Titel
Impressum
Das erste Anklopfen
Rückblick
Die große Liebe
Hochsensibel
Der „Ruf“
Das große Glück
Familienleben
Im letzten Moment
Absolut gesund
Herzrasen
Erste Hilferufe
Alarm vor der Tafel
Mein Herz macht einen Sprung
Illusionen gehen verloren
Rekonstruktionen
Panik
Mein langsamer Abstieg
Doktor Google
Nicht mehr sicher
Lichtblicke
Das Ende der Lügen
Die Wahrheit und wieder die Lüge
Herzstolpern
Ganz unten
Der Makel meines Herzens
Dem Tod so nah
Auf die Piste
Psychotherapie
Wenn ich jetzt sterbe
Der Notarzt kommt
Galgenfrist
Im Krankenhaus
Ausgeliefert
Trauma
Katharina bei Mona Lisa
Katharina Dumas
Im falschen Rhythmus
Als mein Herz außer Rand und Band geriet und ich als
Hypochonder abgestempelt wurde
Autobiografie einer unerkannten Krankheit
DeBehr
Copyright by: Katharina Dumas
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
ISBN: 9783957538581
Erstauflage: 2021
Grafik Copyright by AdobeStock by © Nitiphol
Das erste Anklopfen
Ich war 34 Jahre alt, als mich das merkwürdige Herzrasen zum ersten Mal heimsuchte. Wie alle jungen Menschen ohne nennenswerte Gesundheitsprobleme erwartete ich nicht, jemals krank zu werden oder hatte zumindest die ganz selbstverständliche illusorische Vorstellung von einer unerschütterlichen Gesundheit.
Im Grunde genommen passierte es ganz unspektakulär: Ich lag auf meiner Couch und träumte ein wenig vor mich hin, dann stand ich auf, um in die Diele zu gehen. Nach dem ersten Schritt spürte ich, wie mein Herzschlag aus dem Nichts in einen unglaublich schnellen Rhythmus überging. Es war nicht einfach ein stärkeres Klopfen, es war ein haltloses Rasen. Erschrocken schnappte ich nach Luft, griff mir an die Brust und lenkte dennoch meine Schritte bis in die Diele weiter, so als könne ich gar nicht glauben, dass gerade etwas Merkwürdiges und Unerklärliches mit meinem Körper passierte. In der Diele angekommen war der erste Schock überwunden. Ich ließ mich zu Boden sinken, da ich instinktiv vermeiden wollte, ohnmächtig hinzufallen und mit dem Kopf aufzuschlagen. An die Wand gelehnt, atmete ich tief ein und aus, in der Erwartung, dass sich der Herzschlag daraufhin beruhigen würde – doch das geschah nicht! Mit Entsetzen stellte ich fest, dass mein Herz überhaupt nicht auf die ruhige Atmung reagierte. Es war, als habe es sich plötzlich völlig von mir abgekoppelt, gewissermaßen selbstständig gemacht und führe ein Eigenleben. Eine neue Schockwelle überflutete mich.
In meiner Brust tobte etwas mit der Härte und Geschwindigkeit eines Presslufthammers – und ich konnte rein gar nichts dagegen tun! Hilflos musste ich das irrsinnige Treiben über mich ergehen lassen. Bestürzt und fassungslos rutschte ich an der Wand herunter, bis ich fast auf dem Boden lag, und rief: „Jan!“
Mein Mann erkannte offenbar am Ton meiner Stimme, dass etwas los sein musste, und kam mit schnellen Schritten die Treppe herunter. „Ja?“ Unsere beiden Kinder folgten ihm mit ebenfalls leicht erschrockenen Gesichtern. In diesem Moment endete das Herzrasen, so plötzlich, wie es eingesetzt hatte. Mühsam rappelte ich mich auf. „Oh Gott!“, sagte ich bestürzt. „Ich hatte gerade einen fürchterlichen Kreislaufanfall. Was war das denn?“ Ich stand mit weit aufgerissenen Augen vor meiner Familie. „So ein Herzklopfen habe ich noch nie gehabt.“ Mein Mann Jan, der in aufgeregten Situationen immer recht abgeklärt reagierte, wollte mich beruhigen: „Na, jetzt ist es ja vorbei, oder nicht?“
„Ja, schon. Aber das gerade eben …“ Ich schüttelte den Kopf. Um die Kinder nicht weiter zu beunruhigen, bemühte ich mich um einen entspannten Gesichtsausdruck. Ich war aufgewühlt, versuchte jedoch, mich zu beschwichtigen. Immerhin hatte das seltsame Herzrasen nach wenigen Sekunden wieder aufgehört.
Am Abend, als die Kinder im Bett lagen, versuchte ich noch einmal, mit Jan darüber zu sprechen: „Es war wirklich komisch. Das habe ich noch nie erlebt. Es fing so plötzlich an, und mein Herz hat wirklich wie verrückt geschlagen.“ Jan konnte sich die Sache auch nicht erklären, meinte jedoch: „Wenn etwas plötzlich anfängt, hört es meist schnell wieder auf. Komische Dinge passieren eben. Wahrscheinlich ist es nichts.“
„Ja, hoffentlich“, antwortete ich. Dennoch hatte ich bereits an diesem Abend eine tiefe Ahnung, dass das seltsame Herzrasen mich von nun an beschäftigen würde. Das Gefühl, einige Sekunden lang völlig die Kontrolle über meinen Körper verloren zu haben und zu spüren, wie mein Herz sich von sämtlichen biologischen Gesetzmäßigkeiten verabschiedet hatte, war erschreckend gewesen.
Als wir etwas später zu Bett gingen, sagte ich nachdenklich: „Es war, als ob ein Impuls hin und her springen würde.“ Ich war noch Jahre davon entfernt zu ahnen, dass ich damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Rückblick
Die Krankheit erwischte mich ausgerechnet in der bislang glücklichsten Phase meines Lebens. Ich war in diesem Winter von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt und genoss es, dass endlich in sämtlichen Bereichen meines Lebens Ruhe eingekehrt war.
Im Jahr zuvor hatten wir unser Townhouse in Berlin-Mitte gekauft und bezogen, und ich war ziemlich verblüfft, dass ich als 33-Jährige ein so erfolgreiches, gutes, ja geradezu geschmeidiges Leben führte. Alles hatte so nahtlos ineinandergegriffen. Seit ich erwachsen war, hatte ich zwar zahlreiche Krisen und Schwierigkeiten durchlaufen, aber in der Gesamtheit kam ich stets zu dem Schluss, dass mein Leben deutlich besser und schöner und harmonischer verlief als das all meiner Bekannten und Freunde. Ich war wirklich rundum zufrieden und sogar ungläubig, dass mir ein solches Leben auf der Sonnenseite beschieden war, denn in meiner Kindheit und Jugend hätte ich niemals zu hoffen gewagt, dass es tatsächlich so kommen könnte.
Meine beiden Kinder waren acht und fünf Jahre alt. Meine Familie war der Mittelpunkt meines Lebens und mein ganzes Glück. Bei uns ging es laut und lustig zu, mein Mann und ich lachten viel und sprühten vor Energie, wir waren ständig voller Tatendrang, mit den Kindern etwas zu erleben und uns das Leben schön zu machen. Wir hatten beide nie daran gedacht, eine Karriere zu verfolgen oder die Arbeit zum Mittelpunkt des Lebens zu machen; stattdessen wollten wir in lebendigen und kreativen Berufen arbeiten und ansonsten einfach Zeit für das Wesentliche haben. Mein Mann war selbstständiger Pressefotograf und verdiente mit geringem Aufwand sehr ordentlich. Meist ging er zu ein, zwei oder auch mal drei Terminen pro Tag, bearbeitete anschließend seine Fotos zu Hause und hatte dann die restliche Zeit frei. Ich hatte zwei Jahre zuvor mein Referendariat beendet und anschließend eine Stelle als Grundschullehrerin in einem sozialen Brennpunkt gefunden. Diese Arbeit entsprach genau meinem Charakter. Ich war von Natur aus ein zutiefst verständnisvoller Mensch, der sich schon als Kind für andere eingesetzt hatte, und als Erwachsene war ich Kindern besonders zugetan. Ich arbeitete damals zunächst in Teilzeit, stockte aber bald auf Vollzeit auf, denn ich fand es äußerst angenehm, endlich gutes Geld zu verdienen. Obwohl die Arbeit durchaus anstrengend war, endete mein Arbeitstag um 13 Uhr 30, und da meine größten Stärken schon immer Organisation und die Fähigkeit zu effizientem Arbeiten waren, benötigte ich anschließend nie allzu viel Zeit, um den Unterricht für meine Klasse vorzubereiten. So konnte ich mich am Nachmittag ganz der Familie widmen, und das konnte fast immer auch Jan, und ich genoss es in vollen Zügen, dass meine Kinder jeden Tag mit ihren Eltern verbringen konnten. Mit ihnen so eng und vertraut zu leben, erschien mir wie das größte Geschenk.
In meiner eigenen Kindheit hatte ich mich immer danach gesehnt, zu Hause ein richtig kuscheliges Nest zu haben, obwohl ich eigentlich in ausgesprochen guten Verhältnissen aufgewachsen war. Meine Eltern jedoch hatten in ihrer ungebremsten Fröhlichkeit und Lebenslust mein ausgeprägtes Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit schlicht nicht wahrgenommen. Vergnügt waren sie an fast jedem Abend ausgegangen, ins Kino, ins Theater oder ins Konzert, oder um in der Kneipe mit ihrem großen Freundeskreis zusammenzutreffen. Obwohl wir ansonsten ein durchaus intaktes Familienleben führten, fühlte ich mich an diesen unzähligen Abenden, die ich alleine zu Hause verbrachte, sehr verlassen und traurig. Bis heute hasse ich das Alleinsein und verabscheue die Stille von leeren Wohnungen. Von Freundinnen wurde ich allerdings immer um meine Eltern beneidet, die so offen, so gutaussehend, so belesen und intellektuell waren, und die mir jede Freiheit gewährten und mir einfach nur viel Spaß wünschten, als ich selbst später ausging, während meine Freundinnen über jede halbe Stunde, die sie in der Disko verbringen durften, mit ihren Eltern verhandeln mussten.
In meinen Teenager-Jahren bedeuteten mir Freundschaften alles; mit meiner Clique fühlte ich mich unbesiegbar. Gemeinsam stürzten wir uns in unsere wilden Jahre, begannen im Alter von 14, jedes Wochenende in den Jugendclub und bald auch in verschiedene Diskotheken zu gehen, wir tranken viel Alkohol, und natürlich rauchten wir und probierten auch andere Sachen aus. Am Wochenende und bald auch an den Wochentagen trank und tanzte ich mich durch die Nächte, ständig auf der Suche nach der aufregendsten Party. In den Jahren zwischen 14 und 17 führte ich bald ein reines Nachtleben und fand es spannend und wundervoll. Dennoch war ich erfüllt von einer unstillbaren Sehnsucht, einem extremen Verlangen nach etwas, das auch die ständigen Party-Exzesse nicht tilgen konnten. Ich verspürte einen riesigen Drang danach, das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen auszuloten. Ich wollte Wahrhaftigkeit. Das geregelte Dasein, in das ich eingebettet war, erschien mir eng und voller Zwänge. Ich wollte mehr. Ich wollte die Liebe finden, ich wollte die Welt sehen, ich wollte einfach alles erleben.
Ich litt in diesen Jahren stets unter starken Stimmungsschwankungen, die sich im Alter von 18 und 19 zu einer regelrechten Depression auswuchsen. Ich war todunglücklich und wurde fast verrückt vor Langeweile und Ereignislosigkeit. Ständig kam es mir so vor, als lebte ich am Leben vorbei. Am Vormittag quälte ich mich durch die Schulstunden, am Nachmittag versank ich in Lethargie und hatte das Gefühl, ich würde ersticken vor Sinnlosigkeit. Alles schien stillzustehen, und ich fühlte mich wie auf dem tiefsten Grund eines unendlichen Schachtes, der kaum noch einen Sonnenstrahl nach unten blitzen ließ.
Meine Freundinnen waren nach und nach alle an Jungs vergeben, die ich im Übrigen meistens doof fand. Ich wollte nicht irgendeinen komischen Kerl, ich wollte die große Liebe finden und sonst gar nichts. Vergnügungen gaben mir nichts mehr, ich ging zwar weiter aus, betrank mich häufig, aber ich langweilte mich dabei zu Tode. Was immer ich tat, es reichte mir nicht, ich empfand alles als Ablenkung von irgendeinem großen, wunderbaren Leben, das doch irgendwo versteckt sein musste, mir selbst aber unerreichbar blieb. Ich ertrank in einem Meer von Einsamkeit und Elend.
Als ich endlich die Schule mit dem Abitur abgeschlossen hatte, haute ich nach London ab. Dies schien mir der einzige Weg, um meinen Depressionen zu entkommen und endlich zu leben.
In London angekommen, mietete ich mich zunächst in einem Hostel im schicken Hampstead ein und jobbte bei McDonald’s und Pizza Hut. Im Hostel traf ich auf eine Unmenge Mädchen aus der ganzen Welt, viele Spanierinnen, Schwedinnen, Französinnen, aber auch Mädchen aus Singapur, Japan, Südamerika und afrikanischen Ländern. Ich war wie berauscht, und ich liebte London, das so groß, so laut, so lebendig war, ich tauchte vollkommen ein in die Atmosphäre dieser schillernden Metropole. Schon nach kurzer Zeit in London fühlte ich etwas, das ich seit Jahren oder vielleicht auch noch nie wirklich empfunden hatte: Fröhlichkeit. Ich lachte mit den anderen Mädchen ein echtes Lachen und erkannte mich selbst kaum wieder. Ich zog noch einmal um in ein anderes Hostel in Camden, lernte wieder neue Leute kennen und feierte mit meinen neuen Bekannten nächtelang in den Clubs.
Im Frühjahr jedoch begann der Höhepunkt meiner London-Zeit: Ich bekam einen sogenannten Pub-Live-in-Job im Bezirk Hammersmith. Das bedeutete, unten im Pub zu arbeiten und in den Stockwerken darüber zu wohnen. Ich stieß auf eine echte „Fun Crew“. Im Gegensatz zu den Hostels lebten hier natürlich Jungs und Mädchen zusammen, alles junge Leute aus verschiedenen Ländern, zumeist jedoch aus dem Commonwealth, also Australien, Neuseeland und Südafrika. Hatte ich mich bislang stets mit Komplexen geplagt und als die Unattraktivste meiner Freundinnen betrachtet, wurde ich hier eines Besseren belehrt: Alle Jungs standen auf mich! Durch diese Erfahrung konnte ich endlich mein Selbstbild zurechtrücken und mich durch die Augen der anderen als das wahrnehmen, was ich tatsächlich war: eine schlanke, blonde und attraktive junge Frau. Ich genoss die Zeit in vollen Zügen und ließ es richtig krachen. Endlich, endlich hatte ich das Gefühl zu leben.
Natürlich war ich sehr naiv, und ich wusste es sogar, aber es scherte mich nicht. Ich wollte mit Heftigkeit leben, ich wollte bis ins Letzte intensiv sein. Wir feierten jeden Abend, und wenn es keine Party gab, saßen wir gemeinsam in einem der Zimmer und schauten Videos. In diesem Pub lernte ich ein weiteres Gefühl kennen, das mich geradezu besoffen machte: Freiheit. Ich hatte mich nie vorher und im Grunde auch niemals später so frei gefühlt wie in diesen Tagen. Es war ein Gefühl, vollkommen losgelöst zu sein, mit Haut und Haar im Hier und Jetzt zu leben, nicht zu wissen, was morgen ist, und es auch bedeutungslos zu finden. Es ging immer nur um diesen Tag, um diese Stunde, und jeden Tag passierten neue, aufregende Dinge. Einmal fuhr ich mit zwei amerikanischen Jungs und einem Mädchen aus Neuseeland abends mit dem Bus nach Bristol, weil wir dort zwei finnische Mädchen besuchen wollten, die zuvor in unserem Pub mit uns gelebt und gearbeitet hatten. Wir tranken auf der Fahrt eine Unmenge Wodka und kamen derart sturzbetrunken in Bristol an, dass wir es nicht schafften, unsere Freundinnen am verabredeten Ort zu treffen und stattdessen eine total durchgeknallte Nacht in der Innenstadt verbrachten.
Etwas später zog Teresa im Pub ein. Sie war aus Schweden und schon eine ganze Ecke abgebrühter als ich. Sie sagte, sie trinke direkt vor dem Schlafen immer noch ein Glas Rotwein. Schon an ihrem ersten Abend feierten und betranken wir uns nach der Arbeit im Pub komplett in einem Club, aber als wir im Bett lagen, holte sie den Rotwein raus. Statt eines Glases kippten wir natürlich noch die ganze Flasche, bevor wir in einen komatösen Schlaf fielen. Teresa wurde eine gute Freundin, und natürlich behielten wir unser Rotwein-Ritual weiterhin bei.
Die Partys wurden immer exzessiver, und gegen Ende der Zeit wurde es mir tatsächlich etwas zu viel; zum einen stand ich auf der Schwelle zur Alkoholsucht und steckte mir eine Kippe nach der anderen an, zum anderen kapierte ich allmählich auch, dass ich trotz meines extremen Lebens nach wie vor eines noch nicht gefunden hatte, nämlich die Liebe. Ich war zu dieser Zeit zunehmend verwirrt im Kopf, auch begannen plötzlich Streit und Feindseligkeiten im Pub auszubrechen. Ich fühlte mich mit einem Mal wieder elend, und es stand mir klar vor Augen, was ich eigentlich war: Ein armes, kleines Mädchen, das nichts anderes wollte, als endlich geliebt zu werden. Und um mich herum nichts als Kerle, für die es ungeheuer aufregend sein musste, ein zwanzigjähriges, blondes, europäisch-exotisches, alleinreisendes Mädchen vor sich zu haben, das sie anbaggern konnten. Geschlagen kehrte ich nach einem Jahr London nach Berlin zurück.
Verwirrt und planlos zog ich zu meinen Freundinnen Mariam und Julia. Julia und ich nahmen sofort unser altes Party-Leben wieder auf: Wir schliefen bis um vier Uhr nachmittags, bestellten dann Pizza und zogen anschließend bis um fünf Uhr morgens durch die Clubs, fielen sturzbetrunken ins Bett, um wieder bis um vier Uhr nachmittags zu pennen. Es war keine schlechte Zeit, ich bekam einen Job in der Küche eines Altenheims, wo ich Unmengen Geschirr spülte und das Frühstück für die Bewohner vorbereitete, und konnte mir bald auch ein Zimmer in einer Studenten-WG leisten. Im September traf ich Jan.
Die große Liebe
Endlich hatte ich den Richtigen gefunden! Nach Jahren der Einsamkeit traf ich meinen Mann einfach so in der Disko. Schon an diesem Abend gingen wir zusammen nach Hause, und kaum vier Monate später zogen wir in unsere erste gemeinsame Wohnung. Wir wollten beide keinen Tag mehr ohne den anderen verbringen. Ich war so glücklich. Die Liebe ließ mich schweben. Endlich war die Zeit der Einsamkeit und Sehnsucht vorbei. Endlich hatte ich ein wenig Frieden gefunden.
Jan war zwei Jahre älter als ich, also 22, als wir uns trafen. Er hatte ebenfalls eine wild durchfeierte Jugend und eine längere Reise quer durch Südamerika hinter sich und wollte Fotograf werden. In diesem ersten Jahr führten wir noch eine echte „amour fou“. Wir hatten beide noch keine richtigen Jobs oder Verpflichtungen, und so gingen wir ständig aus, tranken viel und fühlten uns frei und existenzialistisch. Da ich noch immer zu extremen Reaktionen neigte und zudem eine tief verankerte Angst vor dem Verlassenwerden in mir trug, kam es auch immer wieder zu heftigen Streitereien, die in aufgelösten Versöhnungen endeten. Hatte ich Alkohol getrunken und es tauchte ein Problem auf, wurde ich hysterisch. Aber auch sonst konnte es passieren, dass ich in Melancholie versank und weinen musste; das Leben schien mir in diesen Jahren manchmal unendlich schwer zu sein, ich fühlte mich häufig sehr unsicher und ziellos. Jan wurde jedoch zu meinem Rettungsanker. Tatsächlich war er genau das, was ich brauchte: Er war nicht nur wahnsinnig attraktiv, auch sein ausgesprochen starker Charakter bildete das Gegenstück zu meinem eigenen zerbrechlichen und mitunter auch verzweifelten Wesen und machte ihn in jeder Hinsicht zu meinem Traummann. Seine permanent gute Laune, sein unerschütterlicher Optimismus und sein Selbstbewusstsein gaben mir den nötigen Halt. Ihn faszinierte im Gegenzug meine gefühlsbetonte, stark impulsive Art. Es gelang uns, trotz all des Ringens und Kämpfens, das die erste Zeit unseres Zusammenseins begleitete, unsere Liebe immer stärker zu festigen.
Hochsensibel
Mit Anfang 20 wurde mir immer mehr bewusst, dass ich mich von anderen Menschen in einigen Punkten stark unterschied, und dass dies – entgegen meiner früheren Hoffnungen – offenbar auch so bleiben würde. Schon immer hatten viele Menschen in meiner Umgebung mir gesagt: „Du bist so sensibel.“ Ich wusste, dass das stimmte, aber ich war immer davon ausgegangen, dass ich als Erwachsene sicherlich viel selbstbewusster und ruhiger werden würde, vor allem aber nicht mehr so furchtbar empfindlich. Es gab so viele Dinge, die ich unglaublich schlecht ertragen konnte; dazu gehörte, dass ich immer und ständig schreckliches Mitleid mit Menschen und Tieren empfand, die unter einem schweren Schicksal zu leiden hatten. Es war, als erlebte ich ihr Leid am eigenen Körper mit; ich konnte bei ihrem Anblick überhaupt keine Distanz zwischen mich und die leidende Kreatur bringen. Dementsprechend ertrug ich auch keinerlei Gewaltdarstellungen im Fernsehen oder auf Bildern; wurde ich davon überrumpelt, brach ich oft spontan in Tränen aus und benötigte – je nach Eindringlichkeit der Szene – manchmal Tage, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Schlechte Stimmung schlug mir schwer auf den Magen, Auseinandersetzungen und Streit brachten mich meist völlig aus der Fassung. Ich brauchte beständige Harmonie und Frieden um mich herum, sonst geriet ich seelisch aus dem Gleichgewicht. Schon das kurze Hören von melancholischer Musik konnte mich augenblicklich ins tiefste Elend reißen. Darüber hinaus umgab ich mich stets mit hellen und fröhlichen Farben; düsteres Licht dagegen dämpfte sofort meine Stimmung.
Neben all diesen Aspekten war ich aber vor allem körperlich überempfindlich und feinfühlig. Dies äußerte sich auf vielerlei Weise: Ich ermüdete rasch und benötigte immer deutlich mehr Zeit als andere Menschen, um mich nach Anstrengungen zu erholen. Nach Unternehmungen zog ich mich am liebsten zurück, um in Ruhe über das Erlebte nachzudenken. Ich konnte nicht ein Erlebnis an das nächste reihen.
Auch das Zusammensein mit anderen Menschen empfand ich nach kurzer Zeit als anstrengend und musste mich nach einem Treffen in größerer Runde in der Ruhe meiner eigenen vier Wände erholen. Medikamente vertrug ich im Allgemeinen schlecht, von Tabletten nahm ich grundsätzlich nur die Hälfte, und selbst dann quälten mich meist starke Nebenwirkungen.