Joachim Strienz ist Arzt und lebt in Stuttgart
Impressum
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Joachim Strienz
3., korrigierte Auflage 2020
Herstellung und Verlag:
BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7526-1335-3
für
Jutta Stoerl Strienz
Ritomare | Ötzi, der Eismann |
Sagomare | Anführer, Bruder von Ritomare |
Tapara | Tochter von Sagomare |
Gianni Moretti | Revolutionär |
Andreas Steinfeld | Freund von Gianni |
Cintugene | Sohn von Sagomare |
Luguvale | Sohn von Sagomare |
Zattomare | Schamane |
Salmovale | Exfreund von Tapara |
Raja | Freundin von Tapara |
Jutta | Frau von Andreas Steinfeld |
Der große gelbe Postbus hielt auf einem Platz in der Mitte des Dorfes. Ich war endlich am Ziel angekommen. Wir hatten Orte wie Camuns, Uors, Tersnaus, Bucarischuna und Lunschania passiert. Die Straße war schmal und immer wieder mussten wir anhalten, um ein entgegenkommendes Fahrzeug passieren zu lassen. An manchen Stellen ging es von der Straße steil nach unten. Am besten war es, ich schaute nicht mehr aus dem Fenster, denn ich hatte bemerkt, dass meine Handflächen feucht waren. Im Stauraum des Buses befanden sich mein Koffer und der Rucksack. Also musste ich jetzt aussteigen, um die Sachen zu holen. Das Dorf lag in einem Hochtal. Grüne Matten führten das Auge nach oben. Ganz oben war der Fels kahl und glänzte in der Sonne. Die Matten spiegelten in unterschiedlichen Grüntönen und wie zur Dekoration schauten verschieden große Felsbrocken daraus hervor. Bauern verteilten gerade das abgemähte Gras zum Trocknen oder zogen es mit großen Rechen in kleine Reihen zusammen. Ein idyllisches Bild fand ich. Ich blickte mich um. Neben der Bushaltestelle sah man ein mit großen Quadern befestigtes Flussbett, allerdings floss heute dort nur ein kleines Rinnsal. Wahrscheinlich war das aber nicht immer so.
Der Busfahrer hatte inzwischen auch meine Gepäckstücke aus dem Bauch des Buses geholt und vor mir abgestellt. „Uf wiederluege!“ sagte er freundlich in seiner Mundart und zwinkerte mit dem linken Auge. „Dann bis in 3 Wochen“, sagte ich, schlüpfte in die Schlaufen meines Rucksackes und hob den Koffer an. Ich schaute mich erneut um.
Wo wollte ich hin?
Eigentlich wollte mich ja Gianni Moretti mit seinem Auto abholen, aber der war noch nicht zu sehen. Ich stellte also meinen Koffer zunächst auf den Gehsteig. Zwei weiter Leute waren auch mit mir ausgestiegen und liefen inzwischen schon in der Ferne davon.
Der Bus wendete gerade und schickte sich zur Rückfahrt an. Ich schaute wieder zu den Berggipfeln hoch. Sie waren wirklich sehr steil und sicherlich zu Fuß nicht zu erreichen, dachte ich mir. Ein bisschen Hunger hatte ich auch schon. Wasser gab es noch genügend in der grünen Flasche. Vielleicht sollte ich jetzt erst einmal einen großen Schluck nehmen.
Mein Handy klingelte.
„Hallo! Ich bin`s, Gianni Moretti! Das Auto wollte nicht anspringen, aber jetzt komme ich! Noch ein paar Minuten Geduld, dann bin ich da! Tutto bene, Andreas Steinfeld?“
„Ja“, sagte ich.
Mehr ging nicht, denn er hatte bereits wieder aufgelegt.
Da stand ich nun. Gianni Moretti hatte mich eingeladen, drei Wochen in seiner Almhütte zu verbringen. Jutta machte eine Fortbildung in Hannover und ich hatte die Praxis geschlossen. Eigentlich ganz reizvoll hatte ich mir das vorgestellt. Aber jetzt in diesem Dorf. Eigentlich zu viel Idylle, dachte ich mir. Drei Wochen, ob ich das hier oben aushalten würde? Ohne PC und Internet. Wahrscheinlich funktionierte dort oben auch das Handy nicht mehr. Das war bestimmt ein Funkloch.
„Es wird keinen Computer geben und auch das Handy funktioniert dort oben nicht. Aber das wirst Du dort überhaupt nicht brauchen. Wir stehen auf, wenn die ersten Sonnenstrahlen leuchten und wir gehen Schlafen, wenn die Sonne untergeht, Fantastico!“ Das hatte er mir erst vor Kurzem geschrieben.
Im kleinen Laden neben der Haltestelle gab es Postkarten. Sollte ich vielleicht welche an Freunde oder Bekannte schicken. Sie an dieser Idylle teilnehmen lassen? Weiter konnte ich nicht mehr denken, denn da hielt schon mit quietschenden Reifen Gianni Moretti mit seinem Auto neben mir. Er grinste breit und im Mundwinkel steckte ein Zigarillo. Er sah jetzt aus wie ein Revolutionär, nicht wie der Feingeist, den ich bisher gekannt hatte.
Wir begrüßten uns herzlich. Er klopfte mir auf die Schultern. „Herzlich willkommen! Ich freue mich so sehr, dass du wirklich gekommen bist. Es wird dir hier sehr gut gefallen. Bei mir oben ist alles noch richtig ursprünglich. Wie es früher war.“
Er öffnete die Seitentüren, verstaute Koffer und Rucksack auf der Rückbank und lud mich ein, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. „Si accomodi, nimm Platz!“ rief er.
Wir fuhren los. „Schön, dass du gekommen bist, ich freue mich sehr!“ Er wiederholte den Satz nochmals Er gab mir auch nochmals die Hand. Er war jetzt ganz aufgeregt und strahlte mich an.
„Erinnerst Du dich, wie wir uns letztes Jahr in der Bar o. T. getroffen haben und wir so interessante Gespräche geführt haben? Über Quantenphysik etwa. Es war so aufregend mit dir und deinem Freund, ich glaube Siggi hieß er, über diese Themen zu sprechen. Ich bin Künstler und Philosoph, aber es war nicht immer so. Einmal musste ich auf meine Almhütte flüchten, aber das ist jetzt schon lange her.“
In der Zwischenzeit hatten wir das Dorf verlassen und fuhren nun auf einer schmalen Straße aufwärts. Ein dichter Wald säumte den Weg. Kurve um Kurve umrundete der Wagen. Plötzlich hörten die Bäume ganz auf und Weiden kamen zum Vorschein. Wir bogen dann nach rechts auf eine Schotterstraße ab und der Wagen fing an, immer mehr zu schaukeln.
„Halte dich fest!“ rief Gianni. „Die Straße hatte viele Löcher.“
Es ging immer weiter bergauf. Links und rechts standen Kühe und schauten uns neugierig an. Sie hörten plötzlich alle auf zu fressen. Nur noch ihre Kiefer bewegten sich gleichmäßig.
„Die kennen dich noch nicht“, sagte Gianni und grinste mich an. „Hier oben leben wenig Leute, die Kühe freuen sich über etwas Abwechslung.“
Dann ging es über eine Holzbrücke, und der Wagen schwankte auch dabei heftig hin und her. Plötzlich weitete sich der Blick und ich sah vor uns einen See liegen. Klein zwar, aber sehr idyllisch umgeben von Felswänden und Geröll. Sanft fiel dabei das Gelände zum See hin ab. Der Boden war wellig und es sah aus wie eine große Weide. Allerdings fehlten hier oben die Tiere.
„Allora, hier sind wir!“, rief Gianni.
Auf der rechten Seite stand jetzt ein für die Bergregion typisches kleines Haus mit einem Fundament aus Stein und einem hölzernen Aufbau. Das Dach war mit flachen Granitsteinen beschwert.
Der Wagen hielt an. Langsam stieg ich aus, ging ein paar Schritte und blickte umher.
„Das ist der Selva-See. Wir sind jetzt über 2000m hoch. Es ist ein bisschen frisch hier oben. Aber die Luft ist gesund. Du wirst dich hier gut erholen. Komm, ich zeige dir das Haus.“
Auch er stieg nun aus dem Wagen. Er nahm dann meinen Koffer von der Rückbank und ich den Rucksack und wir gingen zum Haus. Er schloss die Holztür auf. Es war ein Raum mit einer offenen Feuerstelle. Im hinteren Teil sah man eine Holztreppe, die in das obere Stockwerk führte. Gianni stellte den Koffer neben die Treppe.
„Du wirst jetzt Hunger haben? Essen wir doch etwas und du erzählst mir, wie es dir in den letzten Wochen so gegangen ist!“
Gianni packte aus einer Box Wurst und Käse aus, legte ein paar Brotscheiben dazu und wir setzten uns dann in etwas wackelige Holzstühle auf die Veranda neben der Eingangstüre. Sie bestand aus parallel verlegten Holzbrettern. Dadurch saßen wir etwas erhöht und konnten jetzt gut auf den See hinunterschauen.
„Gut ist es mir gegangen“, sagte ich. „Ich habe ja ein kleines Buch über meine Gedanken zur Quantenphysik geschrieben, in dem auch du vorkommst und danach konnte ich es ja auch veröffentlichen. Ich habe meine Freunde eingeladen und wir haben dann auch ein bisschen gefeiert.“
Ich machte eine Pause, denn ich wollte alles nochmals auf mich wirken lassen.
„Dann hast du mich angerufen und gefragt, ob ich kommen wolle und jetzt bin ich da.“
Wir schwiegen. Jetzt bemerkte ich die Stille. Irgendwo war eine Grille und zirpte und ein Insekt kam vorbeigeflogen, aber sonst war nichts zu hören.
„Bist du denn schon lange hier oben auf dem Berg?“ Fragte ich in die Stille hinein. „Wieso bist du so weit oben in dieser Einsamkeit, Gianni, da fehlt dir doch sicher etwas? Gespräche? Der menschliche Kontakt?“
Gianni lächelte mich an.
„Nein, wirklich nicht. Und, wenn es mir zu irgendwann zu einsam wird, dann kann ich ja wieder gehen.“
Er machte auch eine Pause, dann sprach er weiter.
„Warum ich hier oben bin, das ist eine lange Geschichte. Soll ich sie dir wirklich erzählen? Aber, warum auch nicht! Sie ist ja Teil meines Lebens. Du kannst mich jederzeit stoppen.“
Wieder machte er eine Pause. Wahrscheinlich suchte er den richtigen Einstieg.
„Ich war Mitglied der Roten Brigaden. Die Italiener sagten „Brigate Rosse“, später nur noch BR. Es war für mich irgendwann ziemlich gefährlich und deshalb bin ich ja dann auch abgehauen. Dann kam ich hier her und das Versteck hat mir später auch das Leben gerettet. Niemand hätte mich hier jemals gefunden.“
Ich überlegte. „Rote Brigaden? Was war das genau?“
„Die Roten Brigaden waren eine kommunistische Untergrundorganisation in Italien. Sie wurde 1970 in Mailand gegründet. Es war zunächst nur eine Stadtguerilla. Dann gab es Mordanschläge, Entführungen und Banküberfälle. Und 1978 haben sie den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro entführt und ermordet. Die Gruppe bestand damals aus über 1000 Mitgliedern.“
Entsetzt blickte ich Gianni an und hörte ganz auf zu kauen.
„Da warst du dabei? Ich kenne dich nur als friedlichen Menschen. Das kann ich mir jetzt wirklich nicht vorstellen.“
Er sprach weiter.
„Wie in fast allen Ländern der westlichen Welt, so kam es in den Jahren um 1968 auch in Italien zu einem Aufbegehren der Studenten. Deren Protest richtete sich damals gegen die schlechten Studienbedingungen sowie gegen autoritäre Strukturen an den Universitäten und in unserer Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung war zudem der Vietnamkrieg, durch den die USA zu einem Feindbild der Linken wurde. Damals gelang es den italienischen Studenten, ihren Protest mit dem der Arbeiter zu verbinden, wie es z. B. auch in Frankreich gelungen war. Zahlreiche linksradikale Gruppierungen, wie z. B. „Lotta Continua“, das heißt „Der Kampf geht weiter“ oder „Potere operaio“, das heißt „Die Arbeitermacht“ entstanden damals.“
Er schwieg kurz und sprach dann weiter.
„Zunächst operierten wir alle ganz legal, aber dann entstanden die ersten Untergrundorganisationen und die erste Bombe ging dann in Mailand hoch. Viele von uns wurden verhaftet und einer von uns ist im Polizeigewahrsam dann ja auch gestorben, einfach so aus dem Fenster gestürzt. Auch ihr hattet ja so einen Fall. Rudi Dutschke bei euch in Germania wurde ja auch ermordet.“
Rudi Dutschke war mir ein Begriff.
„Die Stimmung war jetzt richtig angeheizt. Aber das war ja auch die Absicht der Rechten und des Geheimdienstes, die hatten nämlich die Bombenanschläge damals selbst verübt, nicht die Roten Brigaden, wie sich später dann auch herausstellte. Renato Curcio, einer der Gründer der Roten Brigaden hatte damals über den Anschlag in Mailand gesagt, dass dieses Ereignis einen „qualitativen Sprung“ ausgelöst hätte. „Zuerst im Denken und dann auch im Handeln“. Er hat das Bombenattentat als eine Art Kriegserklärung an die linke Bewegung aufgefasst. Wir hatten uns in der Tradition der Partisanenbrigaden der Resistenzia gesehen. Und rosse, nämlich rot ist die Farbe der Revolution. Der asymmetrische, fünfzackige Stern, glich dem der Brigate Garibaldi und war darüber hinaus das Zeichen der uruguayischen Tupamaros.“
Gianni machte eine Pause und ich begann weiter zu essen. Irgendwie passte diese Geschichte nicht zu dem friedlichen Bild hier oben am Berg.
„Und welche Rolle hast du dabei gespielt?“ fragte ich.
„Die BR bestanden anfangs nur aus 15 Mitgliedern und ich war damals einer davon. Wir waren bis 1972 ausschließlich in Mailand aktiv. Den ersten Anschlag verübten wir im September 1970 auf das Auto des Siemens Managers Giuseppe Leoni. Damals war der Wirkungskreis eng begrenzt auf die Fabriken rund um Mailand. Wir wollten damals möglichst viele Leute hinzugewinnen. Wir organisierten Anschläge auf Manager, die Verantwortlichen für die Unterdrückung der Arbeiter. Die Angriffe richteten sich zunächst ausschließlich gegen deren Eigentum, in der Regel gegen das Auto und nicht gegen diese Personen selbst. Wir haben damals viele Aktionen bei Pirelli, dem Reifenhersteller, gemacht. Immer brauchten wir auch Geld, deshalb dann später die vielen Banküberfälle.“
Ich schaute ihn genauer an. Aber er sprach scheinbar ganz gelassen. Er wirkte distanziert beim Sprechen. Er musste wohl schon lange mit diesen Dingen abgeschlossen haben.
„Später kamen dann die Angriffe auch gegen Personen dazu. Als erster wurde der Siemens-Managers Idalgo Macchiarini im März 1972 entführt. Wir haben ihn aber schon nach 20 Minuten wieder freigelassen. Es war eine spektakuläre Aktion damals. Dann erhöhte die Polizei wieder den Druck auf uns. Es gab Razzien und Verhaftungen. Und auch eigene Leute, die gegen uns aussagten und uns verraten haben. Nun verließen einige Mailand, um in Turin eine neue Gruppe aufzubauen. Ich blieb mit Alberto Franceschini in Mailand zurück. Wir haben dann erneut auch wieder Leute entführt, z. B. einen Ingenieur von Alfa Romeo oder den Personalchef von Fiat. Ziel der Entführung war es, den FIAT-Konzern zu zwingen, ausgesprochene Entlassungen von Beschäftigten wieder zurückzunehmen. Diese Entführung war mit einer Dauer von insgesamt acht Tagen die bis dahin längste Entführung gewesen.“
Er atmete tiefer.
„Die Radikalität nahm jetzt immer mehr zu. Auch die Ölkrise verstärkte die Konfrontation. Die Eskalation der Gewalt entwickelte sich immer weiter fort.“
Er machte eine Pause. Irgendwie wirkte er nun auch etwas müde.
„Bist du schon ganz erschöpft? Soll ich weitererzählen?“ fragte er. Wahrscheinlich spürte er auch seine Erschöpfung.
„Ja, mach weiter“, sagte ich.
„Die damals stärkste Partei Italiens war die Democrazia Cristiana. Sie stellte auch die Regierung. Politiker dieser Partei wurden damals häufig Opfer von Anschlägen. In dieser Zeit wurde auch der Staatsanwalt Sossi entführt, um Inhaftierte frei zu pressen. Zu dieser Zeit begannen wir auch damit, Waffen zu tragen. Opfern wurden auch gezielt Verletzungen zugefügt. Am 8. Juni 1976 verübten die Roten Brigaden den ersten gezielten Mordanschlag. Opfer war der Genueser Staatsanwalt Francesco Coco, der während der Sossi-Entführung den Gefangenenaustausch verhindert hatte. Der Mord war also auch ein Racheakt. Vor allem aber war es eine bewusste Eskalation der Gewalt.“
Wieder eine Pause.
„Weitere Morde folgten danach. Im November 1977 ermordete ein BR-Kommando Carlo Casalegno, Vizedirektor von La Stampa, der großen Tageszeitung, der in seinen Artikeln die BR scharf kritisiert hatte. Neben diesem Mord gab es weitere Anschläge gegen Vertreter der Presse.“
„Der italienische Staat hat in dieser Zeit mehrere Antiterrorgesetze erlassen. Spezialgefängnisse und Hochsicherheitstrakte wurden gebaut. Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung wurden erlaubt und eine Kronzeugenregelung für Terroristen, die sich vom bewaffneten Kampf lossagten und sich zu einer Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden bereit erklärten, wurde eingeführt. Es waren die Reumütigen, auf Italienisch „Pentiti“. Bis 1978 wurden etwa 150 Aktivisten verhaftet, darunter auch Franceschini und Curico. Seine Frau wurde nach einem Feuergefecht 1975 erschossen. 1976 war ein Großteil der führenden Köpfe der BR-Gründergeneration in Haft oder bereits tot.“
Gianni lehnte sich zurück, schloss die Augen und sah mich dann an. Er holte tief Luft.
„Der fraglos spektakulärste Coup aber war die Entführung des früheren Ministerpräsidenten Aldo Moro am 16. März 1978 in Rom. Seine fünf Begleiter wurden dabei erschossen.“
Pause.
„Den Entführten wurde in der Regel symbolisch der Prozess gemacht, anschließend wurden sie dann aber wieder freigelassen. Dieser Tradition folgten die BR zunächst auch im Fall Moro allerdings wurde der Entführte nicht wieder freigelassen, sondern nach 55 Tagen erschossen.“
„Zwischen dem Tag der Entführung und dem Tag des Mordes lag eine Zeit extremer Spannung. Damals hat die italienische Regierung jede Verhandlung mit den Entführern abgelehnt. Während der 55 Tage verübten wir weitere Anschläge und versuchten so, den Eindruck einer Großoffensive zu erzeugen.“
Er machte wieder eine Pause.
„Die Entführung Aldo Moros diente also dem doppelten Zweck. Erstens, den Angriff auf das Herz des Staates zu intensivieren und damit, zweitens, den eigenen Führungsanspruch innerhalb der diffusen linken Szene Italiens geltend zu machen. Moro verfasste in diesen Wochen zahlreiche Briefe an seine Familie und auch an einige Parteifreunde, die er wegen ihrer kompromisslosen Linie allerdings scharf kritisierte. Einzig der Sozialist Bettino Craxi setzte sich dafür ein, Verhandlungen mit den Entführern aufzunehmen. Doch blieben alle Vermittlungsversuche ohne Ergebnis und weder Craxi noch Moros Briefe konnten den Krisenstab von seiner harten Haltung abbringen.“
„Am 9. Mai 1978, also 55 Tage nach seiner Entführung, wurde Aldo Moro schließlich erschossen. Die Leiche wurde im Kofferraum eines Renaults 4 aufgefunden.“
Jetzt spürte ich wieder die Last, die auf ihm lag.
„Danach bin ich ausgestiegen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht länger ein Terrorist sein. Unsere ursprünglichen Ziele hatten wir vollständig verfehlt. Wahrscheinlich wurden wir damals auch von Vertretern des US-Geheimdienstes instrumentalisiert. Moro sollte entfernt werden, weil er mit den Kommunisten zusammenarbeiten wollte. Die Kommunisten sollten nicht die Kontrolle über die Regierung gewinnen.“
„Die Jahre 1978–1980 waren dann die opferreichsten in der Geschichte des italienischen Linksterrorismus. Gleichzeitig wurden viele Mitglieder der Roten Brigaden verhaftet. Viele der Verhafteten entschieden sich, die neu geschaffene Kronzeugenregelung in Anspruch zu nehmen und mit der Polizei zu kollaborieren. Dies trug maßgeblich zum schnellen Niedergang der Roten Brigaden bei.“
„Verschiedene Gruppen spalteten sich ab. Mein Bruder Mario wurde 1981 verhaftet. Er hatte durch seine Autorität die Roten Brigaden noch zusammengehalten. Am 17. Dezember 1981 gelang mit der Entführung des hochrangigen Nato-Generals James Lee Dozier der letzte spektakuläre Coup der Roten Brigaden. Er wurde dann am 28. Januar 1982 durch ein Spezialkommando der Polizei befreit.“
„Zwar folgten bis 1987 noch weitere Anschläge, doch nahm die Anschlagsdichte deutlich ab. In der Regel wurde bis 1987 nur noch ein größerer Anschlag pro Jahr verübt. Fast alle Aktivisten wurden dann nach 1987 verhaftet, noch bevor es zu weiteren größeren Aktionen kam. Die Mehrheit der Roten Brigaden erklärte dann auch Ende 1987 den bewaffneten Kampf für beendet. Einige Militante setzten trotzdem den Kampf fort und töteten am 16. April 1988 den christdemokratischen Senator Roberto Ruffilli. Das war dann auch der letzte Mord der Roten Brigaden gewesen.“
Stille trat ein. Es war inzwischen auch dunkel geworden. Ich sah nur noch die Umrisse von Gianni. Ich war jetzt auch ziemlich fertig mit den Nerven. Gianfranco Moretti ein Terrorist. Ich konnte es nicht glauben.
„Und was ist mit Renato Curico weiter passiert?“
„Er war ja 1975 gefangen genommen worden, aber nach 5 Monaten von seiner Frau wieder befreit worden. 1976 hatten sie ihn dann wieder gefasst. Ja, erst 1998 wurde er endgültig aus dem Gefängnis entlassen. Bis heute hat Curcio keine Reue über seine Aktivitäten bei den Roten Brigaden gezeigt.“
„Hattest du Reuegefühle? Ihr habt ja schließlich Menschen getötet und Unglück über Familien gebracht.“
„Wir wollten das Denken der Menschen beeinflussen und dadurch Veränderungsprozesse in der Gesellschaft erzwingen. Eine Beschleunigung der Evolution sozusagen. Wir wollten zunächst nicht den bestehenden Raum besetzen. Wir hatten zunächst keine militärische Strategie. Wir sahen uns eher dem politischen Widerstand zugehörig. Durch unsere Aktionen haben wir versucht, möglichst große Aufmerksamkeit zu erlangen, um die bestehenden Machtstrukturen zu untergraben. Wir wollten auch die Angreifbarkeit solcher Strukturen der Bevölkerung zeigen. Guerilla besetzt den Raum, um später das Denken gefangen zu nehmen, der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht einnehmen kann oder nicht einnehmen will.“
„Terroristische Aktionen sind doch Gewaltanwendungen gegen zivile Ziele und Unbewaffnete mit dem Vorsatz, Furcht und Schrecken zu verbreiten und bei Sympathisanten um Aufmerksamkeit und Schadenfreude zu werben mit der Absicht, das bestehende Herrschaftssystem auszuhöhlen und es dann umzustürzen“, warf ich ein.
„Ja, schon, aber Du weißt sicher auch, dass man zum Terroristen nicht geboren wird, sondern man wird dazu gemacht. Wir hatten alle prägende Erlebnisse in der Kindheit, hatten später dann belastende Erlebnisse als Jugendliche und lebten in einer Gesellschaft mit starken Konflikten. Unser Handeln war innerhalb unseres Weltbildes logisch und richtig. Unsere Wahrnehmung der Außenwelt war gefiltert durch einen langen Ausbildungsprozess und eine damit einher gehende Sozialisation. Wir hatten alle wenig emotionale Nähe erfahren und wir wurden nicht als individuelle, wichtige Personen wahrgenommen. Dieses Identitätsloch aufzufüllen gelang aber über die Identifikation mit einer großen Idee. Und dafür brauchte es natürlich auch das passende Gegenüber. Jemanden, der eine große Vision anbietet, eine Befreiung, eine Bedeutung, die über die einzelne Person hinausgeht. Hier konnte so ein Mensch dann einsteigen, um sich endlich in einer Gruppe geborgen zu fühlen. Wir fanden eine Geborgenheit, die unsere Familie und auch unsere Freunde bisher nicht bieten konnten. So wurde unser Selbstbewusstsein gestärkt. Wir erhielten quasi eine Ausbildung und wurden auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, nämlich den Kampf für eine bessere Welt, mit allen Mitteln. Für einen charismatischen Führer waren wir alle sogar bereit, den Märtyrertod zu sterben. Aber auch durch permanentes mentales Training, durch ständiges Wiederholen der geplanten Operation wurden Emotionen sukzessive wegtrainiert.“
„Und wie ist es Dir gelungen, aus dieser Situation herauszukommen?“, fragte ich.
„Der Ausstieg geschieht ja am häufigsten aufgrund einer drohenden oder bereits erfolgten Festnahme. Das war bei mir nicht so, aber es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre auch verhaftet worden. Bei mir war es das Überschreiten einer individuellen Toleranzgrenze durch eine besonders kriminelle und menschenverachtende Aktion in der Gruppe, nämlich die Aldo-Moro-Entführung und dann seine Ermordung. Hier war die Gruppe zu weit gegangen. Ich konnte jetzt nicht mehr bleiben. Es ekelte mich plötzlich alles an. Es war nicht die Aussicht auf Strafminderung oder eine Einstiegshilfe in die Normalität. Es war der Bruch mit der Gruppe und ihren autoritären Strukturen. Ich ging einfach weg. Ich war plötzlich so erschöpft. Ich habe dann auch das Land verlassen und eine andere Identität angenommen. Ich habe die Privatheit gesucht und mich ganz auf mich selbst zurückgezogen. Philosophie und Kunst studiert und mich mit fremden Religionen befasst.“
Er schwieg. Es war ganz still geworden. Gianni hatte inzwischen eine Kerze aufgestellt, die ein flackerndes Licht erzeugte.
„Du warst nie in einer solchen Situation?“ fragte er mich plötzlich.
Diese Frage kam jetzt doch ganz unerwartet für mich. Ich wusste zunächst nicht, was ich darauf antworten sollte.
„Ich bin ziemlich autoritär erzogen worden, begann ich. Es gab wenig Alternativen. Ich war immer ein etwas ängstlicher Junge, der eher nachgab, als dass er etwas durchsetzen wollte. Macht war nicht wichtig, Harmonie schon eher. Harmonie war für mich sogar sehr wichtig! Es war der Stabilisator, um in dieser Welt bestehen zu können. Ist es ja immer noch. Eigentlich bin ich der Prototyp eines Pazifisten, der versucht durch gute Argumente weiter zu kommen. Trotzdem war ich beim Militär, weil eine Kriegsdienstverweigerung, die damals schon möglich war, eine Gegenhaltung vorausgesetzt hätte, die aber so nicht zustande kam. Ein Protest war nicht vorgesehen. Wahrscheinlich muss dir diese Haltung als sehr angepasst vorkommen. Jemand, der mit dem Strom schwimmt, ohne auffällig zu werden. Familiäre Vorgaben und eigene Haltung passen zueinander. Es kommt zu keinen Reibungsflächen. Beiden Seiten gelingt es auf diese Weise, ausgeglichen zu erscheinen. Ich will das jetzt nicht zu positiv darstellen, aber es ist eher eine Art von Evolution. Der Versuch einer Anpassung. Es ist auch deshalb gelungen, weil es zu keiner Zeit zu einem Scheitern gekommen ist. Alle gesteckten Ziele wurden schließlich ja auch erreicht. Es entstanden keine Reibungsflächen.“
Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass Gianni meine Argumente nicht verstanden hatte. Er blickte mich etwas ratlos an. Das war ihm sicher zu abstrakt. Es fehlte das Konkrete.
„Zu wenig konkret?“, fragte ich.
„Nein, ich verstehe dich!“
„Allerdings wurden mir dann im späteren Leben häufig Einstellungen und Haltungen meiner Familie immer unverständlicher. Ich war aber bereits schon zu alt, als dass daraus eine offene Auflehnung entstanden wäre. Es musste jetzt auch nichts mehr erkämpft werden. Auch in dieser Situation wurde der Harmonieanspruch nicht in Frage gestellt. Es fand einfach eine Abspaltung statt. Eine Art Gleichgültigkeit. Vielleicht steckt allerdings auch Unehrlichkeit dahinter oder Bequemlichkeit oder auch die Angst, Gefühle zu zerstören. Deshalb fand auch nie eine Aussprache über Werte statt. Alles blieb diffus und im Nebel. Sicherlich kam es deshalb auch zu Missverständnissen. Mit Vorwürfen den Eltern gegenüber hielt ich mich immer zurück. Sie wuchsen ja auf in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch hier fand sicher eine Prägung in der Kindheit statt. Autoritäten wurden nicht in Frage gestellt.“
Wir schwiegen.
Gianni begann wieder.
„Du hast nach Reue gefragt. Reue gibt es in verschiedenen Kategorien. In der Psychologie ist Reue das nachhaltige Bedauern einer eigenen Schuld wegen einer Tat oder Unterlassung, die ihr Urheber im Nachhinein als verwerflich beurteilt und sich selber vorwirft.“
Es entstand eine Pause.
„Ja, ich, bereue es, nicht rechtzeitig vor den kriminellen Handlungen bei den Roten Brigaden ausgestiegen zu sein und einen politischen Weg beschritten zu haben. Etwa durch Gründung einer Partei. Viele Religionen bieten die Buße als Möglichkeit an, durch Handeln eine bereute Tat wiedergutzumachen. In der katholischen Kirche ist die Reue der wichtigste Akt des Beichtenden.“
Es war ganz still geworden. Es gab jetzt keinerlei Geräusche mehr. Gianni stand auf.
„Lass uns ein bisschen frische Luft schnappen. Una Boccata d'aria.“
Wir gingen hinaus in die Nacht. Die Nacht war still. Der Himmel klar. Alle Sterne waren zu sehen. Einmal sah ich auch eine Sternschnuppe. Ganz kurz meinte ich auf der anderen Seite des Sees einen kurzen Lichtblitz gesehen zu haben, aber vielleicht war es auch nur der Schein unserer Kerze, der mich geblendet hatte.
Gianni blickte mich an.
„Vielleicht sollten wir nun zu Bett gehen und morgen weitersprechen. Ich putze mir die Zähne immer unten am See. Vorher zeige ich dir noch dein Bett und den Schrank, wo du das Gepäck verstauen kannst. Komm mit!“
Wir gingen später wieder zurück ins Haus. Ich war inzwischen so müde geworden, dass ich mich gleich auf mein Bett fallen ließ und sofort einschlief.
Die Nacht war irgendwie unruhig. Immer wieder meinte ich Stimmen zu hören. Hatte ich geträumt? Sofort schlief ich allerdings immer wieder ein.
Der neue Tag begann. Ich wachte auf und hörte wie Gianni mit dem Frühstücksgeschirr klapperte. Ich war jetzt doch hungrig und setzte mich auf. Jetzt konnte ich die Treppe hinabsehen. Die ersten Sonnenstrahlen kamen zur Tür herein. Ich beschloss nach unten zu gehen.
„Guten Morgen“, rief Gianni. „Guten Morgen“, wiederholte ich. Es roch nach Espresso und Gianni reichte mir eine Tasse.
„Gut geschlafen?“
„Danke, ja“, sagte ich. Langsam trank ich den Espresso.
„Nimm dir Brot oder auch Müsli, wenn Du willst. Im Kühlschrank ist Milch.“
Ich nahm Müsli und ging mit meiner Schüssel zur Tür. Die Sonne war bereits kräftig und ich sah noch letzte Nebelschwaden über dem See davonziehen.
„Hast du Lust zu Baden? Der See ist kalt, aber es macht Spaß.“
Eigentlich schwamm ich ungern in kaltem Wasser. Warm musste es bei mir sein. Ich konnte ja vorsichtig mal einen Finger hineintauchen.
Wir gingen langsam ans Ufer hinunter. Der Boden war uneben und es gab kleinere Löcher, in den man leicht mit den Füßen hätte steckenbleiben können. Ich bewegte mich vorsichtig.
Ein bisschen frischmachen, das war okay, aber baden? Lieber heute nicht! Zähne putzen? Später ja!
Gianni stürzte sich doch noch ins kalte Wasser. Er ruderte mit den Armen wild herum, tauchte unter und versuchte, mich mit dem kalten Wasser anzuspritzen. Wir lachten und brüllten laut.
Auf dem Weg zurück zum Haus fragte mich Gianni:
„Hast du heute Lust auf eine Wanderung zur Länta-Hütte? Das sind meine Nachbarn dort drüben.“ Er zeigte mit dem Arm nach Westen. „Wir sehen uns aber im Sommer nur alle paar Wochen und im Winter gar nicht.“
„Ja, gerne!“ sagte ich.
Mit Stiefeln und Rucksack versehen war ich bald abmarschbereit.
Zunächst ging es bergab. Am See vorbei. Dann erreichten wir die nahe Felswand. Ein schmaler Weg führte an der Felswand dann weiter nach unten. Gianni ging voraus. Wir mussten uns an einem Seil festhalten, aber wir kamen gut voran. Der Weg war schmal. Die Sonne schien über uns. Endlich waren wir dann im Tal angekommen und wanderten an einem rauschenden Bach entlang weiter. Es ging immer weiter bis zum Ende des Tals. Später ging der Weg zwischen Felsen hindurch. Immer wieder tauchten Murmeltiere auf und beobachteten uns genau. Dann waren sie plötzlich auch schon wieder weg. Auch ein weißer Hase war für kurze Zeit erschienen. Malerisch saß er auf einem Felsen und beobachtete uns misstrauisch. Auch hier die Stille. Keine Geräusche waren zu hören. Die Welt schien friedlich. In der Ferne war ein Gletscher zu sehen. Eine weiße Wand kam immer näher auf uns zu. Einzelheiten waren darauf nicht zu erkennen.
Die Berge wurden immer steiler und rückten auch enger zusammen.
„Es ist nicht mehr weit bis zur Länta-Hütte“, rief Gianni mir zu.
Ich nickte.
Der Bach hatte jetzt den ganzen Weg überschwemmt, so dass wir über den Hang gehen mussten, um keine nassen Füße zu bekommen. Dann sah ich ein Schild. „Länta-Hütte 5 Minuten“ stand darauf. Wie witzig, dachte ich.
Zwei Esel kamen uns nun entgegen. Sie begrüßten uns. Auch sie schienen nicht mit Besuchern verwöhnt zu sein. Ihnen war es wahrscheinlich langweilig geworden und hatten unsere Stimmen gehört. Ich streichelte beide. Dann gingen sie vor uns her und zeigten uns den Weg. Immer zwischen den Felsen hindurch bergauf erreichten wir dann die Länta-Hütte. Ein Schild überraschte uns. „Länta-Hütte 1913 bis 2013“. Die Hütte stand jetzt unter einem Felsen geschützt. Einmal war eine Lawine ins Tal gerast und hatte die alte Hütte zerstört, erfuhren wir auf einem zweiten Anschlag an der Felswand.
Wir kamen an und setzten uns auf die Bank vor der Hütte. Ich war jetzt doch schon etwas müde. Urs kam heraus. „Hallo, schön, dass ihr da seid. Ihr seid heute die ersten. „Kaffee?“
„Gerne“, sagte ich.
Er verschwand wieder im Haus. Wir saßen in der Sonne und schauten auf den Gletscher hinauf. Ziemlich bedrohlich, dachte ich. So nahe am Gletscher. Wir waren dem Eis jetzt wirklich sehr nahe. Es funkelte im Licht. Mit einem Tablett kam Urs wieder aus dem Haus und stellte den Kaffee vor uns ab.
„Wie geht’s?“
Gianni stellte mich vor. „Das ist Andreas, mein Freund, der sich in seiner Freizeit mit Quantenphysik beschäftigt, wenn er nicht in seiner Praxis arbeitet. Er ist zu Besuch hier.“ Urs gab mir die Hand und grinste mich an.
„Ich betreue während der Sommermonate das Haus.“ Dieses Jahr ist viel los bei uns. Das Haus ist hundert Jahre alt geworden. 1913 sind die ersten Leute zum Bergsteigen gekommen. Einige auch aus Deutschland. Da hat alles angefangen. Schön, dass ihr jetzt da seid.“
Wir tranken den Kaffee.
„Habt ihr Hunger?“ „Ja!“, sagte ich.
Urs verschwand wieder im Haus. Die Sonne schien jetzt ziemlich stark. Wir mussten in den Schatten.
„Interessierst du dich eigentlich immer noch für Quantenphysik“, fragte Gianni. „Das habe ich übrigens vorhin nur so zum Spaß zu Urs gesagt.“
„Sicher“, sagte ich.
„Diese revolutionären Veränderungen in der Physik seit 1900 lassen mich einfach nicht mehr los. Ich denke fast täglich daran. Es ist einfach so unglaublich. Es bestimmt sehr stark unseren Alltag, aber das ist uns allen nicht richtig klar. Alles, was vor 1900 in der Physik war, gehört ja zur klassischen Physik und hat irgendwie etwas Verstaubtes. Es hat etwas Lebloses an sich. Ich weiß nicht, ob du das verstehst?“
„Doch, doch!“, sagte Gianni und nickte. Er strahlte mich an. Irgendwie schien ihn das alles auch zu interessieren.
„Die klassische Physik handelt von alltäglichen Gegenständen wie Tischen, Stühlen. Alles, was man mit den bloßen Augen sehen kann“, sagte ich. „Dann gibt es noch die Thermodynamik fürs Heizen und Kühlen und die Elektrodynamik für Strom und Magnete. Alles ist sehr nüchtern und fürs praktische Leben gemacht. Die moderne Physik dagegen erklärt die geheimnisvolle Welt all dessen, was sich jenseits des Alltäglichen erstreckt“, sagte ich.
„Ja, so ist es! Das hast du jetzt sehr schön gesagt. Die Experimente waren ja plötzlich mit den Gesetzen der klassischen Physik nicht mehr zu erklären. Etwas Neues musste gefunden werden!“ warf Gianni ein.
„Das eine war dann zunächst die Relativitätstheorie. Sie handelt von Gegenständen, die sich sehr schnell bewegten oder sich in einem starken Gravitationsfeld befanden. Diese Erkenntnisse verdanken wir Albert Einstein. Er hat 1905 die Grundlagen dafür entwickelt. Das andere war die Quantenphysik. Das ist der Bereich, der sich mit Licht und kleinen Teilchen beschäftigt, mit Molekülen und Atomen. Max Planck hat 1900 das Wort „Quantum“ für die kleinen Teile eingeführt.“
Gianni reckte sich und antwortete: „Manche Elemente der Quantentheorie sind inzwischen aus dem Wirkungsbereich der Physik entflohen und beschäftigen heute die Phantasie vieler Menschen.“
„Die Unschärferelation von Heisenberg, „Schrödingers Katze“ oder die Viele-Welten-Theorie von Hugh Everett“, sagte ich.
Wir schwiegen dann eine Weile.
„Und das Interessante daran ist auch, dass diese schwer verständlichen physikalischen Erkenntnisse inzwischen ja auch praktische Anwendungen in unserem Leben gefunden haben. Chips für den Computer oder Laser für die Datenübertragung. Ohne die Quantenphysik würde es das alles ja gar nicht geben, sagte ich.
Plötzlich stand Urs mit zwei großen Tellern vor uns. „Probiert die Pizokel, das sind unsere Graubündner Spätzle. Ich habe noch etwas Käse darüber gegeben. Guten Appetit.“
Das Essen war lecker. Wir lehnten uns danach zufrieden zurück.
„Die Quantenphysik hat die Physiker gezwungen, auch philosophische Probleme anzupacken. Sie hat uns gezwungen, das Wesen der Realität zu überdenken“, sagte Gianni.
„Die Quantenphysik beschreibt eine absonderliche Welt, in der Objekte keine exakt festgelegten Eigenschaften mehr besitzen bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir sie messen. Es ist eine Welt, in der Objekte, die weit voneinander entfernt sind, auf eine seltsame Weise miteinander verbunden sind. Trotzdem hat es nichts mit einer Fantasy-Welt zu tun, denn es ist unsere eigene Welt.“
Gianni schaute mich an.
„In den letzten hundert Jahren wurde die Quantenphysik mit unglaublicher Präzision überprüft. Keine naturwissenschaftliche Theorie ist jemals so genau getestet worden. Trotzdem erscheint die Quantenphysik den meisten Menschen als rätselhaft und auch beunruhigend, weil sie unsren alltäglichen Erwartungen widerspricht“, sagte ich.
Still setzten wir das Essen fort. Diese Nudeln waren wirklich sehr köstlich.
„Die Quantenphysik hat viele seltsame und faszinierende Aspekte. Entscheidend war aber die Entdeckung, dass Materie sowohl Wellen als auch Teilcheneigenschaften besitzt“, sprach Gianni.
„Angefangen hat es beim Licht. Licht verhält sich wie ein Teilchen, aber auch wie eine Welle. Der Unterschied ist, dass man bei Teilchen den genauen Ort kennt, seine Geschwindigkeit, seine Richtung, wohin es sich bewegt und seine Masse, also wie schwer es ist. Masse multipliziert mit der Geschwindigkeit heißt Impuls. Der Impuls legt auch fest, wenn sich zwei Teilchen treffen. Wichtig ist auch, dass man Teilchen zählen kann.“
Wir „warfen“ uns die Bälle zu. Es ging hin und her. Ein Stichwort ergab das nächste.
„Wellen dagegen sind viel weniger greifbar. Was ist eine Welle? Eine sich ausbreitende Störung von irgendwas? Ich werfe einen Stein in einen Teich und bekomme dann Wellen zu sehen. Es bewegen sich keine physikalischen Objekte irgendwohin, denn das Wasser bleibt ja im Teich.“
Jetzt mussten wir beide lachen. Wir amüsierten uns. Das war das Beste, was passieren konnte.
„Doch das Muster der Störung verändert sich. Bei Wellen haben wir Berge und Täler. Somit können wir die Wellenlänge erkennen, nämlich der Abstand zweier benachbarter Berge. Wenn gleichzeitig eine Ente im See herumschwimmt, wird sie durch die Welle ins Schaukeln kommen. Sie geht dann rauf und runter. Du bekommst so ein zeitliches Muster. Du kannst messen, wie oft sich eine Welle wiederholt. Jetzt hast du die Frequenz der Welle.“
Wir saßen in der Länta-Hütte und unterhielten uns über Quantenphysik. Das war schon etwas komisch. Aber es beflügelte uns.
Gianni sprach weiter.
„Wellenlänge und Frequenz hängen irgendwie miteinander zusammen: Größere Wellenlängen entsprechen geringeren Frequenzen und umgekehrt. Wellen haben keinen Ort. Die Wellenlänge und die Frequenz beschreiben das Muster als Ganzes. Noch komplizierter wird es, wenn du zwei Steine in den Teich wirfst. Jetzt kann es passieren, dass du eine doppelt so hohe Welle bekommst oder dass sich beide Wellen auslöschen, je nachdem, ob sich zwei Berge oder Berg und Tal überlagern. Die Wellen sind dann „in Phase“ oder „außer Phase.“
Bestimmt konnte Urs uns in der Küche hören. Aber wahrscheinlich interessierte ihn das überhaupt nicht.
„Dieses Phänomen nennt man Interferenz. Das ist sicher der deutlichste Unterschied zwischen Welle und Teilchen. Das Beispiel mit der Ente finde ich sehr anschaulich“, sagte ich.
„Wellen sind schon etwas Besonderes. In unserm Leben haben wir es besonders häufig mit Lichtwellen und Schallwellen zu tun. Beides sind Wellen und doch so unterschiedlich. Schallwellen sind Druckwellen in der Luft. Licht kann sich sogar im luftleeren Raum ausbreiten. Der größte Unterschied dieser beiden Wellen ist aber, wenn sie auf ein Hindernis treffen. Licht kann sich nur gerade ausbreiten, während Schall um ein Hindernis herum gebeugt wird. Deswegen hörst Du es, wenn in einem anderen Raum ein Gegenstand zu Boden fällt, selbst wenn Du ihn nicht sehen kannst. Man nennt so etwas Beugung. Beugung heißt, dass eine Auffächerung an diesem Hindernis stattfindet. Wie das genau geschieht, hängt wieder von der Wellenlänge und vom Hindernis ab. Wenn das Hindernis viel größer ist als die Wellenlänge, dann ist die Beugung sehr gering. Damit du das Fallen des Gegenstandes nicht hörst, brauchst Du also eine große Wand. Schallwellen in der Luft haben normalerweise eine Wellenlänge von etwa einem Meter, sie sind also meist so groß wie ihre Hindernisse, nämlich Türen, Möbel oder Fenster, so dass wir alles gut hören können.“
Gianni grinste.
„Du hast Recht! Aber so habe ich mir das eigentlich noch nie vorgestellt. Wir beschäftigen uns ja auch viel mehr mit Lichtwellen. Die sind ja auch viel kleiner. Sie haben eine kurze Wellenlänge, weniger als ein tausendstel Millimeter. Wenn sie auf Gegenstände unseres täglichen Lebens treffen, dann werden sie fast überhaupt nicht gebeugt. Das ist der Grund, warum wir dann dunkle Schatten bekommen. Nur an der Kante gibt es Beugung und deshalb sind die Ränder oft etwas verwaschen.“
„Licht breitet sich geradlinig aus ohne Beugung. Das war vor 200 Jahren eine Sensation, als damals entdeckt wurde, dass Licht eine Welle ist.“
Wir schwiegen wieder eine Weile.
„Das war der Doppelspalt-Versuch von Young“, sagte ich. Wie ist der Mann nur darauf gekommen? Das Papier mit den zwei Schlitzen. Dunkle und helle Streifen hinter dem Papier. Also Beugung und Überlagerung von Licht. Wellen in Phase machen einen hellen Fleck. An den dunklen Stellen sind die Wellen außer Phase und löschen sich gegenseitig aus. Eigentlich ist es genial einfach, dieses Experiment.“
„Ja, aber es blieben Zweifel.“
„Newton hatte ja davor immer gesagt, das Licht sei ein Strom aus kleinsten Teilchen. Aber andere haben das Young´sche Experiment wiederholt, wie etwa der Franzose Fresnel und sind zu denselben Ergebnissen gekommen. Das Licht ist tatsächlich eine Welle.“
„Aber, es gab doch erste Hinweise, dass mit dem Wellenmodell des Lichts irgendetwas nicht stimmte.“
„Max Planck, zum Beispiel, hatte die Wärmestrahlung glühender Gegenstände untersucht. Das Spektrum der Farben konnte bis zu diesem Zeitpunkt niemand voraussagen. Planck hat damals einen mathematischen Trick benutzt. Er hat zunächst die Oszillatoren erfunden. Das Licht, das sich die Physiker als kontinuierliche Welle vorstellten, bestand aus kleinen Portionen, nämlich Teilchen. Planck bezeichnete die festen Energiewerte in seinen Oszillatoren als Quanten. Der Name blieb und wurde schließlich für die ganze Theorie angewendet. Immer hat er gehofft, dass irgendjemand eine bessere Idee für diese Phänomene hätte. Fünf Jahre später hat Albert Einstein nur noch von quantisierten Teilchen gesprochen. Er beschrieb einen Lichtstrahl als Strom kleinster Teilchen, von dem jedes eine bestimmte Energie trug. Sie wurden dann Photonen genannt. Das war 1905 eine sehr umstrittene Idee. Licht als Teilchen zu beschreiben warf alles über den Haufen, was die Physik 100 Jahre lang als richtig angesehen hat. Licht als Strom einzelner Teilchen, verknüpft mit einer Frequenz, die sich überlagern und Interferenzmuster erzeugen konnten, wie bei einer Welle.“
Alles war sehr verwirrend.
Jetzt hatte sich auch Gianni ziemlich verausgabt.
Urs erschien wieder. „Kaffee?“
„Sehr gerne“, sagte ich.
Wir schauten auf den Gletscher.
„Vielleicht sollten wir einmal zum Gletscher hinüberwandern“, bemerkte ich, „oder ist das sehr gefährlich?“