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© 2021 Ursula Frey

Foto auf S. → © Arche im Olgahospital Stuttgart 1997, Thomas Merz, Reutlingen, Werbefotografie

Foto auf S. → © Käthe Kollwitz, Skulptur Frau mit Kindern, Claudia Schillinger, Berlin

Foto auf S. → © Käthe Kollwitz, Skulptur Trauerndes Elternpaar; alamy Stock Foto Vladslo,

Belgien, deutscher Soldatenfriedhof

Foto auf S. → © Hände, Shutterstock

Alle übrigen Fotos oder Zeichnungen: © privat

Gedicht S. →: Erich Fried, Vielleicht, aus: Es ist was es ist, Klaus Wagenbach, Berlin

Coverdesign, Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7534-3218-2

Für Diethild

Die Arche stand von 1991 – 2014 im alten Olgahospital in Stuttgart.
Seit 2014 steht im neuen Gebäude des Klinikums eine neue Arche.

VIELLEICHT

Erinnern

das ist

vielleicht

die qualvollste Art

des Vergessens

und vielleicht

die freundlichste Art

der Linderung

dieser Qual

Erich Fried

Inhalt

VORWORT

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Friedrich Hölderlin

Noch ein Buch? Ja, noch ein Buch – dazu musste es erst einmal kommen, zu lange bin ich damit schwanger gegangen. Viele gute Bücher gibt es über Krankheit, Sterben, Abschiede. Philosophen, Theologen, Therapeuten u. a. haben sich immer mehr dem Thema angenähert in Büchern und Medien. Was bewegt mich, dieses Buch zu schreiben?

Seit ich auf der Onkologie einer großen Kinderklinik in Stuttgart gearbeitet habe, trage ich dieses Thema mit mir. Was hat mich all die Jahre bewegt? Für Herz und Hirn eine Herausforderung. Was hat mich gefordert, gestärkt, was hat diese Zeit in mir wachgerufen, wo habe ich meine Grenzen kennen gelernt, meine Stärken? Vier Jahre und doch ein ganzes Leben.

Ich hatte so viel Glück. Das ist es, womit ich von dieser Station Abschied nehme. Konnte ich darum dort arbeiten? Dankbarkeit zurückgeben? Ein Geschenk, unverdient, das ich bekommen habe? So vieles ist unverdient, unser Leben, und da vor allem die Gesundheit. Wie oft wird sie an besonderen Tagen hervorgehoben, an jedem Geburtstag gewünscht.

Doch ab sofort ist das für mich keine Floskel mehr, die dazugehört. Ab sofort ist es unverdientes Glück.

Krankheiten und das Sterben, beides gehört zu unserem Leben. Doch wenn Kinder sterben, erscheint uns das unnatürlich, ungerecht, unmenschlich. Wie oft habe ich das gehört. Wo bleibt der gnädige Gott? Wie oft fragen wir uns das – nicht nur in der Klinik.

Was hat mich fasziniert an den Kindern?

Zuerst und zuletzt ihr Lachen. Kinder bleiben Kinder, gleichgültig, wie krank sie sind. Sie sind authentisch, ehrlich. Man weiß immer, woran man ist. Sie können mir direkt ins Gesicht sagen, wenn sie gerade keinen Besuch wollen. Das erlebe ich wahrhaftig und befreiend. Sie sind heute unausstehlich und morgen anhänglich und liebevoll und sanft.

Was müssen sie durchkämpfen in diesem jungen Leben! Unvorbereitet. Nicht wissend, dass der Tod vor ihrer Tür steht und wartet. Doch nicht selten ahnen sie es, tief in ihrem Innern, mit dieser unbewussten Gewissheit, lange schon vor ihren Eltern. Sie haben meinen Dank, meine Anerkennung und meinen Respekt verdient, ganz unabhängig davon, wie alt sie sind. Ich denke an jedes einzelne Kind, das ich begleitet habe und spüre eine eigene Wärme und Liebe.

Und darum schreibe ich dieses Buch. Vielleicht wird es ein Buch zuerst für mich, zum Abschiednehmen. Vor allem aber eine Erinnerung für die Eltern, die diese Zeit niemals vergessen. Solange sie leben, wird das die prägendste Erinnerung ihres Lebens sein. Vielleicht ist das der eigentlich wahre Grund: Ich fühle mich ihnen zu Dank verpflichtet. Sie haben meinen besonderen Respekt, meine Hochachtung, meine Anerkennung.

Das, was ich hier schreibe, ist eine Würdigung an den Kampf um das Leben eines Kindes und die Liebe von Müttern und Vätern, die ihr Kind bis zum Tod begleitet haben. Nein, sie haben den Kampf nicht verloren. Ich sehe es so, die Liebe hat gesiegt. Denn ich habe kein einziges Kind einsam sterben sehen.

Diese Arbeit, die Eltern an ihrem Kind geleistet haben, ist so viel mehr wert als jede andere Arbeit, jedes Studium, jede Doktorarbeit. Ja, sie steht selbst weit über dem Können und Wirken der fachlich hochqualifizierten Ärzte, der medizinischen Betreuung. Es ist eine andere Form von Arbeit, eine Herzensarbeit, die den ganzen Menschen fordert. Da bleibt nichts verschont, alles ist offen, wund und verletzlich.

Wir, die wir noch kein Kind verloren haben, können den Schmerz nur erahnen. Eigentlich wollen wir ihn nicht nachempfinden, denn er macht Angst. Das Thema anzusprechen, bedeutet immer, etwas nicht Glaubhaftem, Abwehrendem zu begegnen. Eine Distanz, die hemmt, als spräche man von etwas Wunderlichem, das man nicht wahr-nehmen möchte. Etwas, das Angst macht, wo man nicht hindenken will. Ein unerklärbares beklemmendes Gefühl, dem man sich nicht nähern will.

Ist es überhaupt möglich, in Worte zu fassen, was hier auf einer solchen Station passiert?

Jede und jeder, der hier arbeitet, ist mindestens einmal gefragt worden: »Wie kannst du …?« Aber ist nicht hier genau der Ort, wo Leben erfahrbar wird? Wo Grenzen sichtbar werden, aber auch überwunden werden. Wo um Menschenmögliches gerungen wird. Wo niemand wegläuft, weil’s zu schwer wird? Wo der Kleinste und Schwächste noch seine Würde behält.

Weil Liebe zu einer Macht wird, die befähigt.

EINFÜHRUNG

»Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.«

Wie oft hat dieses Zitat von Hilde Domin mich begleitet, auf dem Weg in die Klinik, auf dem Weg von der Klinik, im Gespräch mit Eltern. Warten wir nicht alle bei kranken Menschen, die wir lieben, auf das Wunder der Heilung? Was ist, wenn diese nicht eintritt? Für mich hat das »Wunder« eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Es sind so oft die unbemerkten Wunder, die passieren:

Wenn Mütter meinen, mit ihrer Kraft am Ende zu sein, und dann doch mit beinahe übermenschlicher Geduld und Liebe die Zeit des Leidens mit ihrem Kind durchstehen,

wenn Väter weinen können, die jahrelang stolz darauf waren, »alles im Griff« zu haben,

wenn Krankenschwestern und Ärzte Jahr um Jahr ringen um das Leben dieser kleinen Patienten und nicht aufgeben, sich um sie zu kümmern.

Die Aufzählung könnte ich unendlich fortsetzen.

Ohne diese kleinen und doch großen Wunder kann wohl niemand auf einer solchen Station wirklich leben. Mitten in der Zerbrechlichkeit des Lebens ist da die Menschlichkeit, die kaum woanders deutlicher wird als hier, die prägend bleibt auch über den Tod eines Kindes hinaus. Mit der Menschlichkeit kommt die Hoffnung. Die Hoffnung trägt.

Im Augenblick, wo die Eltern mit der Diagnose »Ihr Kind hat Krebs« konfrontiert werden, bricht plötzlich eine Welt für sie zusammen. Alles ändert sich. Die Familie, der Alltag, alle Pläne. Eine Mutter sagt: »Ich falle in ein tiefes dunkles Loch.« Der Arzt kann in dem Moment eigentlich nichts Richtiges sagen, Eltern fühlen nur Todesangst um ihr Kind. Selbst wenn sie hören, dass heute über 70 Prozent der Kinder geheilt werden können. Schritt für Schritt beginnt dann der lange Weg der Therapie.

Ich habe erlebt, mit welch unglaublicher Kraft Mütter und Väter in oft ausweglosen Situationen ihr Kind in großer Liebe getragen und begleitet haben bis zum Ende. All das hätten sie sich vorher niemals vorstellen können.

Und darum schreibe ich dieses Buch. Ich schreibe es als Lebenshoffnung – als Hoffnungszeichen, dass es gelingen kann, ins Leben zurückzufinden – trotz des schwersten Schicksals, das Eltern erleiden müssen.

Ein Buch über Mütter und Väter, die wieder weiterleben können und wollen, während sie sich das am Todesbett ihres Kindes nicht ansatzweise vorstellen konnten. Es bleibt die Wunde, es bleibt der Verlust, es bleiben offene Fragen. Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie hilft, mit dem großen Verlust leben zu lernen. Auf wundersame Weise kann es gelingen, dass sich verwaiste Eltern wieder am Leben erfreuen können. Wenn eine Mutter sagen kann: »Sie wird uns immer fehlen, aber ich kann wieder leben. Mein Leben hat wieder Sinn. Sie wird mich immer begleiten, ich trage sie in mir.« Dann ist etwas Großes passiert – mit viel Arbeit, viel Schmerz, viel Kampf, vielen Tränen.

Mütter und Väter, Frauen und Männer sind wieder aufgestanden, um weiterzugehen. Die Liebe haben sie nicht verloren, sie haben sie integriert in ihr Leben.

Dass dies möglich werden kann, zeigen die folgenden Interviews, die ich mit Eltern Jahre nach dem Tod ihres Kindes geführt und aufgenommen habe. Hier gebe ich die gekürzten Fassungen wieder. Jedes einzelne Gespräch hat mich lange bewegt und ich konnte spüren, welch große Kraft Menschen in sich tragen, von der sie zuvor nichts geahnt haben.

Eine Lebenshilfe für Betroffene, Begleitende und interessierte Leserinnen und Leser.

Anmerkung:

Familiennamen und Diagnosen* habe ich bewusst nicht genannt, um die Familien vor Nachforschungen zu schützen. (zwei Ausnahmen)

BASTIAN, 2 Jahre

Die Liebe trägt alles

Aus dem Interview mit der Mutter

Zwei Jahre nach dem Tod von Bastian lernen wir uns in der Trauergruppe kennen. Du bist dir nicht sicher, ob du das aushältst. Mit »Bauchschmerzen« bist du gekommen. Deine große Traurigkeit und deine Verletzungen sind spürbar. Wer will denn deine Trauer nach zwei Jahren noch hören? Das hast du häufig erlebt in letzter Zeit: »Jetzt hast du genug getrauert …«

Bald spürst du, dass hier ein Schutzraum ist, ein geschenkter Raum, wo alles erlaubt ist. Tränen, Wut, Zweifel und die Unsicherheit dürfen sein: Will ich hier bleiben? Langsam öffnest du dich. Du erzählst von dem fröhlichen Bastian und den Schmerzen, ihn verloren zu haben. Kann hier neues Vertrauen wachsen?

Heute, nach so vielen Jahren, sitzt du vor mir als eine starke, lebensfrohe Frau und als eine Bestatterin.

Bastian wäre heute 23 Jahre alt. Wie geht es dir dabei?

Ich kann sagen, heute geht’s mir gut. Wenn ich zurückdenke, da waren die Gedanken: Ich will nicht mehr leben, ich kann das nicht aushalten und ich will das auch nicht aushalten. Aber das ist jetzt nicht mehr da. Das Leben hat seinen Weg gefunden.

Was mir heute hilft als Bestatterin, das ist, dass ich ansatzweise erahnen kann, wie es sich anfühlt, wenn Menschen einen Verlust erlebt haben.

Könnte es eine Überschrift für dich geben über Bastians Leben?

Du bist das Beste, was mir je passiert ist.

Dann ist da aber gleich ein schlechtes Gewissen, weil Benni auch da ist, sein Bruder. Und der trägt eine schwere Last mit sich. Natürlich liebe ich ihn auch. Ich habe aber immer eine latente Angst um ihn. Ich wünsche mir so sehr, dass er für sich selbst sorgen kann. Und noch schöner wäre es, wenn er glücklich sein könnte. Ich bin immer noch die Löwin, die ihre Jungen schützen will. Aber wir können das nur bedingt. Ihn überfordert das Leben.

Zu Bastian hattest du eine besondere Nähe. Hat das die Krankheit gemacht?

Ich musste zwei Jahre auf ihn warten. Erst eine Eileiterschwangerschaft, dann eine Fehlgeburt, und als ich dann endlich wieder schwanger wurde, war das schon sehr intensiv. Da war eine große Dankbarkeit: Er ist da. Das erste Jahr mit ihm als Baby habe ich sehr genossen – und dann die Zeit der Krankheit, viel zu kurz und umso intensiver.

An welche glücklichen Augenblicke erinnerst du dich?

Es sind die kleinen Momente, die kostbar sind. Ich sehe ihn mit seinem Infusionsständer auf dem Stationsgang flitzen, er hat dort das Laufen gelernt, er war ja erst ein Jahr alt. Und dann, als die große Operation überstanden war. Ich durfte mein Kind sehen und alles war gut. Das letzte Gänseblümchen, das wir noch gepflückt haben am Nachmittag, ehe er gestorben ist. Die Krankheit hat mich gelehrt, jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde zu leben. Es war nur wichtig: Geht es ihm jetzt gut? Kann er spielen? Oder hat er Schmerzen? Da nimmt man die kleinen Dinge so bewusst wahr. Und dann kommt auch so eine innere Freude.

Gab es einen schwersten Moment?

Das Sterben. Die Diagnose war schlimm, aber da war immer noch Hoffnung. Für mich war das Sterben das Schlimmste. Der Tod. Die Endgültigkeit. Auch das Nichtbegreifen, dass es wirklich jetzt passiert ist. Das waren die schlimmsten Stunden in meinem Leben.

Was hat dir geholfen, diese Zeit durchzustehen?

Die ersten Tage konnte ich mich nur meinem Schmerz überlassen, aber dann musste ich für mein Kind funktionieren. Ich fand es fürchterlich schwer, als hätte mir jemand was rausgerissen. Ich habe mich immer zerrissen gefühlt, nie vollständig, als würde mir etwas im Körper fehlen. Aber da war Benni, ich war ja noch Mutter. Ich konnte meinem Kind nicht antun, dass ich mich vergrabe. Benni war vier Jahre alt.

Unsere Trauergruppe hat einen guten Teil dazu beigetragen. In einer ersten Trauergruppe fühlte ich mich fehl am Platz. In unserer Gruppe war es ganz anders, das hat mir sehr geholfen. Doch es war ein tiefes Tal, durch das ich durch bin. Und dann ist es gut, eine beste Freundin zu haben – oder eine Trauergruppe.

Was hat so gar nicht geholfen?

»Haben Sie noch Kinder?«, hilft überhaupt nicht.

»Die Zeit heilt alle Wunden«, hilft überhaupt nicht.

»Du bist ja noch jung, du kannst immer noch Kinder kriegen«, hilft überhaupt nicht.

Gab es Menschen, auf die du dich verlassen konntest?

Meine beste Freundin und meine Schwiegermutter haben mir geholfen. Mein Mann war nicht der geeignete Partner, er hat anders getrauert als ich.

Die Ehe, eine Partnerschaft, die ganze Familie ist schwer belastet. Sie wird nie mehr die gleiche sein wie zuvor. Was hat sich verändert?

Mein Mann hat sich in Arbeit und Alkohol geflüchtet. Eine Alkoholerkrankung kann man nicht überspielen. Benni hat heute noch Probleme. Verlustängste kamen dazu. Jeder von uns war mehr oder weniger ein Einzelkämpfer. Inzwischen habe ich mich getrennt, mein Leben auf eigene Füße gestellt.

Gibt es etwas, was du von Bastian gelernt hast?

Sei, wie du bist. Das können die Kleinen wirklich. Die Dinge so zu nehmen, wie

sie sind. Natürlich hat er die Tragweite nicht erfasst. Aber das war seine Botschaft: Sei du selbst!

Er war Sonnenschein, Sonnenschein und weise. Das ist das, was hängen bleibt.

Siehst du dein Kind an einem Ort – wo du ihn in Gedanken finden kannst?

Ich habe nichts Greifbares. Ich glaube einfach, dass er mich abholt, wenn ich an der Reihe bin. Ich glaube, dass die Menschen, die uns nahe waren, sich wiederfinden. Ich glaube ganz fest, dass es eine Art Wiedersehen gibt. Sonst würde ich das hier auch nicht aushalten.

Helfen dir bestimmt Rituale, an Geburtstagen, Weihnachten?

Als Friedhofgänger bin ich allein in der Familie. Geburtstage mache ich mit mir selbst aus. Der Todestag ist schwer und total präsent in mir. Der Geburtstag fällt mir am schwersten. Da würde ich gern mein Kind in den Arm nehmen und ihm gratulieren. Das kann ich nicht. Was auch immer ich mache, er kommt nicht mehr.

Versöhnung ist ein großes Wort. Kann man jemals versöhnt werden mit dem Verlust, dem Schmerz, einem solchen Schicksal?

An einen Gott, der mir so eine Krankheit schickt, an einen solchen würde ich nicht glauben. Aber wenn die Krankheit da ist, kann ich weglaufen oder mich stellen. Ich habe mich gestellt. Das ist vielleicht Versöhnung.

Wenn du Eltern etwas sagen könntest, die Ähnliches gerade erleben. Was würdest du ihnen sagen?

Höre auf dich, was deine Intuition dir sagt. Versuche zu spüren: Wie geht es meinem Kind? Was will mein Kind? Was will es mir sagen?

Die Ärzte löchern, sie geben Auskunft. Je mehr ich weiß, desto mehr kann ich verstehen, kann ich Entscheidungen besser treffen. Viel fragen hilft. Spüren. Mütter, Väter spüren so viel mehr – auf das Gefühl vertrauen!

Darum stelle ich heute niemals eine Entscheidung infrage. Ich habe immer gesagt:

»Aus bestem Wissen und Gewissen.« Ich habe aus Liebe entschieden.

Die Liebe trägt alles! Man kann so viel aushalten, das kann man sich vorher nicht vorstellen.

DIE LIEBE TRÄGT ALLES!

DU STIRBST IM HERZEN NICHT

Du bist ein Schatten am Tage

und in der Nacht ein Licht,

du lebst in meiner Klage

und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage,

da wohnst du bei mir dicht,

du bist mein Schatten am Tage

und in der Nacht mein Licht.

Du bist ein Schatten am Tage,

doch in der Nacht ein Licht,

du lebst in meiner Klage

und stirbst im Herzen nicht.

Friedrich Rückert

1788–1866

Aus »Kindertodtenlieder«

Nach dem Tod seiner »beiden liebsten und schönsten Kinder«

LEA, 2 Jahre

Das Jenseits ist gleich um die Ecke

Wenn ich mir den Himmel vorstelle,
dann sehe ich die Arme von Daniela und Lea darin geborgen.

Wenn ein Vater nach monatelangen Kämpfen um das Leben seines Kindes mit diesem Bild Abschied nehmen kann, dann ist für mich ein Wunder geschehen. Ein Bild, das tröstet – mit allem Schmerz – und trotz allen Schmerzes.

Ein Jahr später schreiben die Eltern:

»… Es ist nicht wahr, dass die Zeit alle Wunden heilt. Wir sind andere geworden und wir finden uns nur schwer zurecht. Konventionen haben in unserem Leben nur noch wenig Platz. Manchmal hilft es uns, dass wir über Gefühle, Ängste und Zweifel sprechen dürfen, dass wir Zuhörer finden, die versuchen, uns zu verstehen, und die uns keine guten Ratschläge geben müssen. Leas Tod hat ein Loch in unsere Familie gerissen, das uns begleiten wird, solange wir leben.«

Beide Aussagen stimmen. Nein, sie widersprechen sich nicht. Sie zeigen so deutlich die ganze Bandbreite der Gefühlswelt – die Trauer, die Sehnsucht, den Trost. Sie zeigen aber auch, dass es gelingen kann, mit der Kraft der Liebe gemeinsam einen Weg zu finden.

Aus dem Interview mit den Eltern

Heute sind 14 Jahre vergangen. Wenn ihr an Lea denkt, was fällt euch zu ihr ein?

M: Sie war so ein Sonnenschein. Trotz der Krankheit war sie immer fröhlich, wenn es die Schmerzen und die Situation zugelassen haben. Das war für uns so bewundernswert. Ich denke schon manchmal – jetzt weniger als früher: Wie wäre sie jetzt? Wäre sie vielleicht aufmüpfig? In der Pubertät anders? Ich wollte immer aufpassen, damit ich sie nicht nur so positiv sehe, sondern auch realistisch. Lea war quirlig und zielstrebig, wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte. Erdig war sie, draußen saß sie immer im Sand.

V: Für mich war es eine extrem schwierige Zeit. Wir waren gerade dabei, unseren Hausbau fertigzubringen. Ich musste viel arbeiten. Da war die Bindung von Lea zu meiner Frau als Bezugsperson viel stärker, natürlich auch durch die Krankheitsphasen in der Klinik.

Unser Lebensprojekt war gut geplant: Familie, Häuschen, Kinderzimmer. Doch plötzlich war das alles nicht mehr wichtig. Das ist meine Erinnerung. Dass plötzlich andere Dinge dran waren.

Wenn ihr an die Zeit in der Klinik zurückdenkt. Was war ein besonders schwerer, vielleicht der schwerste Augenblick?

M: Die Diagnoseeröffnung. Die Tür ging auf, der Doktor kommt rein – und ich weiß nichts mehr. Er spricht, und ich hatte das Gefühl, alles wird schwarz. Ich versteh gar nichts. Ich will es gar nicht verstehen. Nur Fetzen hab ich aufgenommen. Was sagt er? Was ist jetzt? Welches Stadium? Welche Chancen? Chaos im Kopf. Ich seh ihn noch stehen, so an der Wand …

V: Ich erinnere mich, am Anfang, da bin ich ganz bewusst raus, eine Zigarette rauchen, Atem holen. Gerade in den ersten Tagen, wo wir noch nichts wirklich wussten. Ich habe es ganz anders wahrgenommen.

Erinnert ihr euch an glückliche Momente? Was hat besonders gutgetan?
Was hat euch geholfen?

V: Die Atmosphäre. Der professionelle Umgang. Ich habe grundsätzlich ein sehr positives Bild. Mir ging es gut auf der Station, habe mich gut aufgehoben gefühlt. An die Schwestern und die Atmosphäre denke ich gern zurück. Das Kinderzimmer, da waren wir heimisch, ich habe das sehr geschätzt. Da sind Fachleute und das nötige Material, womit man Kinder beglücken kann.

Ein wesentlicher Baustein war für mich, dass hier auf der Station das Kind im Mittelpunkt steht. Kinder durften Quatsch machen, ohne gemaßregelt zu werden. Sie wurden ernst genommen. Das war das Wesentliche, was mir geholfen hat, ernst genommen zu werden in dieser Megakrise. Auch habe ich das Gefühl gehabt, da ist eine Kompetenz da, der ich vertrauen kann. Das hat mir geholfen in meiner Hilflosigkeit.

M: Ja, die Spontanität und Flexibilität von dem ganzen Personal. Vor allem die Schwestern waren unkonventionell, lustig und flexibel. Immer haben sie sich was ausgedacht, ein Kind zum Lachen zu bringen, sie haben irgendwas auf den Verband oder wo auch immer draufgemalt, sind auf das Kind eingegangen. Erstaunt hat mich das Lachen, mit dem sie auch uns angesteckt haben, obwohl mein Gefühl oft war, da vergeht dir doch manches Mal das Lachen. Die Menschlichkeit, die Freundlichkeit. Das war ganz besonders.

V: Eine sehr schwere, aber im Nachhinein eine gute Entscheidung war dann, das Kind mit heimzunehmen, nicht noch einmal eine Therapierunde zu versuchen. Das ist gut, wenn Ärzte das mit aushalten. Die Oberärztin hat uns da sachlich, medizinisch verständlich und menschlich gut informiert und beraten. Die Entscheidung mussten wir selbst treffen.

M: Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und du hoffst immer.

V: An dem Punkt hörst du auf zu hoffen.

M: Und etwas zu unterlassen heißt ja dann – sich fügen. Das ist sehr, sehr schwer. Ich gebe die Hoffnung auf oder ich akzeptiere den Verlauf. Für uns war es gut. Man weiß ja nie, wie es geworden wäre.

Der Umgang mit den anderen Eltern und Kindern auf der Station. War das hilfreich, sich auszutauschen, oder eher belastend?

M: Unterschiedlich. Für mich war es eher eine Ablenkung. Man holt sich Kaffee in der Küche, wärmt was auf, kommt ins Gespräch, tauscht sich aus, lacht auch mal miteinander. Für die einen Mütter war es hilfreich, andere haben die vielen Geschichten, die dann erzählt wurden, nicht auch noch ertragen können.

Und die Zeit nach dem Abschied?