Endlich sitzt Nele behaglich in ihrem Häuschen. Der Winter kommt mit seltenem Schnee, mit Kerzen, Tee und Bratäpfeln. Nele freut sich auf Weihnachten und die erste Jahreswende hier auf der Insel. Wenn nur Maik nicht dieses Geheimnis mit sich herum tragen würde, das er ihr partout nicht verraten will. Und dann wird im neuen Jahr ihr Vertrauen in Maik auf eine harte Probe gestellt. Wird sie diese Probe bestehen? Und wird sie es schaffen, ihre Familie zu versöhnen? Was wird die Zukunft auf Helgoland bringen? Aber Nele ist zuversichtlich …

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt.

Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Lebkuchenstadt (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020); Im Herz aller Dinge (2020); Frühling auf Helgoland (2020); Sommer auf Helgoland (2020); Herbst auf Helgoland (2021).

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© 2021 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Umschlagfoto: © depositphotos.com/Shaiith79

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783753432489

1. Kapitel:
Überraschung

Der Schnee vom ersten Advent blieb nicht lange liegen. Der Wind drehte auf West, und in den ergiebigen Regen, die die Wolken vom Atlantik mitbrachten, schmolz das Weiß dahin.

Die Schäden des Sturms waren repariert: einige weggewehte Dachziegel, zwei Fensterscheiben, die zu Bruch gegangen waren, in eine der Hummerbuden war Wasser eingedrungen. Verletzt wurde nur ein älterer Mann, der bei dem Sturm draußen war und in der Lung Wai gestürzt war. Vom Nordstrand auf der Düne war ein Teil weggespült worden; das würde im Sommer wieder aufgeschüttet werden. Sonst war alles glimpflich abgegangen.

Es war kalt geworden, fünf Grad, und nachts konnte es Frost geben. Mit dem Katamaran aus Hamburg kam ein Mann. Er ging die Gangway herab und betrat zum zweiten Mal in seinem Leben die Insel. Er hatte eine weite Reise hinter sich und wusste nicht, was ihn hier erwartete. Er hatte einen Besuch zu machen. Er hatte etwas zu sagen und wusste nicht, wie es aufgenommen werden würde. Das, was er zu sagen hatte, hatte er nur einem Menschen je erzählt. Er hütete die Erinnerung wie einen Schatz, ein verachteter Schatz, der ihm mehr Leid als Freude bescherte.

Aber es war notwendig geworden, diese Erinnerung ans Licht zu holen und zu erzählen. Das hatte er erkannt. Er hatte zuhause gesessen und lange überlegt. In seinem Alter machte man eine solche Reise nicht unüberlegt. Aber dann stand sein Entschluss fest. Er packte eine Reisetasche. Er wusste nicht, wo er auf der Insel übernachten würde. Zur Not, wenn ihm die Tür gewiesen werden würde, könnte er sich in einem der Hotels einquartieren.

Er ging mit der Tasche in der Hand über die Promenade zum Taxistand. Dort sprach er die Taxifahrerin an und zeigte ihr die Adresse, wo er hin wollte.

»Das ist auf dem Oberland«, sagte die Taxifahrerin. »Ich fahr Sie hinauf. Kein Problem.«

Erleichtert setzte er sich in das Elektromobil und ließ sich im Schritttempo durch die Straßen kutschieren. Die Taxifahrerin wollte ein Gespräch mit ihm beginnen, doch er schwieg hartnäckig.

Er schaute sich im Vorbeifahren die Insel an. Das Wetter war trüb, der Himmel verhangen, die Insel wirkte öde und trist. Hier wollte er nicht leben, dachte er, auf keinen Fall! Genug, dass er für dieses eine Mal her kam.

Er hatte sich lange überlegt, ob er nicht telefonieren sollte. Aber das, was er zu sagen hatte, musste von Angesicht zu Angesicht gesagt werden. Es hatten sich in der Beziehung so viele Missverständnisse, Kränkungen und Unversöhnlichkeit angesammelt, dass nur das direkte Gespräch, wenn man sich in die Augen sehen konnte, eine Chance hatte auf Gelingen.

Und er wollte, dass es gelang. Nach all den Jahren wollte er eine Bereinigung. Er hatte genug davon, dass jeder im eigenen Saft vor sich hin schmorte, dass jeder jeden verdächtigte und verachtete. Er wollte, dass damit endlich Schluss war.

Er war kein gläubiger Mensch, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Er schickte kein Gebet zum Himmel, um Gelingen zu erwirken. Er hielt nichts von dieser Art Gebet. Er hielt überhaupt nicht viel von einem Gott, der versprach, jeden Tag da zu sein, und einen dann im Stich ließ.

Die Taxifahrerin ließ ihn vor dem Haus aussteigen. Ein kleiner Obolus, dann fuhr sie weg, und er stand vor dem Haus und betrachtete es. Ein Haus aus den fünfziger Jahren, wie viele hier. Der Mann wusste nichts über die Geschichte der Insel; er wunderte sich nur, dass er keine alten Häuser, nichts aus der Jahrhundertwende vorfand, obwohl das doch ein Seebad gewesen war.

Er schaute die Straße entlang, nach links, dann nach rechts. Da stand er, unter dem schweren Himmel, aus dem dünner Niesel fiel wie eine sachte Erinnerung, dass alles auf dieser Welt am Abgrund stand und scheitern konnte.

Dann trat er näher und klingelte.

»Machst du mal auf, Heidi?«, rief Nele hinunter.

»Ich kann grad nicht!«, rief Heidi zurück. »Ich sitze auf dem Klo.«

Nele sprang die Treppe hinab und öffnete.

Sie erstarrte.

Das gibt es nicht!, dachte sie. Unmöglich!

»Papa!«

»Hallo, Nele!«

»Was machst du denn hier?« Sie behielt die Klinke in der Hand und vergaß, ihn herein zu bitten.

»Ich friere. Es ist kalt hier draußen. Und der ständige Wind macht es nicht besser.«

»Ach so, klar! Entschuldige! Komm rein!«

Sie trat beiseite und ließ ihn herein. Er bewegte sich langsam und bedächtig. Er stellte seine Reisetasche ab und schaute Nele an. Dann breitete er die Arme aus.

Nele erwiderte die Geste, und wie sie ihn da so spürte mit dem feuchten Mantel und der Kälte, die er ausstrahlte und dem Geruch seines Rasierwassers, wurde ihr einen kurzen Moment schwindelig vor Fremdheit.

Was machte er hier? Wie kam er dazu, sie zu besuchen, ohne Vorankündigung, ohne alles?

Sie half ihm, den Mantel auszuziehen, und hängte seine Schlägerkappe auf, die er immer trug. Ja, so kannte sie ihn. Seit zig Jahren. So hatte sie ihn gesehen, wenn sie im Dorf bei ihren Eltern zu Besuch war. Unten im Süden. Und jetzt stand er hier auf der Insel, in ihrem Hausflur, und schaute sich verlegen lächelnd um.

Heidi kam aus der Toilette und stutzte.

»Ja sowas! Herr Heidenkamps! Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin bloß auf einen kurzen Besuch gekommen«, sagte er, froh, sich endlich erklären zu können. »Morgen fahre ich wieder. Ich wollte nur mit dir reden, Nele«, sagte er und wandte sich an seine Tochter. »Hast du Zeit?«

»Wo bist du denn untergekommen für die Nacht, Papa?«, fragte Nele fürsorglich. »Hast du schon ein Hotelzimmer oder irgendwas?«

»Nein. Darum wollte ich mich später kümmern.«

»Ist ja Quatsch! Du schläfst natürlich hier! Gästezimmer haben wir zwar keines, aber du kannst in meinem Bett schlafen. Kein Problem.«

»Das«, sagte ihr Vater ernst, »hängt vom Ausgang des Gesprächs ab.«

»Aha?«

»Wollen Sie etwas trinken, Herr Heidenkamps? Haben Sie Hunger?«

»Nein, danke, Heidi. Ich habe auf der Fähre eine Kleinigkeit gegessen.«

»Tja«, sagte Nele etwas ratlos, »dann gehen wir mal rauf, und ich zeige dir, wie ich wohne.«

Und sie ließ ihn vorangehen. Er stieg bedächtig die steile Treppe hinauf, als müsste er mit seinen Kräften haushalten. Dabei war er gar nicht so alt. Er war erst kürzlich in Rente gegangen, mit fünfundsechzig, da kletterten andere noch auf den Mount Everest.

Oben öffnete den Nele ihm die Türen zu den Zimmern: das Bad, ihr Arbeitszimmer, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer, das man nur vom Wohnzimmer aus betreten konnte.

Er schaute sich um, beugte sich vor und prüfte die Aussicht aus dem Fenster, schaute eine Weile die Fototapete mit dem Sommerwald an, fragte mit einer Geste, ob er sich setzen könnte, und ließ sich dann schwer in einem der Sessel nieder. Dort saß er und schaute zu Nele auf, die ein wenig hilflos mitten im Raum stand.

»Setz dich doch zu mir«, meinte ihr Vater.

»Ich mach uns einen Tee, Papa. Einverstanden?«

»Also wenn du dir schon Umstände machen willst, dann hätte ich gern einen Kaffee. Geht das?«

»Klar«, sagte Nele und war froh, das ominöse Gespräch noch etwas aufschieben zu können. Was zum Henker wollte er mit ihr besprechen, dass er dafür eigens die weite Reise gemacht hatte, noch dazu ohne Ankündigung?

Und das nach all den Jahren der Gleichgültigkeit, in denen er sich abgeschottet und zu rückgezogen hatte aus allem, was Familie anging! Es war einfach nicht zu fassen, dass er hier war.

Wie damals, als er zu meiner Einweihungsparty in Regensburg gekommen ist, dachte Nele. Auch völlig überraschend und unangekündigt. Nur auf ein Stündchen, und auch jetzt brachte er gerade so viel Zeit mit, wie er meinte, für das Gespräch zu benötigen.

Nele hatte ein bisschen Bammel davor. Würde er ihr noch ein Familiengeheimnis offenbaren? Erwartete sie eine ähnliche Eröffnung wie seinerzeit mit Kati im Flughafenrestaurant? Der Winter fing ja gut an!

Als sie den Kaffee und ihren Tee auf dem Couchtisch abgestellt hatte, setzte sie sich auf das Sofa in ihre Kuschelecke und nahm die Kapitänstasse in beide Hände. Der Tee duftete nach Gewürzen, erinnerte sie an den Adventsabend vor ein paar Tagen und gab ihr Festigkeit und Mut. Es würde schon nicht so schlimm werden, sagte sie sich.

Es fiel ihm offensichtlich schwer, zur Sache zu kommen. Er plauderte tatsächlich ein wenig, erzählte, wie es zuhause ging, fragte Nele nach ihrem Aufenthalt hier und ob sie nun länger bleiben wollte, und als sie ihm sagte, dass sie gern hierbleiben würde und nun Insu lanerin war, dass sie hier jemanden kennen gelernt hatte, aber noch nicht wusste, wie sich das entwickelte, nickte er nur und sagte: »Aha!«

Schweigen trat ein zwischen ihnen. Nele wurde ungeduldig, aber sie wusste, dass sie ihm Zeit lassen musste. Dass er sich überhaupt überwunden hatte, her zu kommen und sie zu besuchen, musste Ungeheures bedeuten.

Er warf einen Blick zur Tür, ob sie auch wirklich geschlossen war, und begann dann zögernd zu sprechen.

»Du hast mir eine Mail geschickt, Nele«, sagte er und schaute dabei auf seine Hände, die die Kaffeetasse hielten. »Ich wollte am Telefon nicht mit dir sprechen. Tut mir leid. Es ging nicht anders. Aber ich bin froh, dass du mir geschrieben hast. Das hat erst alles in Gang gebracht.«

Es ging also um ihre Mail. Was hatte sie geschrieben? Sie versuchte sich zu erinnern. Was war daran so unerhört gewesen, dass es ihn aus seiner Zurückgezogenheit aufgescheucht hatte? Dann fiel es ihr ein: Sie hatte von Katis Hang zum Mystischen geschrieben.

»Wie ich sehe«, sagte er und schaute sich im Zimmer um, »magst du es auch gern, dich mit schönen Dingen zu umgeben. Wie ich. Das hast du also von mir.«

»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Ich hatte ja nie das Geld, etwas wirklich Wertvolles zu kaufen. Es reichte gerade so, um die Familie durchzubringen. Ich hatte ja die Verantwortung für euch, für Mutter und euch drei.«

Sie sagte nichts. Sie ließ ihn reden.

»Ich habe es immer als meine Pflicht gesehen, für euch da zu sein. Und obwohl die Ehe mit eurer Mutter nicht das ist, was ich mir gewünscht hatte, habe ich das immer getan. Das kann mir niemand vorwerfen.«

Für euch da sein, dachte Nele. Dazu gehörte mehr als bloß das Geld zum Unterhalt zu verdienen. Aber er sah das offenbar anders. Und wieso glaubte er, dass ihm jemand einen Vorwurf machen wollte? War er hier, um sich zu rechtfertigen?

»Aber vermutlich, ist mir in den letzten Tagen klar geworden, hat das nicht gereicht. Ich habe mich nie um euch gekümmert, wie es ein Vater tun sollte. Es ist nicht so, dass ihr mir gleichgültig wart. Aber ihr wart eben die Kinder einer Frau, die ich geheiratet hatte, ohne sie zu lieben. Das war ein Fehler, wie ich heute weiß.«

»Aber du hast doch Mama – «

»Lass mich bitte ausreden, Nele! Es fällt mir schwer genug, das zu sagen. Ich habe an euch viele Dinge versäumt, das sehe ich nun. Das tut mir leid. Aber es ging nicht anders. Und dass ihr nun alle drei von zuhause fort seid, habe ich vermutlich verdient. Ich habe das Martin und dann auch Kati lange nicht verziehen, dass sie einfach fortgingen und den Kontakt abbrachen. Und es tut mir heute noch weh, dass ich von Kati gar nichts weiß.«

Hier fiel es Nele schwer, den Mund zu halten. Gerne hätte sie ihm gesagt, dass Kati wieder da war und dass es ihr gut ging. Aber sie hatte Kati ihr Versprechen gegeben, den Eltern nichts von ihrem Kontakt zu sagen.

»Kati war immer ein Wildfang. Sie hatte Fantasie und einen eigenen Willen. Wie Martin, nur anders. Dass sie einen Hang zum Mystischen hat, wundert mich nicht. Ob sie es von mir hat, weiß ich nicht. Aber ich denke, ich sollte dir etwas erzählen, was diese Frage in einem anderen Licht erscheinen lässt. Und das, was ich über meine Ehe gesagt habe.«

Er schaute auf. Seine Augen waren traurig, aber auch hart. Ein Schmerz lag in seinem Blick, und ein Zorn, der Jahrzehnte alt war. Nele fragte sich, was der Mann da mit sich abmachte.

Da hielt es Nele nicht mehr auf dem Sofa. Sie stand auf und fing an, im Zimmer herum zu gehen. Ihr wurde es eng, der Schweiß brach ihr aus, sie brauchte Luft zum Atmen.

»Papa«, sagte sie, »macht es dir etwas aus, wenn wir ein bisschen spazieren gehen? Ich muss raus an die frische Luft!«

Der Vater schaute sie an. Begriff er, dass dieses Gespräch sie in Not brachte? Er sagte: »Also eigentlich sitze ich hier ganz bequem und warm. Aber wenn du meinst, gehen wir ein paar Schritte.«

Er stand auf, ohne eine Miene zu verziehen, und sie gingen zusammen hinunter. Nele zog ihren Wollmantel und ihre Baskenmütze an, er schlüpfte in seinen Mantel und setzte die Schlägerkappe auf.

»Wir sind gleich wieder da!«. rief sie Heidi zu.

»Ist gut!«, kam ihre Stimme aus dem Wohnzimmer.

Draußen hatte sich der Wind etwas gelegt. Es war kalt, und der Atem stand ihnen vor den Mündern. Sie gingen den Falm entlang bis zum Hotel und dann den geklinkerten Fußweg am Heisenbergdenkmal vorbei. Am Sendemast ging es entlang und dann auf den Klippenrandweg. Immer wieder machte Nele ihren Vater auf die Aussicht aufmerksam, die sich auf das Unterland bot, er schaute hinunter und sagte nichts.

Sie hatte ihn unterbrochen, merkte sie. Mit Absicht. Sie konnte sich die Geschichte, die nun käme, nicht einfach so anhören. Sie atmete freier, nun, da das karge Oberland sich vor ihr erstreckte, und der Ausblick auf das Meer tat ihr gut. Das hatte sie jetzt gebraucht.

Er zeigte sich von den Klippen und der Aussicht durchaus beeindruckt.

»Schon ziemlich karg, deine Insel«, meinte er. »Für mich wäre das nichts.«

Dann fasste Nele allen Mut zusammen und fragte: »Bist du hier, um eine Versöhnung anzubieten, Papa? Willst du dich entschuldigen?«

»Entschuldigen?«, sagte er fast empört und schaute sie an. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es ist nicht meine Schuld, dass Hannah gestorben ist! Es ist höchstens meine Schuld, dass ich die falsche Frau geheiratet habe. Aber nach Hannah war jede Frau falsch.«

»Du brauchst nichts zu erklären, Papa. Ich weiß von Hannah. Ich weiß, dass du vor Mama schon einmal verheiratet warst, und dass es die Liebe deines Lebens war.«

Er schaute sie erstaunt an. »Woher weißt du das? Ich habe dir nie davon erzählt.«

»Nein, aber Kati. Ich weiß es von ihr.«

Er zuckte die Schultern. Dann gingen sie weiter.

Im Wind segelten die Möwen. An den Klippen schwärmten die Seevögel und kreischten. Unten rauschte die Brandung, und Nele bekam wieder Boden unter den Füßen. Eigentlich war ihr das Gespräch zu viel. Darauf war sie nicht vorbereitet. Es war wieder typisch ihr Vater! Er rang mit sich und fasste den heroischen Entschluss, hier herauf zu fahren und mit ihr zu sprechen, quasi zwischen Tür und Angel, aber was das für sie bedeutete, ob ihr so eine Aussprache überhaupt recht war, interessierte ihn nicht. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass es ihr nicht recht sein könnte. Er war so eingenommen von sich und seinem Vorhaben.

Mochte er einige Selbsterkenntnis gehabt haben, was die Familie und seine Vaterrolle betraf, aber er selbst hatte sich nicht geändert.

»Damals, als ich Hannah kennen gelernt hatte, traf es mich wie ein Blitz. So eine Liebe hätte ich nie für möglich gehalten. Ich war damals sehr leidenschaftlich und leicht erregbar«, sagte er, als rede er von einem klinischen Fall, »und so schien es für mich klar, dass diese Liebe vom Himmel gesandt war. Hannah war für mich ein Geschenk des Himmels. Und in den Tagen, als ich mit mir rang, ob ich dieser Liebe trauen sollte, hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis.«

Er machte eine Pause. Sie waren am Mürmers Horn angelangt und am Aussichtspunkt stehen geblieben. Nele schaute hinaus an den Horizont, saugte die Weite in sich hinein. Hier konnte ihr nichts passieren. Hier konnte die Vergangenheit sie nicht einholen. Es war ihre Insel, ihr Zuhause, ihr neues Leben. Eigentlich wollte sie die Geschichte gar nicht hören. Wie kam ihr Vater dazu, plötzlich intime Einzelheiten aus seinem Leben zu erzählen, die jahrzehntelang verborgen geruht hatten? Wieso sie jetzt ans Licht zerren? Hör auf, Papa!, hätte sie am liebsten gerufen. Ich will das nicht hören!

Aber ihr Vater fuhr fort.

»Ich lag eines Nachts in meinem Zimmer im Bett und habe halb geschlafen, halb war ich wach. Da stand plötzlich eine leuchtende Gestalt mitten im Zimmer, wie ein Engel, aber ohne Flügel. Ich richtete mich auf und sah das Gesicht, und ich wusste sofort: Das ist Jesus. Dann saß ich auf der Bettkante und redete mit ihm. Ich stellte ihm lauter Fragen, die mir auf der Seele brannten, und er antwortete. Aber ich wusste schon gleich danach nicht mehr, was wir geredet hatten. Als ich wach wurde, saß ich immer noch auf der Bettkante und starrte auf die Stelle, an der er gestanden hatte.«

Ihr Vater machte eine Pause. Sie wandten sich wieder zum Gehen, und Nele war froh um die nüchterne Wirklichkeit um sie herum.

»Die Begegnung hatte mich tief berührt. Ich war mir sicher, dass er meine Liebe zu Hannah segnen wollte. Ich nahm es als Zeichen, dass sie das Glück meines Lebens werden würde. Wenig später habe ich sie geheiratet, und zwei Jahre danach ist sie gestorben. Bei einem Unfall. Das weißt du dann ja.«

Nele nickte.

»Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Was sollte das? Da gab er seinen göttlichen Segen zu dieser Verbindung, und zwei Jahre später nahm er sie mir wieder weg. Ich habe das wie einen Verrat empfunden. Die Enttäuschung habe ich nie überwunden. Bis heute. Und ich habe mir geschworen, nie mehr etwas auf Gott zu geben und nie mehr jemanden so zu lieben, wie ich Hannah geliebt habe.«

Nele schwieg. Warum erzählte er ihr das?, fragte sie sich. War das doch eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Sollte sie verstehen, was in ihm vorgegangen war all die Jahre? Wollte er eine Absolution von ihr?

»Hast du das je jemandem erzählt?«, fragte sie.

»Nur Mutter.«

»Sie weiß davon?« Nele war erstaunt.

»Natürlich. Sie hat mich einmal gefragt, warum ich Hannah so schnell geheiratet habe. Ich war ja damals erst zwanzig.«

»Mama liebt dich sehr«, sagte Nele. »Weißt du das?«

Er sagte nichts und schaute auf den Boden.

»Und warum erzählst du mir das?«, wollte sie wissen.

»Weil ich auch ziemlich enttäuscht von dir war, Nele. Dass du genauso abgehauen bist wie die Anderen und nichts mehr von dir hast hören lassen. Das hat mir wirklich etwas ausgemacht. Von allen habe ich dich am meisten gern gehabt. Aber nun weiß ich ja, wo du bist, und kann dich sogar besuchen.«

Nele sagte nichts dazu. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt von ihrer Enttäuschung über ihn als Vater zu erzählen, von ihrer Kindheit als ständige Vermittlerin, von der Kälte seiner Lieblosigkeit, die sie empfunden hatte. Dafür hatte er jetzt keinen Kopf. Es ging ihm nur um seine Angelegenheit.

»Weißt du, ich glaube, dass du auch einen Hang zum Mystischen hast. Woher das bei mir kommt, ich meine, wieso ich dieses Erlebnis hatte, weiß ich nicht. Ich bin ein gewöhnlicher Mensch, unauffällig, Postbeamter, will nicht hoch hinaus in meinem Leben. Warum er gerade mir begegnet ist, weiß ich nicht. Aber mich würde es nicht wundern, wenn auch ihr, du und Kati, ähnliche Erfahrungen gemacht habt.«

Aha, das war also der Grund, dachte Nele. Wollte er jetzt seinerseits etwas hören? Sollte auch sie sich jetzt öffnen und von ihren Gedanken über eine höhere Macht erzählen, von ihrem Gefühl seit dem Frühling, dass jemand ihr Leben leitete? Wenn, dann hatte er sich geirrt. Nele würde ihm nichts erzählen. Eine Versöhnung über solche Geschichten hinweg wollte sie nicht. Sie wollte, dass er seine Schuld einsah. Er hatte es als seine Pflicht angesehen, seine Familie zu ernähren. Er hätte es viel mehr als seine Pflicht ansehen sollen, dachte Nele, sich mit Gott zu versöhnen, seinen Schmerz zu überwinden und für die Menschen da zu sein, für die er verantwortlich war.

Aber die Geschichte war heraus, Nele atmete auf, und auch ihr Vater schien erleichtert und wirkte deutlich entspannter. Nele kürzte den Weg ab, ging am Leuchtturm vorbei zurück zu den Häusern und war froh, mit ihrem Vater wieder ins Warme zu kommen. Sie sah, dass er sich in seinen Mantel drückte und die Schultern hochzog.

Als sie wieder im Hausflur standen und die Wärme der Gasöfen sie einhüllte, war die Spannung zwischen ihnen verschwunden. Was jetzt noch kommen würde, war nur ein harmloser Nachspann. Sie zogen ihre Mäntel aus, aus der Küche duftete es, Heidi hatte inzwischen einen Nudelauflauf im Ofen gebacken, dazu gab es Salat und Weißbrot, und der Vater setzte sich gern an den großen Tisch und genoss die Wärme und die Geselligkeit.

Sie aßen zu Abend, und bald darauf wurde der Vater müde. Der Tag und die Reise hatten ihn angestrengt, und er ließ sich ohne größeren Widerstand dazu überreden, in Neles Bett zu schlafen.

Nele schaute mit Heidi noch ein bisschen fern, in deren Wohnzimmer auf dem Tablet, und erzählte ihr in Kurzversion, was geschehen war. Den Bericht über das Erlebnis ließ sie aus. Sie gab Heidi gegenüber zu, dass ihr dieser Einbruch in ihr Leben nicht sehr gefiel, und Heidi riet ihr, rasch wieder Distanz zu gewinnen. Der Vater fuhr morgen zurück, und sie blieb hier auf dieser Insel, die zu ihrem Zuhause geworden war.

Am nächsten Morgen war er früh wach. Sie ließ ihm das Bad für die halbe Stunde, die er morgens benötigte, einschließlich Rasur. Als sie ins Badezimmer ging, roch es darin nach seinem Rasierwasser.

Er hatte gestern Abend noch mit ihrer Mutter telefoniert und ihr Bescheid gesagt. »Ja, ich bin gut angekommen. Alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen!«, hatte er gesagt. »Morgen bin ich wieder da.« Und sogar ein Küsschen ins Telefon gegeben.

Als sie nun zu zweit hinunter gingen ins Unterland zum Hafen, fragte sie ihn:

»Hat sich denn irgendetwas zwischen euch verändert, seit ich weg bin?«

»Ja, schon«, sagte er. Sonst nichts.

Da er nichts erzählen wollte und Nele dachte, das sollten die beiden untereinander ausmachen, gingen sie schweigend weiter bis zur Landungsbrücke, wo der Katamaran schon bereit lag.

Als sie sich verabschiedeten, konnte sie ein letztes Wort nicht zurückhalten.

»Papa«, sagte sie, als sie einander gegenüberstanden, »sei ein bisschen freundlich zu Mama! Sie hat es verdient. Sie ist dir immer treu zur Seite gestanden. Sie kann nichts dafür, dass sie nicht Hannah ist und dass du dich mit Gott überworfen hast.«

Er lächelte sie an und strich ihr mit der kalten Hand über die Wange.

»Ich weiß, Nele. Ich weiß. Es ging eben nicht anders.«

»Aber jetzt«, sagte sie, nahm seine Hand und drückte sie, »jetzt geht es anders!«

Dann nahm er seine Tasche, winkte noch einmal und ging über die Gangway an Bord.

Nele stand und schaute zu, wie der Katamaran auf die offene See hinaus fuhr und langsam im Regennebel verschwand.

So fuhr er wieder aus ihrem Leben, ihr Vater. Er hatte den unerhörten Schritt getan und war hergekommen, um ihr einen Einblick in sein Innerstes zu gewähren. Und nun kehrte er zurück in sein Leben, zu ihrer Mutter, zu dieser unglückseligen Ehe, die vielleicht irgendwann doch noch ein gutes Ende fand, und Nele könnte es abhaken und bleiben, wo und wer sie war.

2. Kapitel:
Proxima Thule

Doch der Besuch ihres Vaters hallte bei Nele lange nach. Manchmal kam es ihr vor, als hätte sie ihn nur geträumt, so rasch war er gekommen und vorbei gegangen. Sie dachte darüber nach, ob die Enthüllung des Vaters etwas verändert hatte.

Das Erlebnis, von dem er erzählt hatte, war sicherlich eine Erklärung. Sie sah ihren Vater nun mit anderen Augen. Aber es war keine Entschuldigung. Es änderte nichts an Neles Verhältnis zu ihm, zumal es ihm wieder nur um seine Enttäuschung gegangen war. All die Jahre hatte er seine Kränkung gepflegt und die Gegenwart vernachlässigt. Das war es, was sich ändern musste.

Sie war berührt von dem Vertrauen, das er ihr entgegen gebracht hatte. Sie sah darin eine Chance, ihr Vorhaben der Familienversöhnung voran zu treiben. Gerade das Gefangensein des Vaters in seiner Vergangenheit zeigte ihr, wie notwendig eine Versöhnung war. Kati und Martin mussten endlich wieder mit ihm und der Mutter Kontakt aufnehmen. Jeder musste heraus treten aus seiner eigenen Schuld und Verletzung, musste den Anderen sehen, wie er war. Es ging nicht um Schuld: Es ging darum, wie man jetzt, wenn die Vergangenheit offen lag, weitermachen konnte. Ob jeder den Schritt in eine veränderte Zukunft tun wollte.

Das gab Nele Mut. Sie war ihrem Vater dankbar, dass er diesen Schritt getan hatte. Er ahnte sicher nicht, wie sehr er sie dadurch ermutigte. Er dachte einfach, dass er etwas, das er jahrzehntelang mit sich herum getragen hatte, nun am Licht war. Es war ihm leichter dadurch, ganz sicher. Aber das war noch nicht das Ende vom Lied.

Kaum hatte der Adventskranz seinen Platz in Neles Nest gefunden, regten sich in ihr schon die ersten weihnachtlichen Gefühle. Sie hatte das Bedürfnis, sich zuhause zu verkriechen, die langen Abende mit Teetrinken und Lesen zu verbringen und darüber nachzudenken, wie das Leben so spielte.

Ihr neues Arbeitszimmer, das sie bei sich nur noch »das Kabinett« nannte, gefiel ihr sehr. Es war ein konzentrierteres und besseres Arbeiten möglich als selbst zuvor in Regensburg. Es lag ein wenig abgeschieden vom Rest der Wohnung, sie konnte aus dem Fenster schauen zu den Nachbarn und das kleine Schattentheater beobachten, das allabendlich die Bewohner in ihren erleuchteten Fenster aufführten, und sie hatte viele gute Ideen für die Designkonzepte, die sie entwarf.

Piets Onlineshop kam gut voran. Noch vor Weihnachten würde er online gehen können. Sie hatte ihm schon ein paar Entwürfe gezeigt, das durchgängige Hauptmotiv mit dem Krabbenkutter und die einzelnen Akzente, die sie in den verschiedenen Rubriken setzte. Beim nächsten Treffen ging es darum, auf seinem Computer die zentrale Datenbank einzurichten und mit den Modulen zu verlinken, die sie ebenfalls installieren würde. Dann konnte man einen Probelauf starten, ob alles soweit funktionierte.

Piets Häuschen lag am Ende der hintersten Reihe im Unterland, direkt am Fuß des Steilabsturzes. Am schnellsten kam sie dorthin, wenn sie den Falm bis zum Ende ging und dann die schmale Südtreppe hinab stieg, die vom Berliner Bär ausging und die weiter unten auf die Wobantreppe traf, die direkt zu Piets Haus und die Siemensstraße führte.

Piets Haus war klein und zweistöckig, blau und weiß gestrichen mit einem Ziegeldach und einem Balkon. Der Hauptteil des Obergeschosses wurde vom Atelier eingenommen, wofür er ein großes Dachfenster hatte einbauen lassen.

Sein Haushalt war top in Schuss, es war sauber und ordentlich bei ihm. Nur dem Atelier sah man an, dass darin künstlerisch gearbeitet wurde.

Piet malte selten draußen in der Natur. Er baute seine Staffelei zuhause auf und malte aus dem Gedächtnis oder von Fotografien ab, die er gemacht hatte. Dabei dienten ihm die Fotos nur als Gedächtnisstütze, wie er sagte; er nahm sich durchaus die Freiheit, die Lichtstimmung oder die Landschaft nach Bedarf abzuändern.

Sein jüngstes Bild, das er Nele zeigte, fing die Winterstimmung ein, die der Schnee am ersten Advent auf Helgoland gezaubert hatte. Schön, wie er durch Aussparungen und Freilassen des Papiers den schütteren Schnee zwischen Häusern und auf den Dächern dargestellt hatte, und selbst der Wind wurde sichtbar durch verwischte Pinselspuren in der Landschaft. Keine Frage: Piet beherrschte sein Handwerk!

Während sie in seinem Büro am Computer saß, machte er in der Küche im Erdgeschoss Tee. Sie hatte die Arbeiten schnell erledigt, die Module hatten sich ohne Schwierigkeiten installieren lassen, und auch die Datenbank stand nun. Alle Bestellungen liefen über diese Datenbank und passten den Bestand an die Bestellungen an.

»Schon fertig?«, fragte er, als er mit dem Tablett herein kam.

»Fast. Noch ein paar Minuten.«

»Dann warte ich im Atelier auf dich.«

Als sie alles soweit abgeschlossen hatte, ging sie hinüber. Das Atelier war ein großer Raum mit Regalen und Arbeitstischen an den fensterlosen Wänden, auf denen er das Papier zuschnitt und die Bilder bearbeitete. Manchmal zum Beispiel schabte er mit einem Rasiermesser die getrocknete Farbe wieder ab und schuf so besondere Effekte. Überall lagen Gemälde herum oder waren an Korkwände gepinnt. Dass er selbst überhaupt einen Überblick hatte, welche fertig waren und woran er noch arbeitete, war ein Wunder.

»Aquarelle muss man schnell malen. Höchstens zwei Minuten hast du, bevor die Farbe trocknet. Das muss alles aus einem einzigen Schwung kommen. Ich komponiere die Bilder vorher mit Skizzen. Das sind die Rollen, die du überall herum liegen siehst«, erklärte er. »Dann übertrage ich die Skizzen auf das Papier und lege los. Hinterher, wenn sie trocken sind, warte ich, wie die Farben heraus kommen, und gegebenenfalls arbeite ich nach. Ziehe mit Tusche nach. Kratze was weg. Feuchte noch einmal an, um die Konturen verlaufen zu lassen. Undsoweiter. Das wissen die meisten Leute nicht. Dass man am Aquarell auch hinterher noch was machen kann.«

Nele schaute sich um. Ein kleinformatiges Bild in einer Ecke fiel ihr auf. Es stand stiefkindlich zwischen den anderen, ungerahmt, und war an den Kanten eingerollt. Sie nahm es und rollte es auf. Es zeigte die Insel von der Westseite: die rotweißen Klippen, die Seevögel als zappelnde Kleckse, die weiße Gischt und den Meereshimmel darüber. Nur Fels, Meer und das Graugrün des Oberlandes. Das sah aus wie die Küste von Neufundland oder Patagonien, und doch setzte der Leuchtturm, den man klein sah, einen heimeligen Akzent. Das Bild hatte eine weltvergessene Stimmung. Eine große Einsamkeit lag darin, und doch waren Spuren des Menschen sichtbar, was die Einsamkeit zu einer unvermuteten Geborgenheit machte.

»Das ist toll!«, sagte Nele. »Das hast du klasse hingekriegt!«

»Da habe ich mal eine Inselrundfahrt gemacht. Ich habe jede Menge Fotos geschossen, und dieses Bild ist sozusagen die Collage aus allen.«

»Hast du das schon im Angebot?«

»Nein. Es hat ein anderes Format. Ich wollte es mal rahmen lassen und selber aufhängen. Aber ich hab’s wieder aus den Augen verloren.«

»Hast du einen Titel dafür?«

»Ich wollte mir einen Spaß machen und es Proxima Thule nennen. Aber das wäre kein Titel für meine Kundschaft.«

»Würdest du es mir verkaufen? Ich nehme es sofort. Ungerahmt.«

Piet sah sie über den Rand seiner Teetasse an und überlegte kurz. Dann sagte er lächelnd:

»Du kannst es haben. Umsonst. Wenn es dir so gefällt ... «

»Und ob!«, rief Nele. »Das passt wunderbar in mein Arbeitszimmer. Dann muss ich immer an dich denken, wenn ich arbeite. Vielen, vielen Dank, Piet!«

»Lass es noch da. Ich stecke es in ein Passepartout, dann brauchst du es nicht rahmen zu lassen.«

»Was heißt das: Proxima Thule?«, fragte sie neugierig.

»Ultima Thule ist der nördlichste Landpunkt der Welt. Wörtlich übersetzt: das äußerste Thule. Schon in der Antike war es ein mythisches Reich, das jenseits aller Zivilisation im äußersten Norden liegen sollte. Proxima heißt nun das Nächste und meint, dass das ein mythisches Thule ist, das uns am nächsten liegt – nämlich Helgoland.« Er grinste.

»Woher weißt du das?«

»Ich bin zwar bloß Staplerfahrer gewesen, aber ich kann Bücher lesen. Und heutzutage im Internet surfen. Damals habe ich alle Bücher verschlungen, die mit dem hohen Norden zu tun hatten. Thule hat mich sehr fasziniert. Und irgendwie habe ich das auf Helgoland wiedergefunden. An manchen Tagen, besonders im Winter, hat die Insel etwas von Camelot oder Atlantis. Finde ich.«

Nele war beeindruckt. Der Titel schien ihr absolut zu dem Bild zu passen. Ein mythischer Norden, einsame Küsten, Eis, Wasser und Stein – und das alles in greifbarer Nähe in der Nordsee!

»Das ist lieb von dir, dass du es in ein Passepartout stecken willst, Piet. Aber ich nehme es doch gleich mit, wenn du nichts dagegen hast. Ich mache selbst ein Passepartout dazu.«

»Wie du willst.«

Sie nahm das Papier, rollte es vorsichtig zusammen und steckte es in ihre Umhängetasche. Dann setzte sie sich in den Holzstuhl, der vor dem Teetischchen stand, und schenkte sich Tee ein.

Sie besprachen noch die weiteren Schritte, und Nele stellte ihm den fünfzehnten Dezember als Termin in Aussicht, an dem der Shop online ginge.

»Das Design gefällt mir außerordentlich«, sagte Piet strahlend und biss in einen der Kekse, die er in einer Gebäckschale dazugestellt hatte. »Du hast eine echte künstlerische Begabung. Hast du studiert oder so etwas?«

»Ja. Design und Medientechnik in Regensburg.«

»Das merkt man. Aber den Sinn für Farben und Formen, für die Gefühle, die Bilder in sich tragen – das kann man nicht studieren. Das hat man oder man hat es nicht.«

»Danke sehr.«

Dann wollte Piet wissen, wie sie auf die Idee mit Helgoland gekommen war, wo sie Verwandte hatte, ob sie nun länger bleiben wollte, und Nele ließ Piet noch ein wenig von seiner Kindheit im Schwarzwald erzählen. Dabei blieb er bei der Familie seiner Schwester hängen, die längst den Hof aufgegeben hatte und in Freiburg wohnte. Die Einzige, die er davon näher kannte, war seine Nichte Nadja.

»Von ihrer Verlobung vor zwei Jahren habe ich gehört. Ich habe die weite Reise gescheut, Nele, ehrlich, und es war ja noch keine Hochzeit. Die scheint bald zu folgen, vermute ich. Aber ich mag die Kleine. Sie will mich besuchen kommen, im neuen Jahr. Eine Auszeit, sagt sie. Wie bei dir.«

»Jaja, die Insel der Flüchtigen«, sagte Nele und lachte.