Wer einmal tötet, dem glaubt man nicht Berlin 1968 Kriminalroman Band 11

Tomos Forrest

Published by BEKKERpublishing, 2021.

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Wer einmal tötet, dem glaubt man nicht

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Wer einmal tötet, dem glaubt man nicht

Berlin 1968 Kriminalroman Band 11

von Tomos Forrest

Der Umfang dieses Buchs entspricht 155 Taschenbuchseiten.

Der Plan, den sich die Freunde ausgedacht haben, ist eigentlich todsicher. Die Entführung kann ein Kinderspiel sein, wenn es ihnen gelingt, die Schlägertruppe zu täuschen, die ihr Vater als Leibwächter angeheuert hat. Man muss etwas Ungewöhnliches riskieren, damit alles richtig wirkt. Und dafür müssen ungewöhnliche Mittel her. Doch als Bernd Schuster in den Fall gezogen wird, gibt es plötzlich viele Tote, und dann ist da auch noch der undurchsichtige Geschäftsmann, der Vater des Entführungsopfers...

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Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

Cover: Nach Motiven und Grischa Georgiew 123rf – Steve Mayer, 2021

Titel/Charaktere/Treatment © by Marten Munsonius & Thomas Ostwald, 2021

Roman – Nach Motiven – by Tomos Forrest, 2021

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Bernd Schuster bremste seinen Mercedes 450 SEL abrupt.

Eben noch floss der Verkehr zügig über den Kurfürstendamm, und er schwamm auf der grünen Welle mit. Doch dann bog die schier endlose Reihe der Demonstranten am Café Kranzler in die Joachimsthaler Straße ein und blockierte nicht nur beide Straßen, sondern auch die gesamte Kreuzung.

Ein Hupkonzert begann, aber die Sprechchöre der Demonstranten übertönten auch das noch. „Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren!“, wurde immer wiederholt, und gerade, als Bernd hoffte, das Ende des Zuges wäre in Sicht, kamen aus den Seitenstraßen neue Gruppen dazu.

Die jugendlichen Demonstranten hatten sich alle untergehakt und liefen gemeinsam über die Straße. Dabei erklang der vertraute Schlachtruf: „Ho-ho-ho-chi-minh!“ Immer wieder hämmerten sie monoton den Namen des vietnamesischen Führers in den Lärm, und Bernd Schuster schüttelte den Kopf.

‚Das ist bereits die dritte Demonstration in dieser Woche. Natürlich gegen die Professoren der Universität. Und natürlich gegen den Krieg in Vietnam. Ich kann bald nur noch mit S- oder U-Bahn fahren, das Auto steht mehr, als es zum Fahren kommt!‘, dachte er und trommelte nervös auf dem Lenkrad herum.

Sein Blick fiel auf das benachbarte Fahrzeug.

Am Steuer des Moris Mini Cooper saß eine ausgesprochene Schönheit. Sie sah zufällig in diesem Moment zu Bernd herüber und lächelte.

Er lächelte zurück und deutete auf die Demonstranten.

Sie hob die Schultern hoch und nickte.

‚Wir verstehen uns!‘, dachte Bernd. ‚Was für ein hübsches Gesicht! Aber wer weiß – dafür sicherlich ein mieser Charakter. Sieht man eigentlich schon auf den ersten Blick. Papas Liebling, verwöhnt bis zum Gehtnichtmehr.‘, dachte Bernd.

Die Kreuzung leerte sich endlich, die Motoren brummten, und der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung.

Die junge Frau winkte ihm mit der Hand zu, und Bernd lächelte.

Wer hätte auch in diesem Moment ahnen können, dass das Schicksal diese beiden so unterschiedlichen Menschen schon in Kürze wieder zusammenführen würde?

*

Claudia Andernach erschrak, als sie den Mann sah. Sie fühlte, dass ihr Gefahr drohte, blieb stehen und wandte den Kopf wie jemand, der einen Fluchtweg sucht. In diesem Moment bemerkte sie den zweiten Mann. Er lehnte an einem Baum und starrte ihr ins Gesicht. Claudia blickte zur anderen Seite. Dort stand der dritte.

Sie war eingekreist, gefangen.

Claudia zwang sich zum Weitergehen, sie strebte auf ihren Wagen zu, den sie knapp hundert Meter vom Kosmetikstudio entfernt parkte. Sie hatte ihren Cooper im Schatten einer großen, alten Kastanie abgestellt.

Sie hörte nichts, aber sie fühlte, dass die Männer näherkamen, lautlos und drohend. Claudia kämpfte die aufsteigende Panik nieder, sie wollte nicht zeigen, dass sie Angst hatte.

Es gab nur einen Ausweg. Sie musste die Flucht nach vorn antreten. Sie ging auf den Mann zu, der ihr im Wege stand. Er war hochgewachsen, ein knochiger, dunkelhaariger Typ, vielleicht Mitte Zwanzig, der zu seinen Röhrenjeans einen weinroten Strick-Lumberjack trug. Auf seinem Kopf saß eine knallgelbe Seglermütze mit seinem Namen: TILL.

Claudia war überzeugt davon, dass der Name nicht stimmte. Er hatte die Mütze nur aufgesetzt, um zu bluffen und eventuelle Zeugen irrezuführen.

„Haben Sie Feuer?“, fragte Claudia und wunderte sich, wie verändert ihre Stimme klang.

Der Mann grinste, er machte einen Schritt auf sie zu. Claudias Herz hämmerte. Der Mann roch nach Schweiß. Sie hasste Menschen mit Körpergeruch, aber das konnte sie nicht zeigen oder sagen, schon gar nicht diesem Till, der es mit seinen Freunden offenbar darauf abgesehen hatte, sie zu überfallen.

Der Mann holte ein Feuerzeug aus der Tasche. Als er es anknipste, sah Claudia seine Hände, die schmutzigen, abgekauten Nägel, das billige Wegwerffeuerzeug. Claudia kramte eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Sie hatte das Scheckbuch dabei, außerdem ihr Portemonnaie mit rund hundert Mark Inhalt, der Mann brauchte nur zuzugreifen, um beides an sich zu nehmen, aber der Tascheninhalt interessierte ihn nicht, Claudia hatte es befürchtet. Er und die anderen wollten mehr, viel mehr.

„Danke“, sagte Claudia und inhalierte tief.

15 Uhr. Die Anliegerstraße wirkte wie leergefegt, nur Claudia und die drei Männer waren darin zu sehen.

Claudia überquerte die Fahrbahn. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie musste weitergehen. Sie glaubte zu wissen, was sie erwartete, aber trotzdem brachte sie es nicht fertig, einfach loszurennen oder laut um Hilfe zu schreien. Beides wäre nutzlos.

Die Männer waren schneller als sie, und die hübschen, alten Häuser auf den riesigen, gepflegten Gartengrundstücken waren zu weit von der Straße entfernt, als dass ihre Bewohner ihr hätten helfen können. Günstigenfalls würde man im Ernstfall ihre Schreie hören und telefonisch die Polizei alarmieren, aber bis zum Eintreffen eines Streifenwagens würden die Männer sie längst entführt haben.

Gekidnappt!

Als eine Andernach hatte sie von Kindesbeinen an mit dieser Drohung leben müssen. Ihr Vater hatte versucht, sie auf den Ernstfall vorzubereiten. Das Ganze war für Claudia ein Pauken lästiger Theorien gewesen, aber dahinter hatte stets die heimliche Angst gestanden, dass sie eines Tages gezwungen sein könnte, die Weisungen und Ermahnungen ihres Vaters zu befolgen.

Aber erst heute, zwei Wochen nach der Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres, erfüllte sich, was innerhalb der Familie so häufig be- und zerredet worden war. Ihr drohte eine Entführung.

Oder irrte sie sich? Wurde sie ein Opfer ihrer lebhaften Phantasie, und dichtete sie in die drei Gestalten etwas hinein, das gar nicht existierte?

Claudia erreichte ihren Wagen. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche. Ihre Hand zitterte kaum merklich. Ein plötzlicher Schweißgeruch ließ ihre Nasenflügel erbeben. Sie wandte den Kopf.

Der knochige Bursche stand direkt neben ihr. Auch die beiden anderen waren herangekommen, schweigend, ohne Eile und mit leeren, nichtssagenden Gesichtern, hinter denen sich jedoch eine düstere Entschlossenheit verbarg. Einer stand auf der gegenüberliegenden Wagenseite, der andere am Heck.

„Ja, bitte?“, fragte Claudia den Knochigen und war bemüht, ein Zittern in der Stimme zu vermeiden.

„Wir haben uns entschlossen, Sie zu begleiten“, höhnte der Mann. „Steigen Sie ein, los!“

„Was soll das heißen, was wollen Sie von mir?“, empörte sich Claudia.

Was für eine Frage! Sie wusste genau, worum es den Männern ging, aber natürlich stellte sie sich ahnungslos. Sie wollte Zeit gewinnen. Vielleicht geschah noch ein Wunder.

Der Mann öffnete den weinroten Lumberjack. In seinem Hosenbund steckte ein Revolver. Claudia schluckte, ihre Augen weiteten sich. Natürlich konnte es sich um eine Schreckschusswaffe handeln, aber das wollte sie gar nicht erst probieren. Obwohl sie nichts Anderes erwartet hatte, schockierte sie der Anblick der Waffe ebenso wie die Erkenntnis, dass es kein Zurück gab, keinen Ausweg, nur das Wissen um die eigene Ohnmacht.

„Wenn Sie nicht spuren, zeige ich Ihnen, wie das Ding funktioniert“, drohte der Mann.

Claudia registrierte erneut den starken Schweißgeruch des Mannes. Ihr wurde fast übel. Sie blickte an dem Burschen vorbei. Die ruhige, kastaniengesäumte Villenstraße erschien ihr wie ein Symbol des eigenen Lebens, das von Reichtum und scheinbarer Geborgenheit bestimmt worden war, aber die leere Straße charakterisierte auch Claudias augenblickliche Situation: Weder Reichtum noch Geborgenheit konnten sie vor dem Verbrechen schützen.

„Worauf warten Sie noch?“, raunzte der Knochige.

Claudia steckte den Schlüssel ins Türschloss. Genau in diesem Moment geschah es.

Schüsse krachten.

Zwei, drei, ein ganzes Dutzend.

Das wütende, jähe Bellen zerriss die noble Stille der Straße und zerrte schmerzhaft an Claudias strapazierten Nerven. Das hysterische, wilde Hämmern war von infernalischer Lautstärke und zutiefst erschreckend, es kam für Claudia wie ein Blitz aus heiterem Himmel, unerwartet und unerklärbar.

War dies das Wunder, das sie sich erhofft hatte? Oder war es nur der Auftakt zu Schlimmerem?

Claudias Kopf flog herum. Der Knochige machte einen Satz zur Straßenmitte hin, er riss die Waffe aus dem Hosenbund, aber noch ehe er dazu kam, die Heckenschützen zu bekämpfen, traf ihn etwas, er torkelte zur Seite, dann zuckte er erneut zusammen. Es schien fast so, als würde sein Körper von Stromschlägen geschüttelt, er brach zusammen und blieb liegen, ohne sich zu rühren.

Claudia war klar, dass sie sich flach auf den schmutzigen Asphalt werfen musste, um dem tödlichen Kugelregen zu entkommen, aber der Schreck lähmte sie, sie stand wie angewurzelt, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, ein Opfer von Schock und Entsetzen.

Der Mann auf der anderen Wagenseite war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Entweder hatte er sich hingeworfen, oder er war getroffen worden. Der Mann am Heck rannte davon, er sprintete die Straße hinab, aber schon nach zehn Metern erreichte ihn sein Schicksal, er wurde herumgewirbelt und stürzte kopfüber zu Boden.

„Weg von hier!“, schrie eine Stimme.

Es war der Mann, der auf der anderen Wagenseite gestanden hatte. Er öffnete die Beifahrertür und kroch in den Cooper, anscheinend war er verletzt.

Er war ein Verbrecher. Er war Claudias Feind. Er war einer von denen, die sie hatten entführen wollen, aber in diesem Augenblick war er ein Mensch, der Hilfe brauchte, und den sie möglicherweise vor einem grausamen Schicksal bewahren konnte.

Claudia riss die Tür auf und sprang in den Wagen, sie rammte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Der Motor sprang sofort an. Sie fuhr einen Mini Cooper in der stärkeren Ausführung mit 997 cm³ und der besseren Hydrolastic-Federung.

Eine Kugel riss das Dach auf. Claudia drückte den zweiten Gang hinein und nahm ihren Fuß so rasch von der Kupplung, dass der Cooper buchstäblich einen Satz machte. Claudia schaffte es gerade noch im Anfahren, ihre Tür zu schließen.

Ein weiteres, hartes Krachen riss das Karosserieblech am Heck auf, dann war nur noch das wilde Heulen der kleinen, überdrehten Maschine zu hören.

Claudia erreichte die nächste Kreuzung, riss das Lenkrad herum und hatte Mühe, nach dem Einbiegen der Gegenfahrbahn fernzubleiben. Sie sah das verdutzte, ärgerliche Gesicht eines Jaguarfahrers vorüberhuschen, dann hatte sie ihren Cooper wieder im Griff, sie schaltete hoch und verringerte gleichzeitig das Tempo, erst danach wagte sie es, den Kopf zu wenden und einen Blick auf ihren Beifahrer zu werfen.

Er hielt eine Hand auf seinen Schenkel gepresst. Durch seine Finger sickerte Blut.

„Ich bringe Sie zu einem Arzt“, entschied Claudia.

Er schaute sie an. „Quatsch, doch nicht wegen des Kratzers“, sagte er.

„Wer sind Sie - wer hat auf uns geschossen?“, fragte sie und bog in eine Querstraße ein. Sie hatte das Bedürfnis, sich im Zickzackkurs von dem Gefahrenherd zu entfernen, sie schaute auch in den Rückblickspiegel, aber da war niemand, der ihnen folgte.

„Wer auf uns geschossen hat?“, fragte der Mann. Er lachte plötzlich bitter. „Ihr Vater, wer denn sonst?“

Claudia lenkte den Cooper an den Straßenrand und stoppte. Sie stellte sogar den Motor ab. „Was sagen Sie da?“, murmelte sie verdutzt.

„Na ja. Nicht er persönlich - aber seine Leute“, sagte der Verletzte.

Claudia fand, dass er gut aussah. Er war sehr blass, sein Gesicht aber schmal und gut geschnitten, es hatte eine fast melancholische Eleganz und besaß gewiss die Eigenschaft, weibliche Blicke zu fesseln. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, der Mund war groß und beinahe feminin, seine Mundwinkel waren herabgezogen, sie wurden von Schmerz, Enttäuschung und dumpfer Wut belastet.

„Sie haben den Verstand verloren!“, murmelte sie.

Gleichzeitig stellte sie sich die Frage, ob der junge Mann am Ende nicht doch recht haben mochte.

Ihr Vater beschäftigte eine sogenannte Privatpolizei, er ging niemals ohne Leibwächter aus und würde sehr erbost reagiert haben, wenn jemand ihm vorzuwerfen versucht hätte, dass seine Gepflogenheiten sich kaum von denen eines Unterweltbosses unterschieden.

Für Stefan Andernach war Besitz mit vielerlei Verpflichtungen verbunden. Er war entschlossen, ihn mit allen Mitteln zu verteidigen und sah in seiner kleinen, gut gedrillten Privatarmee ein durchaus notwendiges und legitimes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks.

Claudia wurde wiederholt von den Männern dieser kleinen Truppe beschattet, nicht regelmäßig, aber sporadisch. Sie wehrte sich dagegen, weil sie sich von den in Zivil auftretenden Wächtern in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihrem Tun beengt fühlte, aber es wäre sinnlos gewesen, ihren Vater darum zu bitten, diese Aktionen zu stoppen.

Stefan Andernach liebte seine Tochter und wollte sich nicht eines Tages dem Vorwurf aussetzen müssen, zu wenig für die Sicherheit seines einzigen Kindes getan zu haben.

„Wir hatten seit langem das Gefühl, dass die Schweine von unserem Vorhaben Wind gekriegt haben“, sagte der junge Mann schwer atmend. Er löste die Hand von seiner Hose. Die Finger waren blutverschmiert. Er presste sie erneut auf die Wunde und fuhr fort: „Natürlich hätte Andernach zur Polizei gehen können, es wäre kein Problem für ihn gewesen, uns ganz legal hochgehen zu lassen, aber das gefiel ihm nicht, er wollte ein Exempel statuieren.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Claudia verwirrt.

„Er wollte nicht nur uns eine Lektion erteilen. Die ganze Berliner Unterwelt soll begreifen, dass es sinnlos ist, Claudia Andernach zu entführen. Ein Unterfangen, das nur mit dem Tod der Entführer enden kann.“

„Ich kann das nicht glauben, das - das wäre ungeheuerlich“, flüsterte Claudia. „Mein Vater würde niemals so einen ... einen Privatkrieg auf offener Straße beginnen. Am helllichten Tag eine Schießerei in einer der ruhigsten Wohngegenden Berlins!“

Der junge Mann starrte ihr in die Augen. „Sie kennen ihn. Er schreckt vor nichts zurück.“

„Er ist mein Vater, er liebt mich ...“

„Stimmt“, nickte der junge Mann grimmig, „und deshalb erteilte er diesen Mordbefehl. Natürlich wird man weder ihm, noch seinen Leuten beweisen können, was geschehen ist, er wird sich hüten, die Wahrheit unters Volk zu bringen, und die Zeitungen werden so tun, als seien wir nur die Opfer einer gewalttätigen Auseinandersetzung unter Verbrechern geworden. Oh nein, keinem Menschen wird es einfallen, den mächtigen, respektierten Stefan Andernach zu verdächtigen! Er hasst das Verbrechen, nicht wahr? Er hasst den Mord, aber Verbrechen und Mord sind ihm durchaus recht, wenn es darum geht, den eigenen Besitzstand zu wahren.“

„Sie saugen sich das aus den Fingern, Sie suchen nach einer Erklärung für diese wahnsinnige Schießerei“, sagte Claudia, „aber Sie vergessen, dass Sie sich mitschuldig gemacht haben. Sie wollten mich entführen. Ihnen musste klar sein, welche Risiken Sie damit eingingen.“

„Stecken Sie mir eine Zigarette an”, sagte er.

Claudia befolgte die Aufforderung, zögerte jedoch plötzlich, dem jungen Mann das Mundstück zwischen die Lippen zu schieben, es trug das Rot ihres Lippenstiftes, an ihm haftete ein Hauch ihrer Persönlichkeit, fast schon ein Stück Intimität.

„Worauf warten Sie noch?“, fragte er barsch.

Claudia überließ ihm die Zigarette, dann zündete sie sich selbst eine an. Ihr war ziemlich blümerant zumute, und das lag nicht nur an den Perspektiven, die die Anschuldigungen des Mannes ihr eröffneten, es lag auch an der Erkenntnis, dass sie mit knapper Not dem Tod entronnen war. Nein, weder ihr Vater noch die Männer seiner Truppe würden ein solches Unternehmen gewagt haben, schließlich hatte sie im Mittelpunkt des Geschehens gestanden und hätte leicht verletzt oder getötet werden können. Sie sagte dem jungen Mann, was sie dachte, aber er schüttelte nur den Kopf und erwiderte: „Sie vergessen, dass es sich um geschulte Scharfschützen handelte. Sie waren keine Sekunde lang ernsthaft gefährdet.“

„Ein Querschläger hätte mich treffen können!“, wandte sie ein.

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Das ist reine Spekulation.“

„Es ist so spekulativ wie Ihre Anwürfe!“

„Er steckt hinter der Geschichte, mein Wort darauf“, sagte der junge Mann. „Fahren Sie weiter.“

Sie schaute ihn an. Sie hatte ihn gerettet. Wie konnte er es unter diesen Umständen wagen, ihr Befehle zu erteilen?

„Sie sind verletzt“, stellte sie fest. „Sie sind auf meine Hilfe angewiesen. Oder sollte ich sagen: Auf meine Gnade?“

Er erwiderte ihren Blick, dann zog er mit seiner Linken langsam, beinahe genüsslich, eine Pistole aus der Innentasche seines Sportsakkos. „Sehen Sie mal, was ich hier habe“, sagte er. Er richtete die Waffenmündung auf ihr erschreckt klopfendes Herz.

Claudia erstarrte. „Das ist nicht fair ...“, murmelte sie und war sich bewusst, wie töricht ihre Bemerkung war. Verbrecher kannten nicht den Begriff der Fairness, sie wollten nur den Erfolg, um jeden Preis.

„Fair! Ist Ihr Vater fair?“, höhnte der junge Mann.

„Ich kümmere mich nicht um seine Geschäfte, aber ich glaube nicht, dass er imstande wäre, eine wirkliche Gemeinheit zu begehen“, sagte sie.

„Er hat meine Freunde erschießen lassen.“

„Das reden Sie sich ein!“

„Wer sonst sollte es getan haben?“

„Das dürfen Sie mich nicht fragen. Stecken Sie endlich das scheußliche Ding weg!“

Er schob die Waffe zurück in die Tasche. „Fahren Sie los“, sagte er.

„Wohin?“

„Irgendwohin. Nein, warten Sie. Stoppen Sie in der nächsten Querstraße. Ich sage Ihnen, wo.“

Wenige Sekunden später hielten sie hinter einem VW-Bully. Der junge Mann zog den Zündschlüssel ab und nahm ihn an sich. „Damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen“, sagte er und stieg aus. Er humpelte zu dem Bus und wandte sich abrupt um, als er hörte, wie sich die Fahrertür des Coopers öffnete. „Nicht doch“, sagte er. „Eine Kugel ist in jedem Fall schneller als Sie.“

Claudia resignierte. Sie sah zu, wie der junge Mann die Tür des grauen VW-Busses öffnete und kurz unter dessen Armaturenbrett herumfummelte. Es lag auf der Hand, dass er versuchte, das Fahrzeug kurzzuschließen. Schon Sekunden später sprang der Motor an.

Der junge Mann winkte Claudia zu. „Sie fahren“, entschied er laut.

Claudia kletterte aus dem Cooper und stieg in den VW-Bus. Sie hoffte, dass der Fahrer auftauchen und sich dem Diebstahl seines Wagens widersetzen würde, aber niemand zeigte sich, auch in dieser Straße herrschte eine fast bleiern anmutende Stille, die nachmittägliche Hitze ließ es den Anwohnern geraten erscheinen, den Bereich ihrer kühlen Räume nicht zu verlassen.

„Was soll das Ganze?“, fragte Claudia, nachdem sie losgefahren waren.

„Man wird den Cooper suchen“, sagte der junge Mann. „Selbst, wenn das nicht der Fall sein sollte, würden wir Gefahr laufen, von den Bullen gestoppt zu werden. Schließlich sind die Einschüsse nicht zu übersehen.“

„Wohin?“, fragte Claudia und hielt an einem Stoppschild. Ein Streifenwagen kam ihnen mit Blaulicht und heulendem Martinshorn entgegen. Es war klar, dass er sich auf dem Weg zu der Straße befand, in der die Schießerei stattgefunden hatte.

„Stadtwärts“, sagte er.

Claudia erreichte eine Hauptstraße und ordnete sich in den allmählich stärker werdenden Verkehrsfluss ein. Obwohl sie wusste, dass ihr Begleiter bewaffnet war, hatte sie keine Angst vor ihm. Sie fragte sich, weshalb das so war, fand darauf aber keine schlüssige Antwort.

„Was macht Ihr Bein?“, fragte sie.

„Ein Streifschuss. Die Wunde blutet kaum noch“, winkte er gelassen ab.

„Und die anderen?“

„Ich weiß es nicht. Sie sind tot, nehme ich an“, erklärte er und hob das Kinn.

„Ihr Ende scheint Ihnen nicht sehr nahe zu gehen“, stellte Claudia fest.

„Richtig. Ich fühle nichts dabei“, gab er zu.

Claudia schaute ihn an. Was er sagte, passte nicht zu dem Eindruck, den er machte, am allerwenigsten zu seinen dunkelbraunen Augen, die eher sanft, als hart oder grausam wirkten.

„Es waren Ihre Freunde“, sagte sie.

„Nein, das waren sie nicht.“

„Nun gut, Ihre Komplizen.“

„Ich muss verrückt gewesen sein, mich auf diese Geschichte einzulassen“, sagte er.

„Sie können wieder heraus – ich helfe Ihnen dabei“, sagte Claudia.

Er musterte sie von der Seite. „Wie denn?“

„Ich bin bereit, in Ihrem Sinne zu handeln. Ich werde nicht gegen Sie aussagen, ich werde nicht einmal versuchen, Sie zu identifizieren.“

„Das ginge auch gar nicht“, meinte er. „Ich stehe in keiner Kartei, ich bin nicht vorbestraft.“

„Trifft das auch auf Ihre Freunde zu – auf Ihre Komplizen, meine ich?“, fragte Claudia verblüfft.

„Nein, die haben einiges auf dem Kerbholz, aber Ihre Entführung sollte das erste wirklich große Ding werden, das sie erfolgreich zu beenden hofften. Sie haben sich getäuscht. Stefan Andernachs Söldner haben ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

„Mein Vater hat damit nichts zu tun!“

„Das weiß ich besser!“

„Sie sehen nicht aus wie ein Verbrecher“, sagte sie.

„Ich bin auch keiner, aber ich fange an, einer zu werden“, meinte er.

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ich bin in diese Sache hineingeschlittert, ich habe mich dagegen gewehrt, ich wollte nicht mitmachen, aber die Umstände waren stärker als ich. Ich verlange nicht, dass Sie mir glauben, aber ich möchte Ihnen erklären, weshalb ich jetzt wie die anderen denke, und warum ich fortsetzen werde, was sie begonnen haben.“

Claudia umspannte das Lenkrad ganz fest. Sie ahnte, was nun folgte. Der Mann an ihrer Seite sprach weiter.

„Wir wollten nicht töten, sondern entführen. Wir wollten auf kriminelle Weise zu Geld kommen, zugegeben. Ihr Vater hat davon Wind gekriegt, der Teufel mag wissen, wie. Er reagierte schnell und tat genau das, was keiner von uns wollte oder gewagt hätte: Er ließ töten. Er ließ uns in die Falle laufen und wie die Hasen abschießen. Dafür wird erzählen müssen ...“

„Wenn Sie recht haben, wenn es so ist, wie Sie sagen, und wenn mein Vater eine Blutschuld auf sich geladen haben sollte, wäre ich die erste, die ihm das vorwerfen und die daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen würde ...“

„Konsequenzen!“, höhnte er. „Wie würden die wohl aussehen? Indem Sie mit ihm schmollen? Oder ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger drohen? Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Sie sind eine Andernach. Sie stehen zu Ihrem Vater, was auch geschehen sein mag und noch geschehen wird.“

„Lassen Sie mich mit ihm sprechen. Ich kann ihn anrufen, aus irgendeiner Telefonzelle.“

„Machen Sie Witze? Natürlich würde er bestreiten, die Sache organisiert zu haben.“

Claudia fand, dass es keinen Sinn hatte, mit dem jungen Mann zu streiten. Er war offenbar durchdrungen von der Überzeugung, dass die Wachleute ihres Vaters den Feuerüberfall provoziert hatte. Claudia wehrte sich gegen diese Auffassung, sie hielt sie für dumm und falsch, aber es war zwecklos, weitere Worte darüber zu verlieren.

„Ich weiß nicht einmal, wie ich Sie ansprechen soll“, meinte sie.

„Ich heiße Boris.“

„Boris? Hübsch erfunden“, sagte sie.

„Der Name stimmt“, knurrte er, dann fügte er plötzlich stöhnend hinzu: „Mann, sitze ich in der Scheiße!“

„Wovor haben Sie Angst? Etwa vor mir? Ich werde keine Anzeige gegen Sie erstatten, nicht, wenn Sie mich laufenlassen“, sagte Claudia. „Zwei Tote sind eine größere Strafe, als der Entführungsversuch sie verdient ...“

„Gut, dass Sie das einsehen. Ich muss das Ihrem Vater heimzahlen.“

Sie schaute ihn an. „Wie denn? Indem Sie mich töten?“, fragte sie herausfordernd.