THORSTEN POLLEIT
DER ANTIKAPITALIST
EIN WELTVERBESSERER, DER KEINER IST
EIN WELTVERBESSERER, DER KEINER IST
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ISBN Print 978-3-95972-396-1
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Für
Ruth
Victoria H. A. E.
Patricia S. E. T.
Leopold A. C. F.
»Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd’ er in Ketten geboren.«
Friedrich Schiller
»Man kann die Idee des Sozialismus überwinden, man muß sie überwinden, wenn man die Welt nicht in Barbarei und Elend zurücksinken lassen will, man kann sie aber nicht achtlos beiseite schieben.«
Ludwig von Mises
»[I]f the bulk of the public were really convinced of the illegitimacy of the State, if it were convinced that the State is nothing more nor less than a bandit gang writ large, then the State would soon collapse to take on no more status or breadth of existence than another Mafia gang.«
Murray N. Rothbard
»Statt erfreulicher Visionen eines Endsieges der Vernunft über Magie und Ignoranz müssen wir uns mit der Tatsache abfinden, daß die Normen und Ideale, die den Fortschritt der Erkenntnis erlauben, in jeder Generation gegen neue Feinde verteidigt werden müssen, die wie die Häupter der Hydra wiederkommen, sobald andere abgeschlagen sind, und die immer neue Begriffe, Reizworte und Slogans verwenden, um die ewigen Schwächen der Menschheit auszunutzen.«
Stanislav Andrenski
Prolog: Einleitende Bemerkungen
Kapitel 1. Unverzichtbar für das Denken: Kritik der ökonomischen Erkenntnis
Kapitel 2. Dreh- und Angelpunkt des menschlichen Handels: das Eigentum
Kapitel 3. Ein fundamentales Psychogramm: die antikapitalistische Mentalität
Kapitel 4. Eine ernüchternde Wahrheit: was der Staat wirklich ist
Kapitel 5. Eine besorgniserregende Einsicht: der Staat wird immer größer
Kapitel 6. Was viele nicht wahrhaben wollen: die Soziale Marktwirtschaft ist eine Utopie
Kapitel 7. Die große Verwirrung: Kapitalismus-Kritik, die Sozialismus-Kritik ist
Kapitel 8. Chinas Aufstieg: ein Kapitalismus, der keiner ist, will die Welt erobern
Kapitel 9. Zeitloses Wissen über ein unverzichtbares Gut: die Natur und das Wesen des Geldes
Kapitel 10. Wie der Staat das Geld zerrüttet: eine kurze Geschichte des Goldgeldes
Kapitel 11. Die Währungsgeschichte der Deutschen: ein Trauerspiel in fünf Akten
Kapitel 12. Ein umstrittenes Phänomen: was es mit dem Zins auf sich hat
Kapitel 13. Wie unser Geldsystem funktioniert: Geldschaffen aus dem Nichts
Kapitel 14. Was wir über Boom und Bust wissen: die monetäre Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule
Kapitel 15. Eine Dystopie bahnt sich ihren Weg: der Drang zur Fiat-Weltwährung
Kapitel 16. Zentralbank-Marxismus: der Umsturz mit dem Geld
Kapitel 17. Die Lösung des Geldproblems: ein freier Markt für Geld
Kapitel 18. Dem Staatsgeldmonopol entkommen: Vorschläge zur Geldreform
Kapitel 19. Natürlich geht es ohne den Staat: ein freier Markt für Sicherheit
Kapitel 20. Aufruf zu einem neuen Methodenstreit: die Logik des Handelns
Epilog: Hoffnung Aufklärung
Anmerkungen
Literatur
Über den Autor
DER Antikapitalist tritt in verschiedenen Schattierungen auf. In der Extremform als Kommunist-Sozialist. Meist jedoch in abgeschwächter Form als einer, der den Kapitalismus nicht in Bausch und Bogen ablehnt. Einiges am Kapitalismus ist für ihn durchaus akzeptabel, aber eben nicht alles. Den Sozialismus will er zwar nicht in Vollendung realisiert sehen, kann ihm aber doch dies und das abgewinnen. Im Grunde wünscht sich der moderate Antikapitalist ein Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, das das Gute von Kapitalismus und Sozialismus verbindet und deren jeweilige dunkle Seiten ausschaltet. Dazu ruft der Antikapitalist nach dem Staat, damit der den Kapitalismus »zähme« und »zivilisiere«; der Verhinderung des Sozialismus um jeden Preis gilt sein Hauptaugenmerk aber nicht.
Der Antikapitalist ist der Rivale, manchmal sogar der Erzfeind des Kapitalismus. Er hüllt alte sozialistische Ideen in neue Gewänder, preist sie als zukunftsträchtige Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte an – mit denen, wie er sagt, die drängenden Probleme der Zeit gelöst werden können: Wirtschafts- und Finanzkrisen, Einkommens- und Vermögenungleichheit ebenso wie Umweltbelastung, Terrorismusbekämpfung und Epidemien. Der Antikapitalist verspricht, dass sich mit seinen Ideen eine bessere, gerechtere Welt schaffen lasse.
Welche Auswüchse eine solche antikapitalistische Gesinnung hat, zeigte sich zum Beispiel Anfang 2020, als die Coronavirus-Krise die westliche Welt erreichte. Um die Verbreitung des Virus zu verhindern, wurden quasi per Handstreich die Freiheitsrechte der Menschen in vielen Ländern der Welt außer Kraft gesetzt, wurde von den Regierungen ein »Stillstand« des öffentlichen Lebens und weiter Teile der Wirtschaft diktiert – obwohl geltendes Recht eine solche Selbstermächtigung der Regierenden nicht vorsieht. Dass das geschehen konnte und weite Teile der Bevölkerung nicht dagegen aufbegehrten, offenbart eine tiefsitzende antikapitalistische Haltung, eine quasi-sozialistische Weltsicht: dass nicht der freie Markt, die Eigenverantwortlichkeit der Individuen, sondern dass nur der Staat Notlagen beheben kann; und dass daher der Staat nach dem Motto »der Zweck rechtfertigt die Mittel« verfahren und Eigentums- und Freiheitsrechte zum Schutz des »Gemeinwohls« ausschalten darf.
Die Antikapitalisten folgen mitunter höchst unterschiedlichen Antrieben. So ist der naive Antikapitalist von der Vorstellung beseelt, dass der Staat Wirtschaft und Gesellschaft steuern müsse, damit es gerechter und glücklicher auf der Welt zugehe. Dem selbstsüchtigen Antikapitalisten geht es nicht um politische Ideale, sondern um eigene Vorteile: Er will sich mithilfe des Staates besserstellen, und wenn das auf Kosten anderer geht – in Form von Freiheitsentzug und Enteignung –, stört ihn das wenig. Der kaltblütige Antikapitalist hat den Umsturz im Sinn, er will die freie Gesellschaft in eine sozialistische überführen. Für ihn ist der naive Antikapitalist ein »nützlicher Idiot«, der selbstsüchtige Antikapitalist ein hilfreicher Zuarbeiter.
Die meisten Antikapitalisten zeichnen sich durch mangelndes ökonomisches Wissen aus, gepaart mit einem rigorosen, unduldsamen Eintreten für ihre Sache: Sie meinen, sie könnten ihren Mitmenschen einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus weisen. Doch den gibt es nicht. Das hat Ludwig von Mises (1881–1973), der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, ein für alle Mal bewiesen: Die Abkehr vom Kapitalismus, die Hinwendung zu antikapitalistischen und kollektivistischen-sozialistischen Politiken setzt vielmehr eine unheilvolle Dynamik in Gang, die die Freiheit der Menschen, die Grundlagen ihres Wohlstandes und damit auch ihre Existenz zerstört.
Der Antikapitalist ist meist auch Opfer zweier niederer Instinkte: Neid und Missgunst. Das Ressentiment, das sie in ihm erzeugen, richtet sich gegen Abstraktionen wie »Unternehmen«, »Kapital«, »Geld«, »Gewinn«, »Konsum« und so weiter. Dabei ist der Antikapitalist bemüht, seinen Standpunkt unter seinen Mitmenschen zu verbreiten, zu kultivieren, er möchte den Antikapitalismus zur herrschenden Meinung emporheben. Damit trägt er jedoch nicht zur Verbesserung des Gemeinwesens bei, sondern zu dessen Niedergang. Er bereitet letztlich dem Sozialismus den Boden, der aber nicht funktionieren kann, ja sogar Verarmung, Elend und Gewalt bringt, wie schon viele Episoden in der Menschheitsgeschichte es unmissverständlich gezeigt haben.
Die Gedanken, die in diesem Buch ausgebreitet werden, sollen die Irrtümer des Antikapitalisten (jedweder Schattierung und Motivation) aufzeigen und ihn mit handlungslogischem Denken zurück zur ökonomischen Vernunft führen. Dazu soll, erstens, das Zerrbild, das (unter tatkräftiger Hilfe des Antikapitalisten) vom Kapitalismus gezeichnet wird, zurückgewiesen und die ökonomischen und ethischen Qualitäten des Kapitalismus herausgearbeitet werden: dass der Kapitalismus die einzig dauerhaft durchführbare Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist; und dass er – anders als der Sozialismus und alle seine Unterformen – ethisch einwandfrei ist. Dabei soll auch ein gravierendes Missverständnis aufgedeckt werden. Es lautet: Der Kapitalismus sorge für Störungen in Wirtschaft und Gesellschaft – wie Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und Umweltprobleme –, und daher müsse er vom Staat gezähmt, eingehegt werden. Doch die Wahrheit ist eine andere: Das Zurückdrängen des Kapitalismus, sein Nichtvorhandensein in der Welt, und das Vordringen kollektivistischer-sozialistischer Ideen sind die Ursachen der beklagten Übelstände.
Zweitens: Der Staat, wie wir ihn heute kennen, ist nicht das, was viele Menschen in ihm sehen (wollen), und er leistet auch nicht das, was sie sich von ihm erhoffen. Denn der Staat ist (um eine positive Definition zu gebrauchen) der Monopolist für Recht und Sicherheit mit der Letztentscheidungsmacht über alle Konflikte in seinem Gebiet. In dieser Form ist er unvereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht, das jedem Individuum unveräußerlich zusteht. Die Folge: Der Staat (wie wir ihn heute kennen) setzt Entwicklungen in Gang, die die freiheitliche Gesellschaft und damit auch den wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt torpedieren – eine Erkenntnis, die vermutlich die meisten Menschen nicht vor Augen haben.
Das vorliegende Buch umfasst 20 Kapitel; jedes ist in sich abgeschlossen und kann ohne Kenntnis der vorigen gelesen und verstanden werden. Den Auftakt macht die »Kritik der ökonomischen Erkenntnis« (Kapitel 1). Darin wird herausgearbeitet, wie und warum eine methodisch fehlgeleitete Sozial- und Wirtschaftswissenschaft in die Irre führt und dem Antikapitalismus den Boden bereitet.
Der »Dreh- und Anlagepunkt des menschlichen Handelns: das Eigentum« (Kapitel 2) arbeitet heraus, dass das Eigentum untrennbar mit dem menschlichen Dasein verbunden ist.
»Ein fundamentales Psychogramm: die antikapitalistische Mentalität« geht den Motiven auf den Grund, die viele Menschen gegen den Kapitalismus einnehmen, sie gegen ihn aufbringen (Kapitel 3).
In »Eine ernüchternde Wahrheit: was der Staat wirklich ist« (Kapitel 4) wird erklärt, warum der Staat nicht Probleme löst, sondern vielmehr Ursache vieler Probleme ist, die die Menschen heute plagen.
Es folgt »Eine besorgniserregende Einsicht: der Staat wird immer größer« (Kapitel 5) – eine Einsicht, die die Illusion beendet, man könne den Staat »zähmen«, sich seiner ungestraft bedienen.
In »Was viele nicht wahrhaben wollen: die Soziale Marktwirtschaft ist eine Utopie« (Kapitel 6) erwartet den Leser die ökonomische Entzauberung eines Mythos.
Das siebte Kapitel »Die große Verwirrung: Kapitalismus-Kritik, die Sozialismus-Kritik ist« räumt mit einem großen Missverständnis auf, dem viele Antikapitalisten unterliegen.
»Chinas Aufstieg: ein Kapitalismus, der keiner ist, will die Welt erobern« – so lautet die Überschrift über dem achten Kapitel. Es arbeitet eine zentrale Bedrohung für Freiheit und Wohlstand auf der Welt heraus.
»Zeitloses Wissen über ein unverzichtbares Gut: die Natur und das Wesen des Geldes« (Kapital 9) vermittelt grundlegende Erkenntnisse über das Geld in der Volkswirtschaft.
Wie der Staat auf langen, verschlungenen Wegen das Geld für seine Zwecke gekapert hat, wird in »Wie der Staat das Geld zerrüttet: eine kurze Geschichte des Goldgeldes« (Kapitel 10) erläutert.
»Die Währungsgeschichte der Deutschen: ein Trauerspiel in fünf Akten« (Kapitel 11) bietet einen Abriss und eine Interpretation des deutschen Geldes von der Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis heute.
Es gibt wohl kein ökonomisches Phänomen, das so kontrovers diskutiert wird wie der Zins. »Ein umstrittenes Phänomen: was es mit dem Zins auf sich hat« (Kapitel 12) soll Licht ins Dunkel der Zinsdebatte bringen.
Kurz und bündig wird in »Wie unser Geldsystem funktioniert: Geldschaffen aus dem Nichts« (Kapitel 13) dargelegt, wie heutzutage in antikapitalistischer Weise Geld produziert wird und welche Folgen das hat.
In »Was wir über Boom und Bust wissen: die monetäre Konjunkturtheorie der Österreichischen Schule« (Kapitel 14) wird eine zeitlose monetäre Krisentheorie vorgestellt.
»Eine Dystopie bahnt sich ihren Weg: der Drang zur Fiat-Weltwährung« (Kapitel 15) erklärt, warum und wie ein Weltstaat mit Weltwährung geschaffen werden soll.
Dass das staatlich monopolisierte Geld nicht vereinbar ist mit einer freien Wirtschaft und Gesellschaft, arbeitet »Zentralbank-Marxismus: der Umsturz mit dem Geld« (Kapitel 16) heraus.
Der Ausweg aus der unheilvollen Entwicklung, die das staatlich monopolisierte Geld bringt, wird in »Die Lösung des Geldproblems: ein freier Markt für Geld« (Kapitel 17) aufgezeigt.
Wie das staatliche Monopolgeld beendet werden kann, wird in »Dem Zentralbankgeldmonopol entkommen: Vorschläge zur Geldreform« (Kapital 18) ausgebreitet.
In »Natürlich geht es ohne den Staat: ein freier Markt für Sicherheit« (Kapitel 19) wird skizziert, warum das Gut Sicherheit im freien Markt bereitgestellt werden sollte und wie das in der Praxis aussehen könnte.
In »Aufruf zu einem neuen Methodenstreit: die Logik des Handelns« (Kapitel 20) wird dargelegt, wie wichtig es ist zu verstehen, dass die Volkswirtschaftslehre keine Erfahrungs-, sondern eine a priori-Handlungswissenschaft ist.
Der Epilog lautet »Hoffnung Aufklärung«. Er fasst zusammen, dass das vernünftige, das logische Denken der Schlüssel zur Lösung der in dieser Schrift thematisierten Probleme ist – und hält damit eine optimistisch-realistische Botschaft bereit.
Das vorliegende Buch richtet sich an all diejenigen, die ihre antikapitalistische Haltung auf den Prüfstand stellen wollen, aber auch an alle, die ihre prokapitalistische Argumentation zu reflektieren und zu stärken wünschen – und die bislang in der »Hauptstrom«-Volkswirtschaftslehre vergeblich diese argumentative Auseinandersetzung und Darstellung gesucht haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nach der Lektüre des Buches zu dem Schluss gelangen, dass der Kapitalismus zu Unrecht geschmäht und zurückgewiesen wird; dass die vielen beklagten Missstände auf dieser Welt nicht durch den Kapitalismus verursacht sind, sondern dass sie vielmehr aus der Unterwanderung des Kapitalismus, seiner Nicht-Existenz rühren; und dass der »reine Kapitalismus« der richtige Weg ist, eine bessere Welt zu schaffen. Diese Einsichten sind überaus wichtig. Denn viele Menschen geben immer stärker Ideen und Politiken ihre Zustimmung, die an antikapitalistische Reflexe appellieren, die einen kollektivistischen-sozialistischen Ursprung haben.
Dieses Buch zu lesen erfordert keine besonderen ökonomischen Vorkenntnisse. Es ist mit dem Ziel verfasst worden, einfach und verständlich zu sein, um möglichst vielen interessierten Lesern das »Problem des Antikapitalismus« offenzulegen und seine Lösung voranzutreiben. Wie erwähnt, jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen, lässt sich also einzeln für sich lesen. Dadurch bedingt lassen sich manche Wiederholungen, die zum Verständnis des jeweils behandelten Themas nötig sind, nicht vermeiden. Die Beiträge gehen teilweise auf bereits veröffentlichte Aufsätze und Vorträge zurück, die meisten sind eigens für dieses Buch umgearbeitet oder neu verfasst worden. Zu danken habe ich an dieser Stelle vielen Menschen, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht hätte entstehen können, die ich aber an dieser Stelle nicht alle nennen kann. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Dr. Ruth Polleit Riechert. Ihre Ermutigung, Unterstützung und Liebe haben dieses Buch möglich gemacht.
Thorsten Polleit
Königstein i. T., Juni 2020
»Der Fortschritt unserer Wissenschaft findet gegenwärtig sein Hemmnis in der Herrschaft irrthümlicher methodischer Grundsätze.«
Carl Menger
Das Wort Kritik leitet sich ab von dem griechischen Wort krínein, was unterscheiden, trennen, vor Gericht stellen, mit vernünftigem Denken zu einem Urteil gelangen bedeutet. Für das Wort Erkenntnis gibt es keine einheitliche Definition. Ich definiere Erkenntnis hier und im Folgenden als eine gültige, eine wahre Aussage über die Realität. Die »Kritik der ökonomischen Erkenntnis« stellt also die Frage: Wie verlässlich, wie realitätsrelevant sind die Theorien der Ökonomen? Das ist eine überaus wichtige Frage – nicht nur für Ökonomen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Schließlich entfalten ökonomische Theorien (man kann auch von ökonomischen Ideen sprechen) Breitenwirkung, und natürlich entspringt auch der Antikapitalismus einer Idee.
Ganz in diesem Sinne schreibt zum Beispiel der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946): »[T]he ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else.«1 In den letzten Jahren sind die Theorien, die Ideen der (Mainstream-)Volkswirte verstärkt in die Kritik geraten, insbesondere im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09. Beispielsweise, so ist zu hören, hätten die Ökonomen die Krise nicht vorausgesehen, und bis heute gäbe es keine überzeugende Erklärung der Krisenursache(n); zudem verlieren sich die Ökonomen, so lautet eine andere Kritik, in abstrakten, über-mathematisierten Modellen, die kaum mehr einen Bezug zur wirklichen Welt haben.
Besonders kritisch hat sich der US-amerikanische Ökonom Paul Romer (*1955) geäußert. Im September 2016 veröffentlichte er den Aufsatz »The Trouble With Macroeconomics«.2 Romers Kritik schlug ein wie eine Bombe, in Fachkreisen, aber auch bei der Presse. Die Nachrichtenagentur Bloomberg titelte: »Blah Blah Blah: A Renowned Economist Sums Up the State of Macro«.3 Und schrieb weiter: »Paul Romer says he really hadn’t planned to trash macroeconomics as a math-obsessed pseudoscience. Or infuriate countless colleagues. It just sort of happened.«4
In seinem Beitrag parodiert Romer die Ausrichtung der modernen Makroökonomik in folgender Weise: »Assume A, assume B, … blah blah blah … and so we have proven that P is true.« Romer attestiert der Makroökonomik eine intellektuelle Regression in den letzten drei Jahrzehnten. Diese sei beispielsweise verursacht durch unreflektiertes Festhalten an dogmatischen Positionen; durch Setzen von obskuren Annahmen in hochmathematisierten Modellen; durch Ausblenden von mikroökonomischen Fundierungen in makroökonomischen Überlegungen; durch kritiklosen Umgang mit und falsche Loyalität gegenüber ausgewiesenen Autoritäten des Faches und durch anderes mehr.
Was immer man Romers Kritik im Einzelnen entgegnen möchte, sie scheint mir aus mindestens zwei Gründen hilfreich zu sein. Sie lädt zur (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschungspraxis in der modernen Volkswirtschaftslehre ein. Und – besonders wichtig – sie ermuntert dazu, den kritischen Blick auf eine grundlegende Frage zu lenken. Diese lautet: Welche wissenschaftliche Methode ist in der Ökonomik angemessen, kann hier überzeugend vertreten werden?
Unter der wissenschaftlichen Methode ist das Vorgehen zu verstehen, um Erkenntnisse über ein Erkenntnisobjekt zu gewinnen. Die moderne Volkswirtschaftslehre bedient sich der wissenschaftlichen Methode, die in den Naturwissenschaften angewandt wird. Sie besteht im Kern darin, »Wenn-dann«- oder auch »Je-desto«-Hypothesen zu formulieren und deren Wahrheitsgehalt anhand von Beobachtungen zu überprüfen. Auf diese Weise sollen quantitative Gesetzmäßigkeiten gewonnen werden, etwa in dieser Form: »Wenn Faktor A um x Prozent steigt, verändert sich Faktor B um y Prozent.«
Die wichtige Frage lautet nun aber: Ist die naturwissenschaftliche Methode zur Wissensgewinnung auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften anwendbar? Ja, so meinen die Befürworter der sogenannten »Einheitswissenschaft«. Dazu zählen die Vertreter des Logischen Positivismus, des Wiener Kreises, die in den 1930er-Jahren für ein einheitliches Vorgehen in den Wissenschaften plädierten.5 Ihr Leitbild erreichte auch die Volkswirtschaftslehre, und zwar vor allem durch Milton Friedmans Aufsatz »The Methodology of Positive Economics« aus dem Jahr 1953. Diese Schrift trug wesentlich dazu bei, dass die naturwissenschaftliche Methode in der Volkswirtschaftslehre Fuß fassen konnte.
Im Folgenden möchte ich das erkenntnistheoretische Fundament der naturwissenschaftlichen Methode offenlegen und kritisieren. Auf diese Weise will ich die heute weitverbreitete Auffassung hinterfragen, ob die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode in der Volkswirtschaftslehre überhaupt begründet werden kann.
Die naturwissenschaftliche Methode baut auf drei erkenntnistheoretischen Elementen auf: Positivismus, Empirismus und Falsifikationismus. Der Positivismus lässt sich als Wissenschaftsdoktrin interpretieren. Er postuliert, dass die Wissenschaft auf das Positive, das Tatsächliche, das Messbare zu beschränken ist. Was nicht messbar ist, das Metaphysische etwa (also das, was die Sinneserfahrung übersteigt), ist wissenschaftlich nicht zugänglich, ist unwissenschaftlich.
Der Empirismus besagt zwei Dinge: Zum einen, dass die Quelle der Erkenntnis die Beobachtung ist, und dass zum anderen die Beobachtung auch die Prüfinstanz ist für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes von Theorien. Der Falsifikationismus wird als Fortentwicklung des klassischen Empirismus betrachtet und ist eng verbunden mit dem Namen Karl Popper (1902–1994). Lassen Sie uns zunächst den kritischen Blick auf den Empirismus werfen, danach auf den Falsifikationismus beziehungsweise Kritischen Rationalismus.
Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Der Empirismus leidet unter dem sogenannten Induktionsproblem.6 Was damit gemeint ist, kann ein Beispiel illustrieren. Im 18. Jahrhundert waren den Menschen nur weiße Schwäne bekannt. Man folgerte daraus, dass es nur weiße Schwäne gäbe. Doch dann wurden in Australien schwarze Schwäne entdeckt – und das Wissen, das bis dato gegolten hatte, erwies sich als falsch. Was dieses Beispiel zeigt (und auch logisch begründet werden kann7): Aus Einzelerfahrungen lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen (Allaussagen) ableiten.
Um es noch deutlicher zu machen: Nehmen wir an, Sie testen die Hypothese »Wenn die Geldmenge steigt, dann steigen die Güterpreise«. Sie finden heraus, dass die Hypothese durch die Datenlage gestützt wird. Ist sie dann verifiziert? Haben Sie eine Gesetzmäßigkeit erkannt? Die Antwort ist nein! Denn aus diesem Befund lässt sich nicht schlussfolgern, dass die Hypothese auch künftig, das heißt wenn neue Beobachtungen gemacht werden, gestützt wird. Sollten Sie hingegen beim Testen herausfinden, dass die Daten die Hypothese nicht stützen, so heißt das nicht, dass künftige Beobachtungsdaten die Hypothese nicht doch stützen könnten. Mit dem Empirismus lässt sich also keine verlässliche Wissenschaftserkenntnis bereitstellen, keine Regel- beziehungsweise Gesetzmäßigkeiten (in dem Sinne: wenn A, dann immer B) begründen.
Doch wir wollen den Kopf nicht hängen lassen. Schließlich hat es eine Fortentwicklung gegeben: den Falsifikationismus. Der Falsifikationismus ist das Kernstück des Kritischen Rationalismus, wie er von Popper vertreten wird. Popper erkennt, dass der Induktionsschluss – der konstitutiv ist für den klassischen Empirismus – nicht gerechtfertigt werden kann. Es ist nicht möglich, so Popper, eine Hypothese zu verifizieren. Bestenfalls kann es gelingen, eine Hypothese nicht zu falsifizieren. Eine Hypothese gilt nach Popper so lange als »bewährt«, wie sie nicht durch Erfahrung widerlegt (also falsifiziert) worden ist.
Unsere Erkenntnis ist – und das ist die zentrale Position des Kritischen Rationalismus – immer nur hypothetisch wahr. Wir können ihr nur »bis auf Weiteres« vertrauen. Dass wir jemals zu nicht-hypothetischer Erkenntnis – zu einer zeitlosen Gewissheit oder: Wahrheit – gelangen könnten, ist eine vergebliche Hoffnung. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es, seine Theorien (fortwährend) an der Erfahrung zu testen und, wenn sie sich nicht bewähren, durch bessere Theorien zu ersetzen. Auf diese Weise wird der Wissenschaftsfortschritt rational angeleitet, so Popper: Man gelangt zu besseren Theorien, indem schlechte Theorien aussortiert werden.
Der Kritische Rationalismus soll den Wettbewerb um die besseren Theorien fördern; er soll Immunisierungsstrategien, durch die sich die Theorien einer Wahrheitsprüfung entziehen könnten, verhindern; und er soll zum vorsichtigen Umgang mit der wissenschaftlichen Wahrheit anleiten. Stellen wir an dieser Stelle eine kritische Frage: Wie rechtfertigt der Kritische Rationalismus seine Postulate?
Dem Kritischen Rationalismus zufolge ist alle Erkenntnis nur hypothetisch wahr, die Existenz von nicht-hypothetisch wahrer Erkenntnis wird verneint. Was ist davon zu halten? Wenn ich sage, alle Erkenntnis ist nur hypothetisch wahr, so beansprucht diese Aussage nicht-hypothetisch wahr, also gültig, zu sein. Das ist ganz offensichtlich ein Selbstwiderspruch!
Damit stellt sich aber die Frage: Wie will der Kritische Rationalismus seine Postulate begründen? Wie will er begründen, dass Erkenntnisse nur aus Beobachtungen zu gewinnen sind und dass Beobachtungen auch die Prüfinstanz sind, an der der Wahrheitsgehalt von Theorien zu beurteilen ist? Auf empirischem Wege können diese Postulate nicht überzeugend begründet werden. Wie bereits gesagt: Durch Beobachtungen lässt sich keine gültige Allaussage begründen.
Der Kritische Rationalismus muss vielmehr auf nicht-hypothetisch wahre Erkenntnis zurückgreifen, will er seine Postulate begründen – auf genau solche Aussagen also, deren Existenz er verneint. Dass (auch) das ein Selbstwiderspruch ist, ist unmittelbar einsichtig.8 Nach Popper ist alle Erkenntnis nur hypothetisch wahr. Wenn man aber sagt: »Alle Erkenntnis ist nur hypothetisch wahr«, dann ist diese Aussage (i) entweder ein Selbstwiderspruch oder (ii) sie ist selbst nur hypothetisch wahr – und das würde erkenntnistheoretisch ins Nichts führen. Was aber ist von den folgenden Theorien zu halten?9 (1) Jeder freiwillige Tausch ist vorteilhaft für die am Tausch Teilnehmenden. Oder: (2) Der Grenznutzen der Gütereinheit nimmt mit steigendem Gütervorrat ab. Oder: (3) Ein Anstieg der Geldmenge in der Volkswirtschaft verringert die Kaufkraft der Geldeinheit (im Vergleich zur Situation, in der die Geldmenge nicht ausgeweitet worden wäre). Die Theorien (1), (2) und (3) sind aus handlungslogischer Perspektive als unbestreitbar gültig einsehbar – nach Popper wäre ihr Wahrheitsgehalt jedoch nur hypothetisch wahr und fortwährend durch Testen zu überprüfen; und auch auf diesem Wege könnte ihr Wahrheitsgehalt nicht letztgültig festgestellt werden.
Und noch etwas soll hier kritisiert werden: Um Erfahrungen machen zu können, braucht man eine Theorie. Denn es gibt kein theorieloses, kein voraussetzungsloses Erfassen der menschlichen Realität. Die verwendeten Theorien mögen richtig oder falsch sein, das Erfahren ist aber stets theoriegebunden. Doch was ist die »richtige« Theorie? Der Kritische Rationalist muss antworten: Das wissen wir nicht! Wir können bestenfalls auf bewährte Theorien zurückgreifen, um Erfahrungen zu machen. Wenn sich aber die Auffassung darüber ändert, welche Theorie nun die »bewährte«, die »richtige« ist, erweisen sich auch alle Erfahrungen, die auf der bisher als bewährt angesehenen Theorie gemacht wurden, als Makulatur. Aber nicht nur diejenigen Theorien, deren Wahrheitsgehalt mittels Erfahrung untersucht werden soll, sind für den Kritischen Rationalismus bestenfalls hypothetisch wahr. Das Gleiche gilt auch für jene Theorien, die verwendet werden, um Beobachtungen zu machen, die als Prüfinstanz dienen.
Wie, so muss man sich fragen, soll auf einer solchen erkenntnistheoretischen Forschungsgrundlage – die de facto nihilistisch ist – etwas Sinnvolles erwachsen? Man wird hier vielleicht einwenden: In den Naturwissenschaften scheint diese Kritik nicht zuzutreffen. Man schaue nur einmal auf die naturwissenschaftlichen Wissensfortschritte in den letzten Jahrzehnten, die auf Basis des Kritischen Rationalismus erzielt wurden!
Dem würde ich entgegnen: Ja, der Wissenszuwachs in den Naturwissenschaften steht außer Frage. Das heißt aber nicht, dass die hier geäußerte Kritik unberechtigt wäre. Vermutlich gibt es in den Naturwissenschaften tatsächlich so etwas wie Regel- und Gesetzmäßigkeiten, die sich durch das Anwenden des Kritischen Rationalismus – trotz seiner erkenntnistheoretischen Defizite – aufspüren lassen. Es besteht an dieser Stelle vielmehr Anlass zu der Frage: Lässt sich der Kritische Rationalismus trotz seiner erkenntnistheoretischen Defizite ebenso unproblematisch in der Volkswirtschaftslehre anwenden?
Um diese Frage zu beantworten, führen wir uns zunächst vor Augen, dass das Erkenntnisobjekt in den Naturwissenschaften ein ganz anderes ist als in der Volkswirtschaftslehre.10 In der Naturwissenschaft haben wir es zum Beispiel mit Atomen, Steinen und Regenwürmern zu tun. Objekten also, die keine Ziele und keine Präferenzen haben, die keine Wahlakte treffen. In der Volkswirtschaftslehre geht es hingegen um den handelnden Menschen. Und der hat Präferenzen und Ziele, die er durch sein Handeln erreichen will, er wählt zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten.
Das ist eine wichtige Einsicht: Die Art des Erkenntnisobjektes erlaubt es in den Naturwissenschaften, konstante Ursache-Wirkungsbeziehungen aufzuspüren. Im Bereich des menschlichen Handelns ist so etwas aber nicht möglich. Warum nicht? Die Antwort lautet: Der handelnde Mensch – der Präferenzen und Ziele hat und zwischen Handlungen wählt – ist lernfähig.11 Das heißt, die Wissenszustände, die seine Präferenz-, Ziel- und damit seine Handlungswahl bestimmen, verändern sich im Zeitablauf. Und die Lernfähigkeit des Menschen lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen.
Wer argumentiert, der Mensch sei nicht lernfähig, der begeht einen performativen Widerspruch: Er unterstellt, dass seine Zuhörer beziehungsweise Gesprächspartner den Inhalt seines Gesagten noch nicht wissen, dass sie also lernfähig sind – sonst würde er es ja nicht sagen.12 Und wer sagt: »Der Mensch kann lernen, dass er nicht lernen kann«, begeht einen offenen Widerspruch. Er setzt voraus, dass er irgendwann einmal gelernt hat, dass man nicht lernen kann – und attestiert damit ebenfalls Lernfähigkeit.
Wenn man die Lernfähigkeit aber nicht widerspruchsfrei verneinen kann, so bedeutet das, dass man menschliche Handlungen auch nicht systematisch erklären kann im Sinne einer quantitativen-konstanten Ursache-Wirkungsbeziehung (dass also das Auftreten von Impuls A immer und überall die Reaktion B hervorbringt). Behauptet man, dass es konstante Verhaltensparameter gibt – dass Menschen immer und überall auf einen konkreten Impuls in gleicher Weise reagieren –, dann impliziert das, dass man menschliches Handeln vorhersagen kann. Dadurch bestreitet man aber, dass der Mensch lernfähig ist – und das wäre, wie bereits erläutert, widersprüchlich und damit falsch. Es kann folglich aus logischen Gründen keine konstanten Verhaltensparameter im Bereich des menschlichen Handelns geben.13
Und noch eine weitere Überlegung spricht gegen die Anwendbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode in der Volkswirtschaftslehre. In den Naturwissenschaften lassen sich Laborversuche durchführen. Unter ansonsten gleichen Bedingungen wird ein Faktor bei Konstanz aller anderen Faktoren verändert, und so lässt sich seine Wirkung auf den zu erklärenden Faktor erkunden. Derartige Versuche lassen sich prinzipiell in beliebiger Zahl wiederholen. Ein solches Vorgehen ist im Bereich des menschlichen Handelns nicht möglich. Wir hatten bereits gehört: Der handelnde Mensch ist lernfähig und damit sprichwörtlich von einem Zeitpunkt zum anderen quasi ein anderer, was seine Wissensstände betrifft.
Im Bereich des menschlichen Handelns lassen sich daher keine homogenen, miteinander vergleichbaren Beobachtungssätze gewinnen, wie es in naturwissenschaftlichen Experimenten möglich ist.14 An dieser Stelle lässt sich zusammenfassend sagen: Der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode stehen schwergewichtige Bedenken, logische Einwände entgegen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche wissenschaftliche Methode ließe sich in der Volkswirtschaftslehre überzeugend vertreten? Das Erkenntnisobjekt der Volkswirtschaftslehre ist – das wurde bereits herausgestellt – der handelnde Mensch.15Über ihn wissen wir etwas, was wir widerspruchsfrei nicht verneinen können – nämlich dass der Mensch handelt.
Handeln heißt, abstrakt gesprochen, einen Zustand durch einen anderen, als vorteilhafter erachteten Zustand ersetzen. Der Satz »Der Mensch handelt« klingt zunächst trivial. Bei weiterem Nachdenken zeigt sich jedoch, dass dieser Satz nicht widerspruchsfrei verneint werden kann. Wer sagt »Der Mensch handelt nicht«, der handelt – und widerspricht damit dem Gesagten. Der Satz »Der Mensch handelt« ist apriorisch. Aus dem evidenten Satz »Der Mensch handelt« lassen sich auf logisch-deduktivem Wege weitere unbestreitbar gültige Aussagen (logische Handlungskategorien) ableiten.
Beispielsweise dass Menschen Ziele verfolgen; dass sie dazu Mittel einsetzen müssen; dass die Mittel-Ziel-Beziehung die Ursache-Wirkungsbeziehung (Kausalität) voraussetzt; dass der Mensch unter Knappheit handelt (schon allein deswegen, weil jedes Handeln Zeit erfordert); dass der Handelnde stets eine positive Zeitpräferenz hat; dass Handeln unter Unsicherheit stattfindet und anderes mehr. Sie werden nun vermutlich fragen: Was lässt sich mit all dem anfangen? Auf diese Frage will ich hier drei Antworten geben.
(1) Theorieprüfung. – Die logischen Handlungskategorien dienen als »Prüfkriterien«. Verstoßen ökonomische Theorien gegen die logischen Kategorien des menschlichen Handelns, sind berechtigte Zweifel an ihrer Richtigkeit anzumelden. Verkürzt gesprochen: Theorien, die nicht im Einklang mit den logischen Handlungskategorien stehen, sind als falsch einsehbar (und zwar ohne dass man die Theorien in der Praxis erst ausprobieren muss). Beispielsweise wäre eine ökonomische Theorie, die zeitloses menschliches Handeln annimmt, handlungslogisch unsinnig (und auch realitätsfern).16 Mit etwas mehr verbal-logischem Aufwand ließe sich beispielsweise die Theorie als unzutreffend zurückweisen, dass das Ausweiten der Geldmenge »neutral« ist (in Bezug auf die Verteilungsfolgen). Auf handlungslogischem Wege lässt sich zudem zeigen, dass der Sozialismus nicht funktionieren kann; oder dass die Ausgabe von ungedecktem Geld Wirtschaftsstörungen hervorbringt.
(2) Geschichtsdeutung. – Vergangene menschliche Handlungen, menschliche Geschichtsepisoden, müssen unter Zuhilfenahme von Theorien erfasst und gedeutet werden. Dafür sind in der Regel viele Erkenntnisbausteine erforderlich: beispielsweise die Physik, Biologie, Psychologie, aber natürlich auch die Erkenntnisse, die sich aus der Logik des menschlichen Handelns ableiten lassen. Die Deutung geschichtlicher Ereignisse bedarf so gesehen der Methode des Verstehens. Wer die Methode des Verstehens anwendet, muss darauf achten, dass die Deutung und die Erklärung des vergangenen menschlichen Handelns nicht im Widerspruch stehen mit den naturwissenschaftlichen Erfahrungen und den apriorischen Erkenntnissen, die sich aus der Logik des menschlichen Handelns gewinnen lassen.
(3) Folgeabschätzung. – Die Logik des menschlichen Handelns zeigt die qualitativen (nicht aber quantitativen) Folgen des Handelns auf. Sie kann allerdings nichts darüber sagen, wie künftig gehandelt wird. Wenn beispielsweise die Geldmenge in der Volkswirtschaft erhöht wird, so führt das notwendigerweise dazu, dass die Güterpreise höher ausfallen und die Kaufkraft des Geldes abnimmt – im Vergleich zu einer Situation, in der die Geldmenge nicht ausgeweitet wird. Ob aber die Geldmenge künftig erhöht wird – ob die Zentralbankräte und die Geschäftsbanken die Geldmenge tatsächlich ausweiten werden –, eine solche Prognose geht über die handlungslogische Erkenntnis hinaus.
Die bis hierher vorgetragenen Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt in den erkenntnistheoretischen Problemen genommen, die aus der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode in der Ökonomik erwachsen. Die erkenntnistheoretischen Probleme lösen sich jedoch auf, wenn die Volkswirtschaftslehre nicht als Erfahrungswissenschaft, sondern als apriorische Handlungswissenschaft konzeptualisiert wird – und das ist, wie hier aufgezeigt, mit logischen Mitteln, in widerspruchsfreier Weise, möglich. Als apriorische Handlungswissenschaft gewinnt die Volkswirtschaftslehre ihre Erkenntnisse erfahrungsunabhängig durch Rückgriff auf die Logik des menschlichen Handelns. Sie erzielt ihre Erkenntnis also nicht aus der Erfahrung, und sie überprüft den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis auch nicht mittels Erfahrung.
Die apriorische Handlungswissenschaft entfaltet die logischen Implikationen, die aus der nicht widerlegbaren Erkenntnis stammen, dass der Mensch handelt. Spricht man der Volkswirtschaftslehre apriorischen Charakter zu, hat das für ihr heutiges Selbstverständnis weitreichende Folgen. Wer die Volkswirtschaftslehre als apriorische Handlungswissenschaft konzeptualisiert, muss beispielsweise bestreiten, dass sich die Methode der Mathematik im Bereich des menschlichen Handelns sinnvoll anwenden lässt;17 und er wird auch so manche hochangesehene Theorie infrage stellen oder zurückweisen müssen. Wie lässt sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Theorie der Rationalen Erwartungen (TRE) beurteilen, wie sie von John F. Muth (1930–2005) im Jahr 1961 vorgelegt und vor allem von Robert Lucas Jr. (*1937) in der modernen Makroökonomik weiterentwickelt wurde?18
Die TRE besagt, dass die Marktakteure (i) Kenntnis über das Funktionieren der Volkswirtschaft haben; (ii) dass sie über alle relevanten Informationen verfügen, die das wirtschaftliche Geschehen bestimmen; und dass sie (iii) die Häufigkeitsverteilung der künftigen Ereignisse kennen, dass sie also keine systematischen Erwartungsfehler begehen, beziehungsweise dass der Erwartungswert des stochastischen Störterms (die Abweichung zwischen dem erwarteten Wert einer Variablen und dem sich tatsächlich einstellenden Wert der Variable) null ist. Doch so populär die TRE auch ist, aus handlungslogischer Sicht ist sie mehr als fragwürdig, und zwar aus (mindestens) drei Gründen: (1) Wenn man annimmt, dass die Handelnden die Häufigkeitsverteilung künftiger Ereignisse bereits heute kennen, so bedeutet das, dass sie bereits heute über eine umfassende Liste aller künftigen Handlungen verfügen. Sie müssten schon heute beispielsweise alle künftigen Nachfragewünsche, Technologien, Produzenten und Produkte kennen; und sie müssten heute wissen, wie die Nachfrager und Anbieter künftig handeln – sonst könnte man ja heute keinerlei Wissen über die relative Häufigkeitsverteilung künftiger Handlungsergebnisse haben. Doch solch eine Liste gibt es nicht, und es kann sie auch nicht geben. Denn gäbe es sie, wäre das künftige menschliche Handeln schon heute bekannt, und Handeln würde unmöglich – und das ist etwas, was sich nicht widerspruchsfrei denken lässt. (2) Selbst wenn man annimmt, dass man die Zukunft vorhersagen kann (und dabei einem Zufallsfehler mit Erwartungswert von null unterliegt), so würde das bedeuten, dass alle Handelnden den gleichen Wissensstand haben; ansonsten wäre ihr Erwartungsfehler nicht zufällig, sondern systematisch. Das Wissen ist jedoch nicht gleich verteilt zwischen den Handelnden – und allein schon der Versuch, diese Aussage zu verneinen, bezeugt die Richtigkeit dieser Aussage. (3) Die TRE unterstellt, dass die Handelnden nicht lernfähig sind – das folgt direkt aus der Annahme, man kenne die künftigen Handlungen schon heute. Doch das ist, wie weiter oben deutlich wurde, handlungslogisch falsch: Lernfähigkeit lässt sich aus logischen Gründen nicht verneinen. Kurzum: Die TRE ist auf Basis der Handlungslogik als inkonsistente Theorie zurückzuweisen.
Die inhaltliche Auseinandersetzung um die angemessene, die »richtige« wissenschaftliche Methode in der Volkswirtschaftslehre ist keine abstrakte akademische Fingerübung. Sie hat unmittelbare Bedeutung für die (politische Unabhängigkeit der) Forschungspraxis. Man denke nur einmal an den Fall, in dem eine politische Partei eine (für manche Ohren) wohlklingende Theorie vorlegt: »Wenn die Produktionsmittel verstaatlicht werden, dann steigt der Wohlstand für alle.« Ein Ökonom, der konsequent dem Kritischen Rationalismus folgt, kann keine prinzipiellen Bedenken gegen die »mögliche Richtigkeit« dieser – handlungslogisch als falsch einsehbaren – Theorie anmelden. Er muss vielmehr – will er nicht als »fortschrittsfeindlich«, als »starrsinnig« gelten – zustimmen, dass die Theorie in der Praxis ausprobiert wird, denn nur so lässt sich ihr Wahrheitsgehalt überprüfen.
Und je süßer die Verheißung zu sein scheint, die eine Theorie in Aussicht stellt, desto größer fällt natürlich auch der politische Druck aus, die Theorie in die Tat umzusetzen. Wohin das führt, lässt sich leicht absehen: Die Gesellschaft wird zum großangelegten Versuchslabor, gerät in den Würgegriff der Sozialplaner und politischen Eiferer, die mit der Freiheit des Individuums wenig oder gar nichts anfangen können.
Damit sind wir am Ende des ersten Kapitels angelangt. Es kann hoffentlich einen konstruktiven Beitrag leisten, indem die Kritik an der modernen Volkswirtschaftslehre aufgenommen und sie auf ihren fundamentalen Ursprung gelenkt wurde: auf die Frage nach der richtigen, nach der gut begründeten wissenschaftlichen Methode in der Volkswirtschaftslehre. Diese Frage verdient allergrößte Aufmerksamkeit. So erscheint es passend, mit einem Zitat von Carl Menger (1840–1921) zu schließen: »Der Fortschritt unserer Wissenschaft findet gegenwärtig sein Hemmnis in der Herrschaft irrthümlicher methodischer Grundsätze.«19
»Wo man am meisten drauf erpicht, grad das bekommt man meistens nicht.«
Wilhelm Busch
Antikapitalisten stehen dem Eigentum skeptisch, relativierend oder auch feindselig gegenüber. Ist diese Position gut begründet? Für eine Antwort müssen wir uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, wie sich Eigentum (im wirtschaftlichen Sinne) an Gütern erwerben lässt. In einer freien Marktwirtschaft geschieht das auf drei – und nur drei – nicht-aggressiven Wegen, und die sind: (1) Inlandnahme von bisher nicht anderweitig beanspruchten Naturressourcen (»Homesteading«), (2) Produktion, also die Erzeugung von Gütern durch eigener Hände Arbeit, und (3) freiwilliger Tausch (einschließlich Schenkungen). Im Gegensatz dazu steht die aggressive, die gewalttätige Aneignung von Eigentum: Menschen eignen sich Sachen an, indem sie Eigentumsrechte anderer verletzen wie zum Beispiel durch Raub, Unterschlagung, Veruntreuung, Erpressung und so weiter.
Das Eigentum – verstanden als das Eigentum am eigenen Körper (Selbsteigentum) und an den Gütern, die auf nicht-aggressivem Wege angeeignet wurden – ist keine von Menschen willkürlich in die Welt gesetzte Institution. Existenz und Notwendigkeit von Eigentum sind vielmehr (handlungs-)logisch fest begründet. Das Eigentum lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen. Eigentum zu verneinen oder gar aus der Welt verbannen zu wollen – wie es die Sozialisten, aber auch so mancher Antikapitalist es sich wünscht –, verursacht einen logischen Widerspruch und ist damit im wahrsten Sinne des Wortes falsch. Diese wichtige Einsicht verdient genauer begründet zu werden, und zwar mit der Logik des menschlichen Handelns.
Mit der Logik des menschlichen Handelns ist nicht gemeint, dass Menschen sich immer und überall logisch verhalten. Vielmehr entfaltet die Logik des menschlichen Handelns die logischen Erkenntnisse, die sich aus dem Satz »Der Mensch handelt« ableiten lassen. Mit dem Satz »Der Mensch handelt« ist zunächst einmal ganz allgemein gemeint, dass der Handelnde einen Zustand durch einen anderen Zustand, den er als vergleichsweise vorteilhafter einstuft, ersetzt.
Der Satz »Der Mensch handelt« klingt zunächst recht trivial. Doch er ist – wie bereits in Kapitel 1 ausgeführt – von besonderer erkenntnistheoretischer Qualität: Er lässt sich nicht vereinen, ohne dass man dadurch einen intellektuellen Widerspruch verursacht. Wer sagt »Der Mensch kann nicht handeln«, der handelt und setzt damit das, was er verneint, als gültig voraus. Wir haben es hier also mit einer wahren, einer apodiktischen Erkenntnis zu tun. Aus dem wahren Satz »Der Mensch handelt« lassen sich weitere wahre Erkenntnisse ableiten.
Handeln zielt auf das Erreichen von Zielen ab. Das lässt sich widerspruchsfrei nicht verneinen – denn das liefe auf ein zielorientiertes Handeln hinaus. Für das Erreichen von Zielen muss der Handelnde Mittel (Güter) einsetzen. Mittel sind notwendigerweise knapp (sonst wären sie keine Mittel, und man müsste sie nicht bewirtschaften). Zeit ist ein unverzichtbares Mittel, das der Handelnde einsetzen muss. Ein zeitloses Handeln lässt sich nicht denken, denn dann wären die Ziele sofort und unmittelbar erreicht, und der Handelnde könnte nicht handeln – aber das wäre ein logischer Widerspruch.
Weil Handeln stets den Einsatz von Zeit erfordert, wird der Handelnde eine frühere Erreichung seiner Ziele einer späteren Erreichung vorziehen. Darin kommt die Zeitpräferenz zum Ausdruck, und deren Manifestation ist der Urzins. Er besagt, dass ein gegenwärtig verfügbares Gut einem Gut (von gleicher Art und Güte und unter gleichen Bedingungen), das erst künftig erhältlich ist, vorgezogen wird. Zeitpräferenz und Urzins sind aus handlungslogischen Gründen immer und überall positiv, sie können nicht verschwinden, nicht auf null fallen oder gar negativ werden.
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