Titel


Theodor Storm

 

Pole Poppenspäler















Theodor Storm


Hans Theodor Woldsen Storm wurde am 14. September 1817 im nordfriesischen Husum geboren. Von 1826 bis 1835 ging er in Husum, anschließend in Lübeck auf das Gymnasium. Ab 1837 studierte Storm Jura an der Universität Kiel, nach Beendigung des Studiums eröffnete er 1843 in Husum eine Anwaltskanzlei.

 

Nachdem Storm wegen politischer Differenzen mit der dänischen Regierung 1852 seine Zulassung entzogen wurde, nahm er 1853 eine Stelle am Kreisgericht Potsdam an. 1864 zog Storm zurück nach Husum.

 

Neben seiner Arbeit als Jurist verfasste Storm nicht nur einige Märchen, sondern auch eine ganze Reihe von Gedichten und Novellen, die ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter des deutschen Realismus machten. „Pole Poppenspäler“ erschien 1874.

 

Theodor Storm starb am 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen bei Rendsburg.



Des Nachts in meiner Schlafkammer ...


"Des Nachts in meiner Schlafkammer rief es einmal ganz laut „Pardauz“, und mit einem Satz kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug zu mir ins Bett gesprungen, stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines Kopfes in das Kissen und rief, grinsend auf mich herabnickend: „Ach, Du liebs Brüderl! Ach, Du hertausig liebs Brüderl!“ Dabei hackte er mir mit seiner langen roten Nase in die meine, dass ich davon erwachte. Da sah ich denn freilich, dass es nur ein Traum gewesen war."




Was Sie über diese Geschichte wissen sollten


Theodor Storms Novelle „Pole Poppenspäler“ erschien erstmals im Jahr 1874 in der Zeitschrift „Deutsche Jugend“. Dem Herausgeber Julius Lohmeyer ging es vor allem darum, die Qualität der Lesestoffe zu steigern, die jungen Menschen zu dieser Zeit zugänglich waren. Storms Geschichte über den (verhinderten) Puppenspieler wurde in der Folge geradezu zum Prototypen dieses Anspruchs: Die verwendete Sprache ist einfach und verständlich, abstraktere Begrifflichkeiten und Gedanken werden vermieden, der Aufbau der Geschichte ist leicht nachvollziehbar und das Thema „Puppenspiel“ schließt an den Erfahrungshorizont damaliger Jugendlicher an. Allerdings sind diese Merkmale gerade nicht – wie bei seichten Stoffen – nur den Interessen der Zielgruppe geschuldet, sondern der künstlerischen Verarbeitung des Stoffes. Oder wie es Storm in seinem Nachwort als Paradoxon formuliert: „Wenn Du für die Jugend schreiben willst, so darfst Du nicht für die Jugend schreiben!“

 

Tatsächlich eröffnet die Lektüre dieser Erzählung auch für erwachsene Leser nicht nur einen hervorragenden Zugang zur deutschen Novellen-Kultur des 19. Jahrhunderts, sondern bietet großes Lesevergnügen in Verbindung mit einer Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten. So lässt sich die selbsterzählte Lebens- und Liebesgeschichte der Titelfigur etwa als Diskussion des Spannungsverhältnisses von Kunst (Puppenspiel) und bürgerlichem Leben (Tischlerhandwerk) sehen. Möglich ist auch eine Lesart, die sich stärker auf die imaginative Kraft des Puppentheaters fokussiert und die Geschichte des Protagonisten als Form der Künstlernovelle versteht.

 

Als weiterer Ausdruck der literarischen Meisterschaft Storms ist zudem eine Interpretation möglich, die sich von den inhaltlichen Bezügen zum Puppenspiel löst. Danach geht es in der Novelle um die Beantwortung der Frage, wie eigentlich ein gelungenes Leben zustande kommt. So wird durch die Binnenerzählung der Titelfigur nachvollziehbar, dass Lebensglück gerade nicht aus einer zufälligen Aneinanderreihung von Einzelereignissen entsteht, also der Dinge, die uns im Leben nun einmal widerfahren. Vielmehr geht es immer um eine bewusste, unsentimentale und erinnernde Verarbeitung dieser Geschehnisse, die Gefühl und Vernunft, Phantasie und Realität im richtigen Gleichklang hält. Dies ist zweifellos ein Thema, dass in der heutigen Zeit nichts von seiner Aktualität verloren hat.

 

Hier liegt Storms meisterhafte Novelle in einer neu editierten Fassung vor. Wie bei allen Werken der ofd edition handelt es sich nicht um eine automatisiert kopierte Version der ursprünglichen Druckfassung. Der vorliegende Text wurde vielmehr sorgfältig neu überarbeitet und der aktuellen Rechtschreibung angepasst – die bessere Lesbarkeit steigert den Genuss bei der Lektüre erheblich.



Pole Poppenspäler


Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln und beschäftigte mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen gelehrten Studien zuträglich war; wenigstens geschah es, dass mich eines Tags der Subrektor bei Rückgabe eines nicht eben fehlerlosen Exerzitiums seltsamerweise fragte, ob ich vielleicht wieder eine Nähschraube zu meiner Schwester Geburtstag gedrechselt hätte.

 

Solch kleine Nachteile wurden indessen mehr als aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem trefflichen Manne, die mir infolge jener Beschäftigung zuteilwurde. Dieser Mann war der Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen, auch deputierter Bürger unserer Stadt. Auf die Bitte meines Vaters, der für alles, was er mich unternehmen sah, eine gewisse Gründlichkeit forderte, verstand er sich dazu, mir die für meine kleinen Arbeiten erforderlichen Handgriffe beizubringen.

 

Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht nur von anerkannter Tüchtigkeit in seinem eigenen Handwerk, sondern er hatte auch eine Einsicht in die künftige Entwicklung der Gewerke überhaupt, so dass bei manchem, was jetzt als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich einfällt: Das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt.

 

Es gelang mir bald, seine Zuneigung zu erwerben, und er sah es gern, wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am Feierabend einmal zu ihm kam. Dann saßen wir entweder in der Werkstätte oder sommers – denn unser Verkehr hat jahrelang gedauert – auf der Bank unter der großen Linde seines Gärtchens. In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder vielmehr, welche mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte ich Dinge kennen und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen, so wichtig sie im Leben sind, ich später selbst in meinen Primaner-Schulbüchern keine Spur gefunden habe.

 

Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses Volksstammes aufs Schönste in seinem Antlitz ausgeprägt; unter dem schlichten blonden Haar die denkende Stirn und die blauen sinnenden Augen; dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch etwas von dem weichen Gesang seiner Heimatsprache.

 

Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau, ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klang. Meine Mutter pflegte von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten einen See ausbrennen, in ihrer Jugend aber sei sie von seltener Anmut gewesen. – Trotz der silbernen Fädchen, die schon ihr Haar durchzogen, war auch jetzt die Lieblichkeit dieser Züge noch nicht verschwunden, und das der Jugend angeborene Gefühl für Schönheit veranlasste mich bald, ihr, wo ich immer konnte, mit kleinen Diensten und Gefälligkeiten an die Hand zu gehen.

 

„Da schau mir nur das Buberl“, sagte sie dann wohl zu ihrem Mann; „Wirst doch nit eifersüchtig werden, Paul?“

 

Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem Lächeln sprach das Bewusstsein innigsten Zusammengehörens.

 

Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war, keine Kinder, und vielleicht war ich den beiden zum Teil deshalb so willkommen, zumal Frau Paulsen mir wiederholt versicherte, ich habe grad ein so lustigs Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen will ich, dass letztere auch eine mir sehr zusagende, in unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte Mehlspeise zu bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und wann zu Gast zu bitten. – So waren denn dort der Anziehungskräfte für mich genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr in dem tüchtigen Bürgerhaus gern gesehen. „Sorge nur, dass Du nicht lästig fällst!“, war das Einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte. Ich glaube indessen nicht, dass ich meinen Freunden je zu oft gekommen bin.

 

Da geschah es eines Tages, dass in meinem elterlichen Hause einem alten Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich gelungene Werk meiner Hände vorgezeigt wurde.

 

Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater dagegen, dass ich ja aber auch schon seit fast einem Jahr bei Meister Paulsen in der Lehre sei.

 

„So, so“, erwiderte der alte Herr; „bei Pole Poppenspäler!“

 

Ich hatte nie gehört, dass mein Freund einen solchen Beinamen führe, und fragte, vielleicht ein wenig naseweis, was das bedeuten solle.

 

Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhältig und wollte keine weitere Auskunft geben.

  

***

  

Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsenschen Eheleuten auf den Abend eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu helfen. Es war im Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf den Weg gemacht und die Hausfrau noch in der Küche zu wirtschaften hatte, so ging Paulsen mit mir in den Garten, wo wir uns zusammen unter der großen Linde auf die Bank setzten. Mir war das „Pole Poppenspäler“ wieder eingefallen, und es ging mir so im Kopf herum, dass ich kaum auf seine Reden Antwort gab; endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner Zerstreutheit zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was jener Beiname zu bedeuten habe.

 

Er wurde sehr zornig. „Wer hat Dich das dumme Wort gelehrt?“, rief er, indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber bevor ich noch zu antworten vermochte, saß er schon wieder neben mir. „Lass, lass!“, sagte er, sich besinnend, „es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat. – Ich will es Dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu.“ –

 

In diesem Haus und Garten bin ich aufgewachsen, meine braven Eltern wohnten hier, und hoffentlich wird einst mein Sohn hier wohnen! – Dass ich ein Knabe war, ist nun schon lange her; aber gewisse Dinge aus jener Zeit stehen noch, wie mit farbigem Stift gezeichnet, vor meinen Augen.

 

Neben unserer Haustür stand damals eine kleine weiße Bank mit grünen Stäben in den Rück- und Seitenlehnen, von der man nach der einen Seite die lange Straße hinab bis an die Kirche, nach der andern aus der Stadt hinaus bis in die Felder sehen konnte. An Sommerabenden saßen meine Eltern hier, der Ruhe nach der Arbeit pflegend; in den Stunden vorher aber pflegte ich sie in Beschlag zu nehmen und hier in der freien Luft und unter erquickendem Ausblick nach Ost und West meine Schularbeiten anzufertigen.

 

So saß ich auch eines Nachmittags – ich weiß noch gar wohl, es war im September, eben nach unserem Michaelis-Jahrmarkte – und schrieb für den Rechenmeister meine Algebra-Exempel auf die Tafel, als ich unten von der Straße ein seltsames Gefährt heraufkommen sah. Es war ein zweirädriger Karren, der von einem kleinen rauen Pferd gezogen wurde. Zwischen zwei ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine große blonde Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen und ein etwa neunjähriges Mädchen, das sein schwarzhaariges Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der andern drehte; nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze die kurzen schwarzen Haare wie Spieße vom Kopf abstanden.


 

So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Hals des Pferdes hing, kamen sie heran. Als sie die Straße vor unserem Hause erreicht hatten, machte der Karren halt. „Du Bub“, rief die Frau zu mir herüber, „wo ist denn die Schneiderherberg?“

 

Mein Griffel hatte schon lange geruht; nun sprang ich eilfertig auf und trat an den Wagen. „Ihr seid grad davor“, sagte ich und wies auf das alte Haus mit der viereckig geschorenen Linde, das, wie Du weißt, noch jetzt hier gegenüber liegt.

 

Das feine Dirnchen war zwischen den Kisten aufgestanden, streckte das Köpfchen aus der Kapuze ihres verschossenen Mäntelchens und sah mit ihren großen Augen auf mich herab; der Mann aber, mit einem „Sitz ruhig, Diendl!“ und „Schönen Dank, Bub!“ peitschte auf den kleinen Gaul und fuhr vor die Tür des bezeichneten Hauses, aus dem auch schon der dicke Herbergsvater in seiner grünen Schürze ihm entgegentrat.