Im Sinne der erleichterten Lesbarkeit spreche ich von Müttern und Vätern, betone aber ausdrücklich, dass sich das Buch an alle möglichen Eltern-Konstellationen richtet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Corinna Hansen-Krewer

www.soul-feelings.de

Lektorat: Matthias Leo Webel

Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-4725-4

VORWORT

Liebe Sternenmama, lieber Sternenpapa. Liebe Bestatter, Hebammen, Doulas, Ärzte, Geburtshelfer – ihr, die Sterneneltern auf ihrem schweren Weg begleiten. Liebe Omas und Opas von Sternenkindern, Tanten, Onkel, Brüder, Schwestern, Freunde …

Schon lange fühle ich tief in mir das Bedürfnis, unsere Geschichte und die damit einhergehenden Erfahrungen und Veränderungen aufzuschreiben. Niemand kann Sterneneltern die Last nehmen, die sie tragen müssen. Niemand kann ihnen ihren Schmerz und ihr Vermissen nehmen. Aber man kann sich gegenseitig stützen und Mut machen und Möglichkeiten aufzeigen, wie man lernen kann, mit der unendlichen Traurigkeit umzugehen. Für mich war es offensichtlich, dass ich keine klaren Antworten bei der Sinnsuche erhalten würde, aber auf dem Weg begann ich manchen Sinn zu fühlen und zu erahnen, was mir neue Dimensionen eröffnete und mir ein kleines bisschen mehr Ruhe in mein Herz brachte.

Mit diesem Buch möchte ich Menschen ermöglichen, zu sehen und zu verstehen, wie es Sterneneltern geht. Damit Sterneneltern das Unbeschreibliche überleben und Wege finden können, damit zu leben, ist es wichtig, dass das Umfeld versteht, was Sterneneltern brauchen. Es ist wichtig, dass man offen mit diesem schmerzvollen Thema, dem Tod unserer Kinder, umgeht, um endlich das Tabu zu brechen und sich gemeinsam in Not und Traurigkeit zu halten. Ich wünsche mir, dass ich mit diesem Buch Einblicke geben kann in das Leben und die Liebe verschiedener Sterneneltern. Ich wünsche mir, dass ich Menschen, die im Gesundheitsbereich tätig sind, animieren kann, öfter auf ihr Herz zu hören und manchmal zu hinterfragen: Wie würde es mir in diesem Moment gehen?

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft erkennt, dass Sterneneltern auch Eltern sind und Stille und Kleine Geburten eben auch Geburten, die verarbeitet werden müssen und die man nicht einfach so verdrängen und vergessen kann. Ich wünsche mir, dass die Zeiten, in denen man verdrängen und vergessen musste, vorbei sind. Dass wir lernen, einander anzuschauen, anstatt wegzusehen, und aufeinander zuzugehen, anstatt voreinander wegzulaufen. Ich wünsche mir, dass wir in einer Gesellschaft leben dürfen, in der man nicht verschämt zu Boden schauen muss, wenn man nach der Anzahl der Kinder gefragt wird. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder alle den gleichen Wert haben dürfen, egal ob groß oder klein, ob dick oder dünn ob lebendig oder tot. Denn die Liebe bleibt gleich …

Für Jonathan. Für immer im Herzen.
Für meinen Mann, unsere Familie und unsere Nachkommen.
Für alle Frauen und Männer, denen es im Herzen so geht, wie uns.
Für Ärzte und Hebammen, für Schwestern und Pfleger.
Für Doulas und im tiefsten Herzen ganz besonders
Für mich.

INHALT

KAPITEL I

MEINE GESCHICHTE

Ich

Ich bin Corinna, 36 Jahre. Mama eines neunjährigen Sohnes und einer einjährigen Tochter. Außerdem bin ich eine Sternenmama. Im Jahr 2017 musste ich unseren Sohn Jonathan in der 38. Schwangerschaftswoche tot zur Welt bringen. Auf dem Weg zum Regenbogenbaby erlitten wir noch zwei weitere Fehlgeburten. Seitdem ist nichts, wie es mal war. Ich bin nicht mehr, wie ich mal war. Aber das ist gut so. Auch, wenn es verdammt weh tut.

Jonathan

Mein lieber kleiner Schatz!

Lange warst du geplant und lange mussten wir auf dich warten. Nicht etwa, weil es nicht funktionierte. Sondern, weil eine gewisse berufliche Sicherheit Priorität hatte. Heute würde ich vieles anders machen, mein Schatz.

Als wir es 2016 endlich darauf anlegten, klappte es nach drei Zyklen: Ich durfte im Belgien-Urlaub nachts um 3:30 Uhr positiv testen. Nachdem ich acht Tage nach Befruchtung starke Einnistschmerzen bekam und weitere typische Schwangerschaftssymptome spürte, war mir bereits klar gewesen, dass es geklappt haben müsste. Aber mit dem positiven Schwangerschaftstest hatte ich es schwarz auf weiß und war ganz aufgeregt.

Am 23. August 2016 durfte ich das erste Ultraschallbild in der Hand halten. Ich war wahnsinnig happy. Tatsächlich begann mein Bauch wie schon in der ersten Schwangerschaft schnell zu wachsen; ich hatte das Gefühl, Ende August würde man mir die Schwangerschaft schon ansehen.

Am 5. September, genau einen Monat nach der Befruchtung, sahen wir dein Herzchen auf dem Monitor schlagen. Wir waren einfach nur glücklich.

Bis auf starke Übelkeit in der Anfangszeit und Symphysenschmerzen, die wieder sehr schnell in der Frühschwangerschaft eintraten, war es eine unauffällige Schwangerschaft. Ich nahm, wie in der ersten Schwangerschaft auch, zwanzig Kilogramm zu, trug einen riesigen Bauch mit mir herum, den ich voller Stolz zeigte. Denn ich wusste, darin warst du.

Foto: Nicole Kraiker

Ich ließ eine Menge Fotos machen und dokumentierte die gesamte Schwangerschaft. Ich sammelte sämtliche Ultraschallbilder und freute mich auf den nächsten Arzttermin.

Den Mutterpass hütete ich wie meinen Augapfel, dennoch verschwand er um die Jahreswende herum. Wir stellten die ganze Wohnung auf den Kopf – das Dokument blieb unauffindbar.

Einen neuen Mutterpass ausstellen zu lassen, fühlte sich seltsam an. Ich dokumentierte weiter meine Schwangerschaft, nahm Fotos meines Kugelbauchs mit blauem Tape auf, welches meine Symphyse ein wenig abmilderte. Am 23. März 2017 gipsten dein Bruder und dein Papa mich ein, weil ich unbedingt, genau wie in der ersten Schwangerschaft, eine Erinnerung behalten wollte. Wie wichtig sie später für mich sein würde, war mir da noch nicht klar.

Foto: Nicole Kraiker

Zwei Tage später veranstaltete ich ein Mädels-Frühstück. Ich lud ein paar Freundinnen ein, um so kurz vor der Geburt noch ein paar entspannte Stunden zu verbringen. Wir hatten eine tolle Zeit und ich freute mich riesig über einen Kuchen in Babybauchform von meiner Freundin. Alle waren gespannt und erwarteten dich bereits, die Tage bis zu deinem Entbindungstermin waren gezählt.

Kurz vor Ostern färbten dein großer Bruder und ich im strahlenden Sonnenschein auf dem Balkon Eier. Wir sprachen darüber, dass du ein Jahr später schon fast mitfärben könntest.

Einige Tage vergingen. Meine Unruhe verschlimmerte sich, mein Wasser in den Beinen ebenfalls – so schlimm, dass dein Papa und ich am 3. April ins Krankenhaus fuhren, um eine mögliche Präeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung) ausschließen zu lassen. Wir hatten Glück, es war nichts los im Kreißsaal, sodass die Hebammen sich genug Zeit für uns nahmen. Wegen meines hohen Blutdrucks wurde ich stationär für eine Nacht aufgenommen und beobachtet. Dreimal am Tag wurde ein CTG (Kardiotokographie) geschrieben, auch alle anderen Werte waren unauffällig. Im Krankenhaus gab es kaum Handyempfang; obwohl ich daher fast von der Außenwelt abgetrennt war, genoss ich die Ruhe und Entspannung. Das CTG und alle anderen Blutwerte blieben unauffällig, daher wurde ich nach einer Nacht wieder entlassen.

Als ich das Stationszimmer verließ und mich von der jungen Ärztin verabschiedete, fragte ich unsicher: »Oder sollten wir doch lieber einleiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Jeder Tag, an dem das Baby weiterhin im Mutterleib bleiben kann, ist besser für das Kind!« Ich fuhr nach Hause.

Der Tag, an dem sich alles änderte

Es war ein Samstagabend, zwei Wochen vor dem 27. April – deinem eigentlichen Entbindungstermin.

Ich machte im strahlend warmen Licht des Sonnenuntergangs Bilder mit dem Selbstauslöser. Meinen riesigen Bauch hatte ich mit bunten Herzen beklebt und ihn glücklich in die Kamera gehalten. Dein Bruder war so begeistert von dieser Idee, dass er freudestrahlend seinen kleinen Bauch ebenfalls beklebte und mit mir vor der Kamera posierte. Wir hatten so viel Spaß. Wir lachten laut, und obwohl mir die Beine wegen des vielen Wassers wehtaten, machten wir viele wundervolle Fotos gemacht. Die letzten glücklichen Fotos mit dir in meinem Bauch.

Wir aßen gemeinsam mit eurem Papa zu Abend, danach brachte ich deinen Bruder ins Bett. Ich las ihm wie jeden Abend eine Geschichte vor und wir beschlossen, dass wir auf jeden Fall noch einmal solche lustigen Bilder machen wollten. Nachdem dein Bruder eingeschlafen war, putzte ich mir im

Bad schnell die Zähne, quälte mich aus meinen Kleidern und saß gegen 20:30 Uhr endlich im Schlafanzug bei deinem Papa auf der Couch und legte meine Füße hoch.

Wir bewunderten den schönen, warmen Sonnenuntergang, als du plötzlich sehr wild wurdest. Du strampeltest in alle Richtungen und ich wurde unruhig, weil ich das in diesem Ausmaß nicht kannte. Dein Papa versuchte uns beide zu beruhigen. Seltsamerweise war nach ein paar Minuten alles vorbei. Wie »vorbei«, sollte sich erst noch rausstellen.

Wir suchten nach einer Erklärung, kamen zu dem Entschluss, dass ein Baby so kurz vor der Geburt noch Kräfte sammeln muss und deshalb plötzlich so ruhig würde. Mein ungutes Gefühl jedoch blieb.

Nachts wurde ich wach, weil meine Blase drückte. Wir waren bisher ein eingespieltes Team gewesen, jede Nacht hattest du dafür gesorgt, dass ich wach wurde, um zur Toilette zu gehen, wenn dir meine Blase zu voll wurde, um anschließend wieder gemeinsam mit mir einzuschlafen. Das Ganze fand zweimal pro Nacht statt. Doch in dieser Nacht war alles anders – du meldetest dich nicht, alles blieb still. Ich verdrängte meine Angst und meine Gedanken daran, was in mir schon längst Gewissheit war: Du, mein kleiner Schatz, hast in meinem Bauch dein Leben gelassen.

Morgens fuhr dein Papa zur Arbeit. Dein Opa holte uns ab, um uns zur Akupunktur ins Krankenhaus zu fahren, während dein Bruder bei Opa blieb. Er freute sich schon, weil er mit ihm im Garten arbeiten wollte.

Ich verdrängte aktiv weiterhin den Gedanken, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Im Krankenhaus angekommen, stellte sich heraus, dass es zwischen mir und der Hebamme bezüglich der Akupunktur ein Missverständnis gegeben hatte, sodass keine Behandlung stattfand. Eigentlich wollte ich mich gleich wieder abholen lassen. Da drehte ich mich um und sagte zaghaft zur Hebamme: »Können wir vielleicht noch gerade nach Jonathan gucken? Ich spüre ihn seit gestern nicht mehr …« Ich holte tief Luft – jetzt hatte ich es ausgesprochen. Meine Anspannung stieg. Das Gefühl der Ohnmacht wurde intensiver.

Die Hebamme führte mich in ein kleines Zimmer mit Liege, wo sie mich ans CTG anschloss. Sie suchte. Und suchte. Sie atmete schneller. Ich sagte mehrfach leise: »Da ist nichts mehr!« Sie suchte weiter und ich merkte, wie sie anfing zu schwitzen. Sie beruhigte mich und sagte, sie hätte einen Herzschlag gehört – mir war allerdings bewusst, dass es mein eigener war. Sie erklärte mir, dass sie kurz die Ärztin hinzuholen würde. Ich wartete. Mir war so schlecht.

Nun ging alles rasend schnell. Zwei Ärztinnen und die Hebamme kamen und führten mich in ein größeres Zimmer mit großem Monitor. Man schloss mich auch hier am CTG an und begann zu suchen. Die Hebamme hielt meine Hand und streichelte mir über den Kopf. Ich flüsterte: »Das ist nicht mehr.« Die Ärztin schaute mich mit ihren großen blauen Augen an und schüttelte mit todtraurigem Blick den Kopf. Meine Tränen liefen. Es war ausgesprochen. Die Katastrophe war da. Ich schluchzte leise und fragte: »Wie bringe ich das jetzt meinen beiden Männern bei?« Ich fühlte mich wie erschlagen und gleichzeitig wie betäubt. In meinen Ohren rauschte es, ich fror und meine Wangen glühten.

Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer deines Papas. Er wunderte sich, dass ich anrief. Ich sagte mit leiser Stimme: »Du musst kommen.« »Jetzt?«, fragte er irritiert. »Ja, es ist kein Herzschlag mehr da.« Seine Antwort bekam ich nicht mehr mit.

Es dauerte ein paar Minuten, da traten dein Papa und die Ärztin zur Tür herein. Dein Papa schaute todunglücklich und ergriff meine Hand. Ich weinte. Er stellte Fragen, die an mir vorbeirauschten. Die Ärztin nahm sich die Zeit, um meinen Bauch erneut zu schallen, sie suchte und suchte und erklärte deinem Papa alles. Ich war nicht mehr aufnahmefähig. Es fühlte sich an, als hätte man mich aus dieser Welt herausgenommen und ohne Vorwarnung irgendwohin platziert, wo ich zwar das Geschehen verfolgen konnte, aber nicht in der Lage war, ihm zu folgen. Ich fühlte mich betäubt.

Wir durften entscheiden, ob man dich mit einem Kaiserschnitt »holen« sollte, oder ob ich dich auf natürlichem Weg gebären wollte. Für mich kam ein Kaiserschnitt nicht in Frage. Ich wollte, wenn ich schon kein Kind mit nach Hause nehmen durfte, wenigstens die Geburt erleben. Es war wichtig. Für mich, für uns. Es war etwas Besonderes, das wir drei – du, dein Papa und ich – als gemeinsame letzte Erinnerung haben durften. Ich wollte dir, meinem Kind, auf die Welt helfen, dich mit Pressen und meiner ganzen Kraft begleiten und wollte durch die Schmerzen hindurch. Es hätte sich falsch angefühlt, wenn man mir dieses Geburtserlebnis genommen hätte. Zum Wahrhaben brauchte ich den Kampf und den Schmerz. Wenigstens das.

Da wir nicht zwingend sofort einleiten mussten, entschieden wir uns, noch einmal nach Hause zu fahren, um unsere Kleider zu packen und mit unseren Familien zu sprechen. Zuerst erzählten wir deinem Bruder, dass du gestorben bist. Er brach in Tränen aus und weinte bitterlich, während er auf dem Schoß eures Papas saß und sein Gesicht in seiner Brust vergrub. Wir erklärten ihm, dass auch wir unheimlich traurig wären und wir nun wieder ins Krankenhaus müssten, um dich zu gebären. Wenn du da wärst, würden wir Bescheid sagen.

Auch deine Großeltern reagierten bestürzt. Jeder war verwirrt, traurig und völlig überfordert mit dieser Situation. Meiner Hebamme schrieb ich eine SMS, in der ich mitteilte, dass Jonathan nicht mehr lebte. Sie antwortete mir, dass sie entsetzt sei und ihr die Worte fehlen würden.

Dein Bruder blieb bei Oma und Opa, wir fuhren gegen 17 Uhr zurück ins Krankenhaus. Ich war enorm angespannt, denn ich wusste nicht, was jetzt genau auf mich zukommen sollte.

Unsere Geburt – gehalten und umsorgt

Ich wurde zweimal eingeleitet. Man ließ uns alle Zeit der Welt und wir wurden auf ein kleines Zimmerchen mit aneinander gestellten Betten auf eine andere Station gebracht – weit weg von der Gynäkologie und Babygeschrei. Die Schwestern ließen uns in Ruhe, und wenn eine Schwester zur Tür reinkam, war sie zurückhaltend, vorsichtig und sehr, sehr lieb zu uns. Abends setzten wir uns auf den Balkon der Station. Wir schauten den Sonnenuntergang an und saugten die warmen Sonnenstrahlen auf, während die Wehen nach erster Geleinlage in mir zu toben anfingen. Tränen liefen. Ich fragte mich, warum der liebe Gott das zugelassen hatte.

Man versuchte uns zu begleiten, so gut es ging, was mir äußerst wichtig war. Ich fühlte mich aufgehoben und aufgefangen. Man hatte Verständnis und war an unserer Seite. Ich sah die Anspannung in den Gesichtern der Ärztin und der Hebammen und war froh, nicht die Einzige zu sein, die sich schrecklich fühlte. Sie waren an meiner Seite. Sie waren mit uns traurig und es berührte alle tief. Das tat gut. Ich bin unendlich dankbar, dass man alles tat, damit ich eine gute und entspannte Geburt haben durfte. Ich bin dankbar, dass man uns menschlich so umsorgt hat. Dass man uns Zeit gegeben hat, dass man uns zu nichts gedrängt hat. Dass man sich vorsichtig an alles herangetastet hat. Und vor allem, dass man unsere Gefühle nicht heruntergespielt hat. Man gab uns das Gefühl, wir sind wichtig – du, Jonathan, bist wichtig!

Ich hatte die ganze Nacht Wehen und konnte nicht schlafen, aber ich spürte, es würde noch dauern. Morgens gegen fünf Uhr wollte ich nicht mehr. Ich wollte nicht mehr sinnlos herumsitzen, ich wollte endlich, dass es losging. Dass ich gebären durfte, um endlich mein Baby in die Arme schließen zu dürfen. Im Geheimen hegte ich den Gedanken, dass du doch schreien würdest.

Im Kreißsaal wurde das zweite Mal Gel eingelegt, diesmal kurz vor den Muttermund. Man sagte mir, es könnte bis zu zwei Stunden dauern, bis das Gel anschlagen würde. Nach zwei Minuten überrollte mich die nächste unbändige Wehe, mein Körper funktionierte. Mein Gehirn hatte verstanden, dass ich loslassen musste – und schnell waren wir mitten in der Geburt. Während ich die starken chemischen Wehen veratmete, schienen die beiden Ärztinnen im Raum eine Unstimmigkeit miteinander zu haben. Meine Schmerzen waren so stark, dass ich nicht mitbekam, welches Problem vorlag. Aber die Ältere der beiden schnaubte plötzlich verächtlich und verließ dann schnell den Raum. Anschließend schienen die Hebamme und die junge Ärztin aufzuatmen.

Unseren ersten Sohn Benedikt hatte ich auf natürlichem Weg mit natürlichen Wehen bekommen – kein Vergleich zu dem, was ich jetzt durchmachen musste. Alles drehte sich in meinem Kopf, die chemischen Wehen waren fürchterlich. Ich weinte. Ich hatte das tiefe Bedürfnis, laut zu schreien. Aber ich drückte meinen Schmerz nach innen. Zu dir. Es war dein Schmerz. Es war deine Liebe, kaum zu fassen, so groß. Ich schluchzte und weinte. Ganz leise.

Kurz bevor die PDA (Periduralanästhesie) gesetzt werden sollte, spürte ich, dass du nicht länger warten wolltest. Ich sollte mich aufrecht hinsetzen, damit man die Nadel setzen könne, aber so weit kam es nicht. Ich spürte: Mein Kind kommt. Ich war wie in Trance und schnaufte: »Er kommt!« Dann ging alles unglaublich schnell. Dein Papa hielt meine Hand, die Ärztin stand links von mir, die Hebamme rechts. Sie stützten mich und hielten meine Beine, sodass ich bei jeder Presswehe pressen konnte, obwohl du nicht mitarbeiten konntest. Ich fühlte mich wie unter Drogen. Gott sei Dank bot man mir Lachgas an. Ich atmete das Gas ein und meine Gedanken waren nur bei dir, meinem Kind. Wir waren eins – du und ich. Ich dachte in diesem Moment, ich müsste sterben, und ehrlich gesagt wollte ich das auch. Die Schmerzen waren so schlimm.

Dann warst du da. »Er lebt nicht, oder?« Die Ärztin schüttelte erneut den Kopf. Ich nickte traurig.

Die junge Ärztin erkannte sofort, dass ein großes Hämatom in der Nabelschnur vorlag. Du hattest die Nabelschnur fest um deine Schultern gewickelt und anscheinend beim Hineinrutschen ins Becken ein Stück von ihr zwischen deinem Schulterknochen und meinem Beckenknochen abgeklemmt. Irgendwann hatte leider keine Versorgung mehr stattgefunden, du bist erstickt, mein Liebling. In meinem Bauch, unter meinem Herzen bist du gestorben, obwohl du dort am sichersten sein solltest.

Mein Schmerz war unendlich.

Man nabelte dich zügig ab und legte dich mir auf die Brust. Wie ein lebendiges Kind. Man verhielt sich genau so, als wärst du am Leben, als würdest du schreien und mit deinen kleinen Händchen das erste Mal nach meinen greifen. Die Hebamme machte keinen Unterschied und gab uns das Gefühl, dass du etwas ganz Besonderes bist. Ich war so dankbar. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, einerseits so viel grenzenlose Traurigkeit zu spüren und gleichzeitig so glücklich zu sein, endlich sein Kind im Arm halten zu dürfen. Du hattest dunkle Haare und eine kleine Stupsnase. Dein Papa flüsterte liebevoll: »Er sieht aus wie Benedikt.«

Ich bat die Hebamme um Fotos. Unsere ersten gemeinsamen Fotos. Wie damals bei der Geburt unseres Großen, mit dem Unterschied, dass dieses Mal niemand lachte. Alles war still. Wir waren umhüllt von einer Seifenblase, die uns von allem abschirmte. Die Welt schien sich zu drehen, immer schneller und schneller, und nur wir blieben stehen. Still.

An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten, Ärztinnen und Hebammen mein großes Dankeschön aussprechen. Indem man alles Menschenmögliche getan hat, um uns die Situation zu erleichtern und unseren Wünschen nachzukommen, nichts zu hinterfragen oder zu beurteilen, hat man uns im größten Schmerz sehr geholfen. Es war uns immens wichtig, dass man mit allen Mitteln versucht hat, uns zu unterstützen. Danke!

Du wurdest im Kreißsaal von einer Hebamme gemessen und gewogen, behutsam gewaschen und angezogen. Da lagst du nun, nicht in den gewünschten neuen Kleidern, die uns eine Freundin vor Geburt geschenkt hatte, sondern in Klinik-Body und Klinik-Strampler mit weißem Klinik-Mützchen auf deinen wunderschönen dunklen Haaren.

Ich jedoch stand unter Schock. So viele Wochen voller Strapazen und Anstrengung und dann eine solche Katastrophe. Es war ein Unfall, warum hattest du keinen Schutzengel? Wo war meine Mutter, deine Oma, die schon vor mehr als zehn Jahren entschieden hatte, von dieser Welt zu gehen – hätte sie nicht auf dich aufpassen können? Ich verstand es nicht.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir im Kreißsaal waren, ich war wie betäubt und stand vollkommen neben mir. Die Worte der Ärztin und der Hebamme verhallten im Raum. Man händigte uns Unterlagen der ortsansässigen Selbsthilfegruppe aus, die sich regelmäßig traf. Zudem bekamen wir Flyer und die Adresse einer Trauerbegleiterin aus der Nähe. Die schönste und liebste Geste war ein gehäkeltes Sternenbärchen mit einem aufgenähten Stern auf der Höhe seines Herzens. Ich hielt das Bärchen lange fest in meiner Hand und legte es dir dann in den Arm. Man fragte uns, ob wir dich zur Obduktion freigeben wollten. Gott sei Dank waren wir uns einig: Nein, das wollten wir nicht. Die Sachlage war klar und deutlich, was es uns in diesem Augenblick ein wenig leichter machte, das alles anzunehmen.

Als wir gegen Mittag auf dem Zimmer ankamen, musste ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass man dich nun in den Keller zum Kühlen bringen würde. Der Schock saß noch tief, daher konnte ich nicht anders, als die Gegebenheiten hinzunehmen.

Als wir so ganz alleine mit unserem Sternenbärchen auf unserem Bett lagen, weinte ich und sagte zu deinem Papa todunglücklich: »Wir müssen weitermachen. Wann fangen wir noch einmal an?«

Schreien wollen und nicht können

Ich war weiterhin wie unter Drogen, ich fühlte mich wie kurz vor einer Ohnmacht. Gedanken und Gefühle wechselten im Minutentakt. In einem Augenblick spürte ich das Bedürfnis aufzustehen, weiterzumachen und in die Zukunft zu blicken. Im gleichen Moment zog es mir den Boden eiskalt unter den Füßen weg und ich hatte das Gefühl, laut schreien zu müssen. Herausschreien, was mein Herz nicht tragen konnte. Herausschreien, wie schlimm sich diese ganze Situation anfühlte.

Herausschreien, dass ich dich zurückhaben wollte. Zurück in meinem Bauch, dort, wo es warm und gemütlich für dich war. Dorthin zurück, wo du beschützt und behütet warst, monatelang, eben bis zu diesem kurzen Moment, der alles zerstörte. Ich wollte schreien, sodass es jeder hören konnte, dass man mir dich, meinen allerschönsten und allerliebsten Schatz, genommen hatte. Mich überkam Übelkeit, wenn ich gedanklich tief in diesen Zustand eintauchte – eine furchtbare Übelkeit, die in mir hochstieg, wenn ich daran dachte, dass du in diesem Augenblick im Kühlhaus des Krankenhauses liegen musstest. Dass du nicht mit uns auf dem Zimmer sein durftest. Nein, du warst nicht bei uns. Du warst weg. Du warst genau da, wo du eben nicht sein solltest. In einem Kühlschrank! Ich würgte und ich weinte, jammernd und mit zerbrochenem Herzen auf dem Bett liegend. Dein Papa gab einigen Menschen Bescheid, dass du nun geboren wärst. Tot. Ich sah ihm zu, wie er mit stummem Blick die Worte in sein Handy tippte. Ich wollte schreien: »Hör auf damit, er ist nicht tot!« Aber du warst es. Ich konnte kaum atmen, eine große Schwere lag auf mir und drückte mir auf Brust und Rücken.

Nachdem man mir ohne weitere Erklärung zwei Abstilltabletten gebracht hatte, die ich umgehend geschluckt hatte, bekam ich Herzrasen und Extra-Systolen sowie das Gefühl, etwas würde in meiner Brust »platzen«. Es machte mir Angst und ließ mich panisch werden. Es war so schlimm, dass ich nach der Ärztin rief. Sie meinte, dass es sicherlich die Organe wären, die sich nun langsam wieder setzen würden, weil sie jetzt wieder Platz hätten. Nein, das war es nicht. Das wusste ich.

Die einzigen Menschen, die Zeugen
deiner Existenz wurden

Mein Schmerz wurde intensiver, als ich darüber nachdachte, dass ich mich in dieser schweren Situation nicht in die Arme meiner Mama flüchten konnte. Dass sie nicht für mich da sein und mir zuhören konnte. Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich mir einredete, dass sie dich nun erwarten und liebevoll im Empfang nehmen würde. Ich weinte und fühlte mich einsam.

Am Nachmittag kam mein Vater mit seiner Freundin vorbei, um nach uns zu schauen. Sie wollten dich leider nicht sehen. Ich verstand, dass es wohl zu viel für sie war, dennoch machte es mich traurig. Du warst doch mein Kind, das ich unendlich liebte und auf das ich so lange gewartet hatte.

Kurz darauf besuchten uns dein Bruder mit Oma und Opa, um dich zu begrüßen. Dein Bruder betrat grinsend unser Zimmer, was mich erschreckte und traurig machte. Wie konnte er so ungezwungen und froh sein? Er hüpfte auf unser Bett, wo er hin und her hibbelte und neugierig fragte: »Wann kommt Jonathan denn endlich?« Meine Tränen liefen. Ich erklärte ihm, dass du von einer Krankenschwester abgeholt und gleich zu uns gebracht würdest. Dein Bruder lachte auf und rieb sich seine Hände. Es versetzte mir einen Stich, weil ich in diesem Moment noch nicht verstand, warum er sich so auf dich freute. Ich sagte ihm, dass du tot seist und … Er unterbrach mich und sagte: »Ich weiß, Mama. Ist doch egal. Ich freue mich trotzdem.«

In diesem Augenblick klopfte es und die Tür ging auf. Eine Schwester mit traurigem Blick schob dein kleines Bettchen herein. Zugedeckt lagst du da, unter einem weißen Laken. Mein Herz und mein Bauch verkrampften sich und mir wurde ganz schwindelig. Ich wollte wegrennen und dich gleichzeitig an mich reißen. Ich wollte dich an mein Herz drücken und dir ins Ohr flüstern, dass du doch bitte, bitte deine Augen öffnen sollst. Das war mein einziger Wunsch. Ich blieb ganz starr sitzen.

Dein Papa zog deine Decke weg. Da lagst du nun. Eingekuschelt in die Decke, die mir meine Freundin Tanja geschenkt hatte. Kuschelweich, mit kleinen Küken darauf. Du sahst wunderschön aus. Ich nahm dich auf meine Arme und hielt dich fest. Deinen kleinen, kalten Körper. Ich fragte mich in diesem Moment, ob es richtig war, dass dein Bruder das alles mit ansehen musste. Er hatte monatelang auf diesen Augenblick hingefiebert, wir hatten so oft über dich gesprochen. Überlegt, was er alles mit seinem Bruder tun und später unternehmen könnte. Er hatte immer Fragen gestellt, auf die es vor deiner Geburt noch keine Antworten gab. Jetzt gab es sie, aber eben völlig anders als erwartet. Es tat mir unendlich leid.

Liebe

Dein Bruder streichelte dich und es schien für ihn kein Problem, dass du anders warst als erhofft. Kalt statt warm, leise statt laut. Er freute sich, dich endlich zu sehen. Er hielt dich im Arm, stellte Fragen zu deinem kleinen Mündchen und deinen kleinen Händen, nahm deinen Geruch wahr. Es schien, als würde er all das in sich aufsaugen, weil es nichts anderes mehr von dir geben würde als das, was gerade war. Wir machten Fotos. Ich nahm ein kurzes Video auf, wie euer Papa Benedikt über dein Bettchen hielt und dein Bruder dir zuflüsterte: »Ich liebe dich!« Mein Herz krampfte. Ich wollte schreien und konnte nicht. Mein Brustkorb tat so weh.

Nachdem dein Bruder und deine Großeltern fort waren, wurdest du wieder abgeholt. Man fuhr dich mit deinem Bettchen wieder in den Keller in deinen Kühlschrank. Ich musste diesen Gedanken verdrängen. Sonst hätte ich wahrscheinlich das Fenster geöffnet und wäre hinausgesprungen.

Wir blieben noch eine Nacht im Krankenhaus. Warum, weiß ich nicht. Aber wir waren auch nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Wir standen unter Schock. Der Fernseher lief nebenbei, aber wir bekamen nichts mit. Am nächsten Tag besuchte uns eine Trauerbegleiterin des Krankenhauses, die kaum ihren Mund aufbekam und mit der Situation total überfordert schien. Allein von der jungen Ärztin, die bei deiner Geburt dabei war, fühlten wir uns gehalten und getröstet.

Vor dem Krankenhaus standen frischgebackene Eltern mit einem Neugeborenen in einem Maxicosi. Mir wurde schlecht und eine unbändige Trauer gepaart mit Wut überflutete mich. Wir fuhren nach Hause. Ohne Kind, ohne Maxicosi.

Im Abschlussgespräch hatten wir gefragt, ob wir in den nächsten Tagen wieder kommen dürften, um erneut Fotos von uns und dir zu machen. Wir waren erleichtert, als uns der kommende Mittwoch angeboten wurde. Ich weiß nicht, wie wir die Stunden bis zum nächsten Tag rumbekommen haben, wir funktionierten einfach.

Abschiedsfotos

Am Mittwoch trafen wir uns mit meiner damaligen Freundin Adriana vor dem Krankenhaus. Sie hatte versprochen, Fotos von uns zu machen. Ich merkte, wie angespannt sie war. Wir waren es auch.

Wir gingen schweren Herzens in den kleinen Kreißsaal, in dem du geboren worden warst. Du lagst schon da in deinem kleinen Bettchen. Wir durften uns mit dir auf die Liege setzen und bekamen alle Zeit der Welt. Dein Bruder legte sich zu dir und sah dich liebevoll an. Ein Anblick, der bald nur noch auf dem Papier und in unseren Erinnerungen existieren würde.

Adriana hielt die ersten und letzten Familienfotos von uns vieren fest. Bilder, die mit keinem Geld der Welt zu bezahlen wären und für die ich unendlich dankbar bin. Ich wünschte, ich hätte die Zeit anhalten können. Einfach auf die Stopptaste drücken und uns einfrieren. In dieser Seifenblase, die zu zerplatzen drohte, wenn wir diesen Raum wieder verlassen würden.

Fußabdrücke und Geschwisterliebe

Carmen, die Hebamme im Kreißsaal, war permanent an unserer Seite. Sie zog dein Höschen hoch und entblößte deine kleinen schrumpeligen Füßchen. Ich war irritiert und zugleich fasziniert, weil deine Zehenstellung eins zu eins die gleiche war wie bei deinem Bruder. Dein Bruder hatte es auch bemerkt und zog schnell seine Schuhe und Strümpfe aus, um eure Füße zu vergleichen. Ich lächelte. Genau solch eine Geschwisterliebe hatte ich mir für meine Jungs gewünscht. Carmen besorgte ein Stempelkissen und zauberte mit deinen Füßchen Abdrücke auf eine Geburtskarte des Krankenhauses. Eine Karte, die jedes Kind bei Geburt bekommt. Man machte für uns keinen Unterschied.

Ich sah, wie Tränen über Carmens Gesicht rollten. Sie versuchte es zu verstecken und ich hatte das Bedürfnis, sie zu trösten. Es tat mir leid, dass sie unseren Schmerz mitbekommen und mittragen musste.

So behutsam behandelte sie die kleinen Beinchen, an denen sich schon die Haut löste. Offene Stellen, die nässten, und Haut, die sich aufrollte, weil kein Leben unter ihr war. Carmen litt mit uns. Ich hatte das Gefühl, sie gab dir ihre Liebe und ihre Traurigkeit mit und uns ihr Mitgefühl – es tat so gut und gab mir in diesem Moment Kraft. Die Stimmung in diesem Kreißsaal werde ich niemals vergessen.

Hebamme überflüssig?

Mit dem heutigen Abstand und der Erfahrung mit weiteren Hebammen kann ich sagen, dass die Hebamme, die ich während der Schwangerschaft mit dir an meiner Seite hatte, für mich und meine Situation nicht ausreichend war. Sie war nett und bemüht und als der Tag des fehlenden Herzschlags gekommen war, auch sehr erschüttert. Sie fühlte mit uns. Das war‘s dann aber auch. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie noch nicht oft Sternenmamas betreut hatte, oder ob sie unser Leid nicht ertragen konnte. Im Grunde war es mir auch egal, woran es lag, denn ich brauchte emotionalen Halt. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, meine Hormone erledigten den Rest.

Meine Hebamme suchte uns zwar noch regelmäßig auf und hörte mir und uns zu, allerdings fehlte es mir an Zusprache, damit ich das Ganze überleben würde. Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich mir dessen tatsächlich nicht mehr so sicher war. In einer SMS schrieb sie mir, dass sie nicht sicher sei, ob sie der richtige Ansprechpartner für mich wäre.

Ab dann distanzierte ich mich von ihr, sagte unsere Termine ab und zog mich zurück. Sie schickte mir noch einen handgeschriebenen Brief mit einem Gedicht, über das ich mich sehr freute, aber ich hätte einfach mehr gebraucht. Mehr Unterstützung, mehr Zuhören, mehr Verständnis. Ich war allein. Mal wieder.

Die Kirche

Ich hatte schon am Tag deiner Geburt die Pfarrerin angerufen, die uns vor Jahren getraut und deinen Bruder getauft hatte. Ich bat sie, dich zu taufen. Sie sagte, sie würde kein totes Kind taufen, außerdem hätte sie gerade keine Zeit. Sie wünschte mir viel Glück bei der Suche nach einem anderen Geistlichen. Später bemerkte ich durch Zufall, dass sie mich bei Facebook aus ihrer Freundesliste gelöscht hatte. Auf die Frage nach dem Grund kam keine Antwort.

Dich zu taufen wäre mir wichtig gewesen, ihre Antwort brach mir das Herz. Ich fragte mich, ob Gott wollte, dass man todunglückliche Eltern derart alleine ließe.

Mittwochs, am Tag unseres Fototermins, kam ein fremder Pfarrer in den Kreißsaal, um dich zu segnen. Ich stand da und wünschte mir tief in meinem Herzen, er würde dich taufen, doch dafür schien auch dieser Geistliche nicht offen zu sein. Die Zeit im Kreißsaal rauschte an mir vorbei, alles schien unwirklich. Ich hatte das Bedürfnis, dich nie wieder loszulassen, und mein Herz war schwer. Nachdem der Pfarrer versuchte, tröstende Worte zu finden, um uns Mut mit auf unseren Weg zu geben, segnete er dich.

Anschließend fuhren wir nach Hause, womit wir uns von dir trennten – für immer. Bis heute für mich einfach unfassbar. Bis heute wütet in mir die Frage, wieso wir dich nicht mit nach Hause genommen haben. Warum wir zugelassen haben, dass man dich bis zur Beerdigung zurück in deinen Kühlschrank legte. Warum ich nicht noch einmal zurück zum Krankenhaus gefahren bin, um dich noch einmal zu sehen. Warum ich deinen kleinen Sarg nicht mit Sternen und Herzen verziert habe. Warum? Weil ich unter Schock stand, mit allem überfordert war und mir Dinge, die mir gutgetan hätten, erst viel später bewusst wurden – zu spät.

Das Bestattungsinstitut

Die Tage vergingen und es dauerte fast zwei Wochen, bis wir dich beerdigen konnten. Wir fuhren gefühlt achtmal zur Bestatterin, um alle möglichen Details zu besprechen. Wir suchten einen Sarg aus und eine wunderschöne Urne im Blau des Himmels, mit kleinen Sternen und Monden darauf. Wir nahmen uns zu Hause Zeit, eine besonders schöne Zeitungsanzeige zu erstellen. Abgebildet war eines unserer Fotos, die wir mittwochs im Kreißsaal gemacht hatten. Alles geschah wie in Trance. Alles mit so viel Liebe und grenzenloser Traurigkeit.

Die Bestatterin reagierte unglaublich emotional und litt mit uns. Irgendwie tat das gut.

Mit viel Abstand bin ich immer noch traurig darüber, nicht gewusst zu haben, dass wir dich hätten mit nach Hause nehmen können. Traurig, dass ich die Zeit mit dir nicht ausgiebig genutzt habe, nicht viel öfter nochmal ins Krankenhaus gefahren bin, um dich zu sehen, dich zu halten und zu fühlen. Es tut mir so leid, mein kleiner Schatz. Ich bin traurig darüber, dass wir keinen Handabdruck von dir haben und keine Haarsträhne. Leider habe ich erst im Nachhinein erfahren, dass man aus der Asche Schmuck machen kann – ich hätte es so gerne in Anspruch genommen. Ich hatte es verpasst, dich selbst zu waschen und dich selbst anzuziehen. Leider hatte uns darauf keiner hingewiesen. Wir standen einfach zu sehr unter Schock, um an all das zu denken. Verzeih mir.

Der Alltag und mein Kampf mit der Normalität

Zuhause versuchten wir, unseren Alltag zu bestreiten. Es fiel mir schwer, deinen Bruder in meiner Nähe zu haben, denn er ging so unbefangen mit der Situation um. Ich konnte es kaum ertragen, wenn er fröhlich lachte oder laut zur Musik sang. Ich verstand nicht, wie er mir nach zehn Tagen sagen konnte: »Mama, sei doch nicht mehr traurig, es ist doch jetzt schon so lange her mit Jonathan.« Ich fühlte mich furchtbar, weil ich alleine und für mich sein wollte, um endlich zu verstehen, was eigentlich passiert war. Ich machte mir Vorwürfe, als Mutter zu versagen, denn mir war bewusst, dass auch er durch deinen Verlust Schlimmes erlebt hatte. Es tat mir leid, keine starke Mama zu sein, die mit ihm lachen und singen konnte. Ich fühlte mich schuldig und richtig schlecht. Ich wusste ich keine Lösung.

Der Tag der Beerdigung

Ich hatte schreckliche Angst vor diesem Tag. Wir hatten uns für einen offenen Gottesdienst entschieden, Familie, Freunde, Bekannte und alle, die an unserer Seite sein wollten, durften sich von dir verabschieden.

Es war ein kühler, bewölkter Tag, an dem wir dich für immer der Erde übergeben sollten. Deine Tante und deine Oma hatten sich bereit erklärt, den Beerdigungskaffee zu organisieren, wofür wir sehr dankbar waren, weil uns alles so unendlich schwerfiel. Morgens fuhren wir gegen halb elf Uhr zur Kirche, um uns dort mit der Bestatterin zu treffen, die sich alle Mühe gab, alles so schön wie nur möglich herzurichten. Aber das Gefühl, dass nichts schön und gut genug war, füllte mein Herz aus. Als ich in der vorherigen Woche den Kranz bestellt und wir uns für Blumenschmuck entschieden hatten, fragte mich die Floristin: »Ist das gut so?« Ich fing an zu weinen und sagte leise: »Nein.« Sie verstand mich, nickte teilnahmsvoll und nahm mich in den Arm.

Den kleinen Tisch in der Kirche schmückten wir mit Blumen und Spielsachen, deine Urne stand in der Mitte, so wunderschön mit kleinen Sternen und Monden, es hätte dir sicher gefallen. Ich wollte schreien und weinen, doch ich konnte nicht. Ich fühlte mich betäubt und konnte kaum atmen. Ich wusste, dass uns in ein paar Stunden ein harter Weg bevorstand, vor dem wir nicht weglaufen konnten. Es war kaum auszuhalten. Um kurz vor elf empfing ich eine SMS von unserer Hebamme, dass sie es nicht zur Beerdigung schaffen würde – das gab mir einen Stich in mein Herz: Ich hätte mir gewünscht, dass sich so viele Menschen wie nur möglich Zeit nehmen würden, um sich von unserem geliebten Schatz, von dir, für immer zu verabschieden.

Wir fuhren nach Hause, wo meine Freundin Tanja mit Mann und Kindern wartete. Wir aßen gemeinsam zu Mittag und machten uns anschließend fertig. Alles rauschte an mir vorbei, ich nahm vieles gar nicht wahr. Als ich halbnackt im Bad stand und meine Freundin reinkam, schnauzte ich sie an, grundlos. Sie verstand und nahm mich einfach in den Arm.

Ich fühlte mich immer noch wie unter Schock. Plötzlich stand ich vor der Kirche, dein Papa und dein Bruder waren schon drinnen und warteten auf mich. Ganz vorne, da, wo eben die Familie sitzt. Da, wo ich leider vorher auch schon häufig sitzen musste. Ich kannte meinen Platz. Es war nichts Neues und trotzdem kaum zu ertragen.

Wie viele Menschen gekommen waren, bekam ich kaum mit. Ich durchschritt den Gang, mein Blick war stumm auf deine kleine, wunderschöne Urne gerichtet. »Nein, nein, nein«, hämmerte es in meinem Kopf. Ich setzte mich neben deinen Bruder, der, Gott sei Dank, noch nicht richtig verstand, was an diesem Tag passieren sollte. Für ihn war das Ganze aufregend und neu. Aber tief in seinem Inneren spürte er, dass es nie wieder so sein würde, wie vorher.

Die Orgelmusik ertönte und ich atmete tief ein. Ich mochte keine Orgelmusik. Aber da musste ich jetzt durch. Als der Pastor deinen Namen sagte, konnte ich nicht mehr an mich halten und schluchzte leise in mich hinein. Mein ganzer Körper zitterte und ich spürte die Hand deines Papas, die sich in meine schob. Ich griff zu der kleinen Dose in meiner Tasche. Ich hatte mir ein homöopathisches Beruhigungsmittel besorgt, das ich abends immer nahm, wenn ich gar nicht zur Ruhe kam. Ich konnte meine Tränen nicht mehr unterdrücken und nahm direkt vier Tabletten. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht wirkten, und lutschte nochmal zwei Stück. Ich wurde müde.

Der Gottesdienst war um, ich hatte nichts mitbekommen. Plötzlich begriff ich, dass wir uns inmitten vieler Leute auf der Straße befanden, ich ging neben deinem Papa, der deine Urne trug. Wir gingen in Richtung Friedhof. Meine Ohren rauschten. Mein Blick haftete auf den schwarzen Schuhen des Mannes vor mir, ohne zu wissen, wem sie gehörten. Ich hatte nicht bemerkt, dass dein Bruder mit seiner Patentante schon die Kirche verlassen hatte, er saß lachend auf der Friedhofsmauer, als wir ankamen. Mein Herz schmerzte und mir wurde schwindelig. Wie lange wir am Grab standen und wie viele Menschen Rosen ablegten und Erde und Blütenblätter in das Grab warfen, nahm ich nicht wahr. Ein Kollege deines Papas umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange – das berührte mein Herz und tat gut in diesem Augenblick. Mein Blick wurde etwas klarer und ich bemerkte, dass ich Arm in Arm mit deiner Oma dastand, neben mir dein Papa mit deinem Bruder auf dem Arm.

Mein Blick schweifte zur Seite und mir fiel auf, dass jede Menge Menschen auf dem Friedhof warteten, bis sie an der Reihe waren, um dich für immer zu verabschieden. Viele legten Blumen nieder. Weiße Rosen. Viele große, weiße Rosen. Es sah alles wunderschön aus. Wenn es nicht so endlos traurig gewesen wäre. Nach der Beerdigung ließen wir Luftballons steigen, die zwei Freundinnen vorbereitet hatten, und ich wünschte, mein Schmerz würde mit davonwehen. Weit, weit fort.

Anschließend gingen wir in Richtung des Gebäudes, in der wir uns zum Kaffee mit Freunden und Verwandten treffen wollten. Als wir gerade losgehen wollten, brach ein weiblicher Gast, der uns nicht sonderlich nahestand, in laute Tränen aus, schluchzte und fiel mir in die Arme. Ich schnappte nach Luft und es tat mir in diesem Augenblick gar nicht gut, dass sie sich derart auf mich stürzte. Ich erlebte alles wie in Trance. Die Medikamente zeigten Wirkung, ich war furchtbar müde und brachte keinen Ton mehr heraus.

Als wir endlich unseren Raum betraten, wurde mir klar ich, dass etliche Leute gekommen waren. Sogar meine Patentante, die ich lange nicht gesehen hatte, hatte einen langen Weg auf sich genommen, um uns an diesem Tag zur Seite zu stehen.

Sie schrieb dazu:

Für mich persönlich ist das schwerste Schicksal, das ein Mensch überhaupt erleiden kann, der Tod eines Kindes. Aus diesem starken Mitgefühl erwachte in mir das starke Bedürfnis, diesen schweren Gang der Beerdigung/des Abschieds gemeinsam mit Corinna, Sebastian, Benedikt und allen ihren nahestehenden Menschen gemeinsam zu gehen, um die große Trauer und Schicksalsschwere mitzutragen und ein Stück weit zu teilen.

Ich hatte den Wunsch, Corinna durch meine Anwesenheit irgendwie stützen zu können. Ohne zu wissen, wie sie mein Erscheinen auffassen würde, hatte ich das Empfinden, dass ich an diesem Tag zu diesem sehr traurigen Geschehnis »gehöre« und wollte das durch meine Anwesenheit zum Ausdruck bringen – so, als wäre Jonathan auch ein Teil meiner Biografie.

Corinna hat mir unendlich leidgetan. Somit wollte ich an diesem Tag einfach in ihrer Nähe sein als ein ihr nahestehender und nahfühlender Mensch, im Sinne menschlicher und familiärer Verbundenheit.

Doris, ich danke dir/euch von Herzen.

Ich sah, dass man in der Trauergesellschaft untereinander ins Gespräch kam und dass Adriana gleich zwei wunderschöne Kuchen gebacken hatte. Zwischen den Kuchen stand ein Bild von dir – ich erschrak ein wenig darüber und wusste nicht, wer es aufgestellt hatte. Ehrlich gesagt, war ich zu diesem Augenblick noch nicht so weit, dich jedem zu zeigen. Ich hatte mehr das Bedürfnis, dich und unsere Fotos – die einzige Erinnerung, die mir blieb – zu hüten wie einen Schatz. Aber dafür war es nun leider zu spät.

An mehr kann ich mich nicht erinnern.

Abstilltabletten und ihr Sinn

In den Wochen nach der Beerdigung dachte ich oft über den Krankenhausaufenthalt und die Geburt nach. Gott sei Dank hatte ich keine PDA mehr bekommen, weil es zu spät war und du dich nach dem zweiten Einleiten zügig auf den Weg gemacht hattest, sodass ich die Geburt mit allen intensiven Schmerzen erleben musste – im Nachhinein würde ich sogar sagen »durfte«, denn nachträglich war ich froh, alles so intensiv durchlebt zu haben. Somit hatten wir wenigstens eine gute Geburt miteinander, was mir half, alles zu begreifen. Du konntest zwar nicht mehr selbst mitschieben, allerdings waren die Wehen stark genug, um dich durch den Geburtskanal zu drücken. Immer wieder dachte ich darüber nach. Die Geburt lief in meinem Kopf ab wie in einem Film und ich kam zu dem Entschluss, dass es gut so war, wie ich dich geboren hatte. Umsorgt und gehalten. Liebevoll. Zerbrochen.

Jedoch gab es eine Sache, um die meine Gedanken immer wieder kreisten und die mich nicht in Ruhe ließ: Am Tag deiner Geburt brachte man mir nachmittags wortlos zwei Abstilltabletten. Ohne zu überlegen, griff ich zu einem Glas Wasser und schluckte die Medikamente herunter. Leider stand ich derart unter Schock, dass ich in diesem Augenblick gar nicht in der Verfassung war, darüber nachzudenken und zu hinterfragen, ob diese Chemiekeule überhaupt notwendig sei. Erst Wochen später wurde mir bewusst, dass man mir ohne Aufklärung starke Medikamente gegeben hatte. Ich fühlte mich überrumpelt, weil ich in meinem Zustand nicht selbstständig in der Lage war, das Ganze zu überblicken. Dass an diesem Tag Herzrasen und Extrasystolen auftraten, brachte niemand mit dem Medikament in Verbindung. Im Nachhinein war mir klar: Wenn mir so etwas noch einmal passieren sollte, würde ich definitiv ablehnen.

Nach deiner Geburt hatte ich trotz der Medikamente noch volle acht Monate Milch. Jedes Mal, wenn ich dich auf dem Friedhof besuchte, um dir Blumen zu bringen oder ein Licht anzuzünden, bekam ich einen Milcheinschuss und meine Brüste prickelten wie wild. Ich kannte das noch von der Stillzeit des Großen. Es war einerseits befremdlich, denn was sollte ich mit der Milch, wenn ich kein Kind bei mir haben durfte? Andererseits war ich froh, mich dir in diesem Moment ganz nah zu fühlen.

Die Gedanken an dich, in großer Liebe und schmerzvoller Sehnsucht, lösten in mir etwas aus, was man mit Medikamenten unterdrücken wollte. Ich lernte aus dieser Erfahrung, dass der Körper sich selbst reguliert, sobald er – und vor allem die Seele – soweit ist. Somit nahm ich meine Milch in Liebe an, fühlte mich dir weiterhin nah und spürte große Dankbarkeit. Irgendwann schienen meine Brüste sich zu beruhigen und auf eine gewisse Art und Weise loszulassen, was mir beim Verarbeiten des fürchterlich traurigen Schicksals half.

Wir können »damit« nicht umgehen …

Das signalisierte man mir in meinem Umfeld. Manche Menschen sprachen diesen Satz auch genauso aus. Wie gerne hätte ich dann gefragt: »Kannst du dir vorstellen, dass auch wir nicht gelernt haben, mit dieser Situation und unserer Trauer umzugehen? Dass auch wir üben mussten, wie man sich verhält, wenn man sein totes Kind im Bauch und dann auf dem Arm hat? Wie man es packen soll, wenn man die Beerdigung vorbereiten muss, sich Abgründe auftun und der Drang hinunterzuspringen immer größer wird?« Oh, Jonathan. Warum nur? Ich hatte wieder einmal das Gefühl, versagt zu haben und nun emotional auch noch dafür bestraft zu werden.