Emil Ertl

Die Leute vom

Blauen Guguckshaus

 

 

 

Emil Ertl: Die Leute vom Blauen Guguckshaus

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vincent van Gogh, Weber, 1884

 

ISBN 978-3-7437-1052-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0988-1 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0989-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Leipzig, L. Staakmann, 1911 mit der Widmung »Meiner lieben, guten Mutter zugeeignet«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Durch die stillen Gassen bin ich wieder einmal gegangen, in denen ich meine ersten Jugendträume träumte, und durch die ganze friedliche Vorstadtgegend, wo ich geboren und aufgewachsen bin, und die ich liebe, wie man nur seine Heimat lieben kann, so unscheinbar und wenig bemerkenswert sie auch sein mag. Es war ein holder Frühlingsabend, und die sinkende Sonne spiegelte sich und glühte in den Fenstern der alten, schmucklosen Häuser, die dort noch stehen, eingezwängt freilich zwischen vereinzelten hohen und stattlichen Neubauten, sonst aber unverändert und von demselben bescheidenen Aussehen wie zur Zeit, da die Seidenweber vom Schottenfeld ihre Schütze noch aus der Hand durch die Kette warfen. Goldene Fluten warmdurchsonnter Luft ergossen sich in breiten Strömen durch die einsamen Straßen, und in ihrem verklärenden Scheine grüßten mich aus den langen Zeilen städtischer Wohngebäude auch die altvertrauten stillen Häuser, in denen meine Großeltern und deren Väter und Großväter gelebt haben, und hinter deren wenig ansehnlichen Mauern sie aus den schimmernden Fäden des Seidenspinners auf großen hölzernen Handwebstühlen kunstvolle Gewebe verfertigten, Bänder und Zeuge, schwere und leichte, glatte und gemusterte. Denn alle meine Vorfahren, so weit ich von ihnen weiß, sind Seidenweber gewesen, und alle betrieben sie, ebenso wie viele andere ihrer Zunftgenossen, ihr bürgerliches Gewerbe in dieser westlichsten und höchstgelegenen Vorstadt von Alt-Wien, auf den ehemaligen schottischen Freigründen. Alle saßen sie hier, auf diesem gewerbfleißigen Boden, in ihren Werkstätten und kleinen Fabriken, emsig nach dem Rechten sehend und wacker selbst mit Hand anlegend, durchdrungen von dem Ernst ihrer Arbeit, auf der der Segen ruhte, stolz auf ihre Kunstfertigkeit und auf ihr Bürgertum, Freunde der Ordnung und der Gewissenhaftigkeit, bodenständig wie die Bauern, eigenwillige Herren über das Ihrige. Denn die Benediktiner-Abtei zu den Schotten, der sie als Grundholden zinsten, war ihnen keine harte Obrigkeit.

Nun ruhen sie längst von ihrer Arbeit aus, draußen auf dem alten Friedhof, der in der Nähe des Schottenfeldes auf dem weiten Blachfeld der Schmelz liegt, und ihre Herzen, einst so voll von Hoffnungen und von Enttäuschungen wie die unsrigen, haben aufgehört zu sorgen und sich zu sehnen ...

Die Erinnerung, die die Tochter der Liebe und die Mutter der Treue ist, war in mir wach geworden an jenem goldnen Frühlingsabend, an dem ich nach so langer Zeit wieder die Stätte meiner Kindheit betrat, und es wurde der Wunsch in mir rege, die Hingeschiedenen zu besuchen. An ihren schlichten, ernsten Gräbern wollt' ich wieder einmal stehen, sie sollten nicht glauben, die stillen Toten, daß ich ihrer vergessen hätte. Und ich schlug die Richtung gegen die Schmelz ein.

Als ich aber an jenem alten, verträumten Hause vorüberkam, in dem zur Zeit, da ich ein ganz kleiner Junge war, meine Urgroßmutter noch gelebt, und das vor vielen, vielen Jahren den wunderlichen Namen »Zum blauen Guguck« geführt hat, da mußte ich unwillkürlich meine Schritte hemmen; denn aus einem der offenstehenden Fenster klang das eintönige Klappern eines alten Handwebstuhles an mein Ohr. Es war dieselbe Musik, die noch meine Jugend begleitet hatte, nur daß sie damals nicht aus einem Fenster, sondern aus all den vielen Fenstern der Hinterhäuser und Fabriksgebäude ertönte, die unsern Hof und Garten einschlossen. Es war die Musik, die seit den Tagen der großen Kaiserin Maria Theresia und ihres aufgeklärten Sohnes dieser fleißigen und tüchtigen Vorstadt ihr besonderes Gepräge aufgedrückt hatte, bis zu dem Zeitpunkt, wo der Großteil der Fabrikation mechanisch geworden war und allmählich in ferne Provinzorte hinaus verlegt wurde.

Und wie nun dieses einförmige und stete, unendlich schlichte und doch so kluge und freundliche Geräusch der ehrwürdigsten und vielleicht ältesten aller edleren Handarbeiten in meine Seele drang und mein Herz schwellen machte, da erwachte in meinem Innern ein leises Klingen und fröhliches Gedankenspinnen, wie die Saiten, wenn man in ein Instrument hineinruft, bedächtig widerhallen und einen langsam verschwebenden Akkord zurücktönen. Und es versanken vor meinen Augen wie mit einem Schlage die hohen, stattlichen Neubauten ringsum in den Boden, und nur die alten, treuen Häuser standen noch in den Gassen, und ich konnte in viele stille Höfe und in manchen schönen, träumenden Garten hineinsehen, zwischen dessen Gesträuchern ich ab und zu ein paar Gestalten in völlig veralteter Tracht zu erblicken glaubte, wie sie gleich nebelhaften Schemen über die Kieswege huschten und hinter blühenden Jasmin- und Fliederbüschen entschwanden.

Und als ich meinen Weg fortsetzte, da kamen mir auch die Leute, denen ich auf den Bürgersteigen begegnete, auf einmal so wunderlich altväterisch vor, und es war, als trügen manche von ihnen noch Fräcke und hohe weiße Halstücher und gemusterte Atlaswesten, und alle schritten so seltsam bedächtig und zufrieden an mir vorüber und sahen aus wie Menschen, denen alles wohlgerät, die sich nicht überstürzen, und die dabei doch etwas vom Fleck bringen.

Ich weiß nicht, wie es geschah, aber ich kam mir auf einmal wie verzaubert vor, und es muß wohl das alte Weberblut in mir in Wallung geraten sein, daß ich jetzt aus allen Häusern und aus allen Fenstern zugleich die alte, trauliche Musik der biederen Handwebstühle orgeln zu hören glaubte, wie sie vor hundert Jahren und teilweise noch in meiner Jugend diese emsigen, heute wie damals abseits von dem brausenden Verkehr der Weltstadt liegenden Gassen erfüllt hatte. Es war wie ein ganzes Konzert: dieses Klappern und Ächzen der Weberschemel und des Geschirrs, das mit den Schäften bedächtig auf- und niederrasselte, dieses Kollern des Gerölls und Klopfen des Bandmacherrechens, dieses Knarren der Korden und Klirren der Platinen, begleitet von dem leidenschaftlichen Schwirren der Winden und dem besonnenen Schnurren der Schweifrahmen, während die behaglichen Spulmaschinen in der Tiefe mitbrummten und das gleichmäßige Pochen der Weberladen langsam und gemessen den Takt dazu schlug. Und hoch über all diesen plötzlich entfesselten Rhythmen der Arbeit schwebte es wie ein fernes, leises Lied aus Altvätertagen, das sang von der Zeit, da der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, und alte Familiengeschichten aus Kriegs- und Friedenstagen, die die Winterabende meiner Kindheit gekürzt und seither halbvergessen in meinem Herzen geschlummert hatten, schlugen versonnen ihre Augen auf. Da wurde auf einmal das ganze wackere Völkchen der Seidenweber vom Schottenfeld um mich lebendig, und die Alten und die Toten waren wieder jung und lebten und liebten und sorgten und hofften und sehnten sich und hatten ihre schweren Zeiten und ihre liebe Not und blieben doch aufrecht dabei und tüchtig.

Träumend und in mich verloren war ich immerzu und immerzu gegangen, durch die stille Seidengasse, in der wir als Kinder an schneereichen Wintertagen mit dem Handschlitten auf- und niederfuhren wie in einer Dorfstraße auf dem Lande. Durch den Linienwall, der einst den ganzen, am rechten Ufer des Donaukanals gelegenen Teil der Stadt wie ein beengender Gürtel umschnürte, war noch bis vor wenigen Jahren die Welt, da wo die Seidengasse aufhörte, wie mit Brettern verschlagen. Heute scheint sie, dem unersättlichen Zeitgeist Rechnung tragend, überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen; denn sie hat in die westliche Häuserzeile der Kaiserstraße ein großes Loch gestoßen und sich einen Weg ins Freie gebahnt. So fand ich mich denn unversehens auf dem Neubaugürtel – da entfloh der wunderliche Spuk und war dahin. Das rollende Getöse der Dampfwagen und das Poltern der elektrischen Trambahnen hatte ihn verscheucht. Denn es laufen dort heute eine Menge Schienenwege kreuz und quer, und man kann elektrisch oder mit Dampf nach allen Himmelsgegenden fahren.

Unwillkürlich sah ich mich nach dem Linienwall um, dem ich in meiner Jugend so bitter Unrecht getan habe, indem ich, weil er die Verzehrungssteuerlinie abgrenzte, sein ganzes Dasein für eine fiskalische Bosheit hielt. Denn die bucklige Marie, die im Geschäft meines Großvaters ihr Leben mit dem Kavilieren von Seidensträhnen und dem Erzählen unwahrscheinlicher Geschichten hinbrachte, hatte mir weisgemacht, er sei vor vielen Jahren auf Befehl der Polizei zur Strafe für den Bäckerrummel angelegt worden. Damals habe man die Verzehrungssteuer eingeführt, um zu zeigen, daß justament nicht nachgegeben wird, und deswegen müßten seither die Leute das Brot noch viel teurer kaufen als früher und alle andern Lebensmittel noch obendrein auch. Und das geschehe ihnen ganz recht, denn warum haben sie den Rummel gemacht!

Das erzählte sie mit vieler Befriedigung, denn sie stand immer auf Seite der Obrigkeit und der unumschränkten Gewaltherrschaft. Natürlich hab' ich es auch geglaubt, denn es gab eine Zeit, wo ich alles glaubte, was die bucklige Marie erzählte. Aber ich verachtete fortan den Linienwall aus tiefster Seele. Erst später geriet allmählich das Ansehen der buckligen Marie bei mir ins Schwanken, und den Todesstoß gab ihm eine verstaubte Geschichte der Stadt Wien, die ich einmal, als ich schon lesen konnte, in der aus sechs oder acht Büchern bestehenden Bibliothek meines Großvaters entdeckte. Dort stand es gedruckt, daß der Linienwall zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in fortifikatorischer Absicht gegen die aufrührerischen Horden der Kuruzzen angelegt worden war, als sie unter Franz Rakoczy II. den unglaublichen Mut fanden, die Kaiserstadt mit einem Überfall zu bedrohen. Da sah ich erst, wie böswillig die bucklige Marie ihn verleumdet hatte, und leistete ihm Abbitte.

Seither ist der brave Linienwall ebenso wie manches andere Denkmal einer überlebten Verteidigungskunst spurlos vom Erdboden verschwunden, und man kann ohne Umweg aus der Seidengasse nach dem Schmelzer Friedhof gelangen. Und da stand ich auch schon an dem grünen Eiland des Gottesackers, an den die Flut der neuerbauten Häuser näher und näher herandrängt ...

Die Sonne war untergegangen, der zartblaue Himmel mit hellem, durchsichtigem Gold übergossen, der Kahlenberg und der Leopoldsberg, die aus der Ferne über die Friedhofsmauer grüßten, standen im ersten Grün des Frühlings, und an derselben Stelle, wo einst die Burg Leopolds des Heiligen geragt, und wo später ein Habsburgischer Leopold dem Babenbergischen eine Gedächtniskirche gestiftet hatte – auf dieser altehrwürdigen, weit ins Donauland hinausschauenden Höhe, die seit einem Jahrtausend so viele gegen deutsche Art und deutsche Sitte heranwälzende Völkerbrandungen der Ungern, Böhmen, Türken und Franzosen zu ihren Füßen hatte zerschellen sehen, da spiegelte sich jetzt das bereits untergesunkene Tagesgestirn in einem blitzenden Fenster, als könne es sich nicht losreißen von dem Anblick der prangenden Hügel und der weiten dämmernden Ebene und der uralten, zum Himmel ragenden Türme dieser einzig schönen Stadt. Und wie von einem funkelnden Rubin strahlte ein heller, weithin leuchtender Widerschein von diesem Fenster aus und warf seinen Glanz über das schon im Abendschatten atmende Häusermeer. Es war gleichsam wie ein leise segnender Gruß, dieses Licht aus der Höhe, wie ein trostreiches Aufleuchten von Zuversicht und Vertrauen, wie eine glühende Mahnung an das hastende und sich überstürzende Leben dort unten, der großen Vergangenheit nicht zu vergessen, in der ein ehrenfestes, wackeres und freimütiges Bürgertum diesen vorgeschobenen Posten des deutschen Volkes zu einem seiner treuesten Bollwerke und, trotz mancher widriger Verhältnisse, zu einer Stätte von eigenartiger und beachtenswerter Kultur gemacht hatte.

Bis zu meinen Gräbern herüber zitterte der blendende Glanz und vergoldete die Inschriften auf den Steinen. Da gedachte ich, wie auch diese Toten in ihrem kleinen Kreise und auf ihre Art, eng verwachsen mit dem Ganzen, mitgeholfen hatten, es zu einem blühenden Gemeinwesen zu entwickeln, Namenlose in der Menge nur, wunderlich oft in ihren Mitteln und beschränkt in ihrem Blicke, aber durchdrungen von der Verantwortung, die das Leben uns auferlegt, und von der Heiligkeit der Arbeit ...

Eine frische, herbe Brise hatte sich erhoben und wehte von den Hängen des Wienerwaldes und bewegte seufzend und flüsternd die Wipfel und Zweige der Lebensbäume, die über den einfachen Grabhügeln ragten. In den Hängeweiden, die an der Mauer standen, zwitscherten die Vöglein, und eine Amsel, die sich auf dem Dachfirst des Totengräberhauses niedergelassen hatte, sang ihr Abendlied. Und da wurde mir weicher ums Herz, als es im zwanzigsten Jahrhundert vielleicht ratsam ist zu gestehen, und mir war, als spürte ich etwas wie einen salzigen Geschmack an den Lippen – was mochte es sein? Sollte unbemerkt ein kleiner, heller Tropfen aus meinem Auge gefallen sein, weil schon einmal an diesem Abend mich mein Träumen in Zeiten zurückgeführt hatte, die nahe an die Epoche der Empfindsamkeit grenzten, wo Graburnen und Trauerweiden einen beliebten Gartenschmuck bildeten?

Ich weiß es nicht. Aber mit einmal wurden mir die stummen Laute der Natur rings um mich her zur Sprache, und ich verstand, was die Vöglein sangen, verstand die Stimme des wehenden Windes und das Raunen und Rauschen, das durch die dunklen Lebensbäume ging.

 

* * *

 

Auch meine Urgroßmutter ist einmal ein junges Mädchen gewesen und ein hübsches dazu. Noch heut' besitzen wir in der Familie ein Bild, wo sie mit frischen, rosigen Wangen in einem grasgrünen Garten sitzt und einen bebänderten Strohhut von Anno dazumal zwischen den schlanken Fingern hält, das feine Blondhaar an den Schläfen in zierliche Löckchen gelegt und vom Nacken aufwärts mit einem Kamme aufgesteckt. So trutzig und lebensfroh blitzen wasserblaue Augen selten in die Welt wie die ihrigen auf diesem Bilde. Und ein munteres und herzhaftes Mädel ist sie auch gewesen, die ehr- und tugendsame Bürgerstochter Barbara Kebach, die blaue Gugucks-Wettl genannt.

Das war in der Zeit, wo die Häuser noch nicht nach Gassen und Konskriptionsnummern bezeichnet wurden, sondern nach ihrem überlieferten Hausnamen, und der ging nicht selten auch auf die Bewohner über. Da gab es zum Beispiel in den westlichen Vorstädten, auf den sogenannten schottischen Freigründen, als da waren: St. Ulrich, Neudeckerlehen, Neustift, Wendelstadt, Neubau und Schottenfeld, die alle unter der Grundobrigkeit des Benediktiner-Stiftes der Schotten standen, unter vielen andern Häusern auch ein Haus »Zu den fünf Spulen« und eines »Zum langen Degen«, eines »Zur goldenen Flauten« und eines »Zur schönen Ungarin«, eines hieß »Zum wunderbarlichen Glück« und ein anderes »Zur Parforcejagd«, eines »Zum geduldigen Job«, eines »Zum graden Michel«, und andere hießen wieder anders. Im Hause »Zum blauen Guguck« in der Zieglergasse betrieb der Seidenzeugweber Kebach sein Fabriklein, im Haus »Zur stillen Andacht« in der Siebensterngasse der Samtmacher Mestrozzi das seine; der Appreteur Woitech hatte sein Geschäft im »Roten Igel« in der Kaiserstraße, der Bandmacher Pointner, der Seidenhändler Kähnel und der Zeugweber Reckenschuß die ihrigen im »Grünen Paperl« in der Bandgasse, im »Auge Gottes« in der Seidengasse und bei der »Munteren Tyrolerin« in der Zieglergasse. Und an all den zierlich benamsten Häusern war über der Torfahrt ein bunt bemaltes oder vergoldetes Hauswappen und Wahrzeichen angebracht, das dem Eintretenden freundlich entgegengrüßte, und in allen regten sich emsig kunstfertige Hände, und sproßten vielverheißend die ersten Blütenknospen eines nach Entwicklung strebenden gewerblichen Lebens und eines in seinen bescheidenen Ansätzen bereits vorgedeuteten behaglichen bürgerlichen Wohlstands.

Der kleine, runde Kebach war in der Stadt gewesen, um Geschäfte abzuschließen und Bestellungen entgegenzunehmen. Ja, dazu gehören aber ihrer zwei. Kein Fabrikant kann Bestellungen entgegennehmen, wenn der Kaufmann und Händler ihm keine aufgibt. An diesem Tage aber lag es in der Luft wie eine allgemeine Entmutigung. Alles klagte darüber, daß die Geschäfte stockten und die Leute nichts kaufen wollten. Und so hatte auch niemand den Mut, etwas zu unternehmen und zu wagen. Sogar in der neuen großen Modewarenhandlung »Zur schönen Wienerin« neben dem Stock im Eisen, wo seit einiger Zeit die lebensgroße Wachspuppe in der Auslage stand, die wie ein wirkliches Frauenzimmer aussah, war es nicht anders: Auch dort nur ein bedauerndes Achselzucken auf alle Anbote Kebachs, und ein unlustiges Wiegen des Kopfes auf seine Vorschläge. Und im Grunde war es begreiflich: außen, auf dem Bürgersteig, drängten sich die Gaffer, um die Modedame im Schaufenster als etwas bisher noch nicht Dagewesenes zu bestaunen; innen jedoch, wo man die neuesten Musseline und Batiste, die geschmackvollsten Zitze, Ribse und Kaschmirs, die glänzendsten Tafte, die kostbarsten glatten, schillernden und gemusterten Seidenstoffe zu kaufen bekam, da war es fast leer.

»Alsdann, so gehn wir halt wieder, und sagen wir, es war nichts«, meinte Kebach etwas bedrückt. Er wickelte sorgfältig seine Warenproben wieder ein, nahm das schmale, längliche Paket unter den Arm und machte sich auf den Heimweg.

Jetzt hastete er mit seinen kurzen, lebhaften Schritten über den Kohlmarkt gegen das Burgtor. Den großen Zylinder aus rauhem Filz, der sich nach oben wie ein Tschako erweiterte, drückte er in die Stirn und machte ein verdrießliches Gesicht: Schlechte Zeiten, schlechte Zeiten!

Aber es war ihm nicht gegeben, lange griesgrämig zu sein.

»Eine geköperte Levantine will ich machen«, dachte er; »mit feinen broschierten Tüpferln drin. Ganz aus entschälter Seide, mudellind, zum Hineinbeißen! Und in dem Karmoisin, wie es seit der Kaiserkrönung von Paris her in die Mode gekommen ist ... Wie die Wespen auf den Honig wird das schöne Geschlecht darauf fliegen!«

Er war an die innere Umwallung herangekommen und trat in den mehrere Klafter langen finsteren Torweg, der unter der Burgbastei durchführte. Es herrschte dort ein arges Gedränge von Fußgehern, man konnte nur Schritt für Schritt vom Fleck kommen. Gemächlich spann er seine Gedanken weiter.

»Warum sie gerade das Karmoisin so bevorzugen, die französischen Damen? Wahrscheinlich dem neuen Empereur zu Ehren ... Soll es an den Krönungsmantel erinnern, oder an Blut? ... So ein Menschenschlächter! Daß wir aber auch alles nachmachen müssen, was aus Paris kommt! Wie die Affen! ... Kruzitürken übereinander!«

Jetzt trat er auf die lange Brücke hinaus, die über den Stadtgraben führte, und sah jenseits das Burgtor vor sich liegen. Sein erster Blick galt den offenstehenden Torflügeln.

»Richtig! Noch immer nicht angestrichen! Man weiß nicht, ob es schwarz-gelb oder weiß-rot sein soll! Ich tät' mich genieren!«

Das Stadttor zeigte breite Streifen von unbestimmter, verwitterter Farbe. Ein Streif, der ungefähr nach grau aussah, wechselte immer mit einem andern Streifen ab, der mehr grünlich schien. Und beide Farben waren von einer feingezeichneten Landkarte rotbraunen Eisenrostes durchsetzt. So oft Kebach durch das Burgtor ging, sah er nach, ob noch immer nicht frisch angestrichen sei. Sein Nettigkeitssinn empörte sich, wie man das Holz so verwittern und das Eisenblech so verrosten lassen könne! Überdies fand er es unpassend, gerade vor der Burg, gewissermaßen unter den Augen des Kaisers, eine solche Vernachlässigung!

»Ein Kaiser von Österreich – und so ein Burgtor!« pflegte er ganz bekümmert zu sagen.

Und immer wieder ärgerte er sich, so oft er hinein- oder herausging. Wessen Sache es eigentlich war, die Torflügel anzustreichen, wußte er nicht recht. Vielleicht Sache des Militärärars? Vielleicht Sache des Magistrats? Vielleicht gar Sache des Kaisers selbst? Er behalf sich, indem er die verantwortliche Behörde oder Persönlichkeit einfach »sie« nannte. »Sie« als Plural, nicht als femininum. Und also sagte er jedesmal, wenn er von einem Stadtgang heimkehrte, zu seiner Tochter Wettl, während er den braunen Frack ablegte und den Hausjanker anzog, mit einem tiefen Seufzer:

»Das Burgtor haben sie noch immer nicht frisch angestrichen!« –

Inmitten der Brücke, über die eine Menge Menschen ein und ausgingen, blieb er auf dem Gehsteig stehen und sah den Wagen zu, die langsam und vorsichtig über die Bohlen humpelten. Diese Brücke war die zweite Anklage, die er gegen »sie« auf dem Herzen hatte. Er trat an das hölzerne Brückengeländer vor, um in den Stadtgraben hinunterzuschauen. Mit der Hand faßte er die Brustwehr an und rüttelte ein wenig, er wollte sich überzeugen, ob das Geländer immer noch wackle.

»Wirklich! Noch alleweil! Bis einmal ein Unglück passiert! Wenn die Kuh aus dem Stall ist, nachher werden sie das Tor zumachen. Aber früher nicht! Es hat ja noch Zeit, bis einmal ein paar Leut' hinunterfallen!«

Vorsichtig lehnte er sich über das Geländer und blickte behaglich in den Abgrund. Es machte ihm Freude, daß der Stadtgraben so tief war, und daß die roten, von der Nachmittagssonne beschienenen Backsteinmauern der Burgbastei so steil und hoch darüber aufstiegen und sich so klar gegen den dunkelblauen Herbsthimmel abzeichneten, mit ihren scharfgeschnittenen Zinnen, zwischen denen man ein paar Haubitzenrohre schlummern sah.

Auf einmal lehnte ein anderer neben ihm auf der Brüstung, so dicht, daß ihre Ellenbogen sich berührten. Waren das Manieren! Er fand es ein bißchen sonderbar. Hatte der Mensch auf der ganzen langen Brücke keinen andern Platz als knapp neben ihm? Mit einem kleinen Brummen rückte er etwas beiseite. Aber sofort rückte der andere nach und berührte wieder seinen Ellenbogen.

»Fix noch einmal!«

Mit einer heftigen Bewegung fuhr er in die Höhe und faßte den zudringlichen Nachbar ins Auge. Der riß den Mund groß auf und lachte still in sich hinein.

»Grüß dich Gott, blauer Guguck!«

»Da schau her, du bist es! Warum hast denn das nicht gleich gesagt?«

Der Färber Kitzinger war es, aus dem »Paradeisvogel« im Ratzenstadtl! Sie waren gut Freund miteinander, soweit eben ein Zeugmacher und ein Färber gut Freund miteinander sein können.

Kebach rüttelte ein wenig an dem Geländer.

»Jetzt schau dir einmal so etwas an!«

»Es trägt ihnen halt kein Ausbessern«, meinte Kitzinger gleichmütig. »Geht alles auf Uniformen und Kanonen auf. Und vielleicht wird die alte Brücke eh' bald abgerissen, wenn die Franzosen wieder kommen.«

»Na sei so gut!« polterte Kebach. »Dasmal wird ihnen der Generalissimus doch früher einen Riegel vorschieben, daß sie nicht bis auf Wien kommen? Wo wir so viel Geld für die Landwehr gezahlt haben!«

»So, seid ihr auch geschröpft worden? Ich hab' gemeint, das hätt' nur die Bezirke unter magistratischer Grundobrigkeit betroffen.«

»Was, geschröpft! Niemand ist geschröpft worden! Was glaubst denn? Lauter freiwillige Spenden! Zwölftausend Gulden haben wir schottischen Freigründe in einer einzigen Woche für die Landwehrmänner und ihre mittellosen Familien aufgebracht! Was sagst denn da dazu? Gelt, da schaust?«

»Alle Achtung! Alle Achtung!« sagte Kitzinger.

Kebach fühlte sich geschmeichelt und meinte gutmütig:

»Na, ihr vom Magdalenagrund und vom Gumpendorf, ihr habt euch sicher auch angestrengt. Jeder halt so viel, als er kann.«

Der väterliche Ton ärgerte den Färber. Er sah nicht ein, warum er Gumpendorf und das Ratzenstadtl sollte behandeln lassen wie einen Armeleut'-Grund.

»Tröst dich, blauer Guguck«, sagte er protzig; »wir werden noch gerade soviel aufbringen wie das Schottenfeld. Wir sind schon mit dem guten Beispiel vorangegangen, wir Färber aus dem Ratzenstadtl.«

So –? Eben war es noch geschröpft, und jetzt auf einmal ein gutes Beispiel? Das reizte ihn. Und noch mehr, daß die Färber es den Fabrikanten und die Ratzenstadtler es den Schottenfeldern gleichtun wollten. Überdies war es noch geflunkert auch!

»Ihr Färber habt es leicht«, sagte Kebach. »Ihr habt nicht nötig, euch spotten zu lassen!«

»Und warum hätten denn gerade wir es besonders leicht?«

»Wer leicht verdient, gibt leicht aus. Greift nur ordentlich hinein, in euren Sack, recht tief, bis auf den Grund! Da findet sich mancher Gulden, von dem ihr selber nicht recht wißt, wie er hineinkommt. Wenigstens soviel solltet ihr schandenhalber beisteuern, als die Seide wert ist, die ihr uns Fabrikanten schon geschnipst habt. Fürs Vaterland und zur heilsamen Buße!«

Er sprach das Vaterland wie »Vatterland« mit hellem A aus. Immer, wenn er das Ehrwürdige und Unantastbare der väterlichen Gewalt betonen wollte, sagte er »Vatter« statt Vater.

Jetzt geriet Kitzinger ein wenig aus dem Gleichgewicht.

»Weißt, blauer Guguck, da muß ich schon bitten! Einen G'spaß versteh' ich, aber alles was recht ist! Es kann schon sein, daß bei andern manchmal etwas vorkommt; was geht mich das an, dafür bin ich doch nicht verantwortlich? Aber in meinem Geschäft geht es streng redlich zu! Und das kann ich beschwören: So lange der ›Paradeisvogel‹ steht ...«

Er hob sogar die Schwurfinger. Aber schnell fiel ihm Kebach ins Wort und legte fast wie erschrocken seine Hand auf Kitzingers Mund.

»Pst! Pst! Um Himmelswillen! Nur nicht schwören, nur nicht schwören! Du sollst den Namen Gottes nicht eitel anrufen!«

Daß er ihn am Ende zu einem Meineid verleitet hätte! Der Gedanke war ihm peinlich.

»Weil es nicht wahr ist!« maulte Kitzinger beleidigt. »Weil es die reine Lug' ist! Immer wieder muß man das zu hören kriegen! Und die Seide wird ja eh' gewogen?«

»Na ja, wir wissen's schon, streng dich nicht an!« lenkte Kebach gemütlich ein.

Er sah schmunzelnd von der Seite nach dem Freunde hinüber und fächerte mit der offenen Hand ein paarmal vor den Augen hin und her.

»Durch die Finger muß man halt hie und da ein bissel schauen, bei euch. Das ist eine alte Geschichte. Liegt schon so im Färberblut.«

Es schien, daß der Kitzinger sich nicht ungern hatte unterbrechen lassen. Wenn es ohne heilige Beteuerung abging, war es ihm vielleicht doch noch lieber. Und das »Durch die Finger schauen« konnte er ja allenfalls auf sich sitzen lassen. Wem mußte man nicht durch die Finger sehen? Sind wir nicht alle nur Menschen, in denen der Wille oft stärker ist als das Fleisch?

Er gab sich zufrieden, und sie lehnten wieder versöhnt ihre Ellenbogen nebeneinander auf das Brückengeländer und schauten gemeinschaftlich in den Stadtgraben hinunter.

»Daß sie vor drei Jahren die Parlezvous ganz gemütlich da hereingelassen haben ...?« sagte Kebach den Kopf schüttelnd. »Ich, wenn's auf mich angekommen wäre, ich hätt' sie ruhig in den Graben springen und an der hohen Wand da drüben hinaufkraxeln lassen. Das hätten sie nur einmal probieren sollen! Da wär' ihnen der Übermut schon vergangen!«

»War halt nichts zu machen«, bemerkte Kitzinger gemächlich. »Verflixte Kampeln sind sie schon, diese Franzosen mit ihrem kleinen Général! Das ist damals gegangen, Schlag auf Schlag, wie Blitz und Donner, daß die Unsrigen nur so den Mund aufgerissen haben. Na ja, unsere armen Soldaten haben ja nichts dafür können. Wenn wir solche Generäle haben! Ein Plutzer nach dem andern! Leicht gemacht haben wir's ihnen! ›Nous avons pris le général Mack comme une prise de tabac.‹ So sind wir auch noch ausgelacht worden.«

»Versteh' kein Französch!« brummte Kebach.

»Weißt, wie eine Schnupftabaksprise, haben sie gesagt, so mit zwei Fingern, hätten sie den Mack in Ulm genommen. Ihn und zwanzigtausend Mann Soldaten! So mit zwei Fingern! Zwanzigtausend Mann! Ah, das sind schon Kampeln! Alle Achtung, alle Achtung!«

»Na weißt, Paradeisvogel, gar so bewundern sollte man den Feind des Vatterlandes halt doch nicht!« sagte Kebach bestimmt.

Aber Kitzinger ließ sich nicht irre machen.

»Und wenn man sie dann gesehen hat! Da ist einem erst alles begreiflich geworden. Schöne Leute, prächtige Leute! Ich hab' mir's angeschaut, wie sie die Mariahilferstraße hereinmarschiert sind, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel ...«

»Pfui Teufel!« warf der Guguck dazwischen, empört in Erinnerung an die erlebte Schmach.

»So ein fünfzehntausend Mann werden es gewesen sein, Reiter und Fußvolk. Regimenter wie die Mauern! Da hat man wirklich Respekt kriegen müssen! – Du wirst sie ja auch gesehen haben?« fragte er.

»Ich bin nicht hingegangen«, murrte Kebach. »Hab' zu tun gehabt. So fleißig bin ich nie gewesen, als wie die Franzosen herinnen waren. Zehn Ochsen hätten mich von meinem Webstuhl nicht weggebracht. Hab' mir gedacht: sollen machen, was sie wollen – ich arbeit'; wenigstens brauch' ich sie nicht anschauen auch noch!«

»Sehenswert war es! So etwas sieht man nicht alle Tage!« beteuerte Kitzinger. »Diese Grenadiere! Lauter Riesen! Leute zum Fürchten! Mit ihren schwerem Musketen, oben das blitzende Bajonett! Fast ganz in weiß alle, weiße Hose, Weste und Gamaschen. Mit der Bärenmütze und links einen roten Federnstoß. Dazu blauer Frack mit roten Aufschlägen. Du, das war dir ein Blau! Französischblau! So eins bringen wir hier nicht heraus, nicht einmal im ›Paradeisvogel‹. Ich gesteh's offen, so ein Französischblau bring' ich nicht heraus!«

»Patzer!« sagte der Guguck.

»Wie meinst du?«

»Patzer!« wiederholte er. »Das bissel Französischblau nicht herausbringen! Was wird da weiter dabei sein? Ich bring' alles heraus, was sie in Lyon herausbringen, ganz das nämliche – wär' nicht aus! Aber weil wir gerade von den Farben reden: Ein feines Modekarmoisin will ich mir nächstens bei dir aussuchen. Es muß aber etwas besonderes sein. Denk derweil ein bissel nach, mach's Hirnkastel auf, vielleicht kommt was heraus.«

Kitzinger versicherte, daß die neuesten Schattierungen bei ihm zu finden wären.

»Wie geht denn jetzt das Geschäft?« fragte er.

»Hm! So ungefähr wie die Bankozetteln. An jedem Gulden verliert man wenigstens fünfundvierzig Kreuzer.«

»Aber einen Haufen Bestellungen trägst doch heim, was?«

»Ja natürlich, du stellst dir das sehr einfach vor! Ihr Färber habt es gut! Sei froh, daß du mit keinem Kaufmann zu tun hast! Weißt du, was sie mir heute gemacht haben? Sogar in dem großen, neuen Geschäft am Stock im Eisen, weißt, wo die ›Schöne Wienerin‹ in der Auslag' steht? Dasselbe haben sie mir gemacht, was unsere Voreltern vor langer Zeit einmal dem Sultan Soliman gemacht haben.«

»Und was wär' denn das nachher?« fragte Kitzinger.

»Kannst es nicht erraten? Also, der Soliman, als echter Heide, hat es besonders scharf auf den Stephansturm gehabt und hat alle seine Stücke gerade auf ihn richten lassen. Da schicken die Wiener eine Bittabordnung, das Gott'shaus wenigstens mög' er schonen. Ja, sagt er, wenn sie das Kreuz herunter und Stern und Halbmond dafür hinauftun. Ihnen ist nichts anderes übriggeblieben, als zu folgen. Damit sie aber auch eine Freud' dabei haben, da ist es ihnen eingefallen, und sie haben in den Halbmond eine Hand eingravieren lassen: So!«

Er zeigte seine Faust und steckte den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger durch. Kitzinger lachte.

»Eine Feige?«

»Jawohl, eine Feige. Die haben damals die Wiener dem Soliman und mir heut' die Kaufleute gemacht. Die Wiener auf dem Turm oben, und die Kaufleut' freilich nur im Hosensack, aber gespürt hab' ich's doch. Und eine Feige bedeutet bekanntlich auf deutsch: Geh nachhaus und sag, es war nichts.«

Er zog seine Uhr.

»Und nachhausgehn muß ich aber jetzt auch endlich einmal. Die Wettl wird schon mit der Jausen auf mich warten und glauben, ich bin in Bach gefallen. Grüß dich Gott, Paradeisvogel!«

»Wart ein bissel, wart ein bissel!« sagte Kitzinger und hielt ihn zurück. »Ich hab' noch etwas sagen wollen ... Was war es denn nur? Etwas Wichtiges! ...«

Es fiel ihm nicht ein.

»Alsdann, denk halt derweil nach, bis wir uns wiedersehen«, sagte Kebach sich losmachend und wollte gehen.

In dem Augenblick fiel es ihm aber doch ein.

»Ja, richtig! Und hat denn der Halbmond auf dem Stephansturm etwas genützt? Trotz der Feige?«

»Den Halbmond haben sie doch nicht bombardieren können!« sagte Kebach. »Und die Sultansfeige – vielleicht haben sie die gar nicht bemerkt. Aber mein Herr Großvater selig hat mir immer erzählt, die Belagerten hätten doch eine große Freud' daran gehabt. Denn so haben sie den Türken einen Spott angetan und dabei noch ihren Turm gerettet.«

Der Paradeisvogel freute sich und der Guguck auch.

Sie empfahlen sich von einander. Kitzinger wendete sich stadtwärts. Kebach aber setzte seinen Weg in der Richtung gegen das Glacis fort.

 

* * *

 

Außerhalb des Burgtores führte der Gehsteig zwischen zwei Mauern hin, die niedrig und mit Quadern belegt waren. Darauf saß allerlei Volk, Straßenjungen und beschauliche Raucher, auch Leute, die verschiedene Waren feilhielten, lebendige und tote: Vögel in Käfigen, kleine Hunde mit Bandschleifen geschmückt, Schwefelfäden und Kämme. Ein italienischer Gipsfigurenhändler pries mit lauter Stimme die Erzeugnisse seiner Kunstfertigkeit an, und ein fliegender Buchhändler hatte die Fläche der behauenen Steine als Ladentisch benutzt und seine blau gehefteten Geistesschätze, meist Nachdrucke aus dem Trattnerschen Verlag, vor den Augen der Vorübergehenden ausgebreitet. Hier lag auch ein Büchlein in kleinem Quartformat auf, mit einem etwas umständlichen Titel in rotem und schwarzen Druck: »Österreichischer Toleranz-Bote, das ist neu eingerichteter allgemeiner Reichskalender für alle Religionsgesellschaften in den k. k. Erbstaaten, worin nebst den nötigen Kalenderanzeigen auch noch besondere Gesundheitsregeln und Klugheitslehren bei jedem Monate gegeben werden, samt einer Einleitung in allerhand gemeinnützige und angenehme Kenntnisse.«

Kebach erblickte das Heft und freute sich, daß der Kalendermacher so fleißig gewesen war und sich gesputet hatte; denn es war schon der Jahrgang auf das kommende Jahr. Sonst hielt er nicht eben viel vom Lesen, er betrachtete es gewissermaßen als einen Gegensatz zur Arbeit und war im allgemeinen den »Bücheln« nicht hold. Aber den »Toleranz-Boten« kaufte er jedes Jahr, der war ihm unentbehrlich; denn auf die leeren Seiten pflegte er seine geschäftlichen Eintragungen zu machen und Fristen, Lieferzeiten und Erinnerungen bei den einzelnen Monatstagen schon im voraus anzumerken. Und unter den »gemeinnützigen und angenehmen Kenntnissen« hatte er schon manches gefunden, das ihm fesselnd und unterhaltsam schien. Er erwarb den Kalender und wickelte ihn zu seinen Warenproben. Dann trat er an die gegenüberliegende Tabakbude, die wegen ihres köstlichen Nasenfutters in der ganzen Stadt berühmt war, und verlangte ein Lot Schwarzen.

Während die Verkäuferin abwog, stieg ihm auch der Duft des Hellen, der im Kistchen daneben stand, in die Nase. Er kämpfte einen kleinen Kampf in sich: War es nicht unerlaubter Aufwand, wenn er bei dem schlechten Geschäftsgang sich zwei Sorten vergönnte? Aber es fiel ihm ein, daß nichts einen so klaren Kopf mache wie Schnupfen, und daß man gerade in schweren Zeiten seine Lebensgeister auffrischen und seine fünf Sinne zusammenhalten müsse.

»Geben Sie mir auch noch ein ganz kleines Stanitzerl von dem Galizier da«, sagte er schwach geworden. »Nur zur Probe, das kleinste Maß, das Sie auswägen.«

Es kostete wirklich nicht viel. Eigentlich war es gar nicht der Rede wert. Zufrieden ließ er seine beiden Tüten, die große und die kleine, in seinen Frackschößeln verschwinden. Als er auf der offenen Heerstraße, die vom Burgtor über das Glacis gegen den Getreidmarkt führte, sich der Johanneskapelle nächst dem Hofstallgebäude näherte, kam ihm ein lästerlicher Gedanke.

»Daß aber der heilige Johann von Nepomuk Anno 1805 auch die Brücken beschirmt hat, über die die Franzosen marschiert sind! Die hätt' er doch früher zusammenfallen lassen können, daß der Bonaparte am Wasser gestanden wär' wie der Pharao am Roten Meer. Aber nein! Die österreichischen Brücken beschirmt er, und die französischen Brücken beschirmt er auch. Viel zu gerecht sind diese Heiligen!« dachte er. »So wie alle hohen Herren: viel zu gerecht! Immer beiden Teilen wollen sie es recht machen. Es ist ja bei uns grad so: Gewerbe und Industrie sollen blühen, aber was wir verdienen, müssen wir auf Steuern hergeben, damit auch die Armee und das Vaterland blühen können. Und so soll alles zugleich blühen.«

Er sah den Juden Schabsel, der in der ganzen Stadt herum und auch auf dem Schottenfeld mit Bändern und Leinenzeug hausierte, in seinem grauen Kittel und mit seiner grauen Kappe die Laimgruben herunterkommen. Auf dem Rücken schleppte er seinen schweren Warenbund, der ihn fast zu Boden drückte.

»Nur die armen Mauscheln sollen nicht blühen!« fiel es ihm ein. »Die werden von oben her nicht zu den Untertanen gezählt ...«

Aus Mitleid war er eine Art Gönner und Berater des schon ältlichen Mannes, dessen ganzes Wesen immer wie in einen Nebel von Schwermut gehüllt schien, und der in sein Schicksal ergeben gleichsam beständig unterduckte, als fühlte er den Fluch seines Volkes mit schwarzen Schwingen über seinem Haupte schweben. Er kannte ihn übrigens nur von den Besuchen, die Schabsel von Zeit zu Zeit dem blauen Guguckshaus abstattete, um Gesellen und Hausleuten seine Waren anzubieten und sich gelegentlich der Fürsprache Kebachs bei irgend einer Behörde, die ihn drangsalierte, zu versichern.

Mit einem untertänigen »Küss' die Hand, Herr von Guguck!« wollte der Jude an ihm vorbei. Kebach blieb stehen und fragte leutselig, wie es gehe?

»Wie soll es gehen einem armen, geschlagenen Mann?« sagte Schabsel zurückhaltend, ohne den Blick auf Kebach zu richten. Er ließ seine kleinen Augen unstet seitwärts schweifen, mit jenem Ausdruck eines tiefen Mißtrauens, das hoffnungslose Unterdrückung und lebenslängliche Knechtschaft leicht zur zweiten Natur werden lassen.

»Immer muß er halt jammern!« sagte Kebach gemütlich. »Schau er mich an! Glaubt er vielleicht, ich hätt' nicht auch Ursache zu jammern? Wetten möcht' ich, daß er heut' bessere Geschäfte gemacht hat als ich!«

Mit einem kleinen bitteren Auflachen blickte der Jude bald nach rechts, bald nach links zur Seite. Er hatte seinen schweren Warenbund vom Rücken genommen und vor sich auf den Boden gestellt.

»Da schau der Herr von Guguck einmal meinen Pünkel an! So schwer wie ich in der Früh' ihn hab' weggetragen, so schwer trag' ich am Abend ihn wieder nach Haus.«

Er verschwieg, daß er in der Leinenfabrik in Penzing frische Ware gefaßt hatte.

»Tröst er sich!« sagte Kebach. »Ist mir auch nicht besser gegangen. Eigentlich sind wir eh' Kollegen! Wenn die Leut' nichts kaufen wollen, so geben sie uns halt so einen kleinen Deuter, daß wir nicht vergessen sollen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat.«

»Kollegen?« rief Schabsel wie erschrocken und mit einem wahrhaft trübsinnigen Ausdruck des Gesichtes. »Wär' mir schon recht, wenn ich wär' ein Kollege! Wenn ein Herr Kaufmann nichts will kaufen von einem Herrn Fabrikanten, so bittet er um Verzeihung und begleitet ihn an die Tür und macht einen tiefen Diener vor ihm. Der Schabsel aber, wenn jemand nicht will kaufen, der Schabsel fliegt herunter die Treppe.«

Kebach mußte lächeln.

»Na, gar so handgreiflich wird für gewöhnlich dem Schabsel doch auch die Meinung nicht gesagt werden?«

»Es wird ihm gesagt die Meinung mit dem Mund, und es wird ihm gesagt die Meinung mit der Hand. Es gibt Christen, die sind gut zu einem armen Juden, und es gibt Christen, die sind hart zu einem armen Juden. Nicht in allen Häusern sind die Menschen freundlich und gütig wie im Haus ›Zum blauen Guguck‹, daß man ihnen dafür kann danken, wie es heißt im Psalm: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. Schauen Sie an den strengen Herrn in der Kaiserstraße, der seine Bandfabrik hat im Haus ›Zum groben Schroll‹! Hab' ich mir nicht fast gebrochen meine Glieder, daß ich nur schnell wieder herunter gekommen bin die Stiege?«

»Na ja, der!« sagte Kebach, »das ist leicht ein Hitziger! Heißt nicht umsonst sein Haus ›Zum groben Schroll‹! Übrigens – ein Ehrenmann! Vor dem tu' ich den Hut herunter, wiewohl daß er nur ein Bandmacher ist! Aber Spaßetteln darf man nicht machen mit ihm! Der weiß, was er will, und was er kann. Was hat denn der Schabsel eigentlich angestellt, daß er ihn so fuchtig gemacht hat? Werden wir halt wieder einmal ein bissel zudringlich und überlästig geworden sein, um nur ja etwas anzubringen – was?«

Er hob drohend seinen Finger, der Jude aber machte ein erschrockenes Gesicht und heftig abwehrende Bewegungen. Er ließ es durchaus nicht gelten und erhob eifrigen Einspruch gegen eine solche Anschuldigung.

»Na ja, ja, das kennen wir schon«, meinte Kebach; »etwas von einer Kletten hat der Schabsel immer an sich gehabt, wenn er eine Ware an den Mann bringen will.«

Schabsel kniff seine Augen zu, aus denen ein stechender Strahl hervorbrach. Er richtete sich auf und sah in diesem Augenblick eher herrisch als demütig aus.

»Der Herr aus dem Schrollhaus ist nicht dem Schabsel sein Kunde, weil er ihm nichts gibt zu verdienen! Der Schabsel ist dem Herrn aus dem Schrollhaus sein Kunde, weil er ihm gibt ja etwas zu verdienen! Wie viele hundert Ellen Band hab' ich schon abgenommen dem Herrn, wo ich ihm hab' gegeben was zu verdienen und sie hab' weiterverkauft an die Leute, wo ich als Hausierer geh' von Haus zu Haus, um zu machen mein Geschäft! Und wo es doch auf der ganzen Welt so ist, daß ein Geschäftsmann muß höflich sein gegen seine Kunden, da soll ich nicht dürfen sagen dem Herrn in der Kaiserstraße, daß mir ein Stück Taffetband ist zu teuer?«

»Hm, ja!« machte der Guguck. »Hat der Schabsel wahrscheinlich wollen feilschen!«

»Wenn man redet über Geschäfte unter Geschäftsfreunden, so muß ein jeder doch dürfen sagen so oder so? Und wenn ich also sage, das Taffetband ist mir zu teuer, warum macht der Herr gleich ein Geseires? Bei mir wird nicht gehandelt! schreit er, und mit einer Stimme, wie der Donner, daß man beinahe umfällt vor Schreck. Warum soll ein Handelsmann, der geht von Haus zu Haus, um zu verdienen sein Brot, nicht dürfen handeln? Und dann packt er auf einmal die ganze Rolle Band und schmeißt sie zurück in den Schrank, der da ist für die Waren, und mittendurch schmeißt er sie durch das Glasfenster, mit dem eingeglast ist der Schrank. Und mit einer Schadenfreude, so als ob der Schaden nicht müßt' werden ersetzt aus seiner eigenen Tasche, hat er gesagt: So, hat er gesagt, jetzt ist es hin! hat er gesagt. – Und das will sein ein guter Geschäftsmann?«

»No, und was hat denn darauf der Schabsel weiter gemacht?« fragte Kebach ein Lachen verbeißend.

»Der Schabsel? Was wird er gemacht haben, der Schabsel? Wie er hat klirren hören die Scherben, ist er geloffen zur Tür hinaus und mehr hinuntergefallen als hinuntergegangen die Treppe. Denn der Herr, wo er war in einem solchen Zorn, hätte ihm gemacht Beine, wenn er nicht wäre verduftet von selber.«

Er war immer sehr ernst geblieben, während er erzählte, und hatte die Heiterkeit, die Kebach übermannte, mit einem gewissen bekümmerten Mißtrauen beobachtet. So als ob es ihm jetzt erst aufginge und er es traurig empfände, daß er auf volles Verständnis für die ihm widerfahrene Unbill doch nur bei seinesgleichen, und nicht einmal bei dem sonst so gutherzigen Guguck zählen dürfe.

»Gott wird ihn heimsuchen in seinen Kindern, weil er ist ein harter Mann!« sagte er plötzlich wie abschließend.

Fast erschrak Kebach über den Ausdruck tiefen Hasses, der sich in seinen Zügen malte, und über den in seiner Stimme keuchenden Ton des Fluches, der den kleinen, dürftigen Hausierjuden auf einmal in eine fremde, unheimliche Erscheinung zu verwandeln schien, als wär' er selbst noch einer von jenen Vertriebenen, Enterbten, Hinausgestoßenen, die nach der zweiten Zerstörung von Jerusalem sich heimatlos und auf Vergeltung hoffend über die Erde zerstreut hatten.

»So viel mir bekannt, sind alle seine Kinder wohlgeraten«, sagte Kebach ruhig und leise verweisend.

»Sie sind wohlgeraten, und sie sind nicht wohlgeraten – ganz, wie man es will betrachten. Wenn der Sohn sich auflehnt wider seinen Vater und nicht mehr will gehorchen dem Willen seines Vaters, so sag' ich: er ist nicht wohlgeraten!«

»Ja, wenn das wär'!« ... rief Kebach bedenklich. »Soll das der Älteste sein, der Lebold? Der war doch sonst ein mehr stiller und sanfter Bursch! Und worüber soll er denn auseinandergekommen sein mit seinem Herrn Vater?«

»Weiß ich es?« sagte Schabsel zurückhaltend. »Bin ich vielleicht der Vertraute im Schrollhaus auf der Kaiserstraße – na also? Aber in den Häusern herum erzählen sie so, daß der Herr Lebold es nicht mehr kann aushalten zu Haus mit seinem Vater, und daß er will gehen zum Freibataillon, um zu fechten gegen die Franzosen.«

»Da schau her!« machte der Guguck erstaunt und riß Mund und Augen auf. »Das laß' ich mir gefallen! Wenn wir solche Verteidiger des Vaterlandes haben –; wenn auch die wohlhabenden jungen Leut' sich selbst dem Feind entgegenstellen und nicht glauben, mit dem Geld ist es abgetan, das der Herr Vater für die Landwehr beisteuert: nachher, ja, nachher können sich die Parlezvous heimgeigen lassen samt ihrem dicken Empereur!«

»Der Herr von Guguck hat leicht reden, weil er nur hat eine Tochter«, sagte Schabsel mißmutig.

Er mochte sich etwas enttäuscht fühlen, daß Kebach über den ungeratenen Sohn im Schrollhaus anderer Ansicht schien, als er erwartet hatte. Er brach das Gespräch kurz ab.

»Wenn etwas geschieht gegen den Willen des Vaters, so kann es nicht geraten zum Segen«, bemerkte er trocken und führte jetzt langsam die Prise an die Nase, die der Guguck ihm schon früher angeboten, und die er die ganze Zeit her zwischen seinen zwei Fingern gehalten hatte. Wie ein Kenner sog er den Duft ein und schnupfte bedächtig. »Es ist ein Feiner«, sagte er genießend. »Man spürt, daß man es zu tun hat mit einem vermöglichen Herrn, der sich etwas kann vergönnen. Und da hätt' ich auch etwas Feines für vermögliche Herren, die schnupfen eine gute Sorte Spanischen: schöne Sacktücheln, große, blaue, eigens für Schnupfer, in den neuesten Mustern.«

Und noch ehe Kebach es zu wehren vermochte, hatte er sein großes Bündel aufgeknüpft und hielt ihm die Taschentücher entgegen.

»Ich brauch' keine, ich brauch' wirklich keine!« versicherte Kebach.

Aber der Jude packte nicht wieder ein. Er legte verschiedentliche andere Ware vor und kam dazwischen immer wieder auf die Taschentücher zurück.

»Ein halbes Dutzend wenigstens!« drängte er. »Ein Vierteldutzend also, wo ich noch ausnahmsweise will machen den Dutzendpreis, weil es ist der Herr von Guguck? Na also, abgemacht! Damit meine arme Kalle nicht fällt in die Fras, wenn ich bring' am Abend den Pünkel nach Haus, wie ich ihn hab' fortgetragen in der Früh'!«

Er machte ein so sorgenvolles und ängstliches Gesicht, daß Kebach im Geiste schon fast wirklich die arme Kalle in Fraisen fallen sah aus Gram über den schlechten Geschäftsgang. Es war ihm nicht möglich länger zu widerstreben, und richtig kaufte er drei große, dunkelblaue Leinensacktücher mit weißen Tupfen, wie er deren schon genug zu Haus in seinem Schrank liegen hatte.

»Was ist denn mit der Kalle? Dürft ihr denn endlich heiraten?« fragte er, während er das Geld zusammensuchte.

Er wußte, daß der Hausierer sich seit geraumer Zeit vergeblich um die behördliche Genehmigung bemühte, eine Ehe eingehen zu dürfen, da die Zahl der Judenfamilien staatlich beschränkt war und die Erlaubniswerber in der Aufeinanderfolge ihrer Vormerkung an die Reihe kamen. Selbst hatte er einmal über Schabsels Ersuchen bei den Kanzleiherrn auf dem Kreisamt vorgesprochen, um unter Vorhalt der Folgen, die eine solche Maßregel für die öffentliche Sittlichkeit habe, eine raschere Bewilligung für ihn zu erwirken. Es waren aber alle Schritte fruchtlos geblieben.

»Zu Anfang des nächsten Jahres«, sagte Schabsel, »hat mir versprochen der kaiserliche Herr Kommissär, daß ich werd' kriegen meinen Heiratskonsens.«

Es glitt jetzt zum ersten Male etwas wie ein beseeltes Lächeln über das Antlitz des Juden, und zum ersten Male sah er aus wie ein Mensch, der menschlich unter Menschen lebt. Und leise, halb verschämt beinahe, als ob er ihm ein lange still gehegtes Geheimnis mitteilte und ihm einen Blick in sein Innerstes gestattete, sagte er zu Kebach:

»Es wird sein eine Freude für uns, wenn meine Kalle nicht mehr braucht rot zu werden vor unseren Kindern.«

Kebach strahlte. Er freute sich so herzlich, als wäre er selbst an der Sache irgend beteiligt gewesen.

»Na alsdann, ein bissel was geht halt doch vorwärts! Da gratulier' ich recht schön!«