„Im fast leeren Flugzeug rückte ich einen Sitz weiter zum
Fenster und blickte nach unten. Ich sah nur blau und grau, als wäre
kein Land, sondern ein Himmel unter mir. Tiefnebel, dachte ich,
oder ein düsteres Meer. Mit einem beunruhigenden Gefühl setzte ich
mich wieder auf meinen vorigen Platz, blickte kurz nach hinten und
bemerkte, dass der Mann die Augen geöffnet hatte und sie in dem
Augenblick, als ich ihn ansah, schloss. Mein Herz pochte. Etwas
schien mit ihm nicht zu stimmen.
Um mich abzulenken, schaltete ich meinen Handcomputer ein und
las die neuen Forschungsergebnisse über das Mikadovirus…“
Dr. Verdandi ist derart mit der Entwicklung eines Impfstoffs
gegen ein neuartiges und gefährliches Virus beschäftigt, dass er
die fremde Macht, die sein Wissen rauben möchte, zunächst nicht
bemerkt. Kann er dem Verderben, in das er gelockt wird, noch
entrinnen?
***
Das Rennen um einen neuen Impfstoff hatte begonnen. Das
Mikadovirus war zwar nicht absolut tödlich, aber ein paar der über
Siebzigjährigen waren an der Infektion gestorben. Ich wusste
bereits, dass wir den vorgegebenen Zeitrahmen für die Entwicklung
und Tests der Impfstoffe nicht einhalten könnten, und war mir
bewusst, dass die Volksvertreter die Massen mit Reden hinhalten
würden. Sie waren fast gezwungen zu lügen. Ansonsten gäbe es
Aufstände.
Das Virus veränderte sich auf eine merkwürdige Art. Es waren
nicht die üblichen Mutationen in der Erbinformation; nein, das
Mikadovirus wechselte seine Form und seine Oberfläche wie ein
Chamäleon seine Farbe oder wie ein Kaleidoskop die Muster. Deswegen
mussten wir in parallel mehrere Impfstoffe entwickeln. Es lagerten
bereits über hundert verschiedene RNA-Körper in den
Tiefkühlschränken. Die Kapazität des Laboratoriums kam die die
Grenzen, und, da wir unter sterilsten Bedingungen arbeiten mussten,
war es bisher unmöglich, zusätzlichen Arbeitsraum in der Nähe zu
finden.
Nachts grübelte ich und schlief lange nicht ein. Ich war
verantwortlich für die Impfstoffentwicklung in den ersten Phasen.
Manchmal fühlte ich mich so schwach, als wäre ich selbst infiziert,
als hätte sich meine Haut in heiße Stacheln verwandelt. Ich glaubte
bereits nicht mehr an logische Forschung.
Ich war aufgeregt, als ich mich am folgenden Tag auf dem Weg
ins Laboratorium und mein Büro befand. An diesem Tag sollten
detaillierte Strukturaufnahmen einer neuartigen Mikadovirusvariante
fertig sein.
Während ich die Aufnahmen des Elektronenmikroskops in meinem
Büro betrachtete, wuchs das Bild des Virus. Und plötzlich platzte
das Monsterwesen in Tausende von Teilchen. Neue Viren waren
entstanden und flogen aus dem Fotopapier. Es roch plötzlich nach
Fisch. Ich erschauderte und trat zurück. Niemand würde mir das hier
glauben. Ich musste mich zusammenreißen und dürfte auf keinen Fall
verrückt werden. Die Naturgesetze hatten sich offensichtlich
verändert. Das Mikadovirus vermehrte sich auf unvorstellbare Weise.
Papierfetzen und kranzförmige Krümel lagen auf dem Boden. Meine
Forschungsergebnisse waren unlesbar geworden.
Ich starrte aus dem Fenster in das düstere Mondlicht.
Meine Gedanken waren blockiert.
Deswegen war ich zunächst geistesabwesend, als mein
Handcomputer bimmelte. Langsam griff ich in die Hosentasche und zog
das Teil hervor. Eine Nachricht war auf dem Bildschirm erschienen.
Die Buchstaben flackerten, wurden kleiner, dann wieder größer und
wechselten von violett nach rot. Dann leuchteten immer nur einzelne
Buchstaben auf, so dass ich mich intensiv auf das Zusammenfügen der
Worte konzentrieren musste. So hatte ich auch vergessen, dass meine
Mitarbeiterin bereits im Labor neben meinem Büro arbeitete. Ich
ignorierte jedes Geräusch.
Konzentriert las ich, nachdem ich mich gesetzt hatte:
Wir sehen eine Möglichkeit mit Ihrer Hilfe das Mikadovirus zu
vernichten. Kommen Sie sofort. Nur Ihnen werden wir die Protokolle
zeigen – und vor allem – erzählen Sie niemandem von dem Inhalt
dieser Mail, sonst werden wir alles, die Protokolle, die Daten und
sonstiges Material vernichten. Sagen Sie einfach, eine alte
Kollegin, nämlich Dr. Keiko Umeda bräuchte dringend ihre Hilfe.
Warten Sie auf unsere Anweisungen und fliegen Sie nach Tokio. Dort
bekommen Sie auf dem Flugplatz weitere Nachrichten. Mehr verlangen
wir nicht.
Meine Finger zitterten. Der Text war verschwunden. Dann
erschien das Wort:
Seranninan.
Es blieb für ein paar Sekunden stehen. Mit stärkster
Gedankenkraft prägte ich mir das Wort ‚Seranninan‘ ein. War das der
Name des Absenders? Oder ein Ort? Nie zuvor hatte ich dieses Wort
gehört.