Gabriele Reuter

Ellen von der Weiden

Roman

 

 

 

Gabriele Reuter: Ellen von der Weiden. Roman

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-0464-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0448-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0449-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck bei Geyer, Wien, 1900. Hier nach der sechste Auflage, S. Fischer Verlag, Berlin, 1907.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

I.

Fritz Erdmannsdörfer ging auf ein paar Tage in den Harz. Er tat das zuweilen, wenn er fühlte, er müsse eine Pause machen, und so etwas fühlte er immer im richtigen Augenblicke. Nun, man war ja ein vernünftiger Mensch. Er benachrichtigte dann einfach seinen Vertreter und reiste ab. Oft wußten seine Freunde am Stammtische nicht einmal, daß er Berlin verlassen hatte, und meinten nur, er habe besonders schwere Fälle. Viel zu tun gab's immer in seiner Praxis. Aber auf die Weise hielt er die Arbeit und die Großstadt aus und behielt die Geduld bei den vielfältigen Klagen seiner Patientinnen. Und das war schließlich die Hauptsache. Ein Arzt für nervöse Frauen darf nicht selbst nervös werden.

Nun stieg er am Fuße des Brockens in den Wäldern umher. Dem alten Herrn mit der Nebelkappe hatte er schon am Tage zuvor seinen Besuch abgestattet. Hotel, Verkaufsbuden, Automaten und Plakate, die der Alte gleichgültig, geduldig auf seinem Haupte trägt, wie ein Riese den Narrentand, mit dem törichte Kinder ihn behängen, standen noch verlassen und lächerlich unnötig in dem wilden Frühlingssturme, der droben über die kahlen Höhen gebraust war. Fritz wollte weiter wandern, dem Oberharz zu, drum war er früh aufgebrochen. Der Nebel dampfte aus den Tälern und zog in langen Streifen an den Tannenbergen hin. Die Sonne stand über den Morgendünsten und begann bleich schimmernde Lichtstrahlen in das milchweiße Weben und Wogen hernieder zu senden. Am Rande der noch fahlgrünen Waldwiese blühten in kleinen Gruppen auf hohen Stengeln gelbe Schlüsselblumen. Fritz schlug einen mit halbvermoderten, feuchtglänzenden Blättern bedeckten Hohlweg ein, der sich um den Bergrücken krümmte, ihn mählich dem Gipfel näher führend. Er dachte es sich schön, auf den Klippen, die er von unten aus dem Walde hatte emporragen sehen, dem Sieg der Sonne über den Nebel zuzuschauen. Breitästige Buchen neigten sich, die Zweige prangend von spitzen, goldenen Knospen, über den Weg. Schon begann hie und da das junge Laub seine Hüllen abzuwerfen und schwankte wie fröstelnde hellgrüne Schmetterlinge an den silbergrauen Zweigen. Die überhängenden Ränder des Hohlweges waren von Wurzeln zerrissen, schwammiges, blasses, mit funkelnden Tröpfchen bedecktes Moos hing von ihnen nieder.

Fritz Erdmannsdörfer sah alles und atmete tief und freute sich. Er hatte eine stille Naturliebe immer in sich gepflegt, sie schien ihm heilsam und dienlich für den Kulturmenschen. Er überlegte, was es für ein Vogel sein mochte, den er jetzt singen hörte ... Vielleicht eine Drossel? Es gab nicht gerade viel Vogelsang hier. Der Buchenbestand wurde bald durch Fichten und Schwarztannen abgelöst, und da hauste denn nur noch der Kreuzschnabel.

Der Kreuzschnabel?

Fritz lächelte plötzlich vor Erstaunen, blieb stehen und lauschte. Mit einer langsamen Bewegung nahm er die Mütze ab.

Die Stimme einer Frau klang feierlich aus der Höhe zu ihm nieder.

 

Lobe den Herrn meine Seele,

Ich will ihn loben bis in' Tod,

Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,

Will ich lobsingen meinem Gott …

 

Fritz trat aus dem Hohlwege auf eine von grauem Steingeröll besäte steile Halde, aus welcher der Berggipfel jäh emporstieg, eine regellose Masse wild übereinander getürmter Felsenblöcke, zwischen denen gekrümmte, windzerzauste Fichten mühsam Wurzel faßten. Und oben, hoch oben auf der Granitklippe, über den weißen, durchsichtigen Nebelfetzen, die das schieferblaue Gestein umschwebten, stand das singende Mädchen und sendete seinen Jubel an die schöne Welt über Wälder und Täler in alle Fernen hinaus.

Daß es so etwas giebt! Daß einem so etwas noch begegnen kann, dachte Fritz. Er fühlte förmlich, wie sein Empfinden sich aus seinen alltäglichen Wegen aufschwang und mit einer stürmischen Bewunderung hinaufdrang zu jenen Höhen, wo das Mädchen schwindelfrei und unbekümmert stand.

Sie sah ihn nicht. Ihm dünkte es Entweihung, die Einsame zu stören.

Sie aber war still geworden und blickte ruhig um sich. Da gewahrte sie ihn auf der Halde und sandte ihm lustig einen Jodler zu, der weithin das Echo weckte.

»Holdrio – ho – ho – hoiho!« antwortete er ihr, und so spielten sie eine Weile mit ihren Stimmen wie mit Bällen, welche sie sich durch die Lüfte zuwarfen.

Es war kühler geworden, der Himmel bezog sich und bereitete sich zu einem Regentage.

»Bleiben Sie unten, bis ich komme, es ist hier nicht Raum für Zwei!« rief das Mädchen dem Manne zu.

»Soll ich Ihnen nicht behilflich sein?« antwortete er und erntete ein helles Gelächter.

Sie war im nächsten Augenblick zwischen den Klippen verschwunden. Dann sah er sie wieder auftauchen und wieder verschwinden, wie ihr Weg sie von Felsblock zu Felsblock führte. Er eilte ihr entgegen. Die Andacht war schon wieder aus seiner Seele verschwunden und hatte der Neugier und einer erstaunten Aufregung über das Klettern und Springen des Mädchens platzgemacht.

Als er ihr endlich auf halbem Wege entgegentrat, war sie nur ein blasses, fröstelndes Geschöpf, dem kurzes, schwarzes Haar, feucht und strähnig vom Nebeltau, in das farblose Gesicht hing. Sie sah ihn ein wenig spöttisch an. Den Kopf hochmütig neigend, wollte sie an ihm vorüber.

Er war irgendwie sehr enttäuscht über das Dürftige und Verfrorene ihrer Erscheinung, ließ sie gehen, wendete sich aber gleich und rief ihr nach: »Fräulein!« Und ärgerte sich zur selben Zeit, etwas so Banales zu rufen.

Sie drehte sich blitzschnell herum, zog ihr Gesicht zu, einer greulichen Fratze, machte ihm eine lange Nase und sprang, ihr Kleid zusammenraffend, eilig den Abhang vollends hinunter, wo dann der Wald sie aufnahm.

Verblüfft und gekränkt blieb Fritz stehen und sah ihr nach, obwohl er sie schnell aus den Augen verlor und nur das Knacken dürrer Zweige und das Bröckeln von Steinen unter ihrem Fuß hörte, als fliehe ein aufgeschrecktes Waldtier durch das Buschwerk ...

 

II.

Solches ist der Anfang einer merkwürdigen Geschichte, welche durch Ellen von der Weiden mit aller Ausführlichkeit in ihrem weiteren Verlaufe dargestellt werden sollte. Aber wie besagte Ellen sich die einzelnen Stationen ihrer Eilfahrt zum Glück jetzt überlegt, scheint es ihr viel zu langweilig, sie aufzuzeichnen – auch kommen sie ihr mit einem Male gar nicht mehr so merkwürdig vor – nur das Ende behält immer noch etwas sonderbar Unwahrscheinliches für sie:

Nach sechs Wochen war Ellen von der Weiden, das singende Mädchen auf der Jungfernklippe, Frau Dr. Erdmannsdörfer in Berlin.

 

* * *

 

Sie sitzt an ihrem dünnbeinigen, glänzend neuen und durchaus modernen Schreibtisch, zupft mit den Fingerspitzen an ihren Lippen und sieht durch das Fenster auf den Hof und die vielen Fenster der gegenüberliegenden Wand. Sie beginnt die Schläge zu zählen, die unten mit dumpfer Regelmäßigkeit auf einen großen Teppich niederfallen, den zwei Mägde schon seit geraumer Zeit bearbeiten, und es kommt ihr vor, als vernehme sie die Hand des Schicksals, die unaufhörlich und eintönig auf irgend ein armes, duldendes Geschöpf niederfällt. Nun eine Pause, und nun von neuem: Bum – bum – bum – bum – bum – bum ...

 

* * *

 

Himmelkreuzdonnerwetter! Ich kann das nicht länger aushalten – ich werde verrückt ...

Und dies ist das stille Zimmer des Hauses, dahin der Straßenlärm nicht dringt – »wo Du von Waldeinsamkeit träumen kannst«, sagt Fritz ...

Die Sängerin über uns beginnt ihre Koloraturen zu üben ... Ich kenne ganz genau die Stelle, wo sie stocken wird ... Ha – da – jetzt ...

Kampf und Angst so eines fremden Geschöpfes täglich mit durchmachen zu müssen – wie ihr Wille mit ihrer Schwäche ringt und doch nicht siegen kann ... Ich glaube, wenn sie zum ersten Mal glatt durchkommt, schicke ich ihr einen Blumenstrauß ...

Ach ja – Waldeinsamkeit ... Aber sei doch ehrlich gegen dich, Ellen – du konntest ja die Waldeinsamkeit auch nicht mehr ertragen – die geliebte Waldeinsamkeit ... Und so kam es, daß …

 

Brief an Fräulein Therese Leber.

 

Berlin, den 10. Juni.

Meine Thes, gestehe es nur. – Du warst enttäuscht. Ihr alle wart es. Kein zottiges Ungeheuer mit sehnsüchtigen Menschenaugen, kein schöner Förster, der das Waldhorn bläst ... Ganz simpel: Dr. Fritz Erdmannsdörfer, praktischer Arzt in Berlin. Ausgerechnet in Berlin, in der Potsdamer Straße!

Ich höre Papa noch, als Erdmannsdörfer bei ihm angehalten hatte:

»Was willst Du denn, Ellen – da paßt Du doch nicht hin. Ich habe ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, zurück in sein vom Satan der Geschmacklosigkeit besessenes Berlin.«

Und das Gesicht, als ich ihm antwortete: »Aber ich will ihn heiraten, Papa!«

Er nahm die Pfeife aus dem Munde – das vorher hatte er nur so bärenbrummig neben dem Pfeifenrohr herausgestoßen – er zog die Brauen hoch, seine schönen, sensitiven Augenbrauen, die ich so liebe – und natürlich platzte mir eine von seinen Derbheiten ins Gesicht – die ich nicht liebe und die Du ja kennst – so etwas von neugierigen Weiblein, die nicht warten können ... Und zuletzt: »Bilde Dir doch nicht ein, daß Du den liebst, Kind! Er ist ja auch viel zu alt für Dich.«

»Vierzig, Papa – das ist doch kein Alter. Ich bin auch nicht mehr so ganz jung.«

Er lachte, wie er zu meinen Dummheiten zu lachen pflegt, und dann:

»Ich denke, Du wolltest den schönen Forstgehilfen, mit dem Ihr Mädels immer Euren Jux getrieben habt?«

»Papa – dem hättest Du doch Deine Tochter nicht gegeben!«

»Lieber, wie dem Berliner!«

»Aber Papa – es war ja nur sein Waldhorn, das mir's angetan hatte – ich fürchte, er kann nicht einmal orthographisch schreiben.«

»Das kann der Herr Fritz Erdmannsdörfer freilich – wenn Dir das genügt«, brummte damals mein lieber süßer Papa in seiner bösen Laune – und jetzt ist er schon so unmäßig stolz auf seinen Schwiegersohn.

Und ich bin eine glückliche Frau, Thes ... Komisch – so rasend glücklich, wie man sich als Mädchen einbildet?

Na ja ... der Hochzeitstag und was so drum und dran hängt ist wohl für jedes Mädchen eine Enttäuschung. Man erwartet eben, man soll von der Erde gehoben und wie zu einem mystischen Gottesdienst in einen wunderbaren Tempel geführt werden. Und dann ist alles so halb lächerlich und so ganz peinlich. Ich will nicht aus der Schule schwatzen, Thes, ich bin ja nun eine verheiratete Frau.

Schule der Ehe ...! Einen Herrn Präceptor habe ich wenigstens: Fritz hält mir täglich vor, wie viel ich zu lernen habe, um ihn zufriedenzustellen.

Zum Lachen ist es aber, wenn die Leute mich hier immer aufs neue fragen: »Sie sind doch gewiß sehr glücklich, in Berlin zu sein? Der Harz bietet doch wohl wenig Anregung!«

Thes – die Frühlingsabende auf der Wiese hinter unserm alten, lieben Waldhaus – und wie das junge Laub der Birken duftete ... Und Papas Rosen in dem kleinen Gärtchen, die er mit so rührender Mühe pflegte ...

Und unsere Wälder im Rauhreif, unsere eisstarrenden Klippen, in tausend seltenen Farben schillernd –! Und wenn in Schnee und Sturm Dein Mütterchen mit dem Laternchen am Arm aus dem Dorf zu uns heraufstieg, um Papa vorzulesen, und wie dann geschimpft wurde auf die neue Richtung und die neuen Dichter und Maler! Ich möchte nur, die Berliner hätten alle miteinander so viel Geist aufzuweisen, wie Papa an einem Abend verpuffte, wenn er so recht schimpfte. ... Achtung hat man hier doch noch vor Papa, obschon niemand mehr seine Bücher kaufen will. Stellt man mich als Frau Erdmannsdörfer vor, so fügt man immer hinzu: »die Tochter vom alten Hofrat von der Weiden.« Und dann fragt man mich aus, wie es käme, daß er sich so in die Einsamkeit zurückgezogen habe. Darauf weiß ich aber keine Antwort.

Neulich hörte ich, wie eine Dame hinter meinem Rücken zu einem Herrn sagte: »Ach, lebt der noch – ich dachte, der wäre längst gestorben.«

Und der Herr antwortete darauf: »Ist er auch, meine Gnädige, ist seit fünfzehn Jahren mausetot.«

Es war ein »bekannter Kritiker«. Na freilich, die ...

Thessie, mein eigentliches Leben ist doch noch bei Euch. Hier ist alles so schemenhaft. Als wäre ich auf einer Maskerade, kommt's mir manchmal vor. Oder als müßt' ich Theater spielen, in Stuben, die nicht mir gehören, zwischen Möbeln, die nur so von fremden Leuten dahin gestellt sind. Sie riechen auch noch nach Möbelmagazin, und die Schubladen gehen nicht auf. Fritz goß neulich seine Kaffeetasse über unsere neue Tischdecke und ärgerte sich und begriff nicht, daß ich mich totlachen wollte. Sie ist ausgewaschen, aber einen Fleck hat sie doch behalten. Nun kann ich sie ruhig benützen und brauche mich nicht mehr vor ihr zu fürchten. Ja, Thes, wahrhaftig, wenn ich allein bin, habe ich Furcht vor meinen Möbeln. Sie haben so etwas Drohendes in ihrer funkelnagelneuen Pracht. Sie stehen um mich her, wie Symbole einer Existenz, mit der ich auch noch nichts anzufangen weiß. Natürlich vor meinem Dienstmädchen habe ich ebenfalls Angst. Es ist nämlich 'ne Perfekte. Denke mal – in irgend etwas perfekt zu sein! Morgens mit dem Gefühl aufwachen: ich bin eine »Perfekte«. Und abends sich mit dem Bewußtsein ausstrecken und die Augen zumachen: »Heut' war ich mal wieder »perfekt«, und morgen werde ich's wieder sein, und übermorgen auch. Eigentlich beneidenswert ... Du – ich habe eine Antipathie gegen »perfekte« Menschen. Ich freue mich ordentlich, wenn ich an Fritz einen Fehler entdecke. Genug für heut.

Thessa, Therese, Röschen meiner Seele – wann kommst Du? – Du weißt, Du hast es mir versprochen, mich im jungen Haushalte zu besuchen. Nur ganz gemeine Menschen halten ihr Versprechen nicht! Thes, wir wollen Berlin auf den Kopf stellen. – Wir beide – Berlin! Ach, Thes, Du hast Dir in Deinen schrecklichsten Träumen nichts so greulich Großes vorgestellt, wie dieses Berlin.

Aber auf Dich freue ich mich, meine kleine, niedliche, appetitliche, vergnügliche Thes! Ich freue mich! Ich freue mich! Und bring mir Buchenlaub mit und Rosen aus Papas Garten! Viele! Viele!

Deine Ellen.

 

III.

Thes muß kommen. Sie muß! Ich lasse ihrer Mutter keine Ruhe! Ich brauche sie. Ich werde verrückt vor Sehnsucht. Herrgott, der graue Hof mit den vielen Küchenfenstern und den Speisedünsten ... Fritz wundert sich, daß ich keinen Appetit habe. Wie kann ich, wenn ich seit dem frühen Morgen rieche, was all die vielen Leute in unserem Hause essen werden ... Und wenn draußen die Sonne scheint, daß das Pflaster glüht, zu mir kommt sie doch nicht herein, nur die Hitze quillt durch die niedergelassenen Jalousien und macht mich müde und übellaunig – so eine trockene, unfruchtbare Stadthitze. Und der Lärm dringt herein und tobt zudringlich mit Rasseln, Klingeln, Dröhnen, mit dem Stampfen und Trappeln der Tausende von Füßen, die täglich unter meinen Fenstern vorübereilen. Mittag, wenn der Verkehr auf seiner Höhe ist, kann ich lange stehen und zuschauen, wie die Menschenströme auf und nieder fluten ... Zuweilen unterhält es mich, aber noch öfter faßt mich eine dumpfe Furcht, ein Grauen vor der Fülle von Leben, der Fülle von Gedanken und Empfindungen – von Schicksal, das da in dem weißen, glitzernden Sonnenlichte, in bunten Farbenflecken schillernd die Straße hinauf und hinab wallt.

Kommt Fritz mittags blaß und abgehetzt aus der Klinik, so beneidet er mich, daß ich behaglich im kühlen Zimmer sitzen konnte. Dann schäme ich mich und habe ihn so lieb, und bewundere ihn um seines Fleißes und seiner Gewissenhaftigkeit willen. Das hat er gern.

In Berlin eine solche Praxis errungen zu haben – ich glaube wirklich, ich besitze einen bedeutenden Mann.

Nur manchmal versteht er mich gar nicht, weiß überhaupt nicht, was ich meine. Stimmungen und so was. Man ist sich eben doch noch sehr fremd.

In Liebesstunden, wenn mein Kopf an seiner Brust liegt, und er mir so träumerisch das Haar kraut, frage ich manchmal: »Was denkst Du jetzt?« Das kann er nicht leiden.

»Unsinn, nichts ...«

Aber ich möchte es wissen. Oder wenn's kein Denken ist, dann Empfinden. Ob seine Art, zu fühlen, ähnlich ist der meinen? Ob stärker, ob schwächer? Ob ganz verschieden?

Ach, das ist grausig – so nah' beisammen – Eins und doch Zwei. Einsam auch da. Das ist keine schöne Einsamkeit. Sie ist qualvoll.

Das muß er zum Beispiel nicht so empfinden. Sicher ist er in den Augenblicken, wo er mich küßt, glücklicher als ich. Ich möchte sagen, er genießt das wie ein sehr gutes, feines Gericht, und ich möchte immer noch etwas anderes, etwas Geheimnisvolles, Unermeßliches.

Ich frage mich immer: Fühlst du nun auch das höchste Glück, das dir zu fühlen möglich ist? Und die Angst, das Entsetzen: Wenn du's nicht fühlst, liebst du ihn nicht, wie du solltest, dann ist dein Leben verpfuscht.

Will ich ihm meine Leiden beichten, denn er muß doch wissen, wie es in mir aussieht, dann lächelt er halb verlegen, halb beschwichtigend, und sagt auch wohl: Quäle dich doch nicht, darauf kommt's ja gar nicht an.

Worauf kommt es denn nicht an?

 

* * *

 

Die Klinik! Ja, das ist ein Kapitel. Und Fritz ist so stolz auf sein Reich, daß er keine Ruhe hatte, bis ich es gesehen – ihn dort gesehen hatte.

In dem langen Leinenkittel trat er mir ganz fremd entgegen, als ich ihn am Tage nach unserer Ankunft abholte. Natürlich wollte ich vor allem ins Operationszimmer, durfte aber nicht. Fritz hielt vorsichtig den Türgriff in der Hand. Ein Mädchen trug einen Wasserkübel vorbei, in dem Stücke blutiger Watte schwammen. Ich reckte den Hals – ich mußte den Schauder ordentlich genießen. Fritz flüsterte: »Du beträgst Dich wie ein Backfisch, Ellen!« Oberin und Wärterinnen wurden mir vorgestellt; dann führte er mich in verschiedene Krankenzimmer, wo leichtere Patienten lagen. Ich wußte nicht recht, was ich mit ihnen reden sollte; lächelte möglichst freundlich. Eine bildhübsche junge Frau sah mich neugierig an. Als wir gingen, streckte sie mir die Hand nach und rief: »Ach, bitte, kommen Sie bald wieder!« Dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.

»Sie hat starkes Heimweh nach ihren Kindern«, flüsterte die Oberin, als wir draußen waren. »Des Morgens ist ihr Kopfkissen oft ganz durchnäßt von ihren Tränen.«

Fritz schüttelte den Kopf. »Ich muß sie einmal ins Gebet nehmen, so geht's nicht weiter. Wir kommen nicht vorwärts.«

»Aber Fritz, das ist doch begreiflich«, wagte ich einzuwerfen.

»Ach, Kind, der Mensch muß sich zusammennehmen.«

»Du, ich würde närrisch vor Angst, wenn ich in solcher Klinik wäre. Ganz bestimmt; ich machte Fluchtversuche.«

»Laß das meine Kranken nicht hören, Dummerchen.«

»Muß denn die Arme noch lange bleiben?«

Fritz nickte nur mit einem nachdenklichen Gesicht. Übrigens war er zerstreut, oder vielmehr, er war ganz bei der Sache und gab mir deshalb oft keine Antwort auf meine tausend Fragen. Einige Male nahm er die Oberin beiseite und redete lange mit ihr.

Er gefiel mir gut. Er hatte beinahe etwas Königliches in der ruhigen Bestimmtheit, mit der er seine Befehle gab.

Er wünschte von mir, daß ich eine Art Oberaufsicht übernehme. Himmel, ehe ich mich getraue dieser energischen Vorsteherin in irgend etwas zu widersprechen, müßte es arg kommen!

– Ach, Fritzchen, ich fürchte, Du hast doch noch Illusionen ...

Er denkt im ganzen gering von den Menschen, aber er meint immer, es läge an der falschen Erziehung.

Als ich Fritz das nächste Mal abholte, brachte ich der jungen Frau ein paar Blumen mit. Fritz war noch beschäftigt, und wir schwatzten. Sie zeigte mir die Bilder ihrer Kinder. Ihr Mann ist Direktor einer großen Maschinenfabrik – es scheint ihnen sehr gut zu gehen. Wie glücklich könnte sie sein und muß nun hier liegen.

Ich versuchte sie zu trösten.

Sie sah mich an mit einem herzzerreißenden Ausdruck in ihren schönen braunen Augen.

»Ich werde nicht gesund«, flüsterte sie mir hastig zu. »Niemals wieder. Ich weiß es. Der Herr Doktor will's mir nicht so gerade heraus sagen. Alles war umsonst, die gräßlichen Leiden – Wissen Sie, die Schmerzen sind es ja nicht allein – es ist das Seelische ... Und so weitergegeben werden – aus einer Hand in die andere ...«

Sie schüttelte sich und vergrub den Kopf in die Kissen.

Ich saß und versuchte zu begreifen, was die Frau durchgemacht haben mußte. Und begriff es.

Das zarte, feine Geschöpf. So vornehm und hilflos ...

Ich tobte innerlich. »Das würde ich nicht leiden. Lieber tragen, was der Herr einem schickt. Nur nicht das«, stieß ich heraus.

Sie wendete den Kopf und sah mich an.

»Ach – Sie sind ja noch so jung verheiratet, Sie wissen ja nicht ...« murmelte sie, und ihr ganzes süßes Gesicht verzog sich vor Schmerz. »Wenn ich nicht gesund werde, ist alles aus – alles, alles!« schrie sie plötzlich gellend heraus und begann zu schluchzen; es war gar kein Weinen mehr, es war ein tierisches Heulen.

Ich versuchte, sie in meine Arme zu nehmen, zu küssen, zu streicheln; sie aber stieß mich zurück. Ich lief nach der Klingel und läutete; die Oberin kam, machte ein sehr strenges Gesicht und fuhr die junge Frau an wie ein kleines Kind, das ungezogen gewesen ist.

Sie biß die Zähne in die Lippen, blickte die Oberin mit einem Ausdrucke von Haß, ja von Abscheu an, wurde wachsgelb in der Anstrengung, sich zu beherrschen. Es tat mir furchtbar leid, daß ich geklingelt hatte.

Die Oberin führte mich hinaus. Fritz kam. »Was war denn los?«

»Sie hat wieder einen ihrer Anfälle gehabt«, sagte die Oberin in einem Ton, als berichte sie von einer planmäßig verübten Bosheit.

Fritz seufzte. »Ich will noch einen Augenblick zu ihr.«

Er kam gleich wieder, und wir gingen schweigend die Treppen hinunter.

»Fritz, ich war ganz ohne Schuld«, begann ich zaghaft.

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte er. »Man ist da völlig ratlos. Läßt man niemanden zu ihr, so verzehrt sie die Langeweile; erlaubt man Besuch, so regt sie sich unsinnig auf. Es ist ein ganz hoffnungsloser Fall.«

»Fritz, kann sie denn wirklich nie wieder gesund werden?«

Fritz zuckte die Achseln. Er wollte nichts sagen.

»Na nun, Kind, laß uns von anderen Dingen reden.«

Ich versuchte, aber es wollte nicht gehen. Dieser wunderschöne Tag – alles funkelte vor Leben und Glanz und Farbe – es hätte können so entzückend sein, so mit seinem Schatz in der offenen Droschke Unter den Linden entlang zu fahren. Wir machten einen weiten Umweg, weil Fritz noch ein wenig Luft schöpfen wollte, fuhren durchs Brandenburger Tor in den Tiergarten. Mir war keine Freude möglich. Ich hörte fortwährend die Verzweiflungsschreie der Frau.

Ich stellte mir vor, welcher Art die Schmerzen fein mochten, die sie zu dulden hatte, und es war mir endlich, als spürte ich sie in meinem eigenen Leibe. Ich war ganz zerrüttet.

Fritz wurde ärgerlich und schalt mich.

»Wenn Dich das so aufregt, lasse ich Dich nie wieder in die Klinik. Ich will eine gesunde, lustige Frau haben, verstehst Du mich? Wozu habe ich Dich sonst aus dem Harz geholt? Hysterische Frauenzimmer hätte ich in Berlin zur Auswahl gehabt.«

Ich war beleidigt, und wir zankten uns beinahe ernsthaft. Menschliches Mitgefühl darf er mir nicht verbieten.

Kaum konnte ich die Zeit erwarten, bis er ging am andern Morgen. Dann sauste ich fort, wollte zu Frau Randells Kindern, um ihr frische Grüße zu bringen. Natürlich erst in eine falsche Pferdebahn – war froh, als ich einen Droschkenstand erreichte. Niemals werde ich diese Pferdebahnsache begreifen. Darüber soll Fritz sich nur keinen Hoffnungen hingeben.

Ein gewaltiges Haus, weit draußen im Westen, am Kurfürstendamm. Kolossale Marmorsäulen, Lorbeerbäume am Treppenaufgang, goldenes Geländer – überladen. Nun, Frau Randell hat ja das Haus nicht selbst gebaut, und ihr Mann wohl auch nicht.

Ich traf die Kinder nicht allein, eine Dame, die sich mir als Freundin des Hauses vorstellte, saß bei ihnen im Kinderzimmer und fütterte sie mit Chocolade. Davon waren sie so hingenommen, daß sie gar nichts von der Mama hören wollten. Ihr Fräulein schien etwas pikiert, als ich sagte, ich möchte Frau Randell berichten, wie es zu Hause stehe – sie schien zu meinen, Frau Randell habe mich als unbequeme Aufsicht gesendet. Ich verabschiedete mich schnell. Die elegante Frau erhob sich gleichfalls und begleitete mich hinaus. Dabei fragte sie ungemein interessiert nach Frau Randells Befinden, und wann sie wohl zurückkehren dürfe. Auch sagte sie mir viel Schmeichelhaftes über Fritz. Jedermann wundere sich, daß er nicht Universitäts-Professor werde. Aber er wolle wohl nicht fort von Berlin, und hier sei es natürlich schwer, anzukommen. Clique – alles Clique! »Ja – Sie werden noch Ihre Erfahrungen machen ...«

Die Frau hatte etwas Heiter-Blühendes. Sie gefiel mir gut und war auch so wunderschön angezogen: das Kleid ein heliotropfarbener Duft, der Schirm warf einen zarten grünen Schatten über sie hin. So etwas kann mich geradezu begeistern.

Als ich aber der Randell die Grüße von zu Hause brachte und begann, von ihrer Freundin zu schwärmen, kam wieder der schreckliche Blick in ihre Augen – sie fuhr aus den Kissen und packte meinen Arm.

»Die war da! Natürlich – sie wird wohl täglich da sein – wird schon die Zeit benutzen! Und ich liege hier und darf mich nicht rühren – muß alles gehen und geschehen lassen, bis auch die Kinder mir entfremdet werden.«

»Aber liebste Frau«, versuchte ich zu trösten, »warum machen Sie sich nur so schwarze Gedanken? Als ob es möglich wäre, Kinder mit ein paar Geschenken ihrer Mutter zu entfremden.«

Ein Ausdruck von Härte, ja von Haß trat in ihr Gesicht – es war merkwürdig, wie er die Frau verhäßlichte.

»Sie kennen Lina Mayern nicht!« sagte sie höhnisch. »Sie ahnen nicht, wie klug das Weib ihre Zwecke zu fördern weiß.«

Sie starrte vor sich hin und kam mir in dem Augenblick beinahe irre vor. Es grauste mir vor der unglücklichen Frau.

Ich nahm ihre Hand und streichelte sie sanft. Lange Zeit schien sie kaum darauf zu achten, lag regungslos. Endlich tat es ihr doch wohl gut. Sie bat mich, ihr die Arznei zu reichen, und wir plauderten dann noch ein wenig. Sie beklagte sich über die Unaufmerksamkeit der Oberin und hatte einige andere Wünsche. Ganz leicht ist sie wohl nicht zu behandeln, die arme Kranke. Sie ist von Mißtrauen beherrscht und meint, ein jeder will ihr Übles tun.

 

* * *

 

Hoffentlich hat Fritz nicht den heimtückischen Gedanken, es käme in der Ehe vor allem auf die »Führung des Haushaltes« an.

Das würde in der Tat bedenkliche Enttäuschungen geben. Am ersten Sonntag, als wir zu Mittag Gäste hatten, Fritzens Universitätsfreund Dr. Richter und den kleinen Assistenzarzt aus der Klinik, ließ die Perfekte uns denn richtig eine volle geschlagene Stunde aufs Essen warten. O, du mein Himmel ... Fritzens Stimme wurde immer schonender, immer beschwichtigender, und er fing schon an, zwischen den Zähnen zu summen. Das tut er, wenn seine Ungeduld den höchsten Gipfel erreicht hat, wenn er sich gewaltsam beherrscht, um nicht grob zu werden, weil er nämlich Heftigkeit über alles verabscheut.

Als er schließlich nur noch mit einer wahren Flötenstimme redete, es war schon halb drei, fragte ich den kleinen Assistenzarzt: »Spricht er nicht in dem Ton bei allen schweren Fällen, wo schon fast keine Hoffnung mehr ist?«

»Ach ja, gnädige Frau, und dann sagen die Patienten, der Herr Doktor ist ein Engel!«