Ernest Renan

Das Leben Jesu

 

 

 

Ernest Renan: Das Leben Jesu

 

Übersetzt von David Haek

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Edouard Manet, Der Kopf Jesu Christi, 1864

 

ISBN 978-3-7437-1016-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0882-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0883-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

»Vie de Jésus«. Erstdruck 1863. Hier in der Übersetzung von David Haek, erschienen unter dem Pseudonym Hans Helling, Leipzig, 1892.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Über den Autor

Ernest Renan wurde am 27. Februar 1823 in Tréguier, Departement Côte du Nord, Frankreich, geboren. Mit der Absicht dem Priesterstand sich zu weihen, trat er 1844 in das Seminar zu Paris, doch verließ er es bald um sich nunmehr dem Studium der orientalischen Sprachen zu widmen. Im Jahre 1856 wurde er Mitglied der Akademie. Vier Jahre später übernahm er die Leitung der wissenschaftlichen Expedition zur Durchforschung des alten Phöniziens. Von hier aus hatte er – wie er in der Einleitung seines Werkes auch erwähnte – Gelegenheit, die Stätten kennen zu lernen, wo Jesus geboren wurde und heranreifte; und im Morgenland entwarf er auch sein Werk: »Vie de Jésu«, das bestimmt war, den ersten Band zu seiner umfangreichen »Geschichte der Anfänge des Christentums« zu bilden. Heimgekehrt, wurde er (1862) Professor für die hebräische Sprache an dem Pariser Colége de France und vollendete dabei das erwähnte Buch. Dieses erschien ein Jahr später und erregte ein gewaltiges Aufsehen, aber dabei auch den Haß der Klerikalen. Diesen zuliebe wurde er im Juli 1863 seines Amtes enthoben. Die ihm von der Regierung an Stelle dessen angebotene Bibliothekarstelle lehnte er ab. Erst 1871, nach dem Sturz des französischen Kaiserreichs, nahm er seine Vorlesungen wieder auf.

Es war dem Verfasser gegönnt sein Werk ganz zu vollenden und es folgten dem »Leben Jesu«: »Die Apostel«, »Der heilige Paulus«, »Der Antichrist«, »Die Evangelisten und die Zweite christliche Generation«, »Die christliche Kirche« und als Schluß »Mark Aurel und das Ende der antiken Welt«. Ja es war ihm sogar gegönnt, ein nicht minder bedeutsames Werk in seiner »Geschichte des Volkes Israel« zu schaffen. Überdies schrieb er noch zahlreiche wissenschaftliche Werke und auch einige philosophische Dramen.

David Haek

 

Einleitung

Eine Geschichte der »Anfänge des Christentums« müßte die ganze dunkle, sozusagen unterirdische Periode umfassen, die sich von den ersten Regungen dieser Religion bis auf den Zeitpunkt erstreckt, wo ihre Existenz eine öffentliche, bekannte, jedermann klare Thatsache wurde. Eine derartige Geschichte würde aus vier Teilen bestehen. Der erste, den ich hiermit veröffentliche, erörtert die Thatsache, die dem neuen Kultus als Ausgangspunkt gedient hat: er beschäftigt sich nur mit der hehren Person des Stifters. Der zweite Teil würde sich mit den Aposteln und ihren unmittelbaren Schülern beschäftigen, oder besser gesagt, mit den Umwälzungen, die der religiöse Gedanke in den ersten zwei Generationen ausgesetzt war. Ich würde ihn etwa mit dem Jahre 100 abschließen, mit dem Zeitpunkt, wo die letzten Genossen Jesu gestorben waren und wo sämtliche Schriften des Neuen Testaments so ziemlich ihre jetzige Gestalt schon erhalten hatten. Der dritte Teil würde das Christentum unter den Antoniern darstellen, zeigen, wie es sich langsam entwickelte und einen beinahe steten Kampf gegen Rom führte, das damals den Gipfel administrativer Vollkommenheit erreicht hatte, von Philosophen regiert wurde und das in der neuen Sekte eine geheime, theokratische Verbindung sah, welche die bestehende Ordnung hartnäckig verleugne, sie beständig untergrabe. Dieser Teil würde die Zeit des ganzen 2. Jahrhunderts umfassen. Der vierte Teil endlich würde den bedeutenden Fortschritt schildern, welchen das Christentum mit dem Beginn der syrischen Kaiserherrschaft gemacht hat. Es würde sich da zeigen, wie der Wissensbau der Antoniden zusammenstürzte, der Verfall antiker Civilisation unabwendlich eintrat; wie das Christentum durch diesen Verfall gewann, Syrien, das ganze Abendland eroberte und Jesus in Gesellschaft der Götter und göttlich verehrter Weisen Asiens in Besitz einer Gesellschaft gelangte, der die Philosophie und der rein bürgerliche Staat nicht mehr genügen konnte. Zu dieser Zeit veränderten sich auch gewaltig die religiösen Anschauungen der an den Ufern des Mittelmeeres ansässigen Völker. Der orientalische Kultus kam überall zur Macht; das Christentum wurde zu einer großen Kirche, vergaß völlig die Träumereien vom tausendjährigen Reich, zerriß die letzten Fäden, die es noch an das Judentum knüpften und ging völlig in die Welt des Griechentums und Römertums über. Die Kämpfe und die Gelehrtenarbeit des 3. Jahrhunderts, die bereits deutlich hervortreten, würden in diesem Teile nur im allgemeinen geschildert werden. Noch kürzer würde ich darstellen die Verfolgungen zum Beginn des 4. Jahrhunderts, die letzten Versuche Roms zu den alten Grundsätzen zurückzukehren, wonach der religiösen Verbindung jeder Zulassung im Reiche verwehrt worden wäre. Endlich würde ich den politischen Umschwung nur andeuten, der eintrat, als unter Konstantin die Rollen wechselten und aus freiem inneren Antrieb ein dem Staate unterworfenen Kultus entstehen ließ, welcher jetzt seinerseits als Verfolger auftrat.

Ob ich lange genug leben und Kraft genug besitzen werde diesen großen Plan auszuführen, weiß ich nicht. Ich werde befriedigt sein, wenn es mir, nachdem ich »Das Leben Jesu« vollendet haben werde, gegönnt wäre zu sagen, wie ich die Geschichte der Apostel auffasse, den Zustand christlichen Bewußtseins in den nächsten Wochen nach Jesu Tod, die Bildung des Legendenkreises von der Auferstehung, die ersten Handlungen der Kirche von Jerusalem, das Leben Pauli, die Krisis zur Zeit Neros, das Erscheinen der Apokalypse, die Zerstörung Jerusalems, die Gründung der jüdischen Christengemeinde zu Batanea, die Herstellung der Evangelien, der Ursprung der großen von Johannes ausgegangenen Schulen Kleinasiens. Es ist eine seltene Erscheinung in der Geschichte, daß wir besser wissen was in der christlichen Welt vom Jahre 50–75 geschehen ist, als das vom Jahre 100 bis 150.

Der Plan, den ich im vorliegenden Werke anwendete, ließ es nicht zu, daß ich über strittige Textstellen lange kritische Abhandlungen gebe. Die beigefügten Anmerkungen jedoch ermöglichen dem Leser alle hier folgenden Behauptungen nach den Quellen zu prüfen. Ich habe mich hierbei genau auf Citate aus erster Hand beschränkt, daß heißt die Originalstellen angeführt, auf die sich jede Behauptung oder Vermutung stützt.1 Wohl weiß ich es, daß für Leute, die mit solchem Studium weniger vertraut sind, eine ganz andere Entwickelung nötig ist; allein ich bin nicht gewöhnt noch einmal zu machen, was bereits gemacht, gut gemacht ist. Wer da auf die Sache näher eingehen will, dem empfehle ich vor allem: Strauß, »Leben Jesu«.

Wer dieses treffliche Werk vornimmt, der wird so manche Aufklärung von Stellen darin finden, die ich nur oberflächlich berühren konnte. Besonders die Textkritik der Evangelien ist von Strauß in einer Weise vollbracht worden, die nur wenig zu wünschen übrig ließ.

Was die Zeugnisse aus dem Altertum betrifft, so habe ich, meiner Meinung nach, keine einzige Quelle außer acht gelassen. Es sind uns fünf große Schriftensammlungen überliefert worden – von der Fülle einzelner zerstreuter Daten abgesehen – die sich mit Jesus und seiner Zeit beschäftigen. Es sind dies: 1) die Evangelien und überhaupt die Schriften des Neuen Testamentes, 2) die sogenannten Apokryphen des Alten Testamentes, 3) die Werke Philos, 4) die Werke Josephus, 5) der Talmud.

Von unschätzbarem Werte sind die Schriften Philos, denn sie zeigen uns, welche Anschauungen zur Zeit Jesu im Geiste jener lebendig waren, die sich mit den großen religiösen Fragen beschäftigten. Zwar lebte Philo in einer anderen Provinz als Jesus, aber so wie dieser war auch er frei von allen Kleinlichkeiten, die damals in Jerusalem herrschten. Er kann als älterer Genosse Jesu gelten. Zweiundsechzig Jahre zählte er, als der Prophet von Nazareth auf der Höhe seines Wirkens stand, und er überlebte ihn etwa um zehn Jahre. Schade doch, daß ihn der Zufall nicht nach Galiläa führte! Wie vieles würden wir dann von ihm erfahren haben!

Weniger Aufrichtigkeit zeigt in seinem Stile Josephus, der hauptsächlich für die Heiden schrieb. Seine kurzen Bemerkungen über Jesus, Johannes den Täufer, Judas den Galoniter sind trocken und matt. Man merkte, daß er Ereignisse, die gänzlich den Stempel jüdischen Charakters und Geistes tragen, in einer Weise darzustellen suchte, die dem Verständnis der Griechen und Römer nahe lagen. Die Stelle über Jesus (Ant. XVIII, III, 3) halte ich für authentisch. Sie entspricht den Anschauungen Josephus, so und nicht anders konnte er von Jesus sprechen. Allein es läßt sich erkennen, daß diese Stelle von einer christlichen Hand verbessert wurde; es wurden einige Worte zugefügt, ohne die sie beinahe Gotteslästerung gewesen wäre, vielleicht wurden auch einige Ausdrücke geändert oder ganz beseitigt. Man muß in Betracht ziehen, daß Josephus zur litterarischen Bedeutung durch die Christen kam, die seine Werke als wichtige Urkunden für ihre heilige Geschichte gelten ließen. Wahrscheinlich wurde von diesen Schriften im 2. Jahrhundert eine nach christlichen Anschauungen verbesserte Ausgabe veranstaltet. Besonders die hellen Schlaglichter, die Josephus auf seine Zeit wirft, sind es, die seinen Schriften eine besondere Wichtigkeit für unseren Gegenstand verleihen. Sie sind es, die Herodes, Herodias, Antipas, Philippus, Hanna, Kaiphas, Pilatus fast sichtbar und greifbar uns vorstellen.

Die Apokryphen des Alten Testaments, besonders der hebräische Teil der sybillinischen Verse, das Buch Henoch, auch das Buch Daniel, das gleichfalls wirklich apokryph ist, sind von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Entwickelung der messianischen Lehre und für das Verständnis, wie Jesus das Reich Gottes aufgefaßt hat. Besonders das in der Umgebung Jesu vielgelesene Buch Henoch giebt uns Aufklärung über den Ausdruck »Menschensohn« und den hiermit verbundenen Anschauungen. Das Alter dieser Werke ist heute nicht mehr zweifelhaft, dank den Arbeiten von Alexandre, Ewald, Dillmann, Reuß. Sie stimmen völlig überein, daß die wichtigsten dieser Schriften im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christum entstanden sind. Die Entstehungszeit des »Buch Daniel« läßt sich noch bestimmter angeben. Der Charakter der beiden Sprachen, in denen es verfaßt ist, der Gebrauch griechischer Wörter, die deutliche, genaue Angabe von Geschehnissen, die bis in die Zeit des Antiochus Epiphanes reichen, die falsche Darstellung des alten Babylons, ferner der ganze Ton des Werkes, der mit nichts an die Schriften aus der Zeit der Gefangenschaft erinnert, vielmehr durch eine Fülle von Analogieen der Glaubensrichtung, eher den Bräuchen und der Anschauungsweise der Seleucidenzeit entspricht, die apokalyptische Art der Visionen, die Stelle die dieses Werk im hebräischen Kanon außerhalb der Reihe der Propheten einnimmt, endlich das Fehlen des Namens Daniels in der Lobrede des Predigers Salomonis, 49. Kapitel, wo seine Stellung gewissermaßen angedeutet war und noch viel andere wiederholt dargelegte Beweise, lassen keinen Zweifel zu, daß das Buch Daniel die Frucht jener großen Aufregung war, die bei den Juden durch die von Antiochus ausgehende Verfolgung entstand. Es gehört nicht zu der alten Prophetenlitteratur, es gehört vielmehr an die Spitze der apokalyptischen, als erstes einer Art, zu der die späteren Dichtungen: das Buch Henoch, die Offenbarung Johannes, die Himmelfahrt Jesaias, das vierte Buch Esra, zu zählen sind.

Für die Geschichte der Anfänge des Christentums ist bisher der Talmud nicht genug beachtet worden. Ich bin der Ansicht Geigers, daß das rechte Verständnis der Verhältnisse unter denen Jesus auftrat in dieser seltsamen Kompilation gesucht werden muß, wo so viele wertvolle Mitteilungen mit bedeutungsloser Scholastik vermischt sind. Die christliche und die jüdische Theologie sind eigentlich in zwei parallelen Bahnen gewandelt, es kann daher die Geschichte der einen ohne die der andern nicht recht verstanden werden. Überdies giebt der Talmud zu sehr vielen materiellen Einzelheiten die Erklärung. Schon die umfassenden lateinischen Sammlungen von Lightfood, Schoettgen, Buxdorf, Otho boten nach dieser Richtung hin eine Fülle belehrender Mitteilungen. Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle von mir gegebenen Citate nach dem Original zu prüfen. Die Mithilfe eines gelehrten, in der Talmudlitteratur sehr erfahrenen Judens, des Herrn Neubauer, gestattete mir hierbei noch weiter zu gehen und den dunkelsten Punkten meiner Untersuchung einige neue Aufklärungen zu geben. Eine genaue Unterscheidung der einzelnen Zeitabschnitte ist hier sehr wichtig, da die Abfassung des Talmuds die Zeit vom Jahre 200 bis etwa 500 umfaßt. Wir haben die Sache soweit aufzuklären gesucht, als dies bei dem jetzigen Stand dieser Studien möglich ist. Bei jenen, die gewohnt sind, einem Schriftstück nur hinsichtlich der Zeit in der es verfaßt wurde einen Wert zuzusprechen, werden so neue Daten wohl einige Bedenken erregen, doch sind diese hier keineswegs am Platze. Von der hasmoneischen Zeit bis zum zweiten Jahrhundert erfolgte bei den Juden die Überlieferung zumeist nur mündlich; doch darf man dergleichen nicht mit dem Maßstabe einer Zeit, in der viel geschrieben wird, messen. Die Veden, die alten arabischen Dichtungen sind durch Jahrhunderte mündlich fortgepflanzt worden und dennoch erscheinen sie in abgerundeter, zarter Form. Im Talmud jedoch hat die Form gar keinen Wert. Ich bemerke dazu, daß schon vor der Mischna Judas des Heiligen, die alle anderen in den Hintergrund drängte, Versuche der Herstellung stattfanden, deren Anfänge vielleicht weiter zurückweichen als man gewöhnlich annimmt. Der Stil des Talmuds ist der von Notizen. Diejenigen, die ihn zusammenstellten, haben vermutlich nichts mehr gethan, als die große Menge Schriften, die sich in verschiedenen Schulen durch Generationen angehäuft hatten, unter bestimmten Titeln zu ordnen.

Noch habe ich von den Schriften zu sprechen, die bei einer Darstellung des Leben Jesu den ersten Rang einnehmen, weil sie als Lebensbeschreibung des Gründers des Christentums erscheinen. Eine vollständige Erörterung über die Abfassung der Evangelien böte an und für sich schon ein Werk. Dank der tüchtigen Arbeiten, die seit dreißig Jahren auf diesem Gebiete geleistet wurden, ist ein Problem, das früher für unlöslich schien, in einer Weise gelöst worden, die den Bedürfnissen der Geschichte völlig zu genügen vermag, obgleich sie noch manchen Zweifel zuläßt. In meinem nächsten Werke werde ich Gelegenheit haben, auf diesen Gegenstand zurückzukommen, denn die Herstellung der Evangelien ist eine der wichtigsten Ereignisse, das in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts für die Zukunft des Christentums geschehen ist. Hier sei nur ein einziger Umstand berührt, der für meine Darstellung unbedingt nötig ist. Was sich auf die Schilderung der apostolischen Zeit bezieht, lasse ich unberührt; ich werde nur untersuchen inwiefern die Daten der Evangelien in einer rationell dargestellten Geschichte verwendet werden können.

Zweifellos ist es, daß die Evangelien teilweise Legende sind, denn sie sind voll der Wunder und des Übernatürlichen. Aber es giebt Legenden und Legenden. Keiner bezweifelt die Richtigkeit der Hauptzüge in der Schilderung des Lebens des heiligen Franz von Assisi, trotzdem wir dabei auf eine Menge des Übernatürlichen stoßen. Anderseits wieder wird niemand die Darstellung des Lebens Apollonius von Tyana für wahr gelten lassen, weil sie lange Zeit nach dem Helden verfaßt wurde und sich nur als Roman darbietet. Wann, von wem und unter welchen Umständen sind die Evangelien verfaßt worden? Das ist die Hauptfrage von der die Meinung über die Glaubwürdigkeit abhängt.

Bekanntlich trägt jedes Evangelium den Namen einer Person, die in der Apostelgeschichte oder in der Evangeliengeschichte bekannt ist. Diese vier Personen werden eigentlich nicht als die Verfasser bezeichnet. Die Bezeichnungen »nach Matthäus«, »nach Markus«, »nach Lukas«, »nach Johannes« besagen keineswegs, wie früher geglaubt wurde, daß diese Mitteilungen vom Anfang bis zum Ende von den Benannten niedergeschrieben wurden. Sie deuten nur an, daß es die Überlieferungen sind, die von jedem dieser Apostel abstammen und auf deren Autorität sich stützen. Klar ist, daß wenn diese Bezeichnungen genau sind, die Evangelien vom hohen Werte sind, mag ein Teil davon auch Legende sein. Denn sie führen uns zu dem halben Jahrhundert zurück, das dem Leben Jesu folgte, in zwei Fällen sogar zu den Augenzeugen seines Wirkens.

Was vor allem Lukas betrifft, so ist kein Zweifel möglich. Das Evangelium Lukas ist eine regelrechte, aus älteren Schriften aufgebaute Arbeit (Luk. I, 1–4). Es ist das Werk eines Mannes, der wählt, sichtet, verbindet. Sein Verfasser und der der Apostelgeschichte ist sicherlich ein und dieselbe Person (Apostelg. I, 1) Der Verfasser dieses Werkes ist ein Genosse Pauli, was auf Lukas völlig paßt. Dieser Folgerung, ich weiß es wohl, kann so mancher Einwand entgegengesetzt werden, jedoch scheint eines zweifellos: daß der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte ein Mann aus der dritten Apostelgeneration war. Und dieser Umstand genügt für unsern Zweck. Die Zeit dieses Evangeliums läßt sich überdies ziemlich genau bestimmen durch Schlüsse aus dem Werke selbst. Kapitel XXI, das von dem andern Teil des Buches nicht getrennt werden kann, ist sicherlich kurze Zeit nach der Belagerung von Jerusalem geschrieben worden (Vers 9, 20, 24, 28, 32, XXII 36). Hier ist also fester Boden. Es ist ein Werk, das ganz von einer Hand herrührt und eine vollständige Einheit ausweist.

Die Evangelien des Matthäus und des Markus weisen nicht dieselbe persönliche Prägung auf. Sie sind sozusagen unpersönliche Arbeiten, wo die Verfasser ganz verschwinden. Der Name an der Spitze solcher Werke will nicht viel bedeuten. Aber nicht nur bei Lukas, auch bei den Evangelien des Matthäus und des Markus läßt sich der Zeitpunkt bestimmen. Es ist nämlich zweifellos, daß das dritte Evangelium später als die beiden ersten verfaßt wurden und die Zeichen einer viel besseren Redaktion aufweisen. Auch haben wir da ein wichtiges Zeugnis aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Es rührt von Papias her, dem Bischof von Hierapolis, einem würdigen Manne, der sein lebelang bemüht war, alles zu sammeln, was er über die Person Jesu erfahren konnte. Nachdem er bemerkt hat, daß er betreffs dieser Sache die mündlichen Überlieferungen der Bücher vorziehe, erwähnte er zwei Schriften, die sich mit den Worten und Thaten Christi beschäftigen: 1) eine Schrift von Markus, Dolmetscher des Apostel Petri, die kurz geschrieben ist, unvollständig und nicht chronologisch geordnet und Reden und Erzählungen enthält (λεχθέντα ἤ πρακθέντα), die nach den Mitteilungen aus den Erinnerungen des Apostels Petri verzeichnet wurden; 2) eine hebräisch geschriebene Sammlung von Sprüchen (λόγια) von Matthäus, die jeder, wie er es vermochte, übersetzt hat. Diese beiden Beschreibungen entsprechen ziemlich genau den zwei Büchern, die jetzt als Matthäusevangelium und als Markusevangelium gelten. Ersteres kennzeichnet sich durch seine langen Reden, das zweite ist anekdotenartig, in den Einzelheiten genauer als das erste, kurz bis zur Trockenheit, arm an Reden und schlecht redigiert. Freilich läßt sich nicht behaupten, daß diese zwei Bücher in ihrer heutigen Gestalt genau dieselben sind, die Papias vorlagen. Denn das Werk Matthäus bestand nach Papias nur aus Reden in hebräischer Sprache, von welchen mehrere unterschiedliche Übersetzungen im Verkehr waren, ferner waren ihm die Schriften des Markus und des Matthäus zwei grundverschiedene Werke, ohne irgendwelchen Zusammenhang und, wie es scheint, jedes auch in einer andern Sprache verfaßt. Die uns vorliegenden Texte dieser zwei Evangelien enthalten jedoch Parallelstellen, die so lang und so gleichlautend sind, daß man annehmen muß, entweder hatte der letzte Redakteur des ersteren Werkes das zweite benutzt, oder umgekehrt, der letzte Redakteur des zweiten Werkes das erste, oder schließlich, beide haben dasselbe Original benutzt. Wahrscheinlich ist, daß wir weder bei dem einen noch bei dem andern die ursprüngliche Fassung besitzen, daß unsere beiden Evangelien Bearbeitungen sind, wobei die Lücken des einen Textes durch den Text des andern Werkes ergänzt wurden. Jeder wollte ein vollständiges Werk haben. Wer in seinem Buche nur die Reden hatte, wollte auch die Erzählungen besitzen und umgekehrt. Derart hat das Matthäusevangelium allmählich alles Anekdotenhafte des Markusevangeliums aufgenommen; und so geschah es auch, daß dieses wieder vieles enthält, was von den Logia des Matthäus abstammt. Überdies benutzte jeder auch reichlich die Evangelientradition, die in seiner Umgebung sich fortpflanzte. Diese Tradition wurde in den Evangelien nicht völlig aufgenommen; die Apostelgeschichte und die Kirchenväter citieren manches Wort Jesu, das authentisch zu sein scheint, jedoch in keinem der uns überlieferten Evangelien zu finden ist.

Für unseren Gegenstand ist es nicht nötig diese genaue Zergliederung fortzusetzen, zu versuchen festzustellen, welches die ursprünglichen Logia des Matthäus und welches die ursprünglichen Erzählungen des Markus sind. Sicherlich stellen die Logia die langen Reden Jesu dar, die einen beträchtlichen Teil des ersten Evangeliums bilden. Vom übrigen gesondert stellen sie in der That auch ziemlich ein selbständiges Ganzes dar. Was aber die Erzählungen des ersten und zweiten Evangeliums betrifft, so dürften beide ein und dieselbe Schrift benutzt haben, deren Text bald hier, bald dort zu finden ist und wovon das zweite Evangelium in seiner heutigen Gestalt eine nur wenig veränderte Darstellung giebt. Mit anderen Worten gesagt: Bei den Synoptikern2 gründet sich das Darstellungssystem des Lebens Jesu auf zwei Urschriften und zwar: 1) auf die vom Apostel Matthäus gesammelten Reden Jesu, 2) auf die Sammlung Anekdoten und persönlicher Nachrichten, die Markus nach den Erinnerungen Petri verzeichnet. Es läßt sich sagen, daß wir diese zwei Schriften noch in dem ersten und zweiten Evangelium besitzen, wo sie sich mit Mitteilungen aus anderen Quellen vermischt vorfinden. Nicht ohne Grund werden sie daher »Evangelium nach Matthäus« und »Evangelium nach Markus« benannt.

Allenfalls gilt zweifellos, daß schon in früher Zeit die Reden Jesu in aramäischer Sprache niedergeschrieben wurden, und auch seine merkwürdigen Thaten verzeichnet wurden. Abgerundete, dogmatisch festgestellte Texte waren es freilich nicht. Außer den uns überlieferten Evangelien gab es noch viele andere, die angeblich die Überlieferung der Augenzeugen vermeldeten. Diesen Schriften wurde jedoch nur ein geringer Wert zugemessen und Leute, die sie aufbewahrten, wie z. B. Papias, erklärten, daß sie den mündlichen Überlieferungen den Vorzug gäben. Vom Wahn des nahen Weltuntergangs befangen, war man wenig darauf bedacht Bücher für die Zukunft zu schreiben. Als Hauptsache galt im Herzen ein lebendiges Bild dessen zu erhalten, den man bald im Himmel wiederzusehen hoffte. Daher die geringe Autorität der Evangelientexte während der ersten anderthalb Jahrhunderte. Man scheute sich nicht im geringsten Zusätze zu machen, Textkombinationen vorzunehmen, sie gegenseitig zu ergänzen. Der Arme, der nur ein Buch besaß, wollte, daß es alles enthalte, was sein Herz berührte. Man borgte sich gegenseitig diese Büchlein und jeder verzeichnete auf dem Rand seines Exemplars Worte, Gleichnisse, die er anderwärts fand und die ihn rührten. So ist aus einer dunkeln, ganz volkstümlichen Bearbeitung das Schönste der Welt entstanden. Keines der Texte hatte einen absoluten Wert. Justinus, der sich oft auf die »Denkwürdigkeiten der Apostel« – wie er es nennt – beruft, bezog sich dabei auf Evangelien, die von den unsrigen ziemlich verschieden waren; eine wörtliche Anführung unterließ er. Die Citate aus den Evangelien in den pseudo-clementinischen Schriften abionitischer Herkunft zeigen den gleichen Charakter. Der Geist war alles, der Buchstabe nichts. Erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, als die Tradition verblaßte, erhielten die mit den Namen der Aposteln versehenen Schriften entschiedene Autorität und Gesetzeskraft.

Wer würde nicht den Wert von Schriften erkennen, die solchermaßen aus der wehmütigen Erinnerung, aus den schlichten Erzählungen der beiden ersten christlichen Generationen entstanden sind, Generationen, die noch ganz den starken Eindruck fühlten, den der hehre Stifter auf sie gemacht hat? Fügen wir noch dazu, daß die erwähnten Evangelien aus jenem Teil der christlichen Gemeinde hervorgegangen sein mochte, der Jesu am nächsten verwandt war. Die letzte Bearbeitung – wenigstens was den Text betrifft, der den Namen Matthäus trägt – dürfte in einem der Länder nordöstlich von Palästina entstanden sein, in Golonitis, Hauran, Batanea, wohin zur Zeit des Römerkrieges viele Christen flüchteten, wo noch im zweiten Jahrhundert Verwandte Jesu lebten, wo die ursprüngliche galiläische Richtung sich länger als anderwärts erhielt.

Wir haben bisher nur von den drei sogenannten synoptischen Evangelien gesprochen. Wir haben daher noch das vierte in Betracht zu ziehen, das den Namen Johannes führt. Hier ist der Zweifel viel begründeter, die Lösung viel schwieriger. Papias, ein Anhänger der Schule des Johannes, der, wenn er nicht, wie Irinäus behauptet, Johannes Schüler war, wenigstens doch mit dessen Schülern verkehrt hatte – so mit Aristion und mit dem, der Johannes Presbyter genannt wird – Papias also, der die mündlichen Äußerungen der erwähnten zwei Schüler eifrigst gesammelt hatte, erwähnt kein Wort von einer Lebensbeschreibung Jesu, die Johannes verfaßt hätte. Wäre in seinem Werke eine derartige Äußerung vorhanden gewesen, so wäre sie auch sicherlich von Eusebius erwähnt worden, der alles aufgenommen hat, was für die Litteraturgeschichte der Apostelzeit von Wichtigkeit ist. Nicht minder belangreich sind die inneren Schwierigkeiten, die sich beim Lesen des vierten Evangeliums darbieten. Wie kommt es, daß neben genauen Mitteilungen, die den Augenzeugen bekunden, Reden stehen, die völlig verschieden sind von jenen, die Matthäus anführt? Wie kommt es, daß neben einem allgemeinen Plan zu einer Lebensbeschreibung Jesu, ein Plan, der besser und genauer zu sein dünkt, als der der Synoptiker, jene sonderbaren Stellen stehen, die des Verfassers eigentümliches dogmatisches Interesse erkennen lassen, die Gedanken bekunden, welche Jesu ganz fremd sind, Andeutungen geben, welche mißtrauisch machen gegen den guten Glauben des Verfassers? Wie kommt es endlich, daß neben den reinsten, gerechtesten, dem Evangelium völlig entsprechenden Ansichten, jene Flecken zu finden sind, die man gerne als Einschiebungen eines hitzigen Schreibers betrachtet? Ist das Johannes, des Zebedäus Sohn, des Jakobus Bruder – welcher im vierten Evangelium auch nicht einmal erwähnt wird – der in griechischer Sprache diese metaphysischen Aufsätze schreiben mochte, für die weder die Synoptiker noch der Talmud ein Gleiches bieten? Dies alles ist bedenklich, so daß ich nicht die Meinung wagen möchte, das vierte Evangelium sei durchaus von der Hand eines ehemaligen galiläischen Fischers geschrieben worden. Doch daß dieses Evangelium im Wesentlichen gegen Ende des ersten Jahrhunderts aus der großen Schule in Kleinasien, die sich auf Johannes Lehre stützte, hervorgegangen ist; daß es eine Darstellung des Lebens Jesu giebt, die große Beachtung verdient, stellenweise sogar den Vorrang – das ist sowohl durch verschiedene Zeugnisse, wie auch durch Prüfung der Schrift selbst in einer Art erwiesen worden, die nichts zu wünschen übrig läßt.

Vor allem bezweifelt keiner, daß um das Jahr 150 das vierte Evangelium bereits vorhanden war und Johannes zugesprochen wurde. In den Schriften des heiligen Justinus, Athenagoras, Tatian, Theophilus von Antiochien, Irenäus bekunden manche Stellen aufs Deutlichste, daß dieses Evangelium schon damals in allen Streitfragen eine Rolle spielte und dem Dogmenbau als Eckstein diente. Irenäus spricht sehr bestimmt. Und er ging ja aus der Schule Johannes hervor und zwischen ihm und dem Apostel war nur Polykarp. Nicht weniger bestimmend ist der Umstand, daß dieses Evangelium im Gnosticismus, besonders im System Valentins, im Montanismus und im Streit der Quartodezimaner eine Hauptrolle spielte. Die Schule Johannes ist die, deren Verlauf am besten während des zweiten Jahrhunderts sich bemerkbar machte. Diese Schule läßt sich jedoch nicht erklären, wenn man nicht das vierte Evangelium ihr voranstellt. Bemerkt sei hierbei, daß die erste der Johannes zugeschriebenen Episteln sicherlich denselben Verfasser hat wie das vierte Evangelium. Und diese Episteln werden eben von Polykarp, Papias, Irenäus dem Johannes zugesprochen.

Besonders aber vermag das Lesen dieser Schrift selbst einen Eindruck auszuüben. Der Verfasser spricht stets als Augenzeuge, er will für den Apostel Johannes gelten. Rührt also diese Schrift nicht von dem Apostel her, so muß man einen Betrug annehmen, den der Verfasser ausübte. Mag auch die Ansicht jener Tage über das litterarisch Zulässige sehr verschieden von unserer heutigen gewesen sein, so giebt es doch in der apostolischen Welt kein Beispiel von einer Fälschung dieser Art. Ferner will der Verfasser nicht nur für den Apostel Johannes gelten, sondern man vermag auch deutlich zu ersehen, daß er im Interesse dieses Apostels die Feder führt.

Auf jeder Seite verrät sich sein Streben dessen Autorität zu befestigen, zu beweisen, daß er der Liebling Jesu war und auch an allen besonderen Vorfällen teilgenommen habe. Die im ganzen und großen genommenen brüderlichen Beziehungen des Verfassers zu Petrus (ob auch eine gewisse Eifersüchtelei vorhanden war), sein Haß gegen Judas, ein Haß, der vielleicht früher vorhanden war als dessen Verrat, scheinen an manchen Stellen durchzuschimmern. Man möchte annehmen, daß Johannes in seinem Alter, als er die verschiedenen im Verkehr sich befindlichen evangelischen Erzählungen las, mancherlei Unrichtigkeiten hier bemerkte und auch empfindlich geworden war, daß ihm in den Darstellungen des Lebens Jesu keine gebührende, bedeutendere Stelle eingeräumt wurde. So dürfte er denn vieles verzeichnet haben, das er besser als die andern kannte, in der Absicht darzulegen, daß er oft, wo man nur Petrus erwähnte, mit diesem und auch vor diesem eine Rolle spielte (1. Joh. XVIII, 15 und Matth. XXVI, 58 – Joh. XX, 2–6 und Mark. XVI, 7, auch Joh. XIII, 24, 25). Schon zu Lebzeiten Jesu äußerten sich derartige kleine Eifersüchteleien zwischen den Söhnen des Zebedäus und den anderen Jüngern. Nach seines Bruders Jakobus Tod war Johannes der einzige Erbe vertrauter Erinnerungen, in deren Besitz diese beiden Aposteln nach der Aussage aller waren. Daher sein steter Hinweis auf den Umstand, daß er der letzte noch lebende Augenzeuge sei, seine Vorliebe besonders zu erwähnen, was er allein nur wissen konnte. Daher auch die vielen kleinen Einzelheiten, die wie Anmerkungen eines Erklärers sich darstellen, so: »Es war sechs Uhr«, »es war Nacht«, »dieser Mann hieß Malchus«, »sie hatten ein Feuer angezündet, denn es war kalt«, »dieser Rock war ohne Naht«. Daher schließlich die nachlässige Redaktion, die unregelmäßige Darstellung, dies Fragmentarische der ersten Kapitel – lauter Unbegreiflichkeiten, wenn man annehmen will, dieses Evangelium sei nur eine theologische Thesis ohne historischen Wert, die jedoch sehr verständlich sind, wenn man in ihnen, mit der Überlieferung übereinstimmend, die Erinnerungen eines Greises liest, die bald von einer wunderbaren Frische sind, bald wieder seltsame Veränderungen aufweisen. Ein Hauptunterschied muß jedoch im Evangelium Johannes gemacht werden. Denn einerseits weist es einen Plan zur Darstellung des Lebens Jesu auf, der von dem der Synoptiker bedeutend abweicht; anderseits wieder läßt er Jesu Reden führen, die im Ton, Stil und Geist grundverschieden von den von den Synoptikern mitgeteilten Logia sind. Hier ist der Unterschied so groß, daß man zu wählen genötigt ist. Sprach Jesus, wie Matthäus berichtete, so konnte er nicht sprechen, wie Johannes mitteilte. Doch zwischen diesen beiden Autoritäten hat noch kein Kritiker geschwankt, wird auch nie einer schwanken. Im Gegensatz zu den schlichten, unbefangenen, sachlichen Worten der Synoptiker, giebt das Evangelium Johannes stets die Voreingenommenheit des Apologisten, die Hintergedanken des Sektierers zu erkennen, die Absicht einer These und beweisen, Gegner zu bekehren. (S. Joh. IX und X. Besonders ist der eigentümliche Eindruck zu beachten, den Stellen wie XIX, 35, XX, 31, XXI, 20–23, 24, 25 machen, wenn man an das Fehlen jeder Reflexion denkt, das die Synoptiker kennzeichnet.) Jesu hat sein göttliches Werk nicht durch prunkende, schwerfällige, schlecht verfaßte und im moralischen Sinne wenig sagende Phrasen gegründet. Auch wenn Papias uns nicht berichtet hätte, daß Matthäus die Aussprüche Jesu in der Ursprache verzeichnete, so würden doch das Natürliche, die ewige Wahrheit, der unvergleichliche Zauber der synoptischen Reden, ihre durchdringende hebräische Färbung, ihre Gleichartigkeit mit den Aussprüchen jüdischer Gelehrter jener Zeit, ihre vollkommene Harmonie mit der Beschaffenheit Galiläas – kurz, alle diese Kennzeichen würden, verglichen mit der dunkeln Gnosis, der geschraubten Metaphysik der Worte Johannes, deutlich genug sprechen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Reden des Johannisevangelium nicht auch bewundernswerte Lichtstrahlen aufweisen, Züge, wie sie wirklich Jesu zu eigen waren. Allein ihr mystischer Ton entspricht nicht der Eigenart der Beredsamkeit Jesu, wie diese nach der Darstellung der Synoptiker erscheint. Sie sind von einem neuen Geist erfüllt. Die Gnosis hatte schon begonnen, die galiläische Ära des Reiches Gottes war dahin, die Hoffnung auf eine nahe Wiederkehr Christi schwand nach und nach, man betrat das Gebiet trockener Metaphysik, das Dunkel abstrakten Dogmas. Das ist nicht der Geist Jesu. Und wenn der Sohn des Zebedäus wirklich diese Blätter verfaßt hätte, so hätte er dabei sicherlich des Sees Genezareth vergessen und der köstlichen Gespräche, die er an dessen Ufern vernommen.

Was ferner beweist, daß die Reden im vierten Evangelium nicht historische Urschriften sind, sondern Aufsätze, die gewisse, vom Verfasser hochgehaltene Lehren mit der Autorität Jesu decken sollten, ist ihre vollständige Übereinstimmung mit den damaligen geistigen Verhältnissen Kleinasiens. Dieses war zu jener Zeit der Schauplatz einer eigenartigen Bewegung synkretischer Philosophie. Alle Keime des Gnosticismus waren schon vorhanden. Johannes mochte an dieser fremden Quelle getrunken haben. Es mag sein, daß nach den Ereignissen des Jahres 68 (Zeit der Apokalypse) und des Jahres 70 (Zerstörung Jerusalems) der greise Apostel, mit dem Feuergeiste zurückgekehrt war vom Glauben an die baldige Erscheinung des Menschensohnes in den Wolken, und den Ansichten sich zugewendet hatte, die er ringsum verbreitet sah und wovon sich manche mit gewissen Lehren des Christentums sich recht gut vereint hatten. Diese neuen Ansichten Jesu zuschreibend, folgte er nur einem sehr natürlichen Gange. Unsere Erinnerung verändert sich mit allem übrigen; die Vorstellung von einer Person, die wir gekannt haben, formt sich um mit uns selbst. Jesus wurde von Johannes als die Verkörperung der Wahrheit betrachtet, er mochte ihm daher Worte zuschreiben, die er selbst im Laufe der Zeit als Wahrheit erkannt hatte.

Wenn es nötig ist alles anzuführen, so sei noch bemerkt, daß wahrscheinlich Johannes selbst an diesen Änderungen wenig Anteil hatte, daß sie vielmehr in seiner Umgebung erfolgten. Oft könnte man glauben, Johannes Jünger hatten seine wertvollen Anmerkungen in einem vom ursprünglichen evangelischen Geist recht unterschiedlichem Sinne verwendet. Tatsächlich sind auch manche Stellen des vierten Evangeliums erst nachträglich beigefügt worden. So z. B. das ganze 21. Kapitel – die Verse XX, 30, 31 bildeten sicherlich den alten Schluß – wo der Verfasser die Absicht zu haben schien, dem Apostel Petrus nach seinem Tode eine Huldigung darzubringen und den Einwendungen zu entgegnen, die der Tod des Johannes hervorbringen würde, oder vielleicht schon hervorgebracht hatte. (Vers 21–23.) Andere Stellen wieder (VI, 2, 22; VII, 22) deuten auf Auslassungen oder Verbesserungen hin.

Es ist unmöglich nach so langer Zeit alle diese Probleme zu lösen; sicherlich würden uns viele Überraschungen zu teil, wäre es uns gegönnt in die Geheimnisse der mysteriösen Schule von Ephesus einzudringen, die mehr als einmal auf dunkeln Pfaden gewandelt zu sein scheint. Doch ein Hauptversuch wäre folgendes: Wer da unternehmen wollte das Leben Jesu zu schildern, und hierbei ohne eine gefestete Ansicht über den Wert der Evangelien zu haben, nur von seinem Gefühle sich leiten ließe, der würde in so manchen Fällen die Erzählung Johannes der der Synoptiker vorziehen. Besonders die letzten Monate des Lebens Jesu lernt man nur aus dem Johannesevangelium kennen. So manche Geschehnisse in der Leidenszeit, die bei den Synoptikern unverständlich sind – z. B. die Voraussagung des Verrates Judas – werden erst durch die Darstellung des vierten Evangeliums wahrscheinlich und möglich. Dagegen möchte ich behaupten, daß schwerlich einer das Leben Jesu vernünftig darstellen könnte, wenn er nur die Reden in Betracht zieht, die Johannes Jesu in den Mund legt. Diese Art stets nur von sich zu predigen und nur sich zu zeigen, dieses beständige Argumentieren, diese gekünstelte Inscenierung, diese langen Erörterungen nach jeder Wunderthat, diese hölzernen und ungeschickten Reden, deren Ton zuweilen auch falsch und ungleichartig klingt (II, 25; III, 32, 33; und die langen Erörterungen III, V, VIII, XIII u. s. w.) würden vor einem geschmackvollen Menschen neben den herrlichen Sprüchen der Synoptiker nicht zur Geltung kommen können. Das sind zweifellos Erdichtungen, die uns das Wort Jesu derart wiedergiebt, wie die Dialoge des Plato die Gespräche des Sokrates. Sie gleichen sozusagen die freien Variationen eines Musikers über ein gegebenes Thema. Dieses ist wohl ursprünglich, doch in der Ausführung hat die Phantasie des darstellenden Künstlers freien Spielraum. Man merkt das Gekünstelte, das Gezierte, die Rhetorik dieser Schrift (s. XVII).

Noch sei bemerkt, daß die gewöhnliche Redeweise Jesu hier nicht zu finden ist. Der Ausdruck »Reich Gottes«, der dem Meister so geläufig war, kommt hier nur ein einziges Mal (III, 3, 5) vor. Hingegen weist der Stil der Reden, die das vierte Evangelium Jesu zumutet, eine auffallende Ähnlichkeit auf mit den Episteln Johannes. Man erkennt, der Verfasser habe bei der Niederschrift seiner Reden nicht seiner Erinnerung gefolgt, sondern dem recht eintönigen eigenen Gedankengang. Eine neue mystische Sprache kommt hier zur Geltung, eine Sprache, die den Synoptikern ganz unbekannt war (»Welt«, »Wahrheit«, »Leben«, »Licht«, »Finsternis« u. s. w.). Hätte Jesus wirklich je in dieser Weise gesprochen, die sozusagen nichts jüdisches, nichts talmudisches an sich hatte, so würden doch nicht alle seine Zuhörer davon geschwiegen haben.

Übrigens bietet die Litteraturgeschichte ein Beispiel, das der erwähnten historischen Erscheinung sehr ähnlich ist und auch zu dessen Erklärung dienen kann. Sokrates, der gleich Jesus nicht selbst schrieb, ist uns durch zwei seiner Schüler, Xenophon und Plato bekannt. Die klare, sachliche Darstellungsweise des ersteren erinnert an die Synoptiker, während der andere durch seine kräftige Individualität dem Verfasser des vierten Evangeliums ähnelt. Was erklärt uns nun besser die Lehre Sokrates: Die »Dialoge« des Plato, oder die »Gespräche« des Xenophon? Hier ist kein Zweifel möglich und jeder gab noch den »Gesprächen« den Vorzug. Lehrt uns aber Plato nichts über Sokrates? Wäre es gut gethan, wenn man eine Lebensschilderung des Sokrates schreiben würde, ohne dabei die Dialoge zu beachten? Wer könnte das behaupten! Der Vergleich ist übrigens nicht ganz ausreichend, denn der Unterschied spricht für den Verfasser des vierten Evangeliums. Gerade er ist der bessere Biograph. Es ist wie wenn Plato, obgleich er dem Meister erdichtete Worte in den Mund legt, Wichtiges von dessen Leben wüßte, was Xenophon unbekannt blieb.

Die Frage, wer das vierte Evangelium niedergeschrieben habe, bleibe hier unerörtert; und wenn ich mich auch der Ansicht zuneige, daß wenigstens die Reden nicht vom Sohne des Zebedäus herrühren, so sei doch zugegeben, daß hier ein »Evangelium nach Johannes« vorliegt, in demselben Sinne wie das erste und zweite Evangelium als »nach Matthäus« und »nach Markus« gelten. Die geschichtlichen Grundlinien des vierten Evangeliums ist die Lebenskunde Jesu, wie sie in der Schule Johannes bekannt war. Es ist die Erzählung, die Ariston und Johannes Presbyter dem Papias gaben, ohne zu bemerken, daß sie niedergeschrieben sei, oder vielmehr ohne dem eine bemerkenswerte Bedeutung beizumessen. Auch glaube ich, daß diese Schule die Lebensumstände des Stifters besser kannte als jene aus deren Erinnerung die synoptischen Evangelien hervorzubringen. Sie hatte über den jeweiligen Aufenthalt Jesu zu Jerusalem Daten, die die letzteren nicht besaßen. Die Jünger dieser Schule sahen in Markus nur einen mittelmäßigen Biographen und hatten ein System geschaffen, um seine Lücken auszufüllen. Manche Stellen bei Lukas, die gewissermaßen ein Widerhall der Traditionen des Johannes sind, bekunden auch, daß diese Überlieferungen den übrigen Anhängern des Christentums nicht völlig unbekannt waren.

Diese Erklärungen dürften, meiner Ansicht nach, genügen, die Motive zu erkennen, die mich veranlaßten diesem oder jenem der vier Führer den Vorzug einzuräumen. Im ganzen und großen halte ich die vier kanonischen Evangelien für authentisch. Alle stammen, meiner Meinung nach, aus dem ersten Jahrhundert und sind größtenteils von den Verfassern, denen sie zugesprochen werden. Doch ist ihr geschichtlicher Wert verschieden. In Bezug auf die Reden verdient wohl Matthäus unbeschränktes Vertrauen. Hier sind die Logia der lebendigen, klaren Erinnerung an die Lehre Jesu entnommen. Ein milder und zugleich schrecklicher Glanz, eine göttliche Kraft erhellt sozusagen diese Worte, hebt sie aus der Verbindung hervor und giebt sie dem Kritiker leicht zu erkennen. Wer da mit Hilfe der Evangeliengeschichte eine rechte und richtige Arbeit herstellen will, der hat in dieser Beziehung einen vorzüglichen Prüfstein. Die wahren Worte Jesu offenbaren sich gleichsam von selbst. Sobald man sie in diesem Gewirr von Traditionen ungleicher Authenticität berührt, fühlt man sie vibrieren; sie äußern sich freiwillig und nehmen von selbst ihre Stelle in der Erzählung ein, wo sie dann ihre große Bedeutung geltend zu machen wissen.

Weniger Autorität besitzt der erzählende Teil des ersten Evangeliums, der sich um den ursprünglichen Kern angesammelt hat. Es erscheinen da in undeutlichen Umrissen so manche Legenden, die in der Frömmigkeit der zweiten christlichen Generation ihren Ursprung fanden (s. I u. II; auch XXVII 3, 19, 60, im Vergleich mit Markus). Das Markusevangelium zeigt sich viel klarer, bestimmter und ist weniger mit nachträglich eingeschobenen Fabeln erfüllt. Es ist das älteste, ursprüngliche der drei synoptischen Werke und hat am wenigsten spätere Elemente in sich aufgenommen. Die sachlichen Einzelheiten zeigen bei Markus eine Klarheit, die man bei den andern Evangelisten vergeblich suchen würde. Er liebt es manche Worte Jesu in syro-chaldäischer Sprache anzuführen (V 41; VII 34; XV 34). Er bekundet eine bis aufs kleinste sich erstreckende Beobachtung, wie sie sicherlich nur von einem Augenzeugen kommen mögen. Nichts spricht dagegen, daß, wie Papias meint, dieser Augenzeuge, der Jesu augenscheinlich gefolgt ist, der ihn geliebt hat und in nächster Nähe ein lebendiges Bild von ihm gewann, der Apostel Petrus gewesen sei.

Merklich geringer ist der historische Wert des Lukasevangeliums. Es ist ein Dokument aus zweiter Hand, dessen Darstellung reifer ist. Die Worte Jesu sind hier bedachter, gefesteter. Einige Aussprüche sind übertrieben und gefälscht (XIV 26; X). Da der Verfasser außerhalb Palästinas sein Werk schuf und sicherlich auch nach der Belagerung Jerusalems, so sind seine Ortsangaben minder genau als bei den andern Synoptikern. Er hatte eine falsche Vorstellung von dem Tempel, den er für ein Bethaus hielt, wohin man ging, um seine Andacht zu verrichten. Er verändert Einzelheiten, um eine Übereinstimmung der verschiedenen Erzählungen zu versuchen (IV 16). Er mildert Stellen, die vom Standpunkt einer überspannten Annahme der Gottheit Jesu störend geworden (III 23. Er übergeht Matth. XXIV 36). Er übertreibt das Wunderbare (IV 14; XXII 43, 44). Er irrt sich in der Zeit; er kennt nicht hebräisch, citiert nicht Jesu in dieser Sprache und giebt von allen Orten nur die griechischen Namen. Man erkennt den Kompilator, den Mann, der die Zeugen nicht unmittelbar gesehen hat, sondern nach Texten arbeitet, wobei er sich große Freiheiten erlaubt hat, um eine Übereinstimmung hervorzurufen. Wahrscheinlich hatte Lukas die biographischen Mitteilungen des Markus und die Logia des Matthäus vor sich, allein er hielt sich nicht genau daran. Hier vereinigte er zwei Anekdoten oder zwei Parabeln zu einer (XIX 12–27), dort wieder schuf er aus einer zwei. (So machte er aus dem Gastmahl von Bethanien zwei Erzählungen VII 36 bis 48 u. X 38–42.) Die Urkunden deutet er nach seiner besonderen Weise; er zeigt nicht die absolute Gleichmütigkeit des Matthäus und des Markus. Sein Geschmack, seine Eigenarten lassen sich recht genau feststellen: Er war streng religiös, hielt daran fest, daß Jesus alle jüdischen Bräuche beobachtet habe, war Demokrat und eifriger Ebionit, d. h. ein Feind des Besitztums und überzeugt, daß die Vergeltung der Armen kommen werde; er hatte eine Vorliebe für jene Erzählungen, wo sich die Bekehrung des Sünders, die Erhöhung des Niedrigen äußert, ja verändert sogar die alte Überlieferung, um sie derart zu formen. Auf den ersten Seiten seines Werkes giebt er weitschweifig und unter Anführung der Lobgesänge und der üblichen Bräuche, die ein Hauptmerkmal apokryphischer Evangelien bilden, Legenden über die Kindheit Jesu. Ferner äußert er in der Erzählung der letzten Lebenszeit Jesu einige zartsinnige Umstände und gewisse wundervoll schöne Worte Jesu, die in den authentischen Erzählungen nicht zu finden sind und deren legendären Charakter man erkennt. Wahrscheinlich entnahm er sie einer neueren Sammlung, deren Zweck hauptsächlich war, fromme Gefühle zu erwecken.

Eine derartige Urkunde erfordert natürlich große Vorsicht. Es wäre für die Kritik ebenso unrichtig, sie unbeachtet zu lassen, wie ohne weiteres zu verwenden. Lukas hat Schriften vor sich gehabt, die wir heute nicht mehr besitzen. Er ist minder ein Evangelist, als ein Biograph Jesu, ein »Harmonist«, ein Verbesserer gleich Marcio und Tatian. Aber er ist ein Biograph des ersten Jahrhunderts, ein gottbegnadeter Künstler, der uns, unabhängig von dem was er den ältesten Quellen entnahm, den Charakter des Stifters mit so trefflichen Zügen, mit solcher Begeisterung und Klarheit schilderte, wie wir es bei den anderen Synoptikern nicht finden. Sein Evangelium bietet in der Lektüre den meisten Reiz, denn zu der unvergleichlichen Schönheit des gemeinsamen Grundes, kommt noch die treffliche Darstellung, die die Wirkung des Bildes eigenartig erhöhen, ohne dabei der Wahrheit ernstlich nahe zu treten.

Es ließen sich also für die synoptische Redaktion drei Zustände annehmen: 1) der ursprüngliche γόγια des Matthäus, λεχδέντα ή πραχδέντα des Markus, die ersten Schriften, die nicht mehr vorhanden sind; 2) der Zustand einfacher Verschmelzung, wo die Urschriften ohne besondere Mühe und ohne besondere Absicht erkennen zu lassen, verbunden wurden (die Evangelien Matthäus und Markus in ihrer jetzigen Gestalt); 3) der Zustand absichtlicher und bedachter Verbindung und Redaktion, bei dem sich das Streben bemerkbar macht, die verschiedenen Personen zu vereinen (Evangelium Lukas). Das Johannesevangelium gehört, wie bereits bemerkt wurde, zu einer andern Art und bildet ein besonderes Werk.