, was Marx und Engels vor mehr als 150 Jahren im ersten Kapitel des Kommunistischen Manifests geschrieben haben: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.«7 Engels, Marx, Žižek, S. 95. ↑ Was wird aus den patriarchalen Familienwerten, wenn ein Kind seine Eltern wegen Vernachlässigung und Missbrauch verklagen kann, wenn also Familie und Elternschaft selbst de jure auf einen befristeten und kündbaren Vertrag zwischen unabhängigen Individuen reduziert wird?

Wie funktioniert Ideologie unter solchen Bedingungen? Rufen wir uns den schon klassischen Witz über einen Mann in Erinnerung, der glaubt, ein Samenkorn zu sein, und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird, wo die Ärzte ihr Bestes tun, um ihn davon zu überzeugen, dass er ein Mensch und kein Samenkorn ist. Als er geheilt die Anstalt verlassen darf, kommt er sofort zitternd zurück; vor dem Tor steht ein Huhn, und er fürchtet, gefressen zu werden. »Mein Lieber«, sagt sein Arzt, »Sie wissen genau, dass Sie kein Samenkorn, sondern ein Mensch sind.« »Natürlich weiß ich das«, erwidert der Patient, »aber weiß das auch das Huhn?« Genau das Gleiche gilt für die Marx’sche Theorie des Warenfetischs, die heute noch aktueller ist als zu Marx’ Zeiten. Der »Warenfetisch« ist eine Illusion, die im Herzen des aktuellen Produktionsprozesses wirkt. Betrachten wir den Anfang des Unterkapitels zum Warenfetisch im Kapital: »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding zu sein. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken.«8 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1. Berlin 1962, S. 85. ↑

Marx behauptet nicht in der üblichen »marxistischen« Weise, dass eine kritische Analyse zeigen sollte, wie eine Ware – die sich als mysteriöse theologische Entität herausstellt – aus dem »gewöhnlichen« Prozess des realen Lebens entsteht. Es sei im Gegenteil die Aufgabe einer kritischen Analyse, die »metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken« dessen ans Licht zu bringen, was auf den ersten Blick als ein gewöhnlicher Gegenstand erscheint. Der Warenfetisch, sprich unser Glaube, dass Waren magische, mit einer inhärenten metaphysischen Kraft ausgestattete Objekte sind, steckt nicht in unserem Kopf oder unserer (falschen) Wahrnehmung der Realität, sondern in unserer gesellschaftlichen Realität selbst. Wir kennen die Wahrheit durchaus, handeln aber, als würden wir sie nicht kennen – in unserem wirklichen Leben verhalten wir uns wie das Huhn in dem Witz.

Niels Bohr, der schon auf Einsteins Spruch »Gott würfelt nicht« so treffend geantwortet hat: »Sag Gott nicht, was er zu tun hat!«, lieferte auch ein perfektes Beispiel dafür, wie eine fetischistische Verleugnung des Glaubens in der Ideologie funktioniert. Als ein überraschter Besucher ein Hufeisen über Bohrs Tür sah und bemerkte, er teile den Aberglauben nicht, dass dieses Glück bringe, entgegnete Bohr: »Ich glaube auch nicht daran; es hängt nur dort, weil man mir gesagt hat, es wirke auch, wenn man nicht daran glaubt.« So funktioniert Ideologie heute: Niemand nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit ernst, wir sind uns ihrer Zersetzung bewusst, aber wir praktizieren sie, das heißt, wir stellen unseren Glauben an sie zur Schau – weil wir annehmen, dass sie auch dann wirken, wenn wir nicht an sie glauben.

Vielleicht kristallisiert sich »Kultur« gerade deshalb als zentrale lebensweltliche Kategorie heraus. In Bezug auf Religion können wir nicht länger »wirklich glauben«, wir folgen nur (einigen) religiösen Ritualen und Sitten als Teil des Respekts für den »Lifestyle« der Gemeinschaft, zu der wir gehören (nichtgläubige Juden folgen »aus Respekt für die Tradition« koscheren Regeln usw.). »Ich glaube nicht wirklich daran, es ist nur Teil meiner Kultur«, scheint tatsächlich der vorherrschende Modus des verschobenen Glaubens zu sein, der charakteristisch für unsere Zeit ist. »Kultur« ist der Name für all die Dinge, die wir tun, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne sie allzu ernst zu nehmen. Aus diesem Grund lehnen wir fundamentalistische Gläubige als »Barbaren«, als antikulturell, als Bedrohung für die Kultur ab – sie wagen es, ihren Glauben ernst zu nehmen. Unser zynisches Zeitalter hätte für Marx keinerlei Überraschungen zu bieten.

Marx’ Theorien sind deshalb nicht einfach nur lebendig: Marx ist vielmehr ein lebender Toter, der uns immer noch heimsucht – und der einzige Weg, ihn am Leben zu halten, besteht darin, uns auf diejenigen seiner Einsichten zu konzentrieren, die heute wahrer sind als zu seiner Zeit, vor allem sein Aufruf zur Universalität des emanzipatorischen Kampfes. Die heute einzufordernde Universalität ist keine Form des Humanismus, sondern die Universalität des (Klassen-)Kampfs: Mehr denn je muss dem globalen Kapital globaler Widerstand geleistet werden. Man sollte deshalb auf dem Unterschied zwischen Klassenkampf und anderen Kämpfen (antirassistische, feministische etc.) bestehen, die auf die friedliche Koexistenz verschiedener Gruppen abzielen und deren letzter Ausdruck Identitätspolitik ist. Mit dem Klassenkampf aber geht keine Identitätspolitik zusammen: Die gegnerische Klasse muss zerstört werden, und im gleichen Atemzug sollten wir selbst als Klasse verschwinden. Die beste konzise Definition von Faschismus lautet: die Ausweitung von Identitätspolitik auf den Bereich des Klassenkampfs. Die grundlegende faschistische Idee ist: Jede Klasse wird in ihrer spezifischen Identität anerkannt, auf diese Weise wird ihre Würde geschützt und der Antagonismus der Klassen vermieden. Klassengegensatz wird hier in derselben Weise behandelt wie Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen: Klassen werden als quasinatürliche Tatsache des Lebens akzeptiert, nicht als etwas, das zu überwinden ist.

Marx’ Status als lebender Toter verlangt, dass wir kritisch mit dem marxistischen Erbe umgehen – und es keine heiligen Kühe geben darf. Zwei miteinander in Zusammenhang stehende Beispiele sollen hier genügen: Dem üblichen marxistischen Dogma zufolge wird der Übergang von Kapitalismus zu Kommunismus in zwei Phasen vor sich gehen: die »niedere« und die »höhere«. In den »niederen« Phase (zuweilen »Sozialismus« genannt), wird das Wertgesetz noch gültig sein:


Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages, sein Teil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er so und soviel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück. […] In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!9 Karl Marx: Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei, hg. von Karl Korsch (o. O.: o. J.), S. 26 f., http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/kritik/randglos.html. ↑

Die übliche Kritik an dieser Unterscheidung lautet, das »niedere Stadium« sei irgendwie vorstellbar und handhabbar, das »höhere Stadium« (der vollständige Kommunismus) indes sei eine gefährliche Utopie. Diese Kritik scheint durch die Tatsache bestätigt, dass die real existierenden sozialistischen Regime in endlosen Debatten darüber gefangen waren, in welchem Stadium sie sich befanden, und weitere Unterteilungen vornahmen. So herrschte beispielsweise zu einem bestimmten Zeitpunkt in der späten Sowjetunion die Ansicht vor, dass man bereits über den reinen »Sozialismus« hinaus war, wenn auch noch nicht im echten »Kommunismus« – man befand sich sozusagen im »niederen Stadium des höheren Stadiums«.

Aber hier erwartet uns eine Überraschung: Viele sozialistische Länder waren versucht, das »niedere Stadium« zu überspringen und zu behaupten, dass man trotz materieller Armut (oder auf einer tiefgründigeren Ebene genau deshalb) direkt in den Kommunismus eintreten könne. Während des Großen Sprungs nach vorn in den späten 1950er-Jahren beschlossen die chinesischen Kommunisten, dass China den Sozialismus überspringen und direkt in den Kommunismus eintreten solle. Sie bezogen sich auf Marx’ Formel des Kommunismus: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Das Problem daran war die Auslegung dieser Formel, um damit die totale Militarisierung des Lebens in landwirtschaftlichen Kommunen zu legitimieren: Der Parteikader, der eine Kommune leitet, kennt jeden Bauern und weiß, wozu er in der Lage ist, sodass er die Pläne festlegt und auf die Individuen nach ihren Fähigkeit verteilt. Er weiß auch, was die Bauern für ihr Überleben brauchen, und organisiert danach die Verteilung von Lebensmitteln und anderen Vorräten. Die Bedingungen der militarisierten extremen Armut werden damit zur Verwirklichung des Kommunismus, und es reicht natürlich nicht aus, zu behaupten, eine solche Interpretation verfälsche eine noble Idee – stattdessen sollte man sie als darin schlummernde Möglichkeit zur Kenntnis nehmen.

Das Paradoxon ist folglich, dass wir mit der gemeinschaftlichen Armut des »Kriegskommunismus« anfangen und dann, wenn die Zustände besser werden, zum »Sozialismus« voran- bzw. zurückschreiten, in dem jede/r idealerweise nach seinem/ihrem Beitrag entlohnt wird und … und am Ende kehren wir dann zum Kapitalismus zurück (wie im heutigen China) und bestätigen damit die alte Redewendung, der Kommunismus sei ein Umweg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.

Was diese Komplikationen beweisen, ist, dass die wahre Utopie diejenige des »niederen Stadiums« ist, in dem das Wertgesetz gültig ist, aber in einer »gerechten« Weise, sodass jede/r Arbeiter/in seinen/ihren Anteil erhält – ein unmöglicher Traum von »gerechtem« sozialen Austausch, wo der Geldfetisch durch nichtfetischisierte einfache Scheine ersetzt wird. Und wir befinden uns heute an einem ähnlichen Punkt: Die sich abzeichnende Bedrohung von Apokalypsen (ökologisch, digital, sozial) zwingt uns, den sozialistischen Traum eines »gerechten« Kapitalismus aufzugeben und radikalere »kommunistische« Maßnahmen zu ergreifen.

Wie sollen wir uns also den Kommunismus vorstellen? Im dritten Band des Kapitals gab Marx seine frühere utopische Vision eines Kommunismus als Stadium auf, in dem der Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen Notwendigkeit und Arbeit sich auflöst; er bestand nun darauf, dass die Unterscheidung zwischen dem »Reich der Notwendigkeit« und dem »Reich der Freiheit« in jeder Gesellschaft fortbestehe; das Reich unserer spielerischen Aktivitäten wird immer vom Reich der Arbeit getragen werden müssen, das für die kontinuierliche Reproduktion der Gesellschaft notwendig ist:


Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.10 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie,. Band 3. Berlin 1988, S. 828. ↑

Diese Denkrichtung muss zurückgewiesen werden. Was sie verdächtig macht, ist genau ihre Offensichtlichkeit und Vernünftigkeit. Stattdessen sollten wir das Risiko eingehen, das Verhältnis zwischen den beiden Reichen umzukehren: Nur durch die Disziplin der Arbeit können wir unsere wahre Freiheit zurückgewinnen, während wir als spontane Konsumenten in der Notwendigkeit unserer natürlichen Neigungen gefangen sind. Die infamen Worte am Eingangstor von Auschwitz, »Arbeit macht frei«, sind damit wahr, was nicht bedeutet, dass wir uns dem Nazismus annäherten, sondern lediglich, dass die Nazis dieses Motto mit grausamer Ironie kaperten.

Heutzutage ein Kommunist zu sein, bedeutet, dass man keine Angst davor hat, solche radikalen Schlussfolgerungen zu ziehen, auch im Hinblick auf die heikelsten Forderungen der marxistischen Theorie, der Idee des Verfalls der staatlichen Macht. Benötigen wir Regierungen? Diese Frage ist zutiefst ambivalent. Sie kann als Ableger einer radikal linken Idee verstanden werden, dass Regierung (Staatsmacht) in sich selbst eine Form der Entfremdung und Unterdrückung ist und wir darauf hinarbeiten sollten, sie abzuschaffen und stattdessen eine Gesellschaft mit einer Form direkter Demokratie aufzubauen. Oder sie kann weniger radikal verstanden werden: In unseren komplexen Demokratien benötigen wir eine regulierende Handlungsinstanz, aber wir sollten sie streng überwachen, damit sie den Interessen derjenigen dient, die ihre Stimmen (wenn nicht auch ihr Geld) in sie investieren.

Beide Ansichten sind gefährlich falsch. Was die Idee einer sich selbst transparenten Organisation der Gesellschaft betrifft, die die politische »Entfremdung« (Staatsapparate, institutionalisierte Regeln des politischen Lebens, Rechtsordnung, Polizei etc.) ausschließen würde: Ist nicht genau die grundlegende Erfahrung des Endes des real existierenden Sozialismus die resignierte Hinnahme der Tatsache, dass die Gesellschaft ein komplexes Netzwerk von »Subsystemen« ist, weshalb ein gewisser Grad an »Entfremdung« konstitutiv für das gesellschaftliche Leben ist, sodass eine vollkommen selbsttransparente Gesellschaft eine Utopie mit totalitärem Potenzial ist? Es verwundert daher nicht, dass die heutigen Praktiken »direkter Demokratie« – von den Favelas bis hin zur »postindustriellen« digitalen Kultur (evozieren die Beschreibungen neuer »tribaler« Hacker-Gemeinschaften nicht häufig die Logik einer Räte-Demokratie?) – sich alle auf einen Staatsapparat stützen müssen. Ihr Überleben basiert damit auf einer dichten Textur »entfremdeter« institutioneller Mechanismen: Woher kommen Elektrizität und Wasser? Wer garantiert die Durchsetzung des Gesetzes? An wen wenden wir uns für Gesundheitsversorgung? Und so weiter … Je selbstregierter eine Gemeinschaft ist, desto geschmeidiger und unsichtbarer muss dieses Netzwerk funktionieren. Vielleicht sollten wir das Ziel emanzipatorischer Kämpfe von der Überwindung der Entfremdung eher auf die Erzwingung der richtigen Art von Entfremdung richten, nämlich darauf, wie man ein geschmeidiges Funktionieren »entfremdeter« (unsichtbarer) sozialer Mechanismen erreichen kann, die den Raum »nichtentfremdeter« Gemeinschaften tragen.

Sollten wir nicht folglich einen bescheideneren liberalen Begriff von repräsentativer Macht vertreten? Im Sinne von: Bürger übertragen (Teile) ihre(r) Macht auf den Staat, aber unter genauen Bedingungen: Macht ist durch das Gesetz begrenzt auf sehr präzise Bedingungen ihrer Ausübung, da das Volk die letzte Quelle der Souveränität bleibt und die Macht zurückfordern kann, wenn es dies so entscheidet. Kurz, der Staat mit seiner Macht ist der Juniorpartner eines Vertrags, welchen der Seniorpartner (das Volk) zu jedem Zeitpunkt widerrufen oder ändern kann – im Grunde so, wie jeder von uns den Vertragspartner wechseln kann, der sich um unsere Gesundheit kümmert. Wenn man jedoch einen genaueren Blick auf das heutige Staatsgebäude wirft, erkennt man leicht ein unausgesprochenes, aber unmissverständliches Zeichen: »Vergesst unsere Beschränkungen – letztlich können wir mit euch alles tun, was wir wollen!« Dieser Exzess ist kein kontingentes Supplement, das die Reinheit der Macht beschmutzt, sondern sein notwendiger Bestandteil – ohne diese Bedrohung willkürlicher Allmacht ist Staatsmacht keine echte Macht und verliert ihre Autorität.

Deshalb brauchen wir den Staat nicht, um unsere Angelegenheiten zu regeln, und müssen dafür unglücklicherweise seine autoritäre Kehrseite als notwendigen Preis in Kauf nehmen – wir brauchen genau und vielleicht vor allem diese autoritäre Kehrseite. Wie Kierkegaard es formuliert hat, handelt es sich bereits um Blasphemie, wenn ich behaupte, dass ich an Christus glaube, weil mich die guten Gründe für das Christentum von ihm überzeugt haben – um die guten Gründe für das Christentum zu verstehen, sollte ich bereits glauben. Dasselbe gilt für die Liebe: Ich kann nicht sagen, dass ich eine Frau wegen ihrer Merkmale liebe – um ihre Merkmale als schön zu empfinden, sollte ich bereits verliebt sein. Und das Gleiche gilt für jegliche Autorität, von der väterlichen bis zur staatlichen.

Das grundsätzliche Problem ist also: Wie können wir einen anderen Modus der Passivität der Mehrheit erfinden? Wie können wir mit der unvermeidlichen Entfremdung des politischen Lebens umgehen? Diese Entfremdung muss von ihrer stärksten Seite angenommen werden: als konstitutiver Exzess der Funktionsweise einer tatsächlichen Macht, die vom Liberalismus genauso überwacht werden muss wie von den linken Verfechtern einer direkten Demokratie.