Copyright Text © Roland Steinle 2017
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Coverbild: Thomas Cole, Course of Empire, Desolation, 1836
(Public Domain)
BoD - Books on Demand GmbH
ISBN 978 3 7448 6559 3
Ozymanidas
I met a traveller from an antique land
Who said: Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert... near them, on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown,
And wrinkled lip, and sneer of cold command,
Tell that its sculptor well those passions read
Which yet survive, stamped on these lifeless things,
The hand that mocked them and the heart that fed:
And on the pedestal these words appear:
'My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!'
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless and bare
The lone and level sands stretch far away.
P. Shelley
Diese Buch soll keine Polemik sein noch eine wissenschaftliche Arbeit. Es bedauert nicht den Niedergang des Westens, noch versucht es sich ihm entgegenzustellen oder Auswege zu suchen, die es für das System als solches ohnehin nicht gibt und nicht geben kann. Vielmehr will es ihn auf möglichst einfache Weise erklären, wenn auch die Komplexität der Sache an manchen Stellen ein gewisses gedankliches Ausholen unumgänglich macht.
Die Zerrüttung und endliche Auflösung unserer Zivilisation ist kein moralisches Übel, über das man in allzu große Aufregung oder gar Angst geraten sollte. Wir haben es vielmehr mit einer natürlichen Auflösungserscheinung zu tun, einem Tod, der dem biologischen Sterben eines Lebewesens gar nicht unähnlich ist. Freilich, kein Tod, der uns nicht im Innern anrührt. Insofern entbehrt dieses Buch nicht einer gewissen Tragik. Auf der anderen Seite bedeutet der Niedergang des einen, den unvermeidlichen Aufstieg des anderen. Hinter dem Schleier einer nie langen Nacht glüht bereits die Morgenröte eines neuen Morgens, eine neue Welt, die auch unsere in Teilen enthalten wird. Dauert unsere Zivilisation also in ihren Nachfolgern fort? Sie tut es nicht. Ihre Formen überleben, ihr innerer Gehalt nicht. Die Mysterienkulte sind vom Christentum aufgenommen worden, ohne je von ihm verstanden worden zu sein. Der Westen ist geprägte von einem rechtlichen Denken, dass aus der Antike herrührt, wo ein vollständig anderes Rechtsverständnis geherrscht hat. Allein die Form überdauert, nicht der Gehalt.
Alle Gesellschaften und Kulturen gehen unter. Es ist ihnen ein Ende – kein Ziel – gesetzt. Die Artefakte in den Gräberfeldern kühler Museumshallen sind stumme und zugleich ungemein beredete Zeugen davon. Alles was ist, wurde, d.h. es war einmal nicht. Alles aber, was ist, wird einmal nicht mehr sein. Jede Zelle unseres Körpers stirbt und wird ersetzt. Im Laufe unseres Lebens erneuert sich der gesamte Leib mehrmals. Mit jedem weiteren Zyklus verlangsamt sich der Prozess der Erneuerung, der Revitalisierung, bis er endlich ins Stocken gerät und das Gefüge zerbricht. Der gleiche Prozess von Werden und Vergehen trifft auch auf die Zivilisation zu.
Natur, Kosmos, Schöpfergott… sie alle sind faul. Sie bedienen sich der gleichen Werkzeuge, sie schaffen die gleichen Strukturen, sie bilden Wiederholungen des gleichen Themas. Die Äderung eines Blattes entspricht der Äderung des Geästes, an dem es schlief, entspricht der Äderung des Baumes, an dem der Ast wuchs. Die gleiche Äderung malen Flüsse, wenn sie die Landschaften dieser Erde auf dem Weg zum Meer durchschneiden. Die gleiche Äderung findet sich im Blutkreislauf des Menschen und in den künstlichen Strom- und Straßennetzen, die er erbaute. Die gleichen Mechanismen von Werden und Vergehen wirken auch im Niedergang der Zivilisation. Der Betrachter kann Gesetzmäßigkeiten aus ihnen ableiten, er kann Erkenntnisse gewinnen, wenn er nur bereit ist, dem Unvermeidlichen ins Auge zu blicken. Wie bei einem alternden Körper immer die gleichen Verfallserscheinungen zu beobachten sind, so auch bei einer Gesellschaft. Der unmittelbare Anlass des Todes mag variieren. Ein Unfall, ein Schlaganfall, Altersschwäche. Das Gesetz aber, das zum Tode führt, ist stets das...gleiche.
Die Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Verfalls wird dieses Buch verständlich aufzeigen. Dabei beschränkt es sich nicht auf „große“ Gesellschaften im Sinne von Staaten, Nationen usf., wenn es auch hauptsächlich von ihnen handeln wird. Gesellschaften oder, wie wir es nennen werden „soziale Räume“ sind formelle oder informelle Zusammenschlüsse von drei oder mehr Menschen. Eine Familie ist ebenso sozialer Raum wie die katholische Kirche und folgt im Prinzip den gleichen strukturellen und prozessualen Regeln, so wie Hundehütte und Hochhaus den gleichen statischen Erfordernissen genügen müssen, wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung. Ein niederbayerischer Kleintierzuchtverein zeigt in seinem Niedergang die selben Symptome jener Krankheit, die zu seinem Tode führt, wie die aztekische Zivilisation, die Han-Dynastie oder das Sassanidenreich.
Dieses Buch enthüllt kein Geheimwissen, noch geht es irgendwelchen sog. Verschwörungstheorien nach. Vielmehr benennt und beschreibt es Offensichtliches, Dinge und Sachverhalte, die jeder mit seinen Augen sehen kann, so er sie denn sehen will.
Hier freilich zeigt sich eine erste Schwierigkeit: Der Verfall ereignet sich aus gutem Grund unterirdisch. Nicht dass er unsichtbar wäre, das Gegenteil trifft zu. Dennoch wird er beharrlich geleugnet, seine Symptome werden marginalisiert oder reinterpretiert. Die Nacktheit des Kaiser ist sprichwörtlich, die Propheten des Untergangs werden verspottet, verlacht, gehasst und endlich erschlagen. Am Wert der Prophetie ändert das freilich nichts.
Der zweite Pfeiler unserer Erörterung beschäftigt sich mit dem Individuum und seinem Verhältnis zum, bzw. seinem Platz im sozialen Raum. Der Einzelne ist Architekt und am Ende das Opfer seines Zusammenbruchs. Das Verhältnis des Bewohners zu seinem Raum wird uns im ersten Abschnitt des Buches interessieren. Hier studieren wir die Gesetzmäßigkeiten des Werdens und Vergehens einer Gesellschaft. Gleichzeitig werden wir sehen, wie der soziale Raum die Wirklichkeitswahrnehmung und den Modus des alltäglichen Daseins seiner Bewohner gestaltet. Wir werden von Subsystemen hören, die unter dem Dach eines größeren Gefüges miteinander in gleichgültiger, freundlicher oder feindseliger Beziehung stehen, ganz so, wie die Menschen in einem Dorf einander gleichgültig, freundlich oder feindselig begegnen. Wir werden erfahren, wie das Individuum Bewohner verschiedener Subsysteme ist, während es stets Partikel des größeren Gefüges bleibt, ganz so, wie man in einem Haus ein oder zwei Zimmer bewohnt, und gelegentlich die Nachbarwohnung aufsucht, den Flur, den Trockenboden ersteigt usf.
Im zweiten Teil des Buches beschäftigen wir uns mit den konkreten Symptomen der Krankheit zum Tode und ihrer katalytischen Wirkung auf den gesellschaftlichen Niedergang der westlichen Zivilisation oder des westlichen Kulturkreises. Tatsächlich haben wir es mit einem Symptom-Bündel zu tun. Das eine hängt immer und notwendig mit dem anderen zusammen, bedingt oder setzt es voraus. Es handelt sich bei besagten Symptomen um verschiedene Manifestationen der gleichen Krankheit. Der irrige Glaube, der Westen zerbräche am Ende an einem Währungskollaps, an einem technologischen Paradigmenwechsel, am Geburtenrückgang, an der inneren ethischen Verrottung, am um sich greifenden primitiv-materialistischen Hedonismus, am schlechter werdenden Gesundheitszustand weiter Teile der Bevölkerung, an einem Krieg usf. ist, als würde man sagen, ein Greis wäre an einem Schnupfen gestorben, an einem Schluckauf, an einer Blähung, an einem Schlaganfall. Es ist zwar richtig, dass der Übergang von Leben zum Tod – ganz danach wie man diese beiden Zustände eben definiert; der Tod als Verebben messbarer Gehirnaktivität oder als Verebben selbsttätiger Körperaktivität oder als Verlust psychischer Kontrolle... – mit irgendeinem konkreten Ereignis verknüpft werden kann. Diese konkrete Ereignis ist aber nicht der eigentlichen Grund des Sterbens, sondern nur der jeweilige Anlass. Vielmehr führt der Prozess des Sterbens dazu, dass ein Ereignis den Tod überhaupt herbeiführen kann. Der Greis stirbt an einem Schnupfen, weil sein Körper bereits so schwach ist, der Bau seines Lebens so morsch, dass der geringste Anlass für den Zusammenbruch des Ganzen ausreicht.
Der Prozess des Sterbens unterliegt einer weit allgemeineren, holistischen Dynamik, die bestimmte Regelmäßigkeiten aufweist. Uns geht es um die Entschlüsslung und Analyse dieses Prozesses, wobei wir uns dabei einer Betrachtung der konkreten Symptome freilich bedienen müssen und werden.
Der soziale Raum bezeichnet eine Funktionseinheit, in welcher die Bedürfnisse seiner Bewohner in planvoller und effizienter Weise bedient werden. Der soziale Raum regelt die Beziehung seiner Bewohner zueinander mittels eines formellen oder informellen Dogmas.
Ein formelles Dogma beispielsweise liegt als gedankliche Grundlage für das kodifizierte Gesetz eines Landes vor. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat ein bestimmte Vorstellung davon, was der Mensch ist, wie er lebt, wie er sich in Gesellschaften organisiert, was er anstrebt, was sein Lebensglück ausmacht usf. Diese Annahmen bilden das Fundament des Grundgesetzes, d.h. sie spiegeln sich in ihm plausibel wider. Die Verfassungen der westlichen Nationen gleichen insofern einander, als in ihnen ein rationalistisch-aufklärerisches Menschen- und Weltbild zum Ausdruck gebracht wird. Der Mensch als vernünftiges, gemeinschaftsbildendes Lebewesen, das als Individuum nach persönlichem Glück strebt, ist, kurz gesagt, die dogmatische Grundformel der westlichen Zivilisation.
Ein informelles Dogma besteht meist in der gefühlsmäßigen Beziehung der Bewohner eines sozialen Raums zueinander, so etwa die Liebe der Mutter zu ihren Kindern, die Liebe der Eltern füreinander, oder auch der Hass zweier Familien, zweier Häuser – Montague und Capulet grüßen.
Dogmen erzeugen Strukturen wie Hierarchien, Eliten, Kasten, Klassen, Bürokratien, Gesetze, Moralien usf., die das innere Gepräge des sozialen Raums gemäß den Bedürfnissen seiner Bewohner ordnen. Dogmen erzeugen zudem einen Sinn- und Symbolvorrat, der den Bewohner des sozialen Raums eine bestimmte Deutung der Wirklichkeit nahelegt. So wird beispielsweise der Blitz von einem antiken Mensch als bedrohliches Tun einer Gottheit gedeutet, während ein moderner Mensch darin ein bestimmten Naturgesetzen folgendes elektrostatisches Phänomen erblickt.
Ein sozialer Raum besteht ausschließlich in der Vorstellung seiner Bewohner. Seine Existenz ist eine Frage des Glaubens. Der Glaube wird durch das Dogma reglementiert, ganz so wie im religiösen Feld. Sämtliche Einrichtungen eines sozialen Raums basieren und funktionieren auf Basis des Glaubens an sie. So funktioniert die Währung, die wir benutzen, nur, weil an ihren Wert geglaubt wird. Der Polizist verfolgt den Verbrecher, weil er an den Wert des Gesetzes glaubt. Der Steuerzahler entrichtet seinen Obolus, weil er an den Staat und seine Allmacht glaubt.
Wollte eine Bevölkerung ihren Herren stürzen, müsste sie lediglich die Zahlung eingeforderter Abgaben einstellen. Wollte sie ihre Währung loswerden, müsste sie sich darauf verlegen, eine andere zu benutzen. Indes zielen Revolutionäre und Invasoren praktisch nie darauf ab, einen sozialen Raum zu zerstören – was ohnehin nur möglich wäre, wenn man die Bevölkerung physisch auslöschen würde. Sie wollen lediglich sein Dogma, mit dem eigenen vertauschen und so das System erobern (Conquest), d.h. seine Bewohner zu Anhängern und Gläubigen des eigenen Dogmas machen.
Sinnstrukturen sind, was ihre Manifestation in der Lebenspraxis der Bewohner angeht, gemeinhin sehr wandelbar. Das ihnen zugrundeliegende Dogma und die darin enthaltenen Grundwerte und -vorstellungen des sozialen Raums sind dagegen unwandelbar. Tatsächlich passen sich Sinnstrukturen an die jeweiligen Verhältnisse an, um den ihnen zugrundeliegenden dogmatischen Wert zu schützen, d.h. die Plausibilität des sozialen Raums für seine Bewohner im Kontext sich verändernder Lebensumstände zu bewahren.
Ein Beispiel: Der Blitz wird von einem gottgläubigen Menschen immer und mit Notwendigkeit als göttlicher Akt verstanden – er kann innerhalb eines theistischen Dogmas, das besagt, alles stamme von Gott, gar nicht anders verstanden werden. Die konkrete Ausdeutung, die jeweilige Erklärung des Phänomens kann sich dagegen im Lauf der Zeit massiv verändern. Glaubte der griechische Bauer der Antike an einen blitzschleudernden Zeus, der in den Wolken thront, so wird der aufgeklärte Christ das selbe Ereignis mit dem Hinweis darauf deuten, dass es sich zwar um ein Naturphänomen handelt, dass die Naturgesetze aber von einer göttlichen Intelligenz erdacht und ins Werk gesetzt wurden. In beiden Fällen steht die Gottheit als Urheber des Phänomens.
Ein anderes Beispiel: Gesundheit ist ein anthropologischer Grundwert, der sich in der Erscheinung (Ästhetik) des Individuums zeigt. In Zeiten, in denen die Lebensmittelversorgung keineswegs sicher und Hungersnöte an der Tagesordnung waren – z.B. in der Epoche des Barock/ des Dreißigjährigen Krieges – wird eine gewisse Körperfülle als ästhetisch ansprechend empfunden, verweist sie doch auf ausreichende Ernährung und darin günstige Lebensbedingungen. In der Gegenwart ist das Gegenteil der Fall. Das Überangebot an schlechter Ernährung führt zur epidemischen Fettleibigkeit. Dementsprechend repräsentiert übermäßige Schlankheit den Wert der Gesundheit.
Die planvolle Weiterentwicklung von Sinnstrukturen sozialer Räume führt zur Entstehung von Ideologien. Ideologien sind intellektuelle Sammlungen von Ideen (Deutungsmöglichkeiten) gemäß eines Dogmas. Je höher entwickelt und stärker bevölkert ein sozialer Raum ist, desto ausgeprägter und feingliedriger muss dessen Ideologie sein, gilt es doch, eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen und Lebensumständen mit passenden Deutungsmöglichkeiten für deren teils stark voneinander abweichende individuelle Lebenspraxis zu versorgen. Diese Deutungsmöglichkeiten müssen (1) innerhalb der individuellen Lebenspraxis plausibel sein und (2) die Grundwerte des Dogmas angemessen repräsentieren und affirmieren.
Ideologien dienen dazu, soziale Räume zu stabilisieren und zu strukturieren. Praktisch funktionieren sie wie hermeneutische Zirkel: Sie betrachten die Wirklichkeit durch den Filter dogmatischer Grundwerte, die durch eben diese Betrachtung als selbstevidente Wahrheiten ausgewiesen werden. So wird innerhalb der sozialistischen Ideologie der Streik beispielsweise als Symptom (Folge) des Klassenkampfes interpretiert. Dieser hat seinen Ursprung in der Interessendivergenz der Klassen. Proletariat und Bourgeoisie streiten, weil sie zwei verschiedene, inhärent konkurrierende Klassen innerhalb eines ökonomischen Gefüges vorstellen. Paradoxerweise entsteht jenes erst durch die Konkurrenz dieser Klassen: Ausbeuter und Ausgebeutete sind in ihrer Konkurrenz aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Die Katze jagt ihrem Schwanz nach, der Krieg ernährt sich selbst, der Streit konstituiert seinen Anlass...
Jede Ideologie deutet abweichende Ideologien stets auf Basis der eigenen Wirklichkeits- und darin Wahrheitskonzeption. Die sozialistische Geschichtsforschung bietet hier wiederum einen wunderbaren Fundus an Anschauungsmaterial: Egal ob Bauernkrieg, Merkantilismus, die Erfindung der Turmuhr, das römische Sklavenwesen, Geldmengenvermehrung und Fließbandarbeit – alles wird innerhalb des materialistischen Dogmas als Manifestation seiner Grundwahrheiten in der Geschichte plausibel interpretiert und so affirmiert. Wie könnte der deutsche Bauernkrieg auch etwas anderes gewesen sein, als eine Vorstufe des Klassenkampfes, seine Anführer etwas anderes als proto-kommunistische Denker und Aktivisten…
Ein Letztes: Ideologien sind stets für die eigenen Vorbehalte blind. Sie reklamieren den Besitz der einzig gültigen Wahrheit für sich, und sie allein bieten die einzig zutreffende Deutung der Wirklichkeit an, während andere Deutungsmuster...Ideologien, Weltanschauungen geschimpft werden.
Ideologien definieren und gestalten das, was die Bewohner eines sozialen Raums als wahr und wirklich interpretieren. Sie wirken praktisch in allen sozialen Gefügen, deren Umfang über die Kernzelle von Kleinstgruppen wie Familien, Sippen hinausgeht. Je größer und bevölkerter der soziale Raum, desto umfassender und tiefgreifender seine Ideologie.
Ein sozialer Raum lebt, wenn er
→ Funktionalität
→ Plausibilität
→ Materialität
Der soziale Raum wird durch die Bedürfnisse seiner Bewohner definiert (umgrenzt) und durch ihren Glauben ins Dasein gesetzt. Innerhalb eines Dorfes, einer Nation, der Menschheit usf. gibt es viele verschiedene, teils überlappende soziale Räume unterschiedlicher Dichte und Ausdehnung. Die Familie ist der am stärksten verdichtete Raum, der Nukleus sozialer Wirklichkeit. Die kleinste familiäre Formation besteht in der Trias von Vater, Mutter und Kind. Diese Rollen können freilich anders verteilt oder besetzt sein. Verwaiste Geschwister könnten einander versorgen und großziehen, andere Verwandte, ja selbst Fremde könnten die Funktion von Eltern einnehmen. Das Entscheidende ist die Dreizahl als Kleinstform eines sozialen Gefüges, in welchem eine spezifische innere Gesetzmäßigkeit ordnend wirkt.
Die Mitglieder der Familie teilen Pflichten und Arbeiten, Freuden und Herausforderungen miteinander. Sie kooperieren, um die alltägliche Sorge um das Dasein zu erleichtern. Sie teilen und verteilen dementsprechend ihre Ressourcen. Das informelle Dogma, das die Familie zusammenhält, besteht in der zwischenmenschlichen Bezogenheit (emotional und materiell) der Mitglieder aufeinander. Diese zwischenmenschliche Bezogenheit erzeugt auch die Sinnstruktur der Familie. Eine Ideologie ist aufgrund der nummerischen Begrenztheit dieses Raums nicht notwendig, kann aber in seltenen Fällen dennoch vorliegen. Bei Großfamilien, Sippen oder kleinen Stämmen, die ihre Ursprünge über Generationen hinweg verfolgen, mag die Sache freilich anders liegen.
Wir halten fest: Die Familie ist der basale, soziale Kleinstraum und darin ein Nukleus für die Bildung größerer Systeme. Außerhalb einer familiären Struktur ist die Befriedung der Grundbedürfnisse nicht möglich – wir sehen gleichen weshalb.
System | Struktur | Funktion |
Familie | konkret, informell, emotional | Primär: Überleben, Fortpflanzung |
Stamm/ Sippe | konkret, semiformell, emotional, hierarchisch | Primär: Überleben, Fortpflanzung Sekundär: höheres Lebensgefühl; Kultur |
Nation/ Ethnie | Semi-abstrakt, semi-formell, konkret oder intellektuell | Primär: Höheres Lebensgefühl, Kulturelle Sekundär: Überleben, Fortpflanzung |
Zivilisation/ Religion/ Weltanschauung | abstrakt, formell, intellektuell | Primär: Höheres Lebensgefühl, Kultur Sekundär: Kulturerhalt |
Soziale Räume, die sich in größeren Räumen herausgebildet haben, nennen wir der Einfachheit halber Subräume oder Subsysteme. Subsysteme ordnen und teilen den je überlagernden Raum, wie Zimmer ein Haus teilen, Organe einen Körper, Komponenten eine Maschine usf. Subsysteme weisen alle Eigenschaften und Bestandteile größerer Räume auf – sie sind kleiner und führen oft eine bestimmte Funktion für den Metaraum aus. Darin gleichen sie Körperzellen, die in sich abgeschlossene Systeme repräsentieren, deren Existenz jedoch nur in Bezug auf den Gesamtorganismus sinnvoll möglich ist.
Subräume teilen Dogma und Ideologie der ihnen übergeordneten Räume, fügen aber eigene Dogmen und Ideologien bzw. Sinnstrukturen nach den speziellen Bedürfnissen ihrer Bewohner hinzu. Innerhalb der Subräume können auch gesellschaftlich dominante Ideologien hinterfragt werden, ohne dass dabei das ihnen zu Grunde liegende Dogma angetastet wird. In diesem Fall führen Subsysteme eine heilsame und kathartischen Funktion für das Gesamtgefüge aus. Es gibt formelle und informelle Subräume. Eine politische Partei etwa ist ein formeller Subraum. Die Parteistatuten müssen im Einklang mit den Gesetzen des Landes stehen, die sie allerdings kritisieren dürfen, solange sie die in der Landesverfassung formulierten dogmatischen Grundwerte akzeptieren. Im Gegenzug erkennt der übergeordnete soziale Raum den Subraum als legitimen Teil seiner selbst an und räumt ihm gestaltende Privilegien ein. Der Stammtisch, an dem gleichfalls viel und heftig diskutiert und politisiert wird, ist ein informeller Subraum, der weder offiziell anerkannt wird, noch eine formelle Funktion für das größere Ganze einnimmt. Seine Wohltaten bleiben auf die unmittelbaren Bewohner, die Stammtischbrüder, begrenzt. Diese aber können, um beim Beispiel zu bleiben, durchaus Einfluss auf eine politische Partei nehmen, die sich Stimmen erhofft, indem sie zum Sprachrohr einer Stimmung in der Bevölkerung wird.
Ein anderes Beispiel, das die teils hochkomplexe Verschachtlung sozialer Gefüge verdeutlichen soll: Die katholische Kirche ist ein soziales Gefüge, das innerhalb vieler anderer sozialer Räume, vornehmlich Nationen, als Subraum existiert. Gleichzeitig existieren innerhalb der katholischen Kirche wiederum Subräume wie Orden, Laienvereinigungen usf. Auch Pfarrei und Bistum sind Subräume und gleichsam in Bezug auf ihre eigenen Subsysteme Metaräume. Ein Orden kann so zugleich als ein Subraum der Weltkirche gelten, bzw. noch konkreter als ein Subraum in einem bestimmten Bistum, in dem er einen Ableger unterhält; als Gesamtorden betrachtet kann er jedoch auch einen Metaraum repräsentieren, in welchem Bistümer, ja Nationen Subsysteme darstellen.
Subsysteme können mit anderen Systemen verschmelzen. Diese Verschmelzung kann friedlich in Form einer Integration oder feindlich als Assimilation geschehen. Dieser Prozess kann vor allem im wirtschaftlichen Sektor einer Gesellschaft gut studiert werden, wo Kooperationen, Fusionen und Übernahmen an der Tagesordnung sind. Im Fall der Assimilation (Gleichmachung, Eroberung, Übernahme usf.) kann es zu einem völligen Verschwinden des aufgenommenen Systems, zu seiner Vernichtung als existierende Entität kommen, wobei seinen Formen durchaus überdauern können.
Soziale Räume teilen sich in Subsysteme auf, sobald sie eine bestimmte Größe und Ausdehnung erreicht haben. So teilt sich das Militär eines Landes in Waffengattungen, Armeen, Korps, Divisionen, Regimenter usf.
Soziale Subsysteme stehen gelegentlich in Konkurrenz miteinander. Wir unterscheiden der Einfachheit halber zwischen echter und scheinbarer Konkurrenz.
Politische Parteien oder Sportvereine beispielsweise stehen miteinander in scheinbarer Konkurrenz. Das bedeutet, sie streben nicht an, ihre „scheinbaren“ Gegner zu vernichten oder zu erobern. Ihre Kämpfe erfolgen gemäß bestimmter Regeln, die im Einklang mit denen des überlagernden Systems stehen. Das Streiten ist ihre eigentliche Funktion. Zudem gestehen die Gegner einander einen Platz im jeweils übergeordneten Raum zu, d.h. sie anerkennen deren Legitimität in diesem größeren Zusammenhang.
Scheinbare Konkurrenzen wirken auf das Gesamtgefüge eines sozialen Raums oft gar nicht, d.h. sie spielen keine signifikante Rolle. Unter Umständen wirkt sich die Konkurrenz aber auch positiv aus – sowohl für das in Konkurrenz stehende Subsystem als auch für den übergeordneten Raum. Die schiere Anwesenheit eines Rivalen oder die Auslobung bestimmter Privilegien und Güter stachelt die eigene Leistungsbereitschaft an. Im letzteren Fall liegen gelegentlich auch echte Konkurrenzen vor, z.B. wenn Technologien unterdrückt werden sollen, nicht aber, wenn ein Unternehmen ein anderes „erobert“. Die Verschmelzung und Teilung sozialer Subsysteme ist Teil ihres natürlichen Lebenszyklus.
Echte Konkurrenzverhältnisse wirken dagegen generell negativ auf die Stabilität des Gesamtgefüges. Die Schwächung seiner Einzelteile schwächt in der Folge notwendig auch das überlagernde System. Echte Konkurrenzen drainen Ressourcen und binden Kräfte. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass das als Feind identifizierte System aus dem Feld des sozialen Gesamtgefüges ausgeschieden werden soll. Dies geschieht durch Vernichtung der Opponenten. Im Falle eines Kampfes gegen das überlagernde System (Revolution) wird meist eine Ersetzung seiner dogmatischen Grundwerte mit den eigenen angestrebt, seltener sucht man die Bewohner des opponierenden Raums auszulöschen – Konvertierung ist das bevorzugte Werkzeug des Conquest.
Die Vernichtung eines sozialen Raums wird durch dessen Desintegration erreicht.
Man ist versucht an dieser Stelle an physische Gewalt zu denken. Meist vollziehen sich solche Prozesse aber gänzlich gewaltfrei und oft sogar unbemerkt. Wir haben es mit einem langsamen, stillen Sterben zu tun.
Ein sozialer Raum stirbt, wenn eine oder mehrere seiner Existenzbedingungen nicht mehr erfüllt sind. Dies ist der Fall, wenn
(1) er die Bedürfnisse seiner Bewohner nicht mehr oder nur noch unzureichend bedienen kann. Die Bewohner wandern in der Folge entweder in andere Systeme ab (Migration) und/oder bilden neue Räume oder Subräume oder sie verweigern die Fortpflanzung (Extinktion). Fällt die für die Aufrechterhaltung des sozialen Raums notwendige Zahl von Bewohnern unter das erforderliche Maß, kollabiert das System. Dieser Prozess ist selten abrupt. Häufiger haben wir es mit einem langwierigen Verfall zu tun, der sich in Phasen vollzieht. Die physische Vernichtung der Bewohner eines sozialen Raums durch die Bewohner eines zu ihm in echter Konkurrenz stehenden (Vernichtungskrieg) ist trotz aller medialen Aufmerksamkeit, die wir solchen tragischen Kämpfen, wo sie denn vorkommen, schenken, die Ausnahme. Ebenso eine Ausnahme ist die Vernichtung der Population eines größeren sozialen Gefüges durch eine Krise, z.B. eine Hungersnot oder eine Sturmflut. Nur kleinere Systeme können mittels solcher (Natur-)Gewaltereignisse gänzlich zerstört werden.
(2) sein Dogma widerlegt oder unterdrückt wird. Die Bewohner glauben nicht mehr. Allein der Glaube seiner Bewohner aber konstituiert den sozialen Raum. Ohne das eine kann das andere nicht sein.
Einige Beispiele zur Verdeutlichung: Bürgerkriege, organisierte Gewaltkriminalität, Terrorismus usf. sind Beispiele für eskalierte Auseinandersetzungen zwischen sozialen (Sub-)Systemen, die die physische Vernichtung von Menschen einschließen, ohne dadurch die überlagernder Systeme zu zerstören. Diese werden lediglich destabilisiert und immanent geschwächt.
Stille, unsichtbare und darin vor allem für den übergeordneten sozialen Raum weit gefährlichere Konkurrenzen liegen in radikalisierten, ideologischen Kämpfen vor, ganz gleich unter welcher Fahne gestritten wird. Die beteiligten Gruppen konstituieren sich über ein neues Dogma, das das Konkurrenzverhältnis zu anderen Systemen, das übergeordnete mit eingeschlossen, überhaupt erst erzeugt. Solche aggressiven sozialen Subräume entstehen zumeist in der Folge gesamtgesellschaftlicher Krisen, die die ideologisch propagierte Deutungshoheit eines herrschenden Dogmas radikal in Frage stellen (Schwächung des Glaubens an das herrschende Dogma). Solche gesamtgesellschaftlichen Krisen können technologische oder wirtschaftliche Paradigmenwechsel, ethische oder religiöse Aufweichungen bestehender formeller oder informeller Verhaltenskodizes oder andere katastrophale und nachhaltig wirkende Ereignisse, wie z.B. Hungersnöte, Seuchen, Kriege usf. sein. Der Aufstieg des Bolschewismus, des Nationalsozialismus, der Sozialdemokratie, des antiken Christentums usf. waren nur möglich, weil die übergeordneten Systeme eine massive Glaubenskrise durchlitten und immanent geschwächt waren. In Russland waren das die durch den Ersten Weltkrieg massiv verschlechterten sozialen Bedingungen, in Deutschland das herrschende materielle und ideelle Elend der Bevölkerung nach dem Verlust des Krieges, die Industrialisierung und Verelendung des Proletariats bedingte den Aufstieg der Sozialdemokratie, eine tiefe Sinn- und Sittenkrise schuf das spirituelle Vakuum, das das Christentum ausfüllen konnte.
Ein sozialer Raum erzeugt und wird strukturiert durch ein Dogma, das von den Bewohnern des Raums geglaubt wird. Dieser Glaube konstituiert den Raum als Wirklichkeit innerhalb der Wirklichkeitskonzeption der Bewohner. Individuum und sozialer Raum stehen in engem, sich gegenseitig bedingendem Verhältnis zueinander. Der soziale Raum ist Ort der Existenz, seine Existenz gründet im Glauben des Individuums.
Ein sozialer Raum bildet Subsysteme aus, die ihrerseits in konkurrierenden, affirmierenden oder indifferenten Beziehungen zueinander und zu dem sie überlagernden Raum stehen und über ihre Bewohner interagieren.
Bislang betrachteten wir die Gesellschaft gewissermaßen von oben. Wir musterten den Organismus von außen und interpretierten dementsprechend das Verhältnis seiner Bestandteile in Bezug auf ihre Funktion und Wirkung für und auf das Gesamtgefüge. Nun stellen wir diese Perspektive auf den Kopf und schlüpfen in die Rolle des sozialen Partikels: d.i. das Individuum, die Person, der Bewohner des sozialen Raums und sein eigentlicher Träger. Wir brauchen hier übrigens keine anthropologischen Meisterleistungen zu erbringen. Es wird uns auch nicht daran angelegen sein, die Geheimnisse der menschlichen Natur oder seine komplizierte und vielgestaltige Verstricktheit mit dem ihn umgebenden artifiziellen Raum zu entschlüsseln. Für unseren Zweck, den Untergang der westlichen Zivilisation zu beleuchten, genügt es, das Grundlegendste im Verhältnis des Individuum zum sozialen Raum, in welchem es seine Existenz verlebt, aufzuzeigen.
Der soziale Raum ist der Ort der Bedürfniserfüllung seiner Bewohner. Wir verstehen mit Arnold Gehlen das menschliche Individuum als (Mängel-) Wesen, dessen Existenz sich in der Befriedigung der für diese Existenz relevanten Bedürfnisse erschöpft. Auch auf diese Bedürfnisse, die Weise ihrer Befriedigung, ihre Verortung in der Seelenlandschaft des Einzelnen, ihre Geschichte und tradierte Gestalt usf., muss im Einzelnen nicht eingegangen werden. Es genügt, sie in drei Klassen einzuteilen, um die Wechselbeziehungen zwischen sozialem Raum und Individuum hinreichend zu verstehen.
Die ersten beiden Klassen basieren grob gesagt auf der Körperlichkeit des Individuums, die dritte auf dessen Geistigkeit, wobei die zweite Klasse einen Übergang von konkretem zu abstraktem Bedürfnis darstellt. Ich greife an dieser Stelle vor: Die erste Bedürfnisklasse strebt danach das nackte Leben des Individuums zu erhalten. Es strebt zu diesem Zweck Güter wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit usf. an. Die erste Bedürfnisklasse gründet im konkreten Dasein des Menschen als Körper. Die zweite Klasse strebt die Erhaltung des Lebens über das Maß der individuellen Existenz hinaus an. Sein Ziel sind Nachkommen – möglichst viele und möglichst gesunde. Die Aufzucht von Nachkommen ist bei unsere Spezies langwierig und immens ressourcenintensiv. Bei anderen hochentwickelten Säugetieren dauert die Aufzucht des Nachwuchses selten länger als ein Jahr, meist viel kürzer. Danach ist die neue Generation überlebensfähig und die Elterngeneration kann „unbesorgt“ in einen neuen Reproduktionszyklus eintreten. In unserem Fall muss der Nachwuchs viele Jahre gepflegt werden. Um dies zu ermöglichen werden stabile soziale Strukturen benötigt, die arbeitsteilig und effizient ein Umfeld erzeugen, in welchem die prekäre Aufzucht der so verletzlichen Nachkommen möglich ist. Soziale Kleinsträume wie Familien, Sippen oder kleine Stämme dienen diesem Zweck. Diese Kleinsträume sind gemeinsam lokalisiert. Ihre Bewohner kennen einander, sind sich vertraut – ohne notwendig verwandt sein zu müssen. Soziale Kleinsträume sind informell strukturiert. Hierarchien ergeben sich, wenn überhaupt, aus Verdienst, Kompetenz, Alter oder – seltener – aus der Herkunft. Die Amts- oder institutionelle Hierarchie sind noch unbekannt. Die emotionale Bindung der Familienmitglieder aneinander in Kombination mit dem je egoistischen Überlebensinteresse ist der Mörtel, der dieses Gefüge fest zusammenhält.
Die zweite Bedürfnisklasse strebt psychologische Güter an, die ein Wohlbefinden der Person jenseits des reinen Überlebens bedingen. Dieses Wohlbefinden signalisiert dem Individuum auf einer instinktiven Ebene, dass die Bedingungen für die Aufzucht von Nachkommen günstig sind. Wohlbefinden meint an diese Stelle nicht unbedingt explizites Glücksempfinden, sondern eher jene stille Zufriedenheit, die aus der Abwesenheit gröberer alltäglicher Anfechtungen folgt. Es ist die Zufriedenheit des Bauern, der die Saat aufgehen sieht, die Zufriedenheit, die man am Abend des ersten warmen Frühlingstages nach einem langen Winter empfindet, die Zufriedenheit, die einen erfüllt, wenn der Öltank gefüllt, das Holz gestapelt, das Haus winterfest gemacht wurde, die Zufriedenheit des Handwerkers, der nach einem produktiven Tag die Füße hochlegt und sein Bierchen öffnet. Das kleine Glück des kleinen Lebens.
Die dritte Bedürfnisklasse erzeugt komplexe soziale Räume, in denen höhere, abstrakte Bedürfnisse erfüllt werden – ich stelle die weitere Erklärung für den Augenblick zurück.
Die Körperlichkeit, also Überleben und leibliches Wohlbefinden, prägt die ersten beiden Bedürfnisklassen. Geistigkeit, also gedankliche und sinnliche Abstraktion, strukturiert die dritte Bedürfnisklasse. Aus der Dualität von Geistigkeit und Körperlichkeit lassen sich zwei Ordnungsbegriffe für den Menschen als Lebewesen ableiten.
Die natürliche Ordnung begreift den Menschen als leibliches Lebewesen in einer natürlichen Umwelt. Die artifizielle begreift ihn als Bewohner eines sozialen (artifiziellen) Raums. Ziel der natürlichen Ordnung ist der Erhalt, die Weitergabe und Mehrung des Lebens in Gestalt individueller Existenzen. Diesem obersten Ziel nachgeordnet stehen die anthropologischen Naturgesetzlichkeiten, sofern sie das Leben in Gestalt der Individuen betreffen. Diese Naturgesetzlichkeiten sind nicht mit dem, was man heute gemeinhin unter Naturrecht versteht, zu verwechseln. Es handelt sich vielmehr um jene Ordnungen, nach denen sich Lebewesen – seltener – willkürlich oder unwillkürlichinstinktiv zwecks Mehrung ihres Lebens verhalten. Dabei steht das Einzelwesen als Träger und Objekt der natürlichen Ordnung im Vordergrund. Dies erzeugt eine paradoxe Situation. Denn gerade durch seine egoistische Grunddisposition, sein Leben um jeden Preis zu erhalten und weiterzugeben, erhält das Individuum gewissermaßen beiläufig seine Art – Art nicht im biologischen Sinne einer Tierart, sondern Art im Sinne einer nächsthöheren Lebenseinheit, beispielsweise die Familie, die Sippe, der Stamm usf. Der Egoismus der Art wiederum erhält die Gattung, diese das Leben usf.
Die artifizielle Ordnung