Copyright Text © Roland Steinle 2017
Alle Rechte vorbehalten.
Coverbild: Thomas Cole, The Course of Empire – Destruction, 1836
(Public Domain)
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7431-7237-1
„Keep calm and carry on“
Text eines Propagandaposters der britischen Regierung von 1939
Zur Handhabe dieses Buches:
Dieses praxisorientierte Buch bietet eine umfassende und verständliche Anleitung zur Krisenvorbereitung und -bewältigung. Vom frühzeitigen Erkennen echter Krisen über die Pflege eines krisenresistenten Lebensstils bis hin zu konkreten Aspekten wie Tauschmittel, Waffen, Evakuierung und Vorratsmanagement werden alle relevanten Themen angesprochen.
Unter Krise werden alle Ereignisse oder Ereignisketten verstanden, deren Folgen die Grundlagen unseres Alltags nachhaltig verändern. Eine neue, revolutionäre Technologie beispielsweise führt zu einem ebenso krisenhaften Umschwung der persönlichen Alltäglichkeit wie ein Krieg oder eine schwere Krankheit. Nicht jede Krise ist per se negativ, nicht jede Veränderung positiv.
Das zentrale Moment der Krise ist ihre Wirkung auf die individuelle Lebenswirklichkeit. Dementsprechend muss die erfolgreiche Krisenvorbereitung auf der körperlichen und psychischen Ebene ansetzen und mit konkreten Maßnahmen und Verhaltensweisen im Hinblick auf spezifische Krisenformen wie Naturkatastrophen oder politische und soziale Umwälzungen enden. Weiterhin muss ein Gespür für verborgene-echte und offene-falsche Krisen entwickelt werden.
Die allgemeine Krisenvorbereitung wird im ersten Teil abgehandelt.
Konkrete Maßnahmen und Verhaltensweisen finden sich im zweiten Abschnitt.
Die Zusammenhänge von Krise, Individuum und Gesellschaft erarbeitet der abschließende Teil des Buches.
Am Ende jedes Themenkomplexes findet sich eine Zusammenfassung mit den wesentlichen Ergebnissen.
Die Theorie schmeckt trocken – ich weiß das. Trotzdem ist sie notwendig. Das Verstehen steht vor dem Tun, das Sehen vor dem Verstehen. Ohne ein Problem als solches erkannt zu haben, haben wir keine Chance es zu verstehen; es taucht in unserem Erfahrungshorizont schlichtweg nicht auf. Und ohne einen Begriff, ein Verständnis von einer Sache zu besitzen, können wir uns nicht angemessen ihr gegenüber verhalten, bzw. unser Verhalten dem Sachverhalt an-messen, an-passen. Anpassung aber ist essentiell, um eine Krise zu überleben. Sie können alle Handgriffe eines Mechanikers gelernt haben und sämtliche notwendigen Werkzeuge besitzen, aber ohne ein Verständnis davon, wie ein Motor als Gesamtkonstrukt funktioniert und welche Aufgabe die einzelnen Teile erfüllen, werden sie ihn nicht reparieren können.
Auf der anderen Seite hilft die reine Theorie auch nicht weiter, wenn die entsprechenden Fähigkeiten und Ressourcen fehlen, die ihre Anwendung in der Praxis ermöglichen. Man braucht also beides, Wissen und Können, um sich einem lebenspraktischen Problem wie der Krise, gleich welcher Art sie denn sei, stellen zu können.
Wenn Sie also den dritten Teil dieses Bändleins überlesen wollen, ist das übrigens völlig in Ordnung. Ich werde in dem nun folgenden, praktischen Abschnitt immer wieder erklären, warum ich bestimmte Handlungsweisen empfehle, ohne dabei jedoch in die Tiefe zu gehen. In die Tiefe geht der angehängte theoretische Teil.
Das Ziel dieses Abschnitts ist es: 1. die Krise vorzeitig an bestimmten Merkmalen zu erkennen, und 2. sich vorzeitig und fundamental auf sie vorzubereiten. Dies bedeutet nicht, Vorräte anzulegen – das kommt zum Schluss –, sondern geistig und körperlich fit zu sein und diejenigen Fähigkeiten und Kompetenzen erworben zu haben, die ein Überstehen krisenhafter Umstände erleichtern.
Wir streben an, Krisen aller drei Klassen zu bewältigen. Welche Krisen sind dies? Worauf müssen wir uns vorbereiten?
Krisen 1. Klasse greifen die Befriedigung der Grundbedürfnisse 1. Klasse an; dies sind jene Grundbedürfnisse, deren Nicht-Befriedigung das unmittelbare Überleben des Einzelnen bedroht. Beispielsweise: Nahrung, sauberes Trinkwasser, Schutz vor Witterungseinflüssen (Bekleidung, Wohnung), Krankheiten usf.
Krisen 2. Klasse greifen die Integritätssphäre jener Grundbedürfnisse an, deren Stillung das psychische Wohlbefinden gewährleistet: Ruhe, Ansprache, Erholung, Hoffnung, weitestgehende Angst- und Stressfreiheit. Ist die Integrität dieser Sphäre gewährleistet, steht der Weitergabe des Lebens nichts mehr im Wege. Der Wille und die Möglichkeit Nachwuchs erfolgreich aufzuziehen ist Indikator für eine intakte 2. Integritätssphäre.
Die ersten beiden Integritätssphären sind stark biologistisch-individuell geprägt. Es geht um das physische Überleben des Individuums (1) und um die Bedingung der Möglichkeit Nachkommen zu zeugen und aufzuziehen (2). Sind diese Sphären intakt, überlebt die Spezies Mensch, wenn auch auf einem dem tierischen Dasein sehr ähnlichem Niveau. Wenn wir uns ein pelzbekleidetes Rudel Homo Sapiens in einer Höhle vorstellen, haben wir ein adäquates Bild davon, was die ersten beiden Integritätssphären für uns bedeuten.
Auf die Krisen 3. Klasse legt dieser Teil einen eindeutigen Fokus. Die Krisen, die den sozialen Raum betreffen, also alles das, was wir unter den Begriffen Zivilisation und gesellschaftliches Leben zusammenfassen können, sind zwar für sich genommen meist weniger gefährlich für den Einzelnen als sagen wir eine Krebserkrankung oder ein Hurrikan. Trotzdem ist die Beschäftigung damit wichtig, weil sämtliche weiterreichende Krisen der 1. und 2. Klasse auch den sozialen Raum erfassen und dort potenziert werden können. Zudem existiert eine lange Reihe von Krisen, die exklusiv im sozialen Raum entstehen, bzw. von jenem getragen werden und von dort bis in das Leben des Einzelnen hineinreichen.
Die beste Krisenbewältigungsstrategie ist die schlichte Vermeidung krisenhafter Situationen. Darum sollte jede Krisenbewältigungsstrategie diese Schritte verfolgen:
1. Frühzeitiges Erkennen, um frühzeitig auszuweichen.
2. Pflege eines krisenfesten Lebensstils, um mögliche Angriffsflächen zu minimieren.
3. Konkrete Vorbereitung auf bestimmte Krisentypen wie Naturkatastrophen usf.
Dieser Dreischritt betrifft die Krise selbst. Ein vierter Schritt vollendet die Vorbereitung, da er über die Krise hinaus in den Post-Krisen-Raum schreitet und sie damit bewältigt. Ich spreche von der zügigen Anpassung an durch die Krise veränderten Lebensbedingungen.
Jeder Mensch ist über die Dauer seines Lebens notwendig einer ganzen Reihe teils sehr schwerer Krisen ausgesetzt. Man kann sagen, dass das ganze Leben eine Abfolge größerer und kleinerer Krisen ist, bzw. eine andauernde, phasenweise Krise. Das ist nichts Schlechtes. Wir wachsen an Widerständen, werden stärker, klüger usf. Manchmal aber ist uns die Krise über. Dann beginnt sie unser alltägliches Leben negativ und nachhaltig zu beeinflussen. Im schlimmsten Fall vernichtet sie uns vor der Zeit.
Krisen habe ich als Ereignisse oder Ereignisketten definiert, die unser alltägliches Leben auf Dauer zu beeinflussen im Stande sind, d.h. die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse nachhaltig und auf Dauer beeinträchtigen. Eine Erkältung, die uns zwingt, der Arbeit fernzubleiben, ist noch keine Krise. Das Altern, der langsame Verfall unseres Körpers dagegen schon. Auch ein Finanzcrash erfüllt dieses Kriterium (Vernichtung von Sparguthaben, Arbeitsplätzen), wenn auch nicht unbedingt auf globaler Ebene. Dieser Abschnitt will auf die Krise in ihrer Gesamtheit, aber in individueller Perspektive vorbereiten.
Im Folgenden unterscheide ich zwischen Krisen, die exklusiv Privatleben und solche, die den sozialen Raum betreffen/ bzw. dort entstehen und durch ihn ins Privatleben hinein wirken.
Private natürliche Krisen manifestieren sich meist in körperlich signifikanten Ereignissen oder Zuständen wie etwa Krankheit, Schwangerschaft, Alter oder in psychisch auffälligen Ereignissen oder Zuständen wie die Pubertät, Mid-Life-Crisis usf., mit denen man im Laufe seines Leben mehr oder weniger häufig mehr oder weniger intensiv konfrontiert wird. Ihnen begegnet man am besten präventiv durch ausgewogene, vernünftiger und gesunde Lebensführung. Ein maßvoller Lebensstil beugt Krankheiten vor. Ein möglichst stress- und sorgenfreier Alltag ist gut für die psychische Stabilität. Die beste Krisenvorbereitung entzieht den Gefährdeten (Person oder sozialer Raum) vor Eintritt der Krise ihrem Wirkungsbereich. Präventive Maßnahmen, aktiv und passiv, sollten 90% der Krisenvorsorge ausmachen. Wir werden deswegen immer wieder auf Aspekte und Verhaltensweisen hindeuten, die nicht nur für die konkrete Krisenvorbereitung sinnvoll sind, sondern die Härten des Lebens insgesamt abfedern. Es ist beispielsweise für jeden Menschen empfehlenswert auf körperliche Fitness zu achten. Ein „fitter“ Körper ist gesünder und kommt mit Erkrankungen und Entbehrungen besser zurecht. Ein „fitter“ Geist ist ausgeglichener, stressresistenter, zudem vermag er Sachverhalte schneller und präziser zu beurteilen – ja, auch denken kann man lernen und üben.
Was die jeweils in den Blick genommenen Krisengestalten selbst angeht, konzentrieren wir uns auf solche, die den sozialen Raum betreffen oder von ihm ausgehen.
Unter Krisenvorbereitung verstehe ich weiterhin nicht die akribische Vorbereitung auf einen speziellen Fall, der vielleicht nie eintritt, sondern ein grundsätzliches, flexibles Bereitsein für eine Fülle möglicher Ereignisse und Szenarien. Flexibilität ist essentiell: Wer flexibel reagieren kann, kann fast jeder Krise entkommen, bzw. seine Chancen, sie zu überstehen, bedeutend erhöhen. Flexibilität setzt Wissen voraus. Die meisten und schwersten Krisen sind nicht etwa punktuelle Ereignisse wie Naturkatastrophen, sondern langfristige Wandlungen des gesamten sozialen Raums wie etwa Wertekrisen oder technologische Paradigmenwechsel. Diese kündigen sich mehr oder weniger subtil an. Man kann sie vor- und daher rechtzeitig erkennen, wenn man bereit ist, außerhalb der sozialen Narrative zu denken und außerhalb des common sense, des heideggerschen Man, der Konvention usf. zu agieren.
Bereits kurze Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 emigrierten die ersten Juden. Abgesehen von einer gewissen Rhetorik und einer feindseligen Stimmung im Land hatten jene zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu befürchten. Leib, Leben und auch die wirtschaftliche Entfaltung verblieben unangetastet. Doch das Menetekel glühte schon an der Wand. Es ist menschlich und verständlich, dass man die Fundamente der eigenen Existenz, das Geschäft, den Beruf, die Freunde, die Familie, die Heimat usf. nicht einfach auf Verdacht herausreißt und sich selbst entwurzelt, um dann in einer ungewissen Fremde einer ungewissen Zukunft entgegenzuleben. Trotzdem genügte manchem bereits der Verdacht, die Ahnung, um auszuwandern, d.h. sich der Krise vorzeitig zu entziehen. Man kann in ihrem Fall nicht einmal wirklich von Flucht sprechen, eher von einem geordnetem Rückzug, mit dem Ziel, zurückzukehren, sobald die Gewitterwolke des Nationalsozialismus sich wieder verzogen haben würde. Leider kam es anders. Die Krise entfaltete ihre schreckliche Kraft und mündete in einer Tragödie unvorstellbarer Dimension. Jene, die frühzeitig auf die Schrift an der Wand reagierten, die dem Verdacht glaubte, die auf ihr Bachgefühl hörten wurden gerettet. Sie erlitten vergleichsweise geringe Verluste. Ihr Weggang vollzog sich geordnet und planvoll. Jene „frühen“ Exilanten halfen aber nicht nur sich selbst. Sie wurden auch zum Anlaufpunkt und Rettungsanker für viele ihrer „späteren“ Brüder und Schwestern, die in den Jahren danach unter weit größeren Entbehrungen fliehen mussten.
Ein Großteil erfolgreicher Krisenvorbereitung liegt im rechtzeitigen Erkennen der Gefahr. Feind erkannt, Gefahr gebannt – sagt ein altes Soldatensprichwort.
Neben der Krisenvorbereitung im privaten und sozialen Raum ist das Verhalten während einer konkreten Krise des sozialen Raums ein weiterer Schwerpunkt dieses Buches. Auch hier bitte ich, bei der Lektüre einen gewissen Vorbehalt zu bewahren. Ich kann und werde nicht sagen können, was beispielsweise im Falle eines Störfalls im AKW im je individuellen Fall zu tun ist, weil mir persönlich dergleichen nie widerfahren ist. Schon der Versuch dergleichen sensationsheischende Szenarien ernsthaft verhandeln zu wollen, ist unseriös; ich überlasse es anderen, sich hieran abzuarbeiten. Was dieses Buch aber leisten kann, ist, für den Krisenfall zu sensibilisieren, und Dynamiken und Umstände sichtbar zu machen, die sonst unter dem Mantel einer behäbigen Alltäglichkeit verborgen bleiben würden. Die größte Gefahr, die von einer konkreten Krise des sozialen Raums ausgeht, ist die meist unvorbereitete Population desselben. Schon ein partieller und/oder temporärer Zusammenbruch ihrer Alltäglichkeit führt zu unberechenbaren Verhaltensweisen, die oft mehr Schaden anrichten, als die eigentliche Krise – wir werden später einige Beispiel der jüngeren Vergangenheit in den Blick nehmen.
Der soziale Raum, sprich: Gesellschaft, Zivilisation usf. hat es wahrlich in sich, weil er das Leben des Einzelnen sowohl begünstigt als auch bedroht. Dieses paradoxe Phänomen hat in der Funktion des sozialen Raums für den Menschen seinen Grund. Denn die Zivilisation, die Gesellschaft in ihrer konkretesten Manifestation, der Siedlung, ist im Prinzip nichts anderes als ein künstlicher Lebensraum, in welchem die Bedürfnisse der ersten beiden Klassen bedeutend leichter erfüllt werden können. Arbeitsteilung, Solidarität, Hierarchien, Rechtswesen usf. machen das Überleben für den Einzelnen einfacher als in der unbezähmten Wildnis. Weil es dem Menschen natürlich ist, soziale Räume zu konstruieren, um in jenen ein Dasein zu gestalten, das über das rein tierische Überleben hinausreicht, ist seine Schaffung selbst ein Bedürfnis (3. Klasse).
Den Modus des Lebens eines Menschen in der Zivilisation haben wir Alltäglichkeit getauft. Die Institutionen des sozialen Raums bewahren diese Alltäglichkeit, weil in ihr und durch sie die Bedürfniserfüllung ermöglicht wird. Die Krise des sozialen Raums ist in gewisser Hinsicht das Gegenprinzip zu dieser Alltäglichkeit. Sie greift sie an, wirft sie um und versucht sie, zu verwandeln und mithin zu zerstören. Ohne die Alltäglichkeit des sozialen Raums, seine Normen, Werte und Institutionen, verliert das Leben in ihm jeglichen Halt. Es driftet ab in Sinnlosigkeit und Chaos – je nachdem wie und wo die Krise zugeschlagen hat.
Krisen, die den sozialen Raum betreffen, sind Krisen 3. Klasse. Wir haben sie unterschieden in Krisen der natürlichen Umwelt wie Naturkatastrophen oder Ressourcenmangel, politische und /oder soziale Krisen wie Krieg, Revolutionen oder ethische Paradigmenwechsel und moralische oder Wertekrisen, das sind solche, die die Daseinsberechtigung des sozialen Raums selbst, seine geistigen und traditionellen Fundamente – nicht einzelne Normen – in Frage stellen.
Der primäre Schutzreflex des sozialen Raums ist die Leugnung der Krise um willen des Erhalts der je in ihm gelebten und vorherrschenden Alltäglichkeit nebst ihrer gedanklichen Fundamente. Im sozialen Raum wird daher selten über echte Krisen gesprochen. Man zieht es vor, über Fern- und Fernstliegendes zu reden. Der Grund für die konstante Leugnung der Krise liegt auf der Hand: Bereits das Thematisieren der Krise kann zu Konsequenzen für die Alltäglichkeit führen. Schlafende Hunde weckt man nicht, lautet die Devise, die zugleich vollkommen richtig und katastrophal falsch ist. Die Verunsicherung der Menschen führt zu irrationalem Verhalten und im Extremfall zu unnötiger Panik. Ein klassisches Beispiel hierfür wären sog. Bank Runs. Darum ist das Leugnen, bzw. Verschweigen der Krise durchaus und in den meisten Fällen sinnvoll. Viele vermeintliche Krisen entpuppen sich zudem als harmlos, sind also falsche Krisen.
Was echte Krisen betrifft, ist das gleiche Verhalten des sozialen Raums natürlich hochgradig gefährlich und kontraproduktiv. Nur wenn die Krise zum Bewusstsein gekommen ist, kann sich der Einzelne ihr entgegenstellen, Vorsorge treffen oder ihren Folgen rechtzeitig ausweichen. Insofern ist der erste Schritt der Krisenbewältigung ihr frühzeitiges und sicheres Erkennen.
Echte Krisen sind solche, die die Alltäglichkeit einer Integritätssphäre nachhaltig zu verändern in der Lage sind. Echte Krisen werden meist verschwiegen, geleugnet oder marginalisiert.
Falsche Krise sind solche, die vorgeben echte Krisen zu sein, ohne aber deren Bedrohungspotential zu besitzen. Falsche Krisen erzeugen Angst und Verunsicherung, die ihrerseits wiederum das Potential haben, sich zu echten Krisen zu entwickeln.
Beispiele für echten Krisen sind: Zunahme psychischer Erkrankungen in der 1. Welt, Abnahme der Fertilität, Zunahme von Allergien, die Abnahme des Nährstoffgehalts von Obst und Gemüse, Energieversorgung, Bildung, neue multimediale Technologien.
Beispiele für falsche Krisen sind: Praktisch sämtliche Krisen, die den Finanzsektor betreffen, Veränderung der Sprache, Verwandlung der kultureller und religiöser Doktrinen usf.
Wie erkennt man frühzeitig das Herannahen einer echten Krise, also einer solche, die die Alltäglichkeit des sozialen Raums (Bedürfnissphäre 3. Klasse) und/oder der ersten beiden Integritätssphären (Bedürfnissphären 1. + 2. Klasse) zumindest potentiell beeinträchtigen kann? Die Zeitung und die Nachrichten sind hier denkbar schlechte Ratgeber. Nicht, dass die journalistische Leistung der Medienlandschaft in Frage gestellt werden muss, aber der Fokus der Berichterstattung liegt doch eindeutig auf der Beschreibung der bestehenden und zu schützenden Alltäglichkeit, nicht aber auf der Möglichkeit ihrer reellen Auflösung.
Die Sprache einer heraufziehenden Krise gleicht in gewisser Hinsicht einem Geheimcode, etwas, das zwischen den Zeilen steht und einer Entschlüsselung bedarf, eine Stimmung, ein Gefühl.
Ein tagesaktuelles Beispiel zur Verdeutlichung: Man spricht gerade viel über die sog. Flüchtlingskrise. In Wahrheit haben wir es hier mit zwei falschen Krisen des sozialen Raums zu tun, nämlicher einer falschen sozialen und einer falschen politischen. Die echte Krise, die bezeichnenderweise mit der Flüchtlingsproblematik überhaupt nichts zu tun hat, ist dagegen eine Wertekrise. In dieser Wertekrise ist die Flüchtlingsthematik ein Narrativ, ein Schlüsselbegriff. Steigen wir etwas tiefer in das Beispiel ein, denn in und an der Praxis lernt es sich ungleich leichter.
Millionen von Menschen wandern in die wohlhabenden Gesellschaften Europas ein auf der Suche nach einem besseren Leben oder auf der Flucht vor Armut/Krieg. Treffen Menschen unterschiedlicher Kulturen (d.h. anderen Sitten, anderer Sozialisation, anderer Sprache usf.) in einem abgeschlossenem sozialen Raum aufeinander, kommt es notwendig zu Reibungen. Diese Reibungen führen historisch betrachtet in der Folge zur wechselseitigen Anpassung der Bevölkerungen. Dieser Prozess dauert meist mehrere Generationen, bis er vollständig abgeschlossen ist. Als Franke hege ich gegen die Bayern, deren Königreich meine Heimat von Napoleons Gnaden einst einverleibt wurde, keinen Argwohn mehr. Ich würde sogar eine Bayerin heiraten, wäre ich nicht schon mit einer Rheinländerin verheiratet... Diese normalen Reibungen bilden nun den Rahmen der ersten beiden falschen Krisen, in deren Spannungsfeld die Flüchtlingskrise gemeinhin betrachtet wird. Die Gegner der Migrationsbewegung stellen deren negative Folgen heraus. Angst leitet sie meist mehr als Fakten. Die Gegenseite, die Pro-Flüchtlings-Bewegung, konzentriert sich dagegen auf das Leid der Fliehenden und die eigene moralische und politische Verantwortung in dieser Sache. Der Rekurs auf das Leid der Fliehenden zeigt eine Krise der eigenen Moral an, der nur durch bedingungslose Hilfsbereitschaft begegnet werden kann. Faktisch haben beiden Gruppen, geblendet von der Alltäglichkeit des sozialen Raums, seines Jargons, seiner Wirklichkeitskonzeption, seiner narrativen Struktur usf., nicht die echte Krise erkannt, bzw. sie verschweigen oder verleugnen sie, innerhalb der die Migrationsbewegung lediglich ein Symptom darstellt. Entsprechend erkennt und behandelt der Diskurs beider Seiten nur dieses Symptom, nicht aber die zugrundeliegende Erkrankung, die echte Krise. Tagespolitik besprechen ist stets ein heißes und undankbares Geschäft – vor allem für den Philosophen, der eigentlich gar kein Interesse an der Sache selbst hat (Migrationsbewegungen und Flüchtlinge gab es immer; das ist business as usual). Interessant ist das echte Zustandekommen der echten Krise (1) und der zutreffenden Ausdeutung der sie begleitenden Dynamik (2) innerhalb unserer sozialen Wirklichkeit und darüber hinaus.
Was die sog. Flüchtlingskrise angeht, haben wir es mit einer ausgewachsenen und hochgefährlichen Wertekrise zu tun. Nicht der Zuzug Fremder ist das Wesentliche in dieser Fragestellung – immer ja ziehen die Menschen umher, siedeln sich anderswo an, vermischen sich usf. –, sondern der Wert und Bestand des Eigenen. Die Fremdheit des Fremden erzwingt das Erkennen und Bekennen dessen, was man im Gegensatz zu jenem selber ist. Der Fremde ist der Spiegel in dem man sich selbst erblickt. Die Flüchtlingskrise kulminiert demnach in dem Fragekomplex, was die eigene Individualität überhaupt ausmacht (1), welchen Wert sie besitzt (2) und ob dieser Wert überhaupt verdient, erhalten zu werden (3). Die unterschiedlichen Diskursparteien beantworten diese Frage jeweils auf Basis ihrer je eigenen Ideologie. Die anti-deutsche Linke verlangt die Abschaffung und Auflösung der sog. Volksidentität, die neue Rechte verlangt deren Wiederbelebung – für beide Gruppierungen sind die Flüchtlinge lediglich ein begrifflicher Katalysator für die eigene Argumentation. Die dritte Gruppierung bilden die politischen Institutionen, die Administration und das politische Regime des sozialen Raums. Dieser Gruppe geht es primär um Erhalt des sozialen Raums und der eigenen Macht in ihm. Entsprechend neigt die „Politik“ sich bald dieser, bald jener Denkrichtung zu, ganz so, wie es die Situation erforderlich macht. Eine vierte, jedoch absolut heterogene, oft in sich verfeindete Gruppe bilden die Migranten, die verständlicherweise frustriert von der Schizophrenie des sie aufnehmenden sozialen Raums sind, der sie einerseits begrüßt und Unterstützung zusagt, andererseits sie von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt und sie diskriminiert, bzw. ihnen sogar feindselig gegenübertritt. Erschwerend kommen noch die sprachlichen, ideologischen, religiösen und lebensweltlichen Verschiedenheiten all dieser Gruppierungen dazu. Das waren meine 2-Cent zur sog. Flüchtlingskrise.
An dieser Stelle ist nun wichtig, wie man eine echte Krise zuverlässig erkennt.
1. Echte Krisen bedrohen den Alltag bis zu dem Punkt, an dem der Alltag nicht mehr funktioniert.
Bleiben wir im Beispiel. Für mich persönlich hat die Flüchtlingskrise keinen Einfluss auf meinen Alltag. Sie bedroht weder mein Leben, noch meine psychische Gesundheit, noch meinen sozialen Raum – ich identifiziere mich mit meiner Nachbarschaft und meinem Dorf, nicht mit dem Gesamtstaat, der für mich ohnehin nur ein Abstraktum darstellt, das mir selten Briefe auf Umweltpapier mit einem Adler in der Kopfzeile schreibt. Stünde neben meinem Haus ein Flüchtlingsheim, in dem aggressive Jugendliche untergebracht wären, sähe die Sache womöglich anders aus – ich besitze hier keine eigenen Erfahrungen, die Aussagen anderer aber behandle ich gerade in diesen Zeiten mit größter Vorsicht.
Ebenfalls anders sähe die Sache aus, wenn die Kosten der Flüchtlingskrise zu zusätzlichen Abgaben führten würden, die meinen strengen Einkommensplan stark durcheinander brächten. Die Krise wäre zwar dann noch nicht lebensbedrohlich, aber in einem Fall durchaus einschneidend, würde sie doch eine massive Anpassung meiner Alltäglichkeit erforderlich machen.
2. Echte Krisen stellen die Fundamente eines sozialen Raums/einer Integritätssphäre in Frage. Sie sind nichts Vorübergehendes, das man einfach aussitzen kann wie einen Regentag. Erfolgt keine angemessene Reaktion auf die Krise, wird die Integritätssphäre, die sie befällt, irreversibel beschädigt. Eine erkannte Krebserkrankung, die die das körperliche Wohlbefinden zwar noch nicht beeinträchtigt, aber unweigerlich zum Tode führen wird, ist eine echte Krise 1. Klasse – sie bedroht das unmittelbare Überleben des Einzelnen. Impotenz ist – ich setze einen natürlichen Kinderwunsch voraus – eine echte Krise 2. Klasse – sie bedroht die Weitergabe des Lebens. Kinderlosigkeit ist eine echte Krise 3. Klasse. Sie bedroht den Fortbestand eines sozialen Raums und führt in der Folge zu individuellen Krisen der 2. und 1. Klasse.
3. Echte Krisen werden im sozialen Raum als Phantasmen kommuniziert. Der soziale Raum vermag die Krise zu leugnen oder zu verschweigen, ganz ausblenden kann er sie aber nicht, setzt doch allein schon die Leugnung ein Wissen um den Sachverhalt oder die Sache voraus, die verleugnet werden soll. Unsere Wahrnehmung ist darauf ausgelegt, Muster zu erkennen. In jeder Baumrinde, in jeder Wolke erkennen wir Figuren, Gesichter usf. Dieser Modus des Gestalten-Erkennens hilft uns, unsere Umwelt, unsere Lebenswirklichkeit in bestimmter (nicht zufälliger) Hinsicht zu verstehen, bzw. sie mit Verständnismustern wie mit einem feinen Gewebe zu umgarnen. Warum schießt ein Blitz aus dem Himmel, fragten sich die Menschen in den alten Tagen? Und in Ermangelung einer wissenschaftlichen Erklärung erfand ihr Verstand eine simple Analogie: Er projizierte ein bereits bekanntes Muster auf einen unerklärlichen Sachverhalt: Die Blitze glichen riesigen Speeren, also musste ein riesenhafter speerwerfender Mann im Himmel sein – später gab man ihm Namen, Zeus oder Thor. Die eigene Lebenswelt des Menschen legte die Welt aus und erzeugte darin den Mythos. Später folgte der monotheistische Kausalismus des Mittelalters: Alles kommt von Gott, ist von ihm verursacht, prä-destiniert. Die Vernunft deutete die Welt weiter aus. Aus dem speerwerfenden Mann im Himmel wurde eine metaphysische Größe, ein erster Beweger, ein Logos usf. Heute ist der wissenschaftliche Empirismus die vorherrschende Weise der Weltdeutung mit seinen je eigenen Mythen. Wie auch immer – wir sind gezwungen, unsere Umwelt zu beobachten und zu interpretieren, eine Verhaltensweise, die für uns Menschen überlebensnotwendig ist. So bleibt dem Einzelnen auch nicht die Krise verborgen, die – abstrakt zunächst – den sozialen Raum befällt. Dieser ist es aber, der gleichsam verbietet, die Krise in einer Weise ins Wort zu bringen, die die Alltäglichkeit des Raums stören würde. Auf der anderen Seite muss dem Einzelnen eine Möglichkeit des Ausdrucks seiner Wahrnehmung gegeben werden, da sonst allzu schnell eine Kluft zwischen individueller und gesellschaftlicher Wahrnehmung entstehen würde. Die Krise bekommt also einen eigenen Raum im sozialen Raum, ein Gefängnis, wenn man so möchte, in welchem sie gedacht und ein Stück weit auch erfahren werden kann, ohne dabei die Alltäglichkeit zu stören. Wir sprechen natürlich vom Feld des Ästhetischen, Literatur, Film und m. E. auch bildende Kunst und Musik. Jeder Roman, der auf sich hält, handelt von einer Krise. Gleiches gilt für den Film. Das antike Drama hat das Erleben der Krise in der Alltäglichkeit des Einzelnen in ganz unverhohlener Reinheit behandelt, der moderne Roman geht subtiler vor. Eine große literarische Verarbeitung einer Krise des sozialen Raums war Homer´s Ilias. Das Epos umrahmt den Untergang einer belagerten Stadt. Heute erfüllt die Krise im Film gleich unter welchem Genre es firmiert, faktisch die gleiche Funktion. Die Darstellung der Krise im Raum des Fiktiven reinigt das Individuum (Katharsis) von jener dunklen Ahnung, die von ihm Besitz ergriffen hat, jenes düstere Vorgefühl, dass die Wirklichkeit, die Alltäglichkeit in Wahrheit bedroht ist, dass das Leben trotz seiner unerschütterlich scheinenden Monotonie nur mehr einem fragilen Gefährt in unbekannten Gewässern gleicht. Die Frequenz des Auftritts bestimmter Katastrophen im fiktiven Raum repräsentiert nicht nur einen Trend, eine Mode, sondern es spiegelt die sehr realen Ängste der Menschen wider. Diese Ängste sind keineswegs Modeerscheinungen. Vielmehr sind sie die Folgen der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit des sozialen Raums und einer jenseitigen Wirklichkeit, die ihn bedroht und in Frage stellt. Ein Blick auf das Kinoprogramm kann also durchaus aufschlussreich sein, wenn der Blick das Wesentliche, das Eigentliche des Films erfasst.
Ein Beispiel: Unsere Welt wird nicht von Zombies überrannt werden. Der Zombie steht vielmehr für eine Bündel an Wahrnehmungen und hieraus folgenden Ängsten: 1. Er steht für den Fremden, der als Gefahr wahrgenommen wird. 2. Die recht homogene Zombiehorde steht für den als leblos und bedrohlich empfundenen Mitmenschen, der im Kontext eines sinnlosen gesellschaftlichen Alltags seine Individualität verloren hat und zur Masse degradiert ist.
Wichtig bei der Interpretation ist der „Blick des Idioten“, der das Wesentliche sieht (1) und den Mut – und die unverfrorene „Dummheit“ – besitzt, das Erkannte als Wirklichkeit zu akzeptieren (2) und entsprechend vorzusorgen und zu handeln (3).
Die Krisen zu sehen, ist eine Sache. Sie zu identifizieren und zu begreifen eine andere. Wir haben im vorigen Abschnitt beispielhaft den Zombiefilm analysiert, bzw. ihn auf die in ihm angesprochene Krise hin interpretiert. Dieses Auslegen der Zeichen ist schwer. Das Menetekel an der Wand glüht immer in fremden Buchstaben, die wir erst entschlüsseln müssen. Dabei können wir leicht irren, denn wir sind gewohnt, innerhalb der narrativen Systeme des sozialen Raums zu denken und zu verstehen. Die Krise aber entzieht sich diesem Narrativ, stellt es auf den Kopf, verkehrt es in sein Gegenteil. Uns bleibt zunächst nur die Ahnung, dass es jenseits unserer Lebensweise und – Wirklichkeit Alternativen gibt. Wir können sie erfühlen, aber die Mittel, sie verstandesmäßig zu fassen, fehlen uns oft. Unsere Ängste bleiben gestaltlose Schimären, Schatten, Traum- und Trugbilder.
Wenn wir der Krise effektiv entgehen wollen, müssen wir lernen, die echten von den falschen Schimären zu unterscheiden. Wir müssen wissen, was uns angreift und woher die Gefahr kommt. Wir müssen der Krise ein Gesicht, eine Gestalt geben, um ihren Fortschritt berechnen zu können.
Was früher Aufgabe des Propheten war, erledigt heute der Analyst – oft mit ähnlich zweideutigen Ausdrücken und Erfolg. Die Analyse einer Krise geht von ihren ersten sichtbaren Wirkungen aus und schließt von jenen auf die zugrundeliegende Ursache. Das tut sie gemeinhin auf Basis des sozialen Narrativs. Wir müssen dagegen lernen, wenn wir Rauch am Horizont erblicken, auf ein Feuer als wahrscheinliche Ursache zu schließen, auch wenn uns der soziale Raum eine andere Deutung präferiert. Diese Binsenweisheit aus der ersten Leerstunde Logik ist das Gegenteil von dem, was der soziale Raum in Bezug auf die Krise anbietet. Der Rauch ist hier alles, nur nicht das Feuer, sofern es ihm gefährlich werden könnte. Aber gehen wir schrittweise vor.
Nachdem wir die Krise gesehen