Richard Skowronnek

Sturmzeichen

Roman

 

 

 

Richard Skowronnek: Sturmzeichen. Roman

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

E. Walter, Stadtkirche von Allenburg, vor 1914

 

ISBN 978-3-7437-1086-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0951-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0952-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Berlin, Ullstein, 1914

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Vorwort

In den ersten Maitagen hat die »Berliner Illustrirte Zeitung« den Abdruck meines, im vorigen Jahre geschriebenen Romans begonnen. Als es Hochsommer war, kam die österreichische Note an Serbien, die Mobilmachung Rußlands und an dem denkwürdigen vorletzten Julitag die Erklärung des Kriegszustandes für das deutsche Reichsgebiet. Seitdem hat sich in all seiner großartigen Wucht das gewaltige Drama verwirklicht, der europäische Krieg, dessen Nahen die »Sturmzeichen« ankündigten. Aus der deutsch-russischen Spannung, die die Volkskämpfe am Balkan hervorriefen, ist die Idee meines Romans geboren. Ich wußte, wie es jenseits der russischen Grenzpfähle, in den Kosakenquartieren aussah, ich wollte warnen und zugleich meine ostpreußischen Landsleute schildern in ihrer gelassenen Ruhe und ihrer unbeugsamen Kraft. So ist das Grundgefühl, das meinen Roman durchzieht, die Liebe zur Heimat. Viel Leid hat sie in den letzten Wochen erfahren, aber nur um so herrlicher wird sie aus Verwüstung und Not wiedererstehen.

Berlin, im September 1914

Richard Skowronnek

 

1.

»Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem Rückzuge ... zweitausend Tote, fünftausend Verwundete ... Das neueste, das neueste, das allerneueste Extrablatt ...«

Gellend schrillte die laute Knabenstimme über den in vornehmer Ruhe liegenden Königsplatz, der Portier des Großen Generalstabes verließ seine Loge und trat durch die schwere Flügeltür auf die schon in abendlichen Dämmer getauchte Straße hinaus.

»Kostenpunkt, Kleener?« und er griff in die Tasche.

»For Sie, Herr Jeneral, jratis! Kinder unter zehn Jahren und Militär von' Feldwebel abwärts man bloß de Hälfte ...«

Der kecke Junge in der Uniform einer großen Berliner Zeitung zog das oberste Blatt von dem hohen Stapel, den er im linken Arme trug, und rannte weiter: »Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem Rückzuge ... zweitausend Tote ... fünftausend Verwundete ...«

Der Alte in dem würdigen dunkelblauen Uniformrocke befestigte umständlich einen schwarzen Hornkneifer vor den weitsichtigen Augen und entfaltete das noch feuchte Zeitungsblatt.

»Sofia, 19. Juni. (Telegramm unseres nach dem Kriegsschauplatze entsandten Spezialkorrespondenten.) Sicheren Berichten zufolge, die aus dem Hauptquartier hierher gelangt sind, ist gestern den siegreichen bulgarischen Waffen ein neuer Erfolg beschieden gewesen. Der Division Radulowitsch ist es gelungen, den Feind aus seiner stark befestigten Stellung auf den Höhen von Koprülü-Burgas zu vertreiben. Die Türken verloren zweitausend Tote und fünftausend Verwundete, die Verluste auf bulgarischer Seite werden als gering bezeichnet. Die geschlagene türkische Armee befindet sich in vollem Rückzuge auf ...« Der alte Herr unterbrach sich, rückte das Blatt ein wenig näher an die Augen ... »Wie heißt das? I der Deuwel soll diese pollakschen Namen aussprechen!«

Eine Sprengmaschine kam die Straße entlang, drei Jungen hinterher in hohen Stiefeln und grauen Leinenröcken führten mit eingestemmten Schiebern das rieselnde Wasser über den feuchtglänzenden Asphalt, bis es leise gurgelnd in den neben dem Trottoir liegenden Eisengittern verschwand. Der Führer der Kolonne, der mit einem langgestielten Besen der ausgiebigen Reinigung den letzten Schliff verlieh, faßte militärisch salutierend an die Schirmmütze und trat näher.

»Jehorsamst juten Abend, Herr Feldwebel! Wat Neues?«

»I wo doch! Ejalwech dieselbe Jeschichte. Heut' haben zur Abwechslung mal wieder de Bulgaren jesiegt. Morjen kommen de Türken und demangtieren die Meldung. Die Blase da unten lügt doller wie die Franzosen Anno 70!«

»Sie meinen also, det alles, was in die Zeitungen geschrieben wird, is nich wahr?«

»Na det jerade nich, 'n bißken wat wird schon dran sind. Nur sie iebertreiben ... mächtig! Aus jeder kleenen Priegelei machen se gleich 'ne Schlacht. Jeradeso wie mein Kollege Fielitz aus 'n Kriegsministerium. Der is Angler. Und jeder fingerlange Plötz, den er in' Liepnitzsee fängt an' Sonntag, is hinterher 'n Hecht. Auf 'n linken Oberarm hat er schon 'ne dicke Hornhaut, weil er jedesmal mit de rechte Hand hinschlägt, wie lang det der Hecht gewesen is.«

»Und meinen Se nu, Herr Feldwebel, det wir in diese balkanischen Wirren ooch reinverwickelt werden könnten?«

Der alte Herr strich den schneeweißen Kaiser-Wilhelm-Bart auseinander und versetzte streng: »Det is Amtsgeheimnis, mein Lieber! Darieber muß man den Mund halten können, vastehn Se?«

Der Beamte der Straßenreinigung nahm unwillkürlich die Hacken zusammen.

»Entschuld'gen Se jietigst, Herr Feldwebel! Nur jedetmal, wenn ick hier an't Jeneralstabsjebäude vorbeikomm' – ick hab' nämlich hier den Rejong um 'n Königsplatz – ja also, da muß ick immer denken, die da drin, die wissen't. Und wenn man vier kleene Jören zu Haus hat und 'ne kranke Frau, da macht man sich doch Jedanken. Wer ernährt denn nu det kleene Jewürm, wenn ick einrücken muß?«

»Na, da wird doch for jesorgt werden!«

»Kann sein, kann aber ooch nich sein! Und diese Unjewißheit is beinah' so schlimm, wie wenn's schon wirklich Krieg wär. Sie, Herr Feldwebel, merken das nich so, weil Se immer pünktlich Ihr Jehalt kriegen, aber ich! Ich bin nämlich abends Logenschließer ins Joethetheater. In zweiten Rang. Hundeleer, sag ick Ihnen! Keen Mensch hat Jeld! Wenn se sich amüsieren wollen – for zehn Fennje in Kientopp. Vor zwee Jahren ha'ck noch mindestens 'n Taler einjenommen an Trinkjeld. Heute nich fufzig Fennje! ... Und det stand neulich sehr richtig in de Zeitung: Wenn de drückende Furcht vor'n Krieje nich von den Schultern des Volkes jenommen wird, steuern wir rettungslos den wirtschaftlichen Unterjang entjejen!«

Der alte Herr schob zwei Finger der Rechten zwischen die Knöpfe seiner Uniform und reckte sich.

»Janz schön, aber wie denken sich das nu die Herrschaften in der Zeitung? Soll vielleicht Seine Majestät an de Litfaßsäulen kleben lassen: ›Völker Europas, beruhigt Euch! Unsere heilijsten Jüter sind nich in Jefahr, wenn diese Mauseratzenfaller da unten sich mit de Türken 'rumprügeln!‹?«

Der städtische Reinigungsbeamte schüttelte den Kopf.

»Nee, Litfaßsäule wär' ja nich jerade nötig. Nur, wenn er mal wieder 'ne Ansprache hält, bei 'n Dineh oder so ... Und wenn er bloß 'ne Ahnung hätt, wie groß de Uffrejung in' janzen Volke is! ... Man kommt aus 'n Theater nach Hause um halb zwölf ... Um fünf in der Früh muß man schon wieder dastehen bei Kolonne, ja ... man zieht sich auf de Treppe de Stiebeln aus, um de Olle nich uffzuwecken, aber se liejt da mit jlockenklare Oogen! Und se schnüffelt mit de Neese, um de Tränen runterzuschlucken: ›Jott sei Dank, det Du man wieder da bist, Heinrich!‹ – ›Na, wieso denn? Meenste, ick wär' unter'n Rollwagen jeraten?‹ – ›Nee, det nich, aber wejen Mobilmachung! De Schultzen drieben in Jrienkramkeller hat aus 'n Abendblatt vorjelesen, wir müßten jetzt ooch das Schwert ziehen, wenn de Russen jejen unsere Bundesbrieder, de Österreicher, losjehn würden.‹ – ›Quatsch‹, sag' ick natierlich, aber innerlich is mir jarnich so. ›Unser Friedenskaiser wird doch nich uff eenmal Krieg anfangen?‹ – ›Nee‹, sagt sie, ›er nich, aber die andern! Und wat mach' ick krankes Wurm denn nachher mit die vier Jören, wenn se Dir dotschießen? Ick steck' zehn Jroschen in' Jasautomaten, laß de Kleenen Schnaps trinken, und denn den Hahn uff.‹«

Der alte Feldwebel legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Na, na, na, beruhijen Se man det Frauchen! Und mit det Dotschießen is es nicht so ängstlich! Sehen Se mich an! Vierundsechzig, Sechsundsechzig und Siebzig hab' ich mitjemacht, zweiunddreißig Jefechte und Schlachten. Darunter Düppeler Schanzen und St. Privat! Wat is mir passiert? De Dejenscheide haben se mir abgeschossen, so daß ick meinen Paddenspicker barfuß tragen mußt'! Wat aber ihre sonstigen Beklemmungen sind, da sagen Se ihr, Se hätten mit mir jesprochen! Nach meinen Informationen – wenn nich janz wat Dolles passiert – is an Krieg nich zu denken! Wir halten das scharfgeschliffene Schwert in der Scheide und unser Pulver trocken!«

»Na denn, Jott jebe, det es nich losjeht ...«

Durch die halbgeöffnete Flügeltür kam raschen Schrittes ein junger Offizier in Generalstabsuniform. Sein offenes, frisches Gesicht, in dem ein paar kluge blaue Augen standen, hatte etwas ungemein Liebenswürdiges und Sympathisches. Er hob höflich die Hand an den Mützenschirm.

»Pardon, meine Herren, wenn ich störe ... Sagen Sie mal, lieber Schmidt, ist Herr Hauptmann von Sternheimb schon gegangen?«

Der Alte nahm die Hacken zusammen.

»Nein, Herr Hauptmann, ich hätte es sonst sehen müssen.«

»Also ich gehe langsam voran, da drüben an der Litfaßäule werde ich warten. Guten Abend.«

»Jehorsamst guten Abend, Herr Hauptmann! Werd's ausrichten ...«

Der Beamte der Straßenreinigung sah dem davonschreitenden Offizier wohlgefällig nach.

»'n nobler Herr! Haben Se jehört, Herr Feldwebel? ›Pardong, meine Herren‹, hat er jesagt! Aber det so wat schon Hauptmann is ... ick hatt' jedacht, da kommt 'n janz junger Leutnant!«

»Ja«, sagte der alte Herr, und in seinem Ton klang liebevolle Bewunderung mit, »so wat von Karriere war ooch noch nich da! Een Köppken – det wird mal so sicher Kommandierender General, wie zwei mal zwei vier is! Zum Herbst is er hier fertig, dann kriegt er in der Front 'ne Schwadron, weil er doch früher Kavallerist war, und dann kommt er nach zwei Jahren zurück in' Jeneralstab!«

»I der Tausend! Wie heeßt er denn?«

»Jaston Baron Foucar von Kerdesac!«

»Det klingt ja so französ'sch!«

»Is et ooch! Aus 'ne alte französische Refugiehfamilje!«

Der Beamte der Straßenreinigung schüttelte bedenklich den Kopf.

»Und denn in preuß'schen Jeneralstab? Wo er an alle Jeheimnisse 'ran kann und so?«

Der alte Herr brauste zornig auf.

»Se werden sich Unannehmlichkeiten zuziehn, vastehn Se? Und haben Sie 'ne Ahnung! Mein Hauptmann Anno Siebzig hieß Baron de Saint-Villiers! Ooch 'n französischer Name, aber er jing druff wie Blücher!«

 

Hauptmann von Foucar stand wartend an der Litfaßsäule, las mechanisch die bunten Zettel, die das Vergnügungsprogramm der Reichshauptstadt enthielten, für Leute, die Zeit hatten. Und unwillkürlich mußte er denken, fast fünf Jahre lebte er nun schon in Berlin, mit einer einzigen kurzen Unterbrechung, und von alledem, was sich da anpries, kannte er herzlich wenig. Früher, auf der Akademie, war er doch noch ab und zu einmal ins Theater gekommen, jetzt aber, seit er zum Großen Generalstabe kommandiert war, schluckte einen der Dienst mit Haut und Haaren auf. Ein bißchen einseitig wurde man dabei und vielleicht auch reichlich weltfremd, aber das war nicht zu ändern.

Hinter ihm erklang das Rasseln eines Säbels, ein sporenklirrender Tritt. Er wandte sich um, statt des erwarteten Kameraden kam sein Abteilungschef gegangen. Ein hochgewachsener, hagerer Herr mit einem bartlosen Gelehrtengesicht, dem ein paar scharfblickende Augen unter buschigen Brauen einen Zug stählerner Energie verliehen.

Oberst Wegener hob zwei Finger der Rechten in die Höhe des Mützenschirmes.

»Na, lieber Hauptmann, studieren Sie, in welches Theater Sie gehen wollen?« Die breite Aussprache einzelner Vokale verriet den geborenen Ostpreußen.

Gaston von Foucar erwiderte respektvoll den Gruß seines Vorgesetzten.

»Dazu dürfte es schon zu spät sein, Herr Oberst!«

»Ja, nächstens wird man sich in der alten Bude sein Bett aufschlagen müssen. Und, passen Sie auf, es kommt noch doller. Von Montag an werden wir – wie nennt man es doch in den Fabriken – ja richtig, Nachtschichten einlegen müssen! Na, wie ist's nun? Kommen Sie mit? Wenn ich nicht irre, haben wir denselben Weg nach dem Westen.«

»Sehr wohl, Herr Oberst.« Er nahm die Respektseite seines Chefs: »Und es ist natürlich keine Neugierde – meinen Herr Oberst, daß dieses erhöhte Arbeitspensum unserer Abteilung nicht bloß eine Art von notwendiger Vorsichtsmaßregel ist? Daß diesmal ein bestimmter Entschluß dahinter steht?«

Oberst Wegener hob die hageren Schultern.

»Ich habe den Befehl, für drei Armeekorps, die – entgegen dem bisherigen Mobilmachungsplan – nach Osten geschmissen werden sollen, die nötigen Beförderungsmittel und Fahrpläne auszurechnen. Mehr weiß ich auch nicht, aber aus allerhand Anzeichen schließe ich, daß es diesmal endlich Ernst werden könnte. Es riecht sehr sengerig.«

»Na, Gott sei Dank!«

»Nicht wahr? Es wäre Zeit, daß die Herrschaften da draußen einmal sehen würden, daß unsere Armee nicht bloß 'ne Vogelscheuche ist, der die Spatzen auf der Nase 'rumhopsen dürfen!«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, der Oberst musterte den neben ihm schreitenden Untergebenen mit einem gewissen Wohlgefallen.

»Sagen Sie mal, lieber Foucar, Sie waren wohl nicht sehr begeistert, als man Sie für das letzte halbe Jahr in meine Abteilung verschmetterte?«

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Herr Oberst, ich war in der Tat ein bißchen beteppert.«

»Kann ich verstehen. Den ganzen Tag Fahrpläne schmieden, Waggons 'ranschaffen und Anschlußzeiten ausrechnen ...«

»Sehr wohl, Herr Oberst! Die erste Woche war ich auch ganz trostlos. Wenn ich abends 'rauskam, war mein Gehirn wie Brei von dem unablässigen Rechnen, und ich schimpfte mächtig. Dann aber ging mir der Seifensieder auf. Ich sah mit einem Male die großzügigen Linien in unserer Arbeit, ich empfand – möchte ich sagen – mit einer gewissen Ehrfurcht ihre Wichtigkeit für den Erfolg des Schlages, zu dem der Feldherr ausholt. Ich will mal aufs Geratewohl sagen, in Modrilewo in Ostpreußen sollen genau zwei Tage nach der Mobilmachung drei Regimenter Infanterie, ein Regiment Artillerie und – meinetwegen – die Gumbinner Ulanen stehen. Aber sie sind nicht da. Der Offizier in der Eisenbahnabteilung des Generalstabes hat ein paar Augenblicke lang gedöst ... in der Berechnung der Fahrplanzeiten hat sich ihm ein Fehler eingeschlichen, der auch bei der Revision nicht entdeckt wird. Das Verhängnis ist da! Also da, meine ich, muß man mit Respekt auch an diese Arbeit herangehen, in jedem Augenblick an die große Verantwortlichkeit denken, und dann fängt sie – merkwürdigerweise – auf einmal an zu schmecken!«

Um die bartlosen Lippen des Chefs flog ein Lächeln, er deutete auf die schmale Ledermappe, die sein Begleiter unter dem linken Arm trug.

»Na, und da haben Sie, genußsüchtiger Mensch, eine Portion davon über Sonntag nach Hause genommen?«

»Nicht für mich, Herr Oberst. Ich habe zufälligerweise heute abend Schluß machen können. Aber mein Nachbar, Oberleutnant Wentorp, mußte morgen zu dem Begräbnis einer alten Tante nach Frankfurt an der Oder.«

Der Oberst brummte etwas vor sich hin, was wie »vielleicht auch Verlobung mit 'ner jungen Cousine« klang, und laut fügte er hinzu: »Da haben Sie sich die Arbeit also gutmütigerweise aufhängen lassen!«

»Was sollte ich machen, Herr Oberst? Sie muß doch nun einmal bis Montag früh fertig sein!«

»Wenn der Herr Wentorp in der Woche sich mehr 'rangehalten hätte ... na schön!« Und wieder nach einer kurzen Pause fragte er weiter: »Nach dem Manöver – wenn mit Gottes Hilfe nichts dazwischen kommt – werden Sie nun wieder in die Front kommandiert. Sie möchten natürlich zu ihrem alten Regiment zurück, zu den Karlsburger Ulanen?«

»Nein, Herr Oberst, ich möchte gerne an die Grenze nach Osten. Speziell nach Ostpreußen. Ich habe mal in der Eisenbahn einen Roman gelesen, der dort spielte. Vielleicht mußte man von den begeisterten Schilderungen ein wenig auf das Konto der Heimatsliebe setzen, die den Verfasser beseelte ... aber seit der Zeit habe ich eine gewisse Sehnsucht nach diesem Land der dunklen Wälder und blauen Seen. Nur, wo ich nicht die geringste Protektion habe, keine Stelle weiß, an der ich eine bescheidene Bitte vortragen könnte ...«

Der Oberst hob, ein wenig argwöhnisch, den Kopf. Wenn das ein »Schuster« war, war es jedenfalls ein sehr geschickter ... aber nein, aus jahrelanger Praxis besaß er ein Ohr, das für diese Sorte von streberischen Schmeichlern besonders geschärft war.

»So, so, nach Ostpreußen! Ich kann Ihnen sagen, auch die Menschen dort sind kein übler Schlag. Es lohnt sich, sie näher kennen zu lernen. Und wenn Sie sich an einen gewissen Oberst Wegener wenden wollten ...«

»Ach Gott, Herr Oberst ...«

Der Chef lachte kurz auf.

»Ne, ne, man nicht so voreilig. Der Oberst Wegener ist bloß ein kleines Kirchenlicht, aber wenn's nötig ist, kennt er gewisse Schleichwege von hinten 'rum. Und der Kommandeur von den Ordensburger Dragonern ist ein guter Freund von ihm, in zirka fünf Wochen will der einen seiner Schwadronchefs absägen, spätestens, hat er mir geschrieben, in fünf Wochen. Also würden Sie sehr beleidigt sein, wenn Sie ausnahmsweise schon vor dem Manöver hier aus der Rechnerei 'rauskommen würden?«

»Ach Gott, Herr Oberst ..., und ich weiß wirklich nicht ...«

»Ne, ne, ich weiß ja noch gar nicht, ob's auch einschnappen wird! Und, was ich fragen wollte, hat der Dichter da, von dem Sie vorhin sprachen, auch was über die ostpreußischen Mädels geschrieben?«

»Einen Hymnus, Herr Oberst!«

»Da hat er recht! Und Sie sind doch hoffentlich noch frei?«

Der Hauptmann von Foucar lachte.

»Ganz und gar! Der königliche Dienst läßt einem ja keine Zeit ...«

»Na, denn verplempern Sie sich auch nicht etwa noch in den letzten Wochen! Und lassen Sie sich nicht beirren, wenn nachher in Ordensburg die kleinen Margellchen ›Kartoffelkeeilchen‹ sagen und ›Ärbsen mit Späck‹ ... Das ist nur ein kleines Sommersproßchen, tut der übrigen Schönheit keinen Eintrag. Aber jetzt adieu ... ich sehe da ein leeres Auto kommen, und eben fällt mir ein, meine Frau hat für heute abend ein paar Gäste geladen.« Er grüßte rasch und ging mit langen Schritten über den Straßendamm.

»He, Chauffeur, Uhlandstraße 51!« Und im Einsteigen rief er zurück: »Sehen Sie, lieber Foucar, manchmal geht's auch ohne Protektion! Man muß nur vor die rechte Schmiede kommen ...«

Gaston von Foucar winkte mit der Hand einen respektvollen Gruß, und es stieg ihm heiß in den Augenwinkeln empor. Welch ein prächtiger Mensch, sein sonst so verschlossener und wortkarger Chef! Die angebliche Gesellschaft zu Hause war doch nichts weiter als ein Vorwand, sich den Dankesbezeigungen seines Untergebenen zu entziehen! Na, das ließ sich ja am Montag im Bureau nachholen, oder besser noch, man bewies seinen Dank mit der Tat. Arbeitete diese letzten Wochen noch schärfer als bisher, damit der Oberst auch sah, daß er seine Gunst keinem Unwürdigen zugewandt hatte. Ein unbändiges Glücksgefühl schwellte seine Brust. In fünf Wochen war er draußen, wieder in der Front! Sauste an der Spitze einer Schwadron – seiner Schwadron – über das Blachfeld, den blanken Säbel in der Faust ... Wenn das Glück gut war, gleich über die Grenze, in Feindesland ... Wahrhaftig, Zeit war es, daß das deutsche Vaterland sich einmal darauf besann, das Schwert aus der Scheide fliegen zu lassen und mit mächtigen Schlägen um sich zu hauen. Die Herrschaften rechts und links bildeten sich sonst womöglich ein, es wäre eine eingerostete alte Plempe, auch kein Stahl mehr, sondern ein mit Stanniol beklebter Waschlappen ... eia, das sollte eine Enttäuschung geben! ... Und mitten in aller Freude flog es ihm durch den Sinn, von welchen Zufälligkeiten doch Menschenschicksale gelenkt wurden. Wenn er sich aus irgendeinem Grunde ein paar Minuten länger bei der Arbeit aufgehalten hätte, wäre die so folgenreiche Begegnung mit dem Chef doch niemals zustande gekommen.

Also hatte er mal wieder Glück gehabt, richtiges Soldatenglück, und eigentlich hätte es sich gehört, auf dieses fröhliche Ereignis eine gute Flasche zu setzen. Aber schließlich, wenn er auch in das Restaurant fuhr, in dem er sich ab und zu mit einigen Herren seiner Abteilung traf, so nahe stand ihm keiner von ihnen, daß er hätte sagen können: »Kommen Sie, ich muß Ihnen bei 'nem Glas Sekt erzählen, was ich eben für einen Riesendusel entwickelt habe ...« So etwas verwahrte man am besten still im eigenen Busen, wenn es bei dem anderen nicht sehr gut aufgehoben war ... Und dann war da auch die nun mal übernommene Arbeit, und schließlich konnte man die gute Flasche auch für sich allein zu Hause trinken, der kleinen alten Dame im Schwabeländle einen Gruß schicken ... Sie war doch die einzige, die sich ehrlich freute, wenn ihr Junge wieder 'mal Glück gehabt hatte. Die S-Bahn kam gefahren, bremste an der Haltestelle, er stieg auf ... es ging über den Großen Stern nach Hause.

Auf dem Hinterperron des Anhängewagens stand ein kleiner junger Herr in modisch geschnittenem Sommerpaletot. Er lüftete grüßend den Hut, an seinem rechten Handgelenk blitzte ein goldenes Kettenarmband. Hauptmann von Foucar erwiderte den Gruß, aber konnte sich nicht entsinnen, wo er den Herrn kennen gelernt haben mochte. Der stellte sich ihm gegenüber: »Herr Hauptmann besinnen sich wohl nicht mehr auf mich?«

»Ich muß in der Tat sagen, so im Augenblick ...«

Der kleine Herr lüftete wieder seinen Hut.

»Ich hatte vor einiger Zeit einmal im Pschorr die Ehre ... Segebrecht von den Malchower Dragonern.«

»Ach so, jetzt natürlich ... Sie sind wohl wieder mal zum Rennen hier?«

»Ja, ich reite morgen im Grunewald den Marghilan meines Regimentskameraden Hollenbeck. Wenn ich Herrn Hauptmann einen Tip geben darf: da ist auf Sieg und Platz eine ganz anständige Quote zu landen.«

»Danke verbindlichst, aber ich glaube kaum, daß ich morgen Zeit finden werde ...«

Der Kleine griff eifrig in die Tasche.

»Nun, für alle Fälle – wenn ich mir gestatten darf – ein Tribünenbillett ...«

»Aber, ich bitte sehr, dafür werden Sie doch sicher eine bessere Verwendung haben.«

»Nein, wahrhaftig nicht ... ich habe es zudem selbst geschenkt gekriegt.«

»Nun denn, schönsten Dank« – Gaston von Foucar schob das Billett unter den Ärmelaufschlag seines Überrockes – »und Weidmannsheil für morgen!«

Der Malchower Dragoner klappte die Hacken zusammen.

»Weidmannsdank, Herr Hauptmann! Und merken Sie sich den Namen Marghilan im Fortuna-Jagdrennen. Es ist das vorletzte. Herr Hauptmann können getrost ein Pfund auf meine Chance riskieren. Es gibt todsicher zwanzigfaches Geld, denn außer mir hat niemand eine Ahnung, daß der Gaul so grobe Klasse ist! Na und schließlich, der Steuermann, der draufsitzt, ist doch auch kein Neuling zwischen den bunten Flaggen.«

Gaston mußte unwillkürlich lächeln. Wie siegesgewiß der kleine Dragoner dastand ...

»Na, wenn die Sache so absolut sicher ist ... Aber wie soll ich mich nun für den zu erwartenden Riesengewinn revanchieren?«

»Indem Herr Hauptmann mir ebenfalls einen kleinen Tip geben.« Der junge Offizier trat ein wenig näher und sprach halblaut: »Unsereins da in der Provinz hat doch keinen Schimmer, was wirklich passiert ... also glauben Herr Hauptmann, daß es Krieg geben wird?« Es war dieselbe Frage, die in diesen aufgeregten und schweren Zeiten auf aller Lippen stand.

Gaston zuckte mit den Achseln.

»Da fragen Sie mich zuviel, Herr Segebrecht. Das kann kein Mensch in diesem Augenblick wissen.«

»Nun, ich meine, die Herren im Generalstabe können doch aus den ihnen zugewiesenen Arbeiten immerhin einige Schlußfolgerungen ziehen.«

»Ganz recht, aber Sie überschätzen mich. Ich bin in dem Riesenbetrieb nur ein ganz kleines Rädchen, das an dem ihm zugewiesenen Platze mechanisch sein Pensum herunterschnurrt.«

Der kleine Dragoner machte ein etwas niedergeschlagenes Gesicht.

»Herr Hauptmann wollen bloß nicht! Und da kommt man nun übermorgen zurück in das kleine Nest, alles bestürmt einen mit Fragen, der Kommandeur an der Spitze: ›Na, Segebrecht, haben Sie in Berlin was Neues gehört? Wann reiten wir nun?‹ Da steht man denn ganz blöd da ... Und zum Schwindeln ist die Sache selbst doch viel zu ernst.«

»Ganz gewiß! Vor allem viel zu ernst, um mit einigen leichtfertig hingesprochenen Redensarten allerhand Befürchtungen oder Hoffnungen zu wecken. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Kommandeur, unbekannterweise, und es lägen durchaus keine Anzeichen vor, aus denen man schließen könnte, der Krieg wäre näher als sonst in all den letzten Jahren. Es wird scharf gearbeitet natürlich.«

Der Wagen hielt auf der Corneliusbrücke, der Malchower Dragoner streckte seinem Gegenüber respektvoll die Hand entgegen.

»Heißen Dank, Herr Hauptmann! Man weiß doch jetzt Bescheid, und es wird meinem Kommandeur riesig imponieren, wenn ich ihm auf Grund so autoritativer Auskunft ein Exposé über unsere auswärtige Lage hinschmettern kann – aus dem Handgelenk! ... Aber jetzt müssen Herr Hauptmann mich entschuldigen, ich habe in der Nähe noch einen Besuch in Familie zu erledigen.«

Er stieg eilig aus, und Gaston sah ihm lächelnd nach. Die »Familie« schien in einer schlanken jungen Dame zu bestehen, die vom Brückengeländer her mit ausgestreckter Hand auf ihn zutrat. Ein netter kleiner Käfer war's, und er hatte recht, der Malchower Dragoner! Ein paar weiche Mädchenlippen waren kurzweiliger als ein muffig riechendes Aktenstück, in dem endlose Zahlenreihen umzurechnen waren. Und wer mochte wissen, wer auf dem besseren Wege war, der ehrgeizige Arbeiter, der sich kaum eine Pause des Verschnaufens gönnte auf dem steilen Wege zum Ziel, oder der sorglos dahinlebende Leutnant? Kein Mädel am Wege, dem er nicht keck den Hof machte, kein Trunk im Glase, den er verschmähte. Wenn die Stunde schlug, hatte er wenigstens etwas genossen vom Leben! Und die Kugel, die geflogen kam, machte keinen Unterschied. Ob der Schädel da sich mit hochfliegenden Plänen trug, oder ob hinter ihm leichtfertige Gedanken wohnten, Spiel, Weiber, Rennen und Jagen.

Das Blut ging ihm unruhiger als sonst durch die Adern. Als er jedoch zu Hause war, setzte sich der Hauptmann von Foucar hinter das Aktenstück. In ein paar Stunden glaubte er fertig zu sein, aber der Oberleutnant Wentorp, der angeblich in Frankfurt an der Oder eine alte Tante begrub, hatte von seiner kameradschaftlichen Gefälligkeit einen etwas ausgiebigen Gebrauch gemacht. Das war die Arbeit von zwei Tagen, die er ihm da aufgehalst hatte.

Sein Bursche, ein biederer Schwab von den Karlsburger Ulanen, erschien in der Stubentür.

»Habe der Herr Hauptmann sonscht noch Befehle?«

»Ja, Häberle. Brühen Sie mir einen kräftigen Tee auf, es wird heut wohl wieder mal eine lange Nacht geben.«

»Befehl, Herr Hauptmann.«

 

2.

Über der weiten Bahn im Grunewald schien die helle Sommersonne, zauberte schimmernde Reflexe auf den grünen Rasen und die bunten Toiletten, die den weiten Platz vor den Tribünen füllten. Ab und zu brachte ein leichter Wind den würzigen Duft der hohen Kiefern herüber, die die riesige Bahn umsäumten, überall in der Runde mit ihren dunklen, gezackten Kronen den Ausblick schlossen.

Als Gaston von Foucar sein Billett am Eingange vorzeigte, kam von den Tribünen her ein wirres Durcheinander von Schreien und lauten Zurufen: »Mohnblüte macht's ... Mohnblüte ... feste, Bullock ... feste ...«, und schließlich ein einziges, wüstes Geräusch, in dem nichts mehr zu unterscheiden war. Jäh danach eine kurze Pause, dann wieder wie ein übers Feld rollender Donner: »Mohnblüte ... Bullock ... Mohnblüte ...«

Er schlenderte langsam der Tribüne zu. Anscheinend hatte er den Anfang versäumt, die ersten Rennen waren schon geritten. Im Grunde interessierte ihn nur das vorletzte. So stumpf wurde man im täglichen Dienst, daß man kaum noch teilnahm an den Kämpfen auf dem grünen Rasen, die jedes Reiterherz doch höher schlagen lassen mußten. Aus der aufgezogenen Nummer an dem hohen, weißen Gestell und aus dem Programm ersah er, daß die Graditzerin »Mohnblüte« ein Lot von vierzehn, zum Teil in England gezogenen Pferden geschlagen hatte. Das war ja ganz erfreulich, gewiß, aber er sah doch mit einem leisen Kopfschütteln zu, wie das elegante Tribünenpublikum dem in schwarz-weißem Dreß zur Wage zurückreitenden Jockei eine Huldigung bereitete wie einem aus siegreicher Schlacht heimkehrenden Feldherrn. Wenn die Damen aus so unbeträchtlichem Anlaß schon mit begeisterten Schreien Blumen warfen, Schirme schwenkten und dem blasiert lächelnden Jockei im Sattel die Hand schüttelten, welche Steigerung gab es da noch, wenn irgend eine große Tat zu krönen war im Dienste des Vaterlandes? Rissen sie sich da die Kleider herunter und warfen sie die nackten Leiber vor die Rossehufe? Ungesund war das alles, hysterische Übertriebenheit, die sich kein Maß zu finden wußte.

Er ging durch die Gruppen, die sich um die Erfrischungsstellen drängten, die Kassen des Totalisators stürmten. Überall fieberte es von Erregung. Die Kapelle der Gardedragoner im Musikpavillon intonierte ein militärisches Potpourri, das mit dem alten Schlachtgesang anfing: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben ... die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran.« Ein Teil des Publikums sang mit ... wie eine Entweihung kam es ihm vor.

Die Hauptrennen waren gelaufen, der Himmel verfinsterte sich plötzlich, ein leichter Sommerregen strich über die Flur. Da nahm die geputzte Menge Reißaus. Nur die Wenigen blieben zurück, die an dem Ausgange der letzten Ereignisse interessiert waren. Er mitten darunter – er hatte dem Malchower Dragoner ja versprochen, ein Goldstück auf – wie hieß der Gaul doch gleich? – ja, richtig, auf Marghilan zu setzen.

Das Pfund ging verloren, der hochbeinige Schinder zeigte schon am Start das Gelüst, seitwärts auszubrechen. Vor dem Wassergraben streikte er, war weder mit Peitsche noch Sporn hinüberzubringen. Da machte sich der Hauptmann von Foucar auf den Weg. Und er lächelte. Das Selbstvertrauen des kleinen Dragoners war ein wenig größer als sein reiterisches Können gewesen. Auf solch einen Riesengaul gehörte einer, der stärker war, der diesem Verbrecher den Herrn und Meister zeigte, mit Faust und Schenkeln. An den Tribünen ging er vorbei, über den zweiten und dritten Platz, wo Gentlemen ohne Hemdkragen, laut streitend, den Gewinn der Wettgenossenschaft verrechneten. Die Treppe hinauf zu dem Restaurant. Laute Musik – in dem weiten, von einen Glasdache überdeckten Raume kein Platz mehr frei.

An einem langen, dichtbesetzten Tische in der Nähe des Einganges reckte sich ein blauer Ärmel in die Höhe, besetzt von Silberlitzen. Ein Landsberger Husar, der mit ihm zusammen die Akademie besucht hatte. Leider mit mangelhaftem Erfolge, nicht mal zur höheren Adjutantur hatte es gereicht. Er diente in der Front weiter als ein mißvergnügter alter Oberleutnant.

»Holla, Foucar, suchen Sie jemanden?«

»Nur einen Platz, um ein Kotelett zu essen! Ich komme fast um vor Hunger.«

»Na, denn hierher, ran! Wenn wir ein bißchen zusammenrücken, geht's schon!«

Er zwängte sich durch die engen Stuhlreihen. Der Landsberger Husar sagte laut mit einer vorstellenden Handbewegung: »Herr Hauptmann Baron von Foucar vom Großen Generalstab ... Frau Rheinthaler – noch vor kurzem eine unserer gefeiertsten Bühnenkünstlerinnen – Herr Rheinthaler. Die anderen Herrschaften mögen sich gefälligst selbst ...«

Die in der Nähe sitzenden Herren murmelten mit leichter Verneigung einen Namen, die übrige Gesellschaft nahm kaum Notiz von dem neuen Tischgenossen. Ein Kellner brachte einen Stuhl herbei, Hauptmann von Foucar schob sich neben den Landsberger Husar. Ihm gegenüber saß Frau Rheinthaler, eine junge Dame von etwa sechs- oder siebenundzwanzig Jahren in einem raffiniert einfachen hellen Kleide, das alle Vorzüge ihrer ein wenig üppigen Figur zur Geltung brachte. Aus einem schmalen, mit Venetianerspitzen besetzten Ausschnitte hob sich ein prachtvoller Hals, darüber ein klassisch schönes Gesicht ... große, dunkle Augen, deren Iris leicht bläulich schimmerte, eine gerade, feine Nase mit beweglichen Flügeln und unter einer wahren Flut dunkelblonden Haares ein paar rosige kleine Ohren. Alles ein wenig zurechtgemacht. Unter den großen Augen ein leichter Strich, die Lippen und Ohrläppchen ein bißchen zu rot, aber das Ganze von frappierender Wirkung. Eins jener Gesichter, nach denen man sich unwillkürlich umsah, wenn man ihnen in der Menge der gleichgültigen begegnete.

Frau Rheinthaler hob in komischem Zorn die Hummergabel gegen den Landsberger Husar: »Sie Bösewicht! Müssen Sie denn immer gleich verraten, daß ich früher einmal beim Theater war?« Der neben ihr sitzende Gatte, ein hagerer Herr mit starker Hakennase und eingefallener Brust, führte hüstelnd die knochige Hand zum Munde: »Sei friedlich, liebe Josepha, in fünf Minuten hättest Du es dem Herrn Hauptmann da drüben ganz von selbst erzählt.« Und zu Herrn von Foucar gewendet, fragte er: »Sind Sie Theaterhabitué? Nicht ... na, dann muß ich noch einmal vorstellen ...« Er wies leicht auf die Gattin: »Pepi Hohenthal, vor einigen Jahren die entzückendste Dame de chez Maxim, die es je gegeben hat. Als ich ihr mit Selbstmord drohte, wenn sie ihre himmlischen Fußgelenke noch fernerhin jedem Laffen zur Bewunderung preisgäbe, der vier Mark fünfzig Entree bezahlte, hatte sie Mitleid und heiratete mich. Ihr Interesse am Theater beschränkt sich jetzt nur noch auf einige Gastspiele in der Proszeniumsloge bei den Premieren. Da wartet sie, bis die frühere Kollegin auftritt, sich nach dem Herzen greift und vor Ärger gelb und grün wird.« Er hob sein Glas mit eisgekühlter Erdbeerbowle und trank der Gattin lächelnd zu.

Die Umsitzenden brachen in Lachen aus, Herrn von Foucar wurde es ein wenig unbehaglich zumute, an eine solche Unterhaltung war er nicht gewöhnt. Sein Nachbar aber stieß ihn unter dem Tisch mit dem Fuß an und raunte ihm zu: »Bloß keine verwunderten Augen machen, sind in ihrer Art ganz famose Leutchen und führen das gastfreieste Haus im ganzen Westen ...« Er nickte dazu. Was ging es ihn an? Heute hatte er diese Menschen kennen gelernt, morgen sah er sie nicht mehr.

Die Unterhaltung am Tische wurde allgemein, man erörterte die Ereignisse des Renntages, und Gaston von Foucar erfuhr, daß Herr Rheinthaler dem Sport nicht nur als Zuschauer huldigte, sondern Besitzer eines namhaften Stalles war. Zwei seiner Pferde hatten an der Hauptkonkurrenz des Tages teilgenommen, das eine als Schrittmacher, das andere als erklärter Sieger, beide aber hätten durch die Schuld der Jockeis unter den Unplacierten geendet. Der Landsberger Husar erklärte seinem Gegenüber eifrig, welche Fehler zu dem Verluste des Rennens geführt hätten, Frau Rheinthaler schob ihren Teller zur Seite und legte die schönen Arme auf den Tisch.

»Sie sind wohl fremd in Berlin, Herr Hauptmann?«

Gaston verneigte sich leicht. »Wie man's nehmen will, gnädige Frau. Ich bin schon einige Jahre hier. Zuerst auf Akademie, jetzt im Generalstab. Aber ich habe mich nicht viel um Anschluß bemüht. Ich hatte nämlich immer reichlich zu arbeiten.«

»Interessieren Sie sich für den Sport?«

»Natürlich! Jeder Kavallerist muß sich dafür interessieren. Die Hindernisrennen sind gewissermaßen die letzte hohe Schule für unsere Reiteroffiziere. Aus den auf dem grünen Rasen gewonnenen Erfahrungen ...«

Frau Rheinthaler schnitt ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung die Rede ab.

»Ah was! Wegen der Wetten reiten doch bloß die meisten von Ihnen, und nachher wird gespielt. Manchmal, wenn ich schon wieder aufsteh', sitzen sie noch mit meinem Mann zusammen im Herrenzimmer. Schrecklich – er ruiniert sich dabei. Nicht mit dem Geld. Da kann er verspielen, so viel er will, aber mit der Gesundheit hält er's nicht aus. Er hat einen schlimmen Herzfehler, und seine Lungen sind angegriffen. Der Doktor meint, jeden Tag könnt's eine Katastrophe geben, wenn er's so weiter treibt, er aber lacht bloß dazu. Er allein müßt doch am besten wissen, was ihm gut wär ... Und wenn er mal zusammengeklappt ist, eine halbe Wochen zu Bett liegen muß, geht's hinterher um so ärger los. Auf alle Rennplätze schleppt er mich, nicht nur in Deutschland, und die Nächte sitzt er mit den Karten in der Hand. Ich aber ... für mich ist das alles entsetzlich. Bei den Rennen langweil ich mich zum Sterben, versteh partout nicht, wie man sich drum aufregen kann, ob eins von die Rösser schneller lauft als das andere.«

Frau Josepha machte eine kleine Pause, tippte ihren Gatten auf den Arm: »Du Fritzerl, bitt schön, a Zigaretten.«

Herr Rheinthaler hielt ihr die Dose hin, ohne sich umzusehen oder sein Gespräch mit dem Landsberger Husaren zu unterbrechen. Gaston von Foucar aber fragte sich verwundert: Weshalb erzählt mir die Frau bloß das alles? Vor kaum einer Viertelstunde hab ich sie kennen gelernt, und sie breitet vor mir Intimitäten aus, die man sonst doch für sich behält.

Frau Josepha hatte sich die Zigarette angesteckt und sprach weiter. Mit einer leicht verschleierten, aber angenehm klingenden Stimme, der die leise wienerische Färbung einen eigentümlichen Reiz verlieh. Und sie nahm das Gespräch genau an dem Punkte wieder auf, an dem sie es abgebrochen hatte.

»Ja, also ... stumpfsinnig kann man bei diesem Leben werden. Und man sehnt sich nach den Zeiten zurück, wo man noch Interessen hatte. Nicht eine blöde Rolle zweihundertmal nacheinander zu spielen, Abend für Abend, sondern neue Aufgaben zu gestalten. Ich war nämlich nicht nur in Berlin am Theater, sondern früher in Wien, und da spielten wir mit wechselndem Repertoire, Ibsen, Strindberg, Shaw, und man fand doch einen Widerhall, wenn man was geleistet hatte. Die ganze Stadt sprach von so einer neuen Rolle. Wie ich z. B. die Hedda Gabler kreiert hatte ...«

Herr Rheinthaler wandte sich halb um, das letzte schien er gehört zu haben.

»Entschuldige, liebe Josepha, ich möchte nur meine Zigaretten wieder haben.« Und mit einem leicht spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Sie können nachher zu Hause die Kritiken lesen, Herr Hauptmann. Es war phänomenal, ganz Wien war begeistert, hingerissen, verrückt. Ein Jüngling erschoß sich an der Theaterkasse, weil er zu der zweiten Vorstellung keinen Platz mehr kriegen konnte, und im Gemeinderat stellte ein Abgeordneter den Antrag, der göttlichen Darstellerin der Hedda Gabler schon jetzt ein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in sichere Aussicht zu stellen, natürlich gratis und franko.«

Frau Josepha blies gleichmütig einen kunstvollen Ring aus ihrer Zigarette, hob ein wenig die vollen Schultern und machte zu ihrem Gegenüber eine bezeichnende Geste: »Da, sehen Sie? Wenn wir uns nur gegenseitig frozzeln können! Aber im Ernst: Ich möcht nicht, daß Sie glauben, ich schwatz Ihnen da was vor! Wollen Sie heute abend unser Gast sein? Es sind nur ein paar Leute da. Es gibt auch bloß eine Tasse Kaffee, eine Zigarette und vielleicht, wenn die Stimmung danach ist, ein bisserl Musik.«

Gaston verneigte sich leicht: »Sehr liebenswürdig, gnädige Frau, aber ich habe zu Hause eine Arbeit liegen, die ich unbedingt bis morgen früh ...«

Herr Rheinthaler fiel ihm ins Wort: »Keine Ausflüchte, Herr Baron! Das Vaterland wird nicht in Gefahr geraten, wenn Sie sich zur Abwechslung mal keine Schlachtpläne ausdenken! Und jetzt auch nicht mehr lang gefackelt! Die Autos stehen unten. Kellner, zahlen!«

Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Herr von Foucar gedachte, sich auf dem Wege zum Ausgange unauffällig zu entfernen. Da traf ihn ein bittender Blick aus Frau Josephas Augen, und er ging mit.

An der Garderobe fand er Gelegenheit, den Landsberger Husar für ein paar kurze Minuten beiseite zu nehmen.

»Sie, Wodersen, sagen Sie mal ...«

Der Kleine hob die Hand: »Weiß schon! Sie wollen mich anpöbeln, daß ich Sie in diese Gesellschaft da verschleppt habe! Glauben Sie mir, es ist nicht die schlechteste. Der Mann fällt einem mit seinen ein bißchen saloppen Manieren ja auf die Nerven. Aber er macht von seinem immensen Reichtum den denkbar vernünftigsten Gebrauch. Zwei Jahre hat er höchstens noch zu leben – da lebt er eben, wie's ihm Vergnügen macht. Rennen, Jagd, Kartenspielen. Namentlich das letzte. Wenn er zehn Stunden beim Poker gesessen hat, und sein Arzt macht ihm Vorwürfe, zuckt er mit den Achseln. Er sollte lieber seinen Scharfsinn anstrengen, einen neuen Spieltisch zu erfinden, für Leute, die nicht mehr viel Zeit haben. Mit dem Mischen und Kartengeben gingen jedesmal drei kostbare Minuten verloren.«

»Nun, und die Frau?«

»Ach, weil sie Ihnen gleich in der ersten Viertelstunde anvertraut hat, was man sich manchmal erst nach längerer Bekanntschaft erzählt? Ich hab mit halbem Ohr hingehört – da brauchen Sie sich nichts drauf einzubilden! Das ist ihr gerade so durch den Kopf geschossen, und da mußte sie es aussprechen. Wenn sie zum Beispiel gefunden hätte, daß Ihre Frisur Sie nicht kleidet, hätte sie's vielleicht ebenso gesagt.«

»Aber das ist doch ...«

»Ein bißchen unerzogen, wollen Sie sagen? Ich weiß nicht! Ich werd' aus der Frau nicht klug. Manchmal glaube ich, es ist bei ihr eine Art von Koketterie, manchmal, sie ist so unbedingt wahrheitsliebend, daß sie es verschmäht, anders zu sprechen, als sie im Augenblick gerade denkt. In einer Art von souveräner Unbekümmertheit wie eine Naturkraft, möchte ich sagen, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Na, Sie werden sich ja selbst ein Urteil bilden können, wenn Sie von jetzt an öfter in dem Rheinthalerschen Hause verkehren.«

»Ich denke nicht daran«, sagte er lachend. Der kleine Husar aber zuckte mit einem leichten Seufzer die Achseln.

»Ich kenne manche, die so ähnlich gesprochen haben wie Sie ... aber so ziemlich alle bisher sind wiedergekommen.«

Ein Diener in dunkler Livree hatte Frau Josephas Hütchen in einer Lederschachtel verwahrt, sie trat in Automantel und Kapuze auf Gaston zu.

»Sie fahren neben mir, Herr Hauptmann! Ich steuere meinen Wagen selbst, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich hab' mich selbst viel zu lieb, als daß ich eine Unvorsichtigkeit begehen könnte.« Und, als sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen, sah sie ihn lächelnd an.

»Na, wie war nun der Steckbrief, den Herr von Wodersen Ihnen über mich gegeben hat?«

»Fishing?« fragte er zurück.

In ihrer weißen Stirn erschienen ein paar senkrechte Fältchen.

»Ich wünsche nie, Komplimente zu hören. Merken Sie sich das, bitte, wenn wir gute Freunde werden wollen!« Und da trieb ihn eine seltsame Lust, genau so aufrichtig zu sprechen, wie sie.

»Gnädige Frau, ich bitte gehorsamst um die Erlaubnis, sagen zu dürfen, daß ich dazu keine Zeit haben werde. Ich habe viel zu viel zu arbeiten, um daneben irgend welche Freundschaften pflegen zu können. Wenn ich jetzt mit Ihnen fahre, weil ich zu höflich war, die Einladung Ihres Herrn Gemahls abzulehnen, so kostet das mich meinen wohlverdienten Schlaf. Die Arbeit, von der ich vorhin sprach, muß morgen früh fertig sein.«

Frau Josepha blickte, ein wenig verwundert, auf.

»Und deswegen entschuldigen Sie sich? Herr von Wodersen hat mir schon erzählt, wie viel Sie zu arbeiten haben, vorhin, wie Sie mir auf dem Rennplatz auffielen ...«

»Ich? Und wodurch, wenn ich fragen darf?«

Sie errötete ein wenig.

»Das sag' ich Ihnen ein andermal! Na, und nun der Steckbrief.«

»Ja, gnädige Frau, ich weiß nicht ... also gut, ich hatte mich gewundert, daß Sie so rückhaltlos zu mir sprachen. Über Dinge, die man sonst ... na, und da versuchte Herr von Wodersen, mir das zu erklären. Ich hätte mir darauf nichts einzubilden, weil Sie immer aussprechen würden, was Sie gerade denken. Aus unbedingter Wahrheitsliebe oder – ich weiß nicht recht mehr – aus Bequemlichkeit ...«

Frau Josepha sah sinnend geradeaus.

»Ich weiß es selbst nicht. Als Kind hab' ich vielleicht zu wenig Schläg' gekriegt. Ich war ein arg verzogener Fratz ... Aber in einem hat er unrecht, der Herr von Wodersen nämlich: Sie dürfen sich doch was drauf einbilden! Ich war furchtbar ärgerlich und verstimmt. Jeder andere hätte Grobheiten zu hören gekriegt, aber bei Ihnen war mir's halt so, als müßt' ich Ihnen erklären, weshalb ich so verstimmt war ...«

»Komisch«, mußte er unwillkürlich denken, »das eitle kleine Frauenzimmer da bildet sich wahrhaftig ein, es wäre so etwas wie der Mittelpunkt der Welt.«

Frau Josepha setzte sich hinter das Steuer, er nahm zu ihrer Linken Platz, der Chauffeur drehte die Kurbel an und sprang auf den langen Seitentritt.

»Wir haben nur ein paar Minuten zu fahren«, sagte sie, lenkte den schweren Wagen durch eine Lücke der die breite Heerstraße entlangziehenden Fuhrwerke in freie Bahn. »Und auf das, was Sie eben gedacht haben, antwort' ich Ihnen zu Hause. Jetzt muß ich aufpassen ...«