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Texte:
Überarbeitete Ausschnitte aus dem Buch „Barcelona“ von Torge Braemer
Umschlag:
„Carrer de Ferran“ und „Font Carmen Amaya“
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
1. Auflage Juli 2017
© Torge Braemer
ISBN 9 783744 845892
Para José, Pau, Cris, la madre de Juanma, Manolo, el guapo y la guapa del barrio
Zwischen den Gebäuden des Mobil World Centers und des Banco de España stand das mittelalterliche Stadttor Portal de l'Àngel. Ähnlich einer kleinen Bastille mit einer Vormauer und zwei Durchgängen hatte es, aus der Luftperspektive betrachtet, ein fast engelhaftes Erscheinen. 1854 wurde die an der Plaça de Catalunya verlaufende Stadtmauer einschließlich der Stadttore geschliffen. Eine kleine Engelsfigur des Künstlers Ángel Ferrant Vázquez hilft, die Namensgebung des verschwundenen Mauerdurchlasses zu ergründen. Sie versteckt sich in mittlerer Höhe am Mauerring des Gebäudes des Banco de España. Ein Engel soll hier dem Dominikanermönch Vicenç Ferrer gegenüber behauptet haben, auf die Stadt aufzupassen. Im Jahr 2019 ist 600jähriges Jubiläum dieses frommen Zusammentreffens. Vicenç Ferrer war ein einflussreicher Beichtvater spanischer Könige und ist im deutschsprachigen Raum als Vinzenz von Valencia bekannt. Auf seinen Namenstag fallen einige geläufige Bauernregeln. Eine davon lautet: „Ist Sankt Vinzenz Sonnenschein, gibt es vielen guten Wein!“ ein anderer: „Wenn Sankt Vinzent tritt in die Hall', so bringt er uns die Nachtigall!“. Der Mönch hatte offensichtlich eine persönliche Ausstrahlung, die Menschen zum fröhlichen Zusammensein animieren konnte. Von den Festen und dem Gesang im Umfeld des Mönches wurde offensichtlich auch der Engel angezogen, der am Portal de l'Àngel Wachestehen wollte. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser, trotz militärischer und königlicher Ausstrahlung, auch Gitarrenmusik mochte. Als Vicenç Ferrer Barcelona betrat, traf er wohl auf einen musikalischen Schutzengel. Es gibt unzählige Ikonen von Engeln mit Saiteninstrumenten und nur wenige, wie in diesem Fall, mit Schwert und Krone. Irrte sich Ángel Ferrant Vázquez in der Darstellung des Engels? Wollte der Engel womög-lich die Stadt mit seinem Saitenspiel beschützen? Die bekannten Engel, wie die von Albrecht Dürer und Rosso Fiorentino, schmücken keine Symbole eines Imperators, sondern Leiern und Lauten.
Das Portal de l'Àngel versinnbildlicht mit der Geschichte des Mönchen Vinzent, dem Engel, der Nachtigall und der imaginären Laute Kulturen unterschiedlicher Völker und Religionen, die hier in Barcelona musiziert haben, unter ihnen Iberer, Karthager, Römer, Goten, Araber, Juden, Franken und Christen. Die herausragendsten Saiteninstrumente waren die Barbat und die Ud mit arabischen Wurzeln, die Lyra und die Khitara mit griechisch-römischen Wurzeln, die Kinnor mit jüdischen Wurzeln und die Vihuela mit christlichem Bezug. Blasinstrumente treten an dem Portal de l'Àngel aus einem simplen Grund in den Hintergrund: Engel mögen sie nicht so gern. Beim Spielen von Trompeten und Posaunen würden sich ihre Wangen zu sehr aufblähen und sie würden aufgeplustert und unvorteilhaft aussehen. Da sich solch ein Erscheinen mit ihrer Eitelkeit nicht verträgt, spielen sie lieber auf Saiteninstrumenten.
Seit 1871 ist die Plaça de Catalunya alljährlich am 24. September Schauplatz des Stadtfestes La Mercè. Dann treten zu Ehren der Schutzpatronin Mare de Déu de la Mercè Künstler aus allen Teilen der Welt auf. Wenig bekannt ist, dass der Gitarrist Alfredo Romea y Catalina 1902 besonders dazu beigetragen hat, dass sich La Mercè zu einem großen Volksfest entwickeln konnte. Er sorgte damals als Vorsitzender der zuständigen Planungskommission dafür, dass vermehrt Musiker eingeladen wurden. Mit Beginn seiner Amtszeit durften auch das erste Mal coblas auftreten. Die Kapellen aus Streich und Blasinstrumenten begleiten Tanzgruppen bei der Aufführung des katalanischen Volkstanzes Sardana. La Mercé ist das beliebteste und größte Stadtfest geworden. Im Jahre 2013 gab es 106 Konzerte mit Musikern aus 19 Ländern, die sich auf fast allen Plätzen im gesamten Stadtgebiet präsentierten.
Die Stadtregierung gab anlässlich der Weltausstellung 1929, zur Zeit des Diktators Miguel Primo de Rivera, 22 Statuen bei verschiedenen Bildhauern in Auftrag. Zwei dieser auf der Plaça de Catalunya verteilten Statuen sind Musikerdarstellungen und schmücken den 30 Jahre später entstandenen Zwillingsbrunnen Fonts Bessones: Die „Dona amb nen i flabiol“ („Frau mit Kind und Flabiol“) vom Bildhauer Josep Viladomat und der „Pastor del flabiol“ („Hirte mit Flabiol“) von Pau Gargallo. Beide Statuen mischen sich in das mythologische und religiöse Gesamtbild der Ausstellung. Es sind realistisch dargestellte Figuren im barocken Stil, die, schon damals und bis heute, modernen Tendenzen anderer Kunstgattungen stumpfsinnig trotzen. Sie bringen aber durchaus die Verwurzelung katalanischer Volksmusik in der Stadtmitte Barcelonas zum Ausdruck. Die „Frau mit Kind und Flabiol“ hält ein Blasinstrument ähnlich einem Säugling im Arm. Ihr sehnsüchtiger und etwas verlorene Blick wird von einem Kind, das an ihren Schenkeln lehnt, nachgeahmt.
Nur einige Meter von den beiden entfernt wurde der „Hirte mit Flabiol“ aufgestellt. Während die Frau mit Kind die Besucher, die in der Mitte des Platzes stehen, ansieht, begrüßt der Hirte die Besucher beim Betreten des großen Zwillingsbrunnens. Er hält in seinem linken Arm ein glücklich blickendes Lamm und spielt dabei pausbäckig auf einem Blasinstrument, das bei genauer Betrachtung aber kein modernes Flabiol, wie im Werktitel angedeutet, ist. Ein Flabiol ist eine kleine katalanische Einhandflöte mit drei bis fünf Fingerlöchern und einer Klappenmechanik. Sie hat normalerweise keinen Schall-trichter. Beim Spielen katalanischer Volksmusik wird sie in der linken Hand gehalten und nicht, wie vom „Hirten mit Flabiol“, in der rechten. So kann mit der anderen Hand gleichzeitig eine Trommel wie das Timbal, das Bombo oder das Tamborí gespielt werden. Die dargestellten In-strumente sind in diesem Sinne untypisch für ein Flabiol.
Miguel Llobet hatte ebenfalls Gefallen an der gedankenvollen und besinnlichen Ästhetik katalanischer Volksmusik und bearbeitete einige bekannte Melodien für Gitarre. Noch heute gehören seine „Katalanischen Weisen“ zum gern gehörten Konzertrepertoire. Die Statuen könnten sich durchaus direkt auf zwei Lieder, das „Noi de la Mare“ („Kind der Mutter“) und das „Canço del lladre“ („Lied des Diebes“) beziehen. Vielleicht wollten die Bildhauer in Zeiten antikatalanischer Diktaturen der ortsansässigen Bevölkerung heimlich ihre Zuneigung bezeugen? Der Bildhauer Viladomat, der kurze Zeit später auch für den Diktator Franco Auftragskunst schuf, erscheint dabei aber nicht wirklich überzeugend.
Herr Sicart war äußerst reich und sehr ehrgeizig. Nachdem er vom Papst Pius IX. einen Adelstitel bekommen hatte, baute er sich vor dem Portal de l'Àngel ein prächtiges Wohnhaus. Es hatte ein imposantes Fensterband, entworfen vom Architekten Antoni Mª Gallisà Soqué. Mit seinen schön kitschigen Verzierungen ähnelte es dem Stil von Kathedralen und amerikanischen Geschäftshäuser im neugotischen Stil. Die Scheiben waren von vier Säulen mit Bögen umrahmt und die oberen Teile der Rundungen ausgeschnitten und nach oben verschoben. So bildeten sie Sockel für kleine Balkone, die mit aufgesetzten Gittern geschmückt waren. Über dieser plastisch verzierten Fassade thronten neben den Balkonen auf den Säulen musizierende Musen, die auf das Musikzimmer, das hinter den Fenstern lag, hinwiesen. Vor ihren überaus milden und gutmütigen Blicken hatte der traditionsreiche Reitverein Circulo Ecuestre seinen Vereinssitz und organisierte von dort aus nicht nur Reitturniere sondern auch viele Gitarrenkonzerte.
Später kaufte der ebenfalls sehr reiche und geschäftstüchtige Enric Bernat das Haus und richtete dort Büroräume für sein florierendes Lollipop-Unternehmen „Chupa Chups“ ein. Für den Bau des Kaufhauses El Corte Inglés wurde es leider abgerissen, aber zur Erinnerung an das Gebäude und ihre Bewohner wurde eine Reproduktion des alten Fensterbandes an der rechten Seite des Kaufhauses angebracht. Dort sind auch wieder die Musen zu sehen. Die zweite Muse von links spielt auf einer Laute.
Links neben dem Gebäude des Banco de España, neben einer Engelsfigur, erscheint am Ende einer kurzen Sackgasse über einer Mauer die Silhouette der kleinen Klosterkirche Santa Anna. Gegründet wurde das Kloster 1141 durch den Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Eine lange, wechselhaft religiöse und politische Geschichte hat 1822 zur Gründung der heutigen Pfarrgemeinde geführt. Der Fortschritt der Musiktheorie, der Musikpraxis und des Unterrichts in Klöstern und Kirchen war grundlegend für die Entstehung und Verbreitung der Gitarrenmusik. Sehr emanzipiert war die religiöse Musik in ihren Anfängen jedoch nicht, Frauen durften in dieser Kirche nicht singen. Als der Gitarrist José Viñas y Díaz, ebenfalls ein anerkannter Sänger der Kathedrale, anmutig eine Sopranstimme in der Stabat Mater von Rossini übernahm, erwähnte ein Journalist in einer Konzertkritik aus dem Jahr 1865 das Zutrittsverbot zum Gotteshaus für Sängerinnen und gab zu bedenken: „Werden diese Stellen von Frauen gesungen, haben sie durchaus einen anderen künstlerischen Stil“. Seit Jahren ist die Pfarrei sehr engagiert dabei, das Konzertgeschehen der Stadt mitzugestalten. Das Zutrittsverbot für Frauen wurde wieder aufgehoben, so dass auch Konzerte mit Sängerinnen und Gitarristinnen stattfinden können. Vom Carrer de Santa Anna aus, also von der Straße der heiligen Anna, führt eine Hausdurchfahrt zur Kirche.
Die Kirche Santa Maria del Pi wurde 1428, knapp 50 Jahre nach ihrer Fertigstellung, durch ein Erdbeben und 1714 durch einen explodierenden Pulverturm beschädigt. Die Gitarristen Sor, Bosch und Ferrer kannten sie deswegen nur in einem reparaturbedürftigen Zustand. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein bestand eine barocke Bemalung. In den Jahren zwischen 1863 und 1884 wurden die Dächer der Kapellen, der Eingang und die hintere Fassade repariert, so dass sie zur Zeit der dritten Gitarristengeneration um Francisco Tárrega im neuen Glanz erschien.
Wesentlich älter als die Kirche selbst sind die Dokumente in ihrem Archiv, das sich offiziell „Archivum Sanctae Maríae de Pinu Barchinona“ nennt. Das älteste ist aus dem Jahr 1180. Seit dem 16. Jahrhundert besteht ebenfalls ein Musikarchiv in der Kirche. Dort gibt es wertvolle Drucke und Handschriften von Werken bekannter Meister aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Regional immer noch von Beachtung ist der Ball de l’Àliga de Barcelona. Datiert wurde ein Manuskript dieses Tanzes im Jahr 1756. Er ist aber viel älter und geht auf eine Tradition der katalanischen Grafschaften des 14. Jahrhunderts zurück. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde der Ball de l’Àliga von den Mitgliedern des Stadtrats für verschiedene städtische Protokolle benutzt, unter anderem für den Empfang von Königen. Protagonist ist der Àliga de Barcelona, ein gigantischer Adler mit Krone, der einem Tänzer über den Kopf gestülpt ist. Er genießt das Privileg, in den Kirchen vor den Altären zu tanzen. Begleitet wird er dabei von einem kleinem Orchester aus mittelalterlich gekleideten Musikern mit volkstümlichen Streich-, Blas- und Schlaginstrumenten. Die Stadtvertreter nutzten die Zeremonie, um sich vor der Macht der Kirche und des Königs zu behaupten. Leider haben Einschränkungen und Verbote im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Verschwinden der Tradition geführt. Jetzt wird der Tanz auf Volksfesten wieder aufgeführt und deren ursprüngliche Idee, vor den Altären tanzend zu demonstrieren, von anderen Musikern wie der Punkband Pussy Riots wiederbelebt.
In den Archiven der Kirche Santa Maria del Pi und der Kathedrale sind auch wichtige Etappen des Lebens von Fernando Sor und seinen Vorfahren dokumentiert. Der bedeutende Gitarrist der Klassik wurde am 14. Februar 1778 hier in Barcelona geboren und starb, nach Aufenthalten in London und Moskau, am 10. Juli in Paris. Seine Urgroßeltern lebten vor den Mauern Barcelonas, in Sant Marti, seine Großeltern in der Stadtmitte im Carrer de Portaferissa und im Carrer del Carme. Dort und im Carrer de Sant Pau lebte auch Fernando, bevor er 1814 Barcelona endgültig verließ. Am 8. Dezember 1746 heirateten sein Großvater Joan Baptista Sor Palomeras und seine Großmutter Josepha Bargibant Serrano vor dem Kirchenaltar der Santa Maria del Pi. Im Oktober 1776, etwas 30 Jahre später, heirateten hier auch seine Eltern Joan Sor Bargibant und Isabel Montadas de Serrat. Seine Mutter kam aus dem Umfeld dieser Kirchengemeinde, so dass sie für die wichtigen Kontakte sorgen konnte, die Fernando Sor seine musikalische Ausbildung beim Kirchenmusiker der Kathedrale Josep Prats und später in der Klosterschule in Montserrat ermöglichte. Ihre Enkelin Carolina Sor starb mit 23 Jahren in Paris, dem Wohnort ihres Vaters Fer-nando Sor. Der Name der Mutter ist nicht bekannt.
In Barcelona blieb die Basílica Santa Maria del Pi bei den Gitarristen und ihren Angehörigen sehr beliebt. Carlos Sor Montadas, der Bruder von Fernando Sor, ging hier im Oktober 1826 eine Ehe mit María dels Dolors Alvarez Muñoz ein. Zu dieser Zeit zogen María Francisca Esteve Esplugues und Joaquím Ferrer Vidal in die Nachbarschaft der Parroquia und heiraten hier auch und zwar am 18. Dezember 1830. Am 13. März 1835 wurde ihr Sohn, der Gitarrist José Ferrer Esteve in Girona geboren. Der Gitarrist Jaime Bosch y Renard wurde 1826 in der Basílica Santa Maria del Pi getauft. Seine Eltern, der industrielle Maríano Bosch und seine Frau Francisca Renard, hatten hier bereits 1818 geheiratet. Cayetano Perera ist der erste einer Reihe bekannter blinder Gitarristen, die Aufgaben der Kirchenmusik für die Gemeinde der Santa Maria del Pi übernahm. Er wurde als Violinist, Organist und Sänger berühmt, aber besonders auch wegen seiner außergewöhnlichen Fingergeschicklichkeit beim Gitarrenspiel. Im Jahr 1779 heiratete er hier seine Frau, etwa zur Zeit, als die letzten Inquisitionsverfahren stattfanden und sich die Kirche wieder weniger grausamen Verwaltungsaufgaben widmete. Auch ein Keramikbild mit einem blinden Geiger im Carrer Petritxol zeigt, dass Cayetano nicht der einzige erfolgreiche blinde Musiker gewesen ist. In Barcelona gab es schon früh eine Blindenschule, auf der auch Gitarre unterrichtet wurde. Der wohl bekannteste blinde Gitarristenvertreter ist der aus Sagunto stammende Joaquín Rodrigo. Er schuf neben dem erfolgreichen Concierto de Aranjuez, das übrigens auch in dieser Kirche häufig gespielt wird, vier weitere Konzerte für Gitarre und Orchester und eine große Anzahl viel gespielter Werke für Sologitarre, unter denen „Invocación y danza“ und „En los trigales“ besonders hervorstrahlen. Die spanische „Romance anónimo“ aus dem französischen Spielfilm „Verbotene Spiele“ von René Clément aus dem Jahr 1952 wurde angeblich von einem Katalanen komponiert, der ebenfalls blind gewesen sein soll. Diese Behauptung wird allerdings mittlerweile angezweifelt. Im Mittelalter wurde ein auf Straßen vorgetragenes Lied „Romance de ciego“ genannt, weil die Sänger häufig blind waren. In Deutschland waren sie als Bänkelsänger bekannt, da sie sich für den Vortrag ihrer Lieder auf eine Holzbank stellten. In der Kirche finden regelmäßig Gitarrenkonzerte statt, die ein breites Publikum ansprechen. Organisiert werden sie von einer Konzertagentur.
Angekommen auf der Plaça de Pi eröffnet sich der Blick auf die große Rosette der gotischen Basílica Santa Maria del Pí. Darunter, auf dem Platz mit der Pinie, siedeln historische Bars, Cafés und eine Eisdiele mit dem Namen „Osterhase“. Davor musizieren häufig Straßenmusiker.
Hier haben sich immer schon Gitarristen, Kirchgänger und Kaufleute getroffen. Zwischen dem Gottes-und einem alten Kaufmannshaus werden regelmäßig Verkaufsstände aufgebaut, um Feinkost und Schmuck anzubieten. Am Abend verteilen junge Leute Flyer für internationale Gitarrenkonzerte, die im Inneren der Kirche, vor dem bunten Licht der großen Rosette, zelebriert werden. Vor zweihundert Jahren nutzten Mitglieder der Familie des Gitarristen Sor die katholische Kirche für Taufe und Heirat. Links vom Haupteingang steht das älteste noch erhaltene Gebäude aus dem Jahr 1542, die Casa de Sang. Für den Vater von Francisco Tárrega war das Haus der Mitbruderschaft bei der Suche nach seinem verschwundenen Sohn, ein Wunderkind der Gitarre, ein sicherer Anlaufpunkt. Bis vor Kurzem befand sich dort die im Jahr 1789 gegründete Kunstdruckerei Estamperia de Arte. Zu jener Zeit verlief ein Abfluss über die Carrer del Pi, vorbei an der namensgebenden Pinie vor der Kirche, hin zu der Plà de la Boqueria an den Rambles, seit jeher ein spiritueller Ort. An dieser Stelle kreuzten sich die Via Augusta und die Via Sepulcra. Vor den Toren der Römerstadt Barcino geleiteten Gräber die Reisenden zum Augustustempel. Im Mittelalter standen hier am Fuß der verschwundenen mittelalterlichen Stadtmauer Torwächter und verlangten Zoll von den Markthändlern. Geblieben ist eine kleine Lichtung mit einem alten Brunnen an der Rambla vor der Oper. Am Eingang zum Carrer de la Boqueria beginnt der neu benannte Weg Carrer de Cardenal Casañas, deren steinerne Fassaden zahllose Passanten durch eine enge Gasse an alten Geschäften vorbei lotst. Ein historisches Kerzengeschäft zeugt noch von einer Musikgesellschaft, die im selben Gebäude ihre Musikkonferenzen und Gitarrenkonzerte zelebrierte. Etwas weiter oberhalb der Kirche lebte Rafael de Amat. Er berichtet uns in einem seiner Tagebucheinträge von einem Guitarrero, der in dieser Umgebung einen Werkstattladen hatte, in dem schon vor über 200 Jahren ein Saiteninstrument mit dem Namen Citara gebaut wurde. Der Markt und die Kirche ziehen seit Jahrhunderten auch Menschen an, die Hilfe suchen, beispielsweise wegen eines Sonnenbrands. Vor mehr als hundert Jahren versprach Dr. Pizá ewige Jugend und verkaufte seinen Patienten „polvos imperiales“, ein Gesichtspuder, das bei Kälte, Wind und Sonne gegen Hautreizungen helfen sollte. Auch viele Gitarristen mussten wegen körperlicher Leiden Ärzte aufsuchen. Viele litten an Krankheiten, die ihr Leben zu früh beendeten. Tárrega starb an den Folgen eines Schlaganfalls, Fernando Sor und Narciso Yepes an Krebs und José Luis Lopategui an einer Lungenembolie.