Wir hatten ein Haus am Charles River und einen Anteil an einem Sommerhaus auf Cape Cod. Wir waren in einem Abschnitt unseres Lebens, in dem die Jugend vorbei ist und das Alter noch nicht bedrohlich erscheint. Jetzt haben wir nichts mehr, was uns gemeinsam gehört, nur noch eine Bank im Public Garden. Bevor ich Boston endgültig verließ, beschloß ich, daß sie der Ort unserer künftigen Verabredungen sei. Wenn man von der Arlington Street den Park betritt, ist es die erste Bank auf dem Weg rund um den Swan Pond, die einzige ohne Lehne, und wenn ich auf ihr sitze, macht meine Vernunft dem magischen Glauben Platz, daß er zurückkommt, wenn die Kraft meines Wünschens nur stark genug ist. Dann schrumpft die ganze Stadt auf diese eine Bank zwischen den Weiden am Ende des Teichs, und ich sitze wie in einem Raum, der von einer anderen, dünneren Luft erfüllt ist, und bin in meiner Verlassenheit geborgen, als wäre ich der einzige Mensch auf diesem Planeten, und er säße so dicht neben mir, daß ich seine Nähe spüre. Hier gibt es keine Erinnerungen an Zwist und Verrat, hier sind nur die letzten kostbaren Stunden bewahrt, die wir zusammen hatten.
An unserem letzten Sonntag, dem letzten Tag im April, waren wir zum Brunch in Downtown Boston eingeladen. Wir saßen mit unserem Freund Philip und seiner um vierzig Jahre jüngeren Geliebten im ersten Stock des Four Seasons in einer Fensternische, und gegenüber, im Public Garden, waren die Bäume voller Knospen kurz vor dem Aufspringen. Wir saßen lange dort und redeten über alles mögliche, das ich vergessen habe, auch den Witz über den Tod, den Jerome machte, habe ich vergessen. Er machte ständig makabre, bittere Scherze über den Tod. Aber ich habe nicht vergessen, daß nur das junge Mädchen darüber lachte. Hast du es auch bemerkt, fragte er mich beim Fortgehen, sie ist die einzige von uns, die sich noch sicher genug fühlt, daß sie über den Tod lachen kann.
Auf dem Weg zum Auto war ihm nicht wohl. Er stand eine Weile an eine Hauswand gelehnt, damit die Übelkeit vergehe, und rang nach Luft. Und ich neckte ihn wegen der vielen Hummerscheren, die er geknackt hatte, und was er wohl einer jungen Geliebten, wie Philip sie hatte, sagen würde, wenn er so hinfällig an einer Mauer lehnte, um das üppige Frühstück zu verdauen. Dann wechselten wir zum Park hinüber, langsam, Schritt für Schritt, auf seine Atemnot bedacht, ich ging neben ihm wie neben einem Rekonvaleszenten im Spitalsgarten und dachte an das Alterwerden, das vor uns lag, aber es erschreckte mich nicht an diesem Frühlingstag, an dem das Grün hell und jung war, die Magnolien entlang der Commonwealth Avenue und die Hartriegelsträucher an den Backsteinfassaden blühten und die Sonne auf dem Teich glitzerte.
Wir setzten uns auf die Bank und schauten zu, wie ein Schwanenboot voller Kinder ablegte und auf seinem großen Bogen über den Teich auf unser Ufer zuhielt. An unser Gespräch erinnere ich mich noch genau. Wir redeten über den Anfang unserer Ehe und was uns im Lauf der Zeit verloren gegangen war, wir erinnerten uns an Reisen und die Wochenendausflüge an den Walden Pond, als ich mit Ilana schwanger war, und an die Celebrity Series in der Symphony Hall, die wir damals abonniert hatten. Wir erinnerten uns an einen Klavierabend von Vladimir Horowitz in den siebziger Jahren und an eines der letzten Konzerte von Jacqueline du Pre und dachten zum zweiten Mal an diesem Vormittag an den Tod. Wie schon seit langem nicht mehr machten wir Pläne. Wir nahmen uns vor, wieder regelmäßig Konzerte zu besuchen und im Sommer diesmal nicht nach Cape Cod zu fahren, sondern die drei Wochen im August im Acadia National Park in Maine zu verbringen. Er und Ilana waren einmal dort gewesen, als sie am Bard College studierte. Er hatte sie auf halbem Weg abgeholt, und sie waren nach Maine gefahren, nur er und sie. Es sei die schönste Reise seiner letzten zwanzig Jahre gewesen, sagte er oft.
Vorsichtig, zwischen den Sätzen, zeichnete sich ein neues Leben ab, wie das hauchzarte Gewebe eines leuchtenden Altweibersommers, ohne die Forderungen und Ausweichmanöver, die Ungewißheiten und das Warten auf später wie bisher. Du wirst sehen, sagte Jerome, es kann alles wieder so werden wie früher. Er redete, als hätten wir unendlich viel Zeit für einen Neubeginn. Ich wollte noch nichts mit allzu deutlichen Worten berühren, damit das Gespinst nicht, wie schon oft zuvor, unter dem Gewicht vergangener Kränkungen zerrisse, aber ich spürte zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Gewißheit, daß es uns dieses Mal gelingen würde. Wir würden das gemeinsame Leben wieder aufnehmen. Jetzt kannst du loslassen, dachte ich, jetzt kannst du aufhören zu fürchten, daß ihr euch ohne Vorwarnung wieder entzweit. Jetzt wird alles so werden, wie es von Anfang an vorgesehen war, und es eilt nicht mehr. Denn was sind Wochen oder Monate, wo du Jahre auf diesen Augenblick, in dem eure Wege wieder zusammenfinden, gewartet hast?
Kannst du dir vorstellen zu bleiben? fragte er. Ein wenig länger als sonst, wenn du im Sommer zurückkommst?
Ich nickte.
Vielleicht sollten wir doch wieder heiraten? Er warf mir einen fragenden Blick zu. Ich muß ihn erschrocken angesehen haben, denn er sagte schnell und leichthin: Wegen der Steuern und so. Nach einer Pause fügte er hinzu: Es muß ja nicht schon in diesem Sommer sein.
Im November, sagte ich, komme ich für länger, vielleicht ein halbes Jahr, dann sehen wir weiter.
Im November, wiederholte er, als versuchte er sich an etwas zu erinnern, und legte seine warme breite Hand auf meine. Wir waren nach fünfzehn Jahren zueinander zurückgekehrt und waren nicht mehr auf der Flucht und auf der Suche, aneinander vorbei und voneinander weg. Ich ahnte nicht, daß seine Gelassenheit vielleicht Erschöpfung war und sein Bedürfnis nach Nähe die Angst vor dem Tod.
Später fuhren wir zum Flughafen, und er hielt kurz im Parkverbot. Wir umarmten uns, lange, und wenn ich mich jetzt genau erinnere, mit einer Spur Verzweiflung, aber vielleicht kommt es mir nur mit dem Wissen vom Ende her so vor, so als wollte er mich nicht fortlassen. Wir küßten uns, zärtlich, vertraut, ohne Verlangen, und Jerome flüsterte: Bis zum nächsten Mal, dann wollen wir auch wieder miteinander schlafen. Ich drückte ihm einen letzten Kinderkuß auf den Mund, wie bei jedem Abschied und jedem Wiedersehen, und lachte, und mit diesem Lachen ging ich weg, drehte mich an der Eingangstür noch einmal um und winkte, er stand am Heck seines blauen Toyotas und schaute mir nach, und während ich in der Abflughalle zum Check-In-Schalter ging, fühlte ich mich so jung und geliebt, als wäre ich zwanzig und wir hätten uns vor kurzem erst kennengelernt.
Das Flugzeug stieg in einen wolkenlosen Abendhimmel auf, gab einen langen Blick auf den Hafen und die vertraute Skyline frei, auf den glitzernden Saum des Meeres, während die Küste sich im Dunst auflöste. Es flog über den langen gekrümmten Haken von Cape Cod in die Dunkelheit, wo nur mehr der Leuchtturm von Provincetown blinkte. Ich hielt mich mit den Augen an der Landschaft fest, als könnte ich das Flugzeug mit der Kraft meines Willens hinunterziehen, als könnte ich den Lauf der Dinge aufhalten, aussteigen, bleiben. Wir haben an jenem Tag so viel mehr gespürt, als wir wußten, aber wie immer haben wir unsere Gefühle und Ahnungen nicht ernst genommen.
II
Drei Tage im Mai
Ich hatte geglaubt, ich sei von früheren Verlusten her vertraut mit der Dunkelheit, in die man unter dem Griff des Todes Stufe für Stufe hinuntergezwungen wird, aber jedesmal ist es anders. Zuerst kommt das sich Aufbäumen, denn man stößt mit dem Tod zusammen und trägt die ganze Kraft des noch ungebrochenen Lebens in diese Kollision hinein. Es beginnt mit der Todesnachricht mitten an einem angenehm bedeutungslosen Tag, und man glaubt sie nicht, weil das Unvorstellbare noch keinen Platz im Leben hat. Man verrichtet etwas, das man normalerweise am Ende des Tages bereits vergessen hätte. Nun aber wird man sich das ganze Leben lang daran erinnern, daß man gerade das Geschirr gespült und mit halbem Ohr Radio gehört hat, aber jedesmal wird man es mit dem Schwindelgefühl vor dem Abgrund tun, der im nächsten Augenblick die vertraute Welt verschlingt.
Dad hat uns verlassen, sagt unsere Tochter, und trotz des transatlantischen Rauschens in der Leitung erkenne ich am Klang ihrer Stimme beim ersten Wort, daß etwas Schreckliches passiert ist. Aber ich verweigere mich dem Wissen.
Wie meinst du das? frage ich.
Dad ist gestorben, schreit sie mit erstickter Stimme, versteh doch, er ist tot!
Nein, sage ich. Nein, das kann nicht sein, wir haben doch gestern abend erst telefoniert.
Im Hintergrund höre ich die Katzen, sie miauen, als hätten sie tagelang nichts zu fressen bekommen. Füttert denn niemand die Katzen? frage ich in meinem verzweifelten Beharren auf einem normalen Alltag. Aber Ilana geht nicht darauf ein, sie ist schon weiter, vor ein paar Stunden hat sie die erkaltende Wange ihres Vaters geküßt.
Während ich mich noch mit aller Kraft gegen die Wahrheit stemme, beginnt bereits dieses sinkende Gefühl, als fiele mein Kopf mit allen Gedanken, danach mein Körper an mir vorbei in eine bodenlose Tiefe, und ich erwarte von der Überbringerin der Unheilsnachricht, daß sie mich rettet, daß sie sagt: Falscher Alarm, ich habe mich geirrt.
Der Tod gehört zum Leben, sagen die Leute, die keine Ahnung haben, weil es tröstlich klingt, aber es stimmt nicht. Er ist das Undenkbare, die uneinholbare, fremdeste Fremdheit, und deshalb sage ich im ersten Augenblick, in den ersten Stunden: Nein. Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht. Als Ilana sagt, das Begräbnis ist übermorgen, denke ich: Jerome und Begräbnis, in einem Atemzug? Welche absurde Idee, das klingt, als sei es einer seiner makabren Scherze. Die anderen Sätze nehme ich widerstrebend hin, zusammengebrochen, Spital, ja, aber nicht Begräbnis. Andere Leute werden begraben, alte Leute, alles, nur nicht Begräbnis.
Was soll das heißen, übermorgen? frage ich verständnislos.
Das geht mir zu schnell, das ist zu nah und zu groß, es paßt in meinen Kopf nicht hinein, man muß mir Zeit geben.
Rabbi Schaefer macht das Begräbnis, sagt Ilana, und morgen ist Schabbat.
Jerome und Rabbi Schaefer? Eine weitere Absurdität. Ein ungläubiger Jude und ein frommer Rabbiner. Vor vielen Jahren, als wir nach Dedham zogen, gingen wir jeden Freitag abend in eine andere Synagoge, aber wir konnten uns nicht einigen, wo wir uns als Mitglieder eintragen lassen wollten. Rabbi Schaefers Schul gefiel jerome, sie gab ihm das Gefühl, in seine Kindheit zurückzukehren, inmitten alter Männer, Emigranten aus Osteuropa, die Jiddisch in ihr singendes Englisch mischten. Die sind zumindest authentisch, sagte er, ein Betstiebl im Stetl, wie im neunzehnten Jahrhundert in the old country. Jerome kannte außer dem Kaddisch, das er zur Jahrzeit seiner Eltern sagte, kein einziges Gebet mehr, und sein Hebräisch bestand aus den Resten seines Bar Mizwa Unterrichts vor fünfzig Jahren, aber das störte ihn nicht, er bewegte die Lippen und wiegte den Kopf, stand mit den andern auf und setzte sich mit ihnen, er war der Jüngste und verstand es, an ihre väterlichen Gefühle zu appellieren. Ich wollte nicht in der Frauenabteilung hinter einem Vorhang sitzen, deshalb fanden wir für die Hohen Feiertage eine liberale Gemeinde mit einer Rabbinerin. Hier beteten und sangen Männer und Frauen gemeinsam in einer modernen Synagoge, die Hunderte von Besuchern faßte, nur Jerome störte die Andacht, indem er mit boshaftem Vergnügen sarkastische Bemerkungen vor sich hinmurmelte. Unter Seinesgleichen fühlte er sich als Außenseiter, er mißtraute ihrer Aufrichtigkeit. Die Bourgeoisie erschrocken, wie er es nannte, war ein Vergnügen, das er sich nie verkneifen konnte, wenn er sein Gegenüber humorloser Aufgeblasenheit vedächtigte. Aber wenn Rabbi Schaefer an einem Wochentag um die Zeit des Ma’ariv-Gebets anrief, und das kam immer öfter vor, weil seiner schwindenden Gemeinde die Männer wegstarben und keine jüngeren hinzukamen, stand Jerome sogar während des Abendessens auf und fuhr die kurze Strecke zur Synagoge. Warum machst du das, fragte ich? Weil ich ein Lamed Vav werden will, antwortete er halb im Scherz.
Jetzt erst trifft mich die volle Wucht der Nachricht. Mit der unsinnigen Gedankenverbindung Jerome, Rabbi Schaefer und Begräbnis steigt eine erste Ahnung der Endgültigkeit dessen, was geschehen ist, in mir auf. Sie kommt von Draußen, aus einer Welt hinter einer hohen undurchdringlichen Mauer, außerhalb des Menschlichen, unmenschlich. Es ist die erste Stufe auf dem langen Weg in die Nachbarschaft des Todes.
Sei tapfer, mein Schatz, sage ich zu Ilana, und weiß, daß es eine sinnlose Floskel ist, was ich da sage. Daß jeder Satz, der mir einfällt, mißlingen muß. Vor dem Tod verlieren die Wörter ihren Sinn, nur das Schweigen ist angemessen. Ich beneide sie um ihre Tränen. In mir breitet sich eine Kälte aus, daß mir die Zähne aufeinanderschlagen.
Ich glaube es nicht, nicht wirklich, aber wie ein Roboter, mit der Klarheit, die mich von mir selber abtrennt, tue ich, was notwendig ist, rufe Freunde an, rufe das Reisebüro an, hole den Koffer unter dem Bett hervor und weiß nicht, was ich hineintun soll. In meiner Vorstellung bleibt das Bild unangetastet, wie er am Logan Airport mit seinem Toyota an den Gehsteig heranfahren und aussteigen wird, um mich zu umarmen und zu küssen und den Koffer zu verstauen. Und während mein Verstand weiß, daß ich ankommen werde und er nicht da sein wird, erwartet eine blinde, unbelehrbare Gewißheit, die sich von mir losgemacht hat, daß es so sein wird wie immer.
Am Abend denke ich, du mußt essen, du hast seit dem Morgen nichts gegessen, es kommen schwere Wochen auf dich zu. Und weil ich aufbrechen und alles Verderbliche wegwerfen muß, stelle ich auf den Tisch, was im Kühlschrank ist, gebratenen Fisch und Avocados mit Eiern und Zwiebeln, aber die Avocados schmecken wie Sägespäne und der Fisch geht auf wie Hefe. Ich werde viele Tage nichts essen können, und es wird Monate dauern, bis ich das, was ich hinunterwürge, wieder schmecken kann. Der Körper begreift schneller als das Bewußtsein. Der Körper ist in Aufruhr, er läßt keinen Schlaf zu, nicht eine Minute, will sich schier auflösen, von innen nach außen stülpen, er ist von einem unkontrollierbaren Zittern befallen, das Herz rast, als hetze man es zu Tode, selbst das Weinen ist ein krampfartiger Reflex.
Wir haben uns nicht auf Wiedersehen gesagt, sein letzter Satz am Flughafen begann mit Next time. Von nun an werden die zufälligen Dinge, die mir begegnen, zu Symbolen, sie bekommen eine unheimliche Bedeutung, aber sie verweisen nirgendwohin. Es ist Samstag, und ein Flugzeug der El Al steht neben der Lufthansa-Maschine, in der ich denselben Weg zurückfliegen werde, den ich vor wenigen Tagen gekommen bin. Obwohl ich weiß, daß es purer Zufall ist, der nichts bedeutet, reißt die Erinnerung einen Abgrund auf, vor dem mir schwindelt: Wir haben uns in einem El Al-Flugzeug kennengelernt.
Es war meine erste Reise nach Israel, ich flog einem Zwanzigjährigen nach, in dessen Gitarrespiel ich mich verliebt hatte und dem ich seither sehnsüchtige Briefe schrieb. Jerome und ich waren vor dem Check-In Schalter in Heathrow ins Gespräch gekommen. Er hatte mich mit seiner absurd spitzfindigen Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes zum Lachen gebracht. Aber keine Sorge, tröstete er mich, ich halte das Flugzeug schon mit der geballten Kraft meiner Konzentration in der Luft, nur schade, daß El Al keine kostenlosen Spirituosen ausgibt. Der breite, nachlässige Bostoner Akzent fiel mir auf, ich war an britisches Englisch gewöhnt. Und sein petrolfarbenes Hawaiihemd mit den Wassernymphen wirkte, als hätte er es darauf angelegt, lächerlich zu erscheinen. Er war kleiner als ich, stämmig, ohne dick zu sein, und von einer Herzlichkeit, die keine Verlegenheit, aber auch keine erotische Spannung zwischen uns aufkommen ließ. Auf unseren Wunsch bekamen wir nebeneinander Sitzplätze. Ich erzählte ihm von Gary und daß er meine große Liebe sei und ich zu ihm wolle, daß es mir egal sei, ob er dort eine Freundin habe, denn wir seien füreinander bestimmt. Es fiel mir nicht auf, daß ich mich im selben Atemzug bitter über den Mann, den ich liebte, beklagte, er beantworte meine Briefe nicht, er schreibe mir kühle Aerogramme mit Listen von Dingen, die ich ihm schicken solle, Gitarresaiten, Noten, einen Rucksack, einen Schlafsack, Bücher.
Hat Ihr Bob Dylan in spe schon einmal etwas anderes für Sie getan, als Geschenke anzufordern? fragte Jerome.
Ich stutzte, verneinte, beeilte mich zu beteuern, daß mir das nichts ausmache.
Wenn ich das richtige Mädchen finde, sagte Jerome, dann wird sie meine Königin sein. Ich werde ihr alle Wünsche erfüllen und alles tun, um sie glücklich zu machen. Wie viele T-Shirts haben Sie denn mit? wollte er wissen.
Fünf, sagte ich.
Und wie viele Röcke, wie viele Sommerkleider, wie viele Paar Sandalen?
Nur die Jeans, die ich anhabe, gab ich zu.
Sie müssen ihn verführen, riet er mir, aber nicht mit Gitarresaiten. Sie müssen sich hübsch machen. Sie können nicht davon ausgehen, daß Sie geliebt werden, bloß weil Sie da auf tauchen und sagen, hier bin ich. Sind Sie überhaupt Jüdin?
Ich verneinte.
Auch das noch, rief er in gespieltem Mitleid.
Ich ärgerte mich über seinen Spott und sagte, daß ich ihn eigentlich weder um seinen Rat noch um seine Meinung gebeten hätte. Dann schwiegen wir. Als der weiße Sandstrand und die flachen Dächer von Tel Aviv in Sicht kamen, fragte ich ihn, wie er sich fühle. Wie Moses auf dem Berg Nebo, sagte er und lachte, aber in seinen Augen standen Tränen.
Wir verabschiedeten uns in der Ankunftshalle, einer großen provisorischen Baracke, die der Flughafen von Lod damals noch war, lange bevor er Ben Gurion-Airport hieß. Jerome schrieb mir die Adresse des Kibbuz auf, in dem er einen Sommer lang als Volontär arbeiten würde. Dort würde er sich verlieben, aber das ahnte er noch nicht, und obwohl diese Liebe nicht von Dauer sein würde, sollte sie eine lebenslange Sehnsucht hinterlassen.
Just in case, sagte er und drückte mir den Zettel in die Hand: Wenn Sie etwas brauchen.
Im Unterschied zu Gary, dem ich mich aufdrängte, vergeblich, wie sich bald herausstellen sollte, strahlte Jerome eine unerschütterliche Verläßlichkeit aus. Ich wäre gern ein wenig länger in seinem Schutz weitergegangen, als wir unvermittelt in die blendende Hitze eines israelischen Juninachmittags hinaustraten. Ich schrieb ihm meine Adresse in Yorkshire auf: Für den Fall, daß Sie in nächster Zeit wieder einmal nach England kommen.
Ein unwahrscheinlicher Fall, sagte er und lachte, aber er nahm den Zettel.
War es Liebe auf den ersten Blick? hatte Ilana ihren Vater einmal gefragt. Auf den zweiten, hatte er diplomatisch geantwortet. Auf mich wirkte er wie der große Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte, von dem man sich mit einem freundschaftlichen Klaps verabschiedet, ohne sich fragen zu müssen, ob er danach noch an einen denkt.
Noch bevor wir einander liebten, waren wir einander wie Geschwister vertraut.
Wo wollen Sie jetzt hin? fragte er.
Zum Busbahnhof, sagte ich.
Werden Sie das schaffen, ganz allein?
Klar, prahlte ich. Sie haben keine Ahnung, wo ich schon überall war.
Na dann, viel Glück! Er ließ mich stehen und stieg in den Kibbuz-Jeep, der auf ihn wartete. Aber aus dem Fenster des anfahrenden Autos winkte er mir noch einmal zu.
Der Anfang unserer Liebe war noch Jahre entfernt, Liebschaften und Trennungen von Männern, an die ich mich nur mehr undeutlich erinnere, liegen dazwischen. Es war eine flüchtige Bekanntschaft im Flugzeug, wie man sie ständig macht, wenn man jung und neugierig ist.
Es ist Schabbat und das El Al-Flugzeug wird heute am Boden bleiben. Will Jerome mich mit dem Anblick trösten, frage ich mich, will das Unheimliche, das in mein Leben eingebrochen ist, mir bedeuten, daß alles, was damals begonnen hatte, nun zu Ende gegangen ist? Es ist ein Zufall, sage ich, es gibt keine Botschaft.
Der Ausläufer eines Hurrikans fegt über Massachusetts hinweg und verzögert die Landung. Warum kribbelt diese Ungeduld anzukommen in mir, so als dürfe ich Jerome nicht warten lassen? Seine Gegenwart füllt mich so vollkommen aus, als flöge ich zu unserer Hochzeit. Aber nicht an unsere eigene Hochzeit erinnere ich mich, sondern mir fällt die junge Frau ein, neben der ich bei meinem ersten Flug nach Amerika saß. Sie war neunzehn und flog zu ihrem Verlobten nach Texas. Den ganzen Raum zu ihren Füßen nahm ein großes, altmodisches Radio ein, ein glänzender brauner Kasten mit Stoffbespannung und einer Reihe gelblicher Tasten. Mit diesem Ungetüm war sie auf Shannon Island in das Flugzeug der Air Icelandic umgestiegen, und in New York würde sie noch einmal umsteigen. In Texas würde sie draufkommen, daß das Radio mit einer anderen Netzspannung nicht funktionierte. Was wohl aus ihr geworden ist, denke ich flüchtig, auch sie ist inzwischen sechzig. Meine Gedanken springen nervös hin und her und lassen sich auf nichts ein, ein wilder Schwarm in meinem Kopf.
Ilana und Jeromes Bruder Harold holen mich ab, wir umarmen uns schweigend, tränenlos, geschlagen, wie nach einem verlorenen Kampf Ein Regenguß nach dem anderen stürzt vom Himmel, und es ist kalt. Wir fahren durch eine sich in Nebel und Regen auflösende Landschaft zu einem leeren Haus. Der Schwager redet von Vorbereitungen, in weniger als vierundzwanzig Stunden wird ein Begräbnis stattfinden, es klingt wie ein briefing, die zusammengefaßten Informationen zu einer bevorstehenden Konferenz, und mein Kopf nimmt die Einzelheiten nicht auf, sie gehen im Rauschen des überfluteten Highway unter. Wenigstens für Ilana sollte ich die richtigen Worte finden, aber ich habe eine unerklärliche Scheu vor ihr. Sie sitzt schweigend auf dem Rücksitz und hat ihre Hand auf meine Schulter gelegt. Gut, daß du da bist, sage ich, und halte die Hand fest, die noch immer zart und glatt wie eine Mädchenhand ist. Ihr Verlust ist der größte, denn sie stand Jerome am nächsten, von klein auf. Die Anhänglichkeit war gegenseitig und von keiner Krise, keinem Zweifel und keinem Verrat getrübt. Ich erinnere mich an eine Fourth of July-Parade, als Ilana elf Jahre alt war, sie hatte genug gesehen und wollte heim, aber Jerome war einen ganzen Häuserblock weit von uns entfernt und hinter den Absperrungen drängten sich die Menschen. Ruf ihn, sagte ich zu ihr. Dad, rief sie mit ihrer hellen Kinderstimme, nur diese eine Silbe, und er drehte sich ohne zu zögern nach dieser Stimme um, als wäre es der einzige Name, auf den er je gehört hatte. Hunderte Kinder waren auf der Straße und lärmten, aber er hörte ihre Stimme unter allen andern heraus. Es gab nur einen Menschen, der mit dieser vertrauten Silbe nach ihm rufen konnte. Für die beiden war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, nur ich erinnere mich daran als einen der schönsten Augenblicke unserer gemeinsamen Jahre. Wenn ich sie ansehe, finde ich Jeromes Züge in ihrem Gesicht, seine graugrünen, tiefliegenden Augen, die schmale, gerade Nase, das Kinn mit dem Grübchen.
Später erzählt sie mir von den Stunden, als der Tod ihres Vaters in ihr Leben einbrach: der Anruf seines Freundes Leslie, Jerome sei zusammengebrochen und ins Mass General Hospital gebracht worden, ihre überstürzte Fahrt zum Spital, wie sie in einen Stau geriet und das Auto entlang der Route 128 auf einem Parkplatz des Pendlerzugs stehenließ und dann mit der Subway weiterfuhr und sich seither den Vorwurf mache, sie wäre vielleicht mit dem Auto schneller vorangekommen und hätte ihn noch lebend angetroffen. Wie in der dichten Menge des Subway-Waggons ihr Handy läutete und Leslie sagte, das Schlimmste sei eingetreten, und sie verständnislos fragte: Was ist das Schlimmste? Und daß sie noch mehr Zeit verlor, weil sie die Notaufnahme nicht gleich fand. Wie ihr Vater dagelegen sei, als schliefe er, die Kanüle noch im Arm, in seinen Händen ein Rest von Wärme, aber die Wangen kalt. Ich weiß nicht, ob seine Finger noch beweglich waren, sagt sie. Leslie, sein alter Freund, war da und Louise, sie habe sich als seine Verlobte ausgegeben, damit man sie hineinließe. Ich reagiere nicht, lasse sie erzählen. Ich habe das Sch’ma Jisrael für ihn gesagt, flüstert sie weinend, weil ihm ja doch keine Zeit mehr blieb, es selber zu sagen. Es ist alles so unwirklich, sagt sie.
Keine fünfzig Stunden sind vergangen, seit Jerome das Haus zum letzten Mal verließ, aber es sind nicht mehr dieselben Räume. Die Stöße von Büchern, Zeitschriften und Aktenordnern, von Zetteln in Kartons und Schachteln entlang der Wände, die von Zeit zu Zeit drohten das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer von den Rändern zur Mitte hin zuzuwuchern, sind sauber aufeinandergeschichtet und zum Teil verschwunden. Aber es sieht nicht aufgeräumt aus, es sieht wie der Schauplatz einer Katastrophe aus, nachdem die Aufräumtrupps ihn verlassen haben, ein Ort in seiner entseelten Nacktheit.
Fühl dich wie zu Hause, sagt mein Schwager, und läßt mir den Vortritt ins Wohnzimmer.
Ich bin hier zu Hause, ich war gerade vor einer Woche noch da, antworte ich und verstehe nicht, was er meint und warum er sich als der neue Hausherr fühlt.
Meine Schwägerin Emily kommt uns zur Begrüßung nicht entgegen, sie sitzt vor einem großen Karton und sortiert Papiere, legt die einen in Stapeln auf dem Tisch ab und wirft andere in einen schwarzen Müllsack. Sie läßt sich kurz meine Umarmung gefallen und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie begegnet mir mit einer Fremdheit, fast Feindseligkeit, die ich nicht erwartet hatte. Statt angesichts des Schreckens zusammenzurücken, wenden sie sich von uns ab, als wollten sie ihre Trauer nicht mit uns teilen. Eifersüchtig wachen sie über ihren Status als Hinterbliebene, es ist etwas Exklusives an ihrer Trauer.
Wer hat ihr erlaubt, sich an seinen Papieren zu schaffen zu machen? frage ich Ilana leise.
Sie zuckt die Achseln. Laß sie, ich habe es ihnen erlaubt, irgendwer muß es ja tun.
Sieht es nicht schon viel netter aus? fragt Harold.
Leerer, sage ich.
Wollen wir zum Abendessen ausgehen oder sollen wir etwas zum Essen holen? fragt Ilana.
Wir brauchen Abstand und Zeit für uns selber, erklärt Harold, am besten, ihr kauft für euch beide ein. Wir wohnen im Hotel.
Wir sehen uns an, keine will in den Wolkenbruch hinaus. Wir werden im Kühlschrank schon etwas Eßbares finden, beschwichtige ich sie. Ich kann ohnehin seit zwei Tagen nicht essen.
Ich auch nicht, sagt Ilana, ich habe eher an euch gedacht.
Hast du gewußt, wie schlecht es ihm geht? fragt Ilana am Abend.
Wenn wir allein sind, reden wir deutsch. Ich habe von Anfang an mit ihr nur deutsch gesprochen, und sie wechselt akzentfrei und ohne zu überlegen vom Englischen ins Deutsche, in beiden Sprachen gleichermaßen heimisch. Wir reden von Jerome in der Gegenwartsform, als könnten wir ihn so davor bewahren, tot zu sein.
Er hat es gewußt, sage ich, und er hat es niemandem gesagt, aber ich hätte es trotzdem wissen müssen.
Ich erinnere mich daran, wie oft er im Gehen stehenblieb und nach Luft rang, an seinen verzweifelten Blick am Fuß jeder steilen Treppe, oder wenn er sich aufs Sofa fallen ließ und sich an die Brust griff, beschwichtigend abwinkte: Warte einen Augenblick, es geht gleich wieder. Kaum jemand hat so oft über den Tod geredet, über ihn Witze gemacht wie Jerome. Ein Abwehrzauber, eine Weigerung, den Vorgängen in seinem Körper, die ihn ängstigten, Macht zu geben. Wie groß muß seine Angst gewesen sein. Er muß es gespürt haben, als das Wasser von seinen schmerzenden, geschwollenen Beinen in die Lungen stieg und das Herz überschwemmte. Aber niemandem beschrieb er seine Symptome, mir nicht, seinem Arzt nicht, er wehrte jede anteilnehmende Frage ungeduldig ab, obwohl er immer öfter mit einem nach innen gekehrten Blick auf dem Sofa saß, ganz still, als horche er einer Stimme tief im Innern nach.
Ich habe ihn mit seiner Angst allein gelassen, sage ich leise.
Du hättest ihn zum Arzt schicken sollen, sagt Ilana vorwurfsvoll.
Das habe ich doch immer wieder, wehre ich mich, aber er war stur und uneinsichtig. Er wollte sterben wie ein erstentialistischer Held, nicht dahinsiechen, sondern dem Tod trotzen, durch seine Weigerung, ihn anzuerkennen. Er war dem Leben und seinen Genüssen so zugetan, daß Krankheit und Tod ein Scheitern bedeutete, das er nicht ins Auge fassen wollte, er tat, als gäbe es das nicht. Mein Blick fällt auf das Foto einer blonden Frau in der Durchreiche zwischen Küche und Eßzimmer.
Ilanas Augen sind meinem Blick gefolgt: Kennst du die?
Wer hat das Foto da hingelegt? frage ich.
Ilana insistiert auf einer Antwort: Tante Emily meinte, man müsse herausfinden, wer sie ist und sie verständigen.
Ich schüttle den Kopf und reiße das Foto in der Mitte durch, dann noch einmal, der Länge nach. Als habe er auf eine passive Weise Selbstmord begehen wollen, denke ich, weil das Leben ihm immer mehr vorenthielt.
Ja, sage ich, sie heißt Suleyma, ich habe sie kennengelernt.
Um Mitternacht fährt auch Ilana nach Hause. Verzeih, sagt sie, aber ich brauche ein wenig Schlaf.
Du willst jetzt in der Nacht den ganzen weiten Weg zurückfahren, wo du doch morgen wiederkommst? frage ich.
Zu dieser Zeit ist wenig Verkehr, entgegnet sie mit einer Bestimmtheit, die jede weitere Diskussion unmöglich macht.
Ihr Zimmer ist so, wie sie es jedesmal vorgefunden hat, wenn sie während des Studiums nach Hause kam, das Bett bezogen, die Theater-Poster ihrer Highschool-Zeit noch an den Wänden, die Regale leer bis auf ein paar besonders geliebte Spielsachen aus ihrer Kindheit, auf der Kommode der Spiegel mit dem vergoldeten Holzrahmen, den Jerome ihr einmal aus Europa mitbrachte, und eine Schale voll exotischen Modeschmucks, den sie nicht mehr trägt. Ich dränge sie nicht zum Dableiben, vielleicht will sie die letzten Stunden vor dem Begräbnis an einem neutralen Ort verbringen, wo keine Kindheitserinnerungen sie bedrängen. Sie ist einunddreißig und hat ihr eigenes Leben. Und ihre Entscheidungen hatte sie schon früher oft mit einem unzugänglichen Eigensinn durchgesetzt, an dem meine Einwände abprallten. Vielleicht braucht man nur einen Elternteil, dem man besonders nahe ist, bei ihr war es der Vater gewesen. Sie sieht schmaler und älter aus als je zuvor, und sie ist zurückhaltend, als koste jeder Satz sie Überwindung. Oft setzt sie zum Reden an, verwirft dann, was sie sagen wollte, und schweigt statt dessen. Es ist eine ungewohnte Befangenheit zwischen uns, obwohl sie rücksichtsvoll ist wie immer und sanfter als sonst. Es wäre schön, wenn sie bliebe. Sie streicht mir über den Kopf, küßt mich auf die Stirn. Macht sie mir einen stummen Vorwurf?
Die Limousine kommt um halb elf, sagt sie, und ich begreife wieder nur an der fühllosen Oberfläche meines betäubten Bewußtseins, daß die Limousine uns zum Friedhof bringen wird.
Ich bleibe allein zurück in dem leeren Haus mit den Katzen, die den ganzen Nachmittag auf dem Fensterbrett gesessen sind und unverwandt hinausgeschaut haben, als warteten sie, daß Jerome zurückkommt.
Unser Haus liegt am Charles River, an einer Flußbiegung mit einer kleinen Landzunge am anderen Ufer. Wir kauften es wegen seiner zwei verschiedenen Gesichter. Zur Straße hin ist es klein und unansehnlich, ebenerdig, fast eine Kate, direkt in der Kurve, mit einem winzigen Vorgarten, zu klein für einen Rasen, gerade groß genug für zwei Rosenstöcke, ein paar Rosmarinstauden, Lavendel, Salbei, hinter dem niedrigen Holzzaun, eine Fassade wie für ein Puppenhaus. Aber auf der Rückseite ist es ein Floß im Amazonas, mit breiten Fenstern vom Boden bis zur Decke, kaum unterteilten Glaswänden, und davor Eschen und Ahornbäume, die aus der steilen Uferböschung aufragen, und dahinter die Mitte des Flusses zwischen den Baumkronen. Der Abstieg zum Fluß ist beschwerlich, es gibt eine schmale, ins Erdreich gehauene und mit Holzbohlen verstärkte Treppe, die nach jedem Wolkenbruch vermurt. Die erodierten Wurzeln der mächtigen Bäume klammern sich zwischen morschem Treibholz, das sich bei Überschwemmungen festgekeilt hat, und Nesseln an die Böschung. An dieser Stelle ist der Charles River so breit, daß das andere Ufer sehr fern erscheint, aber dort drüben sind ohnehin nur eine Regulierungsmauer und Fabrikschlote, farblos und häßlich. Man vergißt sie einfach, wenn man im Sommer am Rand der großen Veranda wie in einem Baumhaus sitzt. An seiner Rückseite ist das Haus zweistöckig und imposant, aber man müßte schon in einem Schiff vorbeifahren, um es so zu sehen. Ich habe mir vorgestellt, in diesem Haus gemeinsam mit Jerome alt zu werden, weil ich immer davon ausging, daß wir die letzten Jahre unseres Lebens wieder zusammen hier wohnen würden, ohne Eifersucht, ohne die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die uns immer wieder entzweit hatte. Auch jetzt stelle ich es mir vor und vergesse einen Augenblick lang, daß er tot ist.
Im Schlafzimmer ist das Bett nicht gemacht. Hemden liegen auf dem zerknitterten Leintuch. Mitten im Raum steht ein grüner Plastiksack mit der Aufschrift MASS GENERAL HOSPITAL. Man hat ihn Ilana mitgegeben, die Kleider, die ihr Vater an seinem letzten Tag trug: Sie haben ihm alles ausgezogen, bis auf die Unterhose. Die dunkelgraue Hose, mit dem Seidenfutter nach außen gestülpt, auch das Hemd mit von innen nach außen gedrehten Ärmeln, ein weißes Hemd, frisch gebügelt, die rote Krawatte, nach der er griff, wenn er es eilig hatte, das grauschwarz karierte Wollsakko, viel zu warm für Anfang Mai, er muß ins Schwitzen gekommen sein, die Socken, die schwarzen Lederschuhe, schwer von den Einlagen, die ihn um einige Zentimeter größer und das Gehen schwer machten, seit ich ihn kannte, trug er spezialgefertigte Elevator Shoes, die Armbanduhr, ein zerknülltes Batisttaschentuch mit seinen Initialen, ein paar lose Münzen, die aus der Hosentasche gefallen sein müssen. Seine abgegriffene Brieftasche gab mir der Schwager bei der Ankunft. Hundertachtzig Dollar waren drin, Kreditkarten, der Führerschein. Ich lasse alles im Schlaf zimmer zurück und lege mich auf das Sofa im Arbeitszimmer, denke, das ist die erste Nacht meines Lebens danach, versuche, mir seine letzte Nacht in diesem Haus vorzustellen. Ob es ihm schlechter gegangen ist in dieser letzten Nacht seines Lebens? Zuletzt schlief er lieber halb im Sitzen im Fernsehsessel, ging erst gegen Morgen zu Bett, er hatte oft Schmerzen in der linken Schulter, die er für Rheumatismus hielt. Man fühle einen kalten Schmerz über dem Brustbein, als griffe eine eisige Hand nach dem Herzen -ich weiß nicht mehr, wo ich das gehört oder gelesen habe. Hatte er einen Traum? Er träumte oft von seinen Eltern, er war überzeugt, daß sie aus dem Jenseits eine Art Verbindung zu ihm hielten. Am Morgen erzählten wir einander unsere Träume, und wenn er von seinen Eltern geträumt hatte, fürchtete er sich, daß etwas Schreckliches passieren könnte, denn die Toten nähmen nicht ohne triftigen Grund den weiten Weg zu uns. Die vielen Tode, die ihm nahegingen, bevor der eigene kam. Der Schlaganfall der noch jungen Mutter mit der darauffolgenden Behinderung, bevor sie mit zweiundvierzig Jahren starb, der frühe Tod des Vaters, in einer Nacht, in der Jerome sich amüsierte und nicht erreichbar war, wofür er sich sein Leben lang schuldig fühlte, der Unfalltod seines Kindheitsfreundes vor seinen Augen. Die Toten waren so gegenwärtig, als lebten sie mit uns. Aber die Einübung in den Tod ist eine Illusion, sie lehrte ihn nur die permanente Angst um jene, die er liebte, seine ängstliche Vorwegnahme einer Katastrophe schnürte mich so ein, daß ich fliehen mußte. Als Ilana klein war, gab er oft vor, den Babybuggy im Kofferraum vergessen zu haben, wenn er zur Arbeit fuhr: ein Tag weniger, an dem ich mit dem Kind dem Straßenverkehr und allen möglichen, unvorstellbaren Gefahren ausgesetzt sein würde, ein Tag mehr, an dem ich mit einem Kleinkind in einer Vorstadtwohnung eingesperrt war. Am späten Nachmittag machte er dann mit uns einen Ausflug, um uns zu entschädigen, aber über seine Ängste und meinen Ärger darüber wollte er nicht reden. Ilana setzte sich später mit gutmütiger Spott über seine ständige Sorge um ihre Gesundheit und Sicherheit, mit der er ihre Freiheit einzuschränken versuchte, hinweg.
Um sich selber hatte er nie gefürchtet. In seiner Jugend hatte er mit nächtlichen Rasereien auf dem Highway das Schicksal herausgefordert. Nur zuletzt überfiel ihn eine irrationale Angst vor etwas, das er nicht benennen und nicht deuten konnte. Wir wußten nicht, daß es das Ende war, aber auch ich spürte seine Angst. Sie machte ihn anhänglicher, weicher, bis auf die Augenblicke, in denen sie sich zur Todesahnung verdichtete.
Unsere letzte Auseinandersetzung zwei Wochen vor seinem Tod hatte ein altes Gesellschaftsspiel zum Anlaß, das jeder unter dem Namen The lady or the tiger kannte, eine Version des Kaukasischen Kreidekreises um Eifersucht und Liebe. Ein König erwischt seine Gattin mit ihrem jungen Geliebten und stellt sie vor die Wahl mit den zwei Türen. Hinter der einen wartet der Tiger, um ihn zu zerreißen, und hinter der anderen eine neue Geliebte als Ersatz für sie. Er steht wehrlos in der Arena, und es liegt an ihr, ihn dem Tod auszuliefern oder ihn zu retten und dabei an eine andere zu verlieren. Was würdest du tun, fragte er an einem der letzten Abende während des Essens: The lady or the tiger?
Laß mich in Ruhe, sagte ich, das Ganze wurde ohnehin von Männern wie dir ersonnen, die uns weismachen wollen, Eifersucht sei nichts anderes als moralisches Versagen.
Er drängte: Du mußt dich entscheiden, sag schon.
Plötzlich war es kein Spiel mehr, in seinen Augen stand blanke Angst. Ich wollte keinen Streit und sagte: Keins von beiden und wenn du mir etwas mitteilen willst, dann sag es mir direkt. Aber er ließ nicht locker, und so rief ich leichtfertig: Dann eben den Tiger.
You wouldn’t, would you? Du würdest mich töten? rief er entsetzt.
Ich begriff die Todesangst in seinen Augen nicht und auch nicht, daß ein Spötter wie er ein Spiel so ernst nahm. Aber er war nur mehr zwölf Tage von seinem Tod entfernt, und vielleicht spürte er die Bedrohung, die er nicht entziffern konnte. Er sah mich an, als könnte ich sie abwenden, wenn ich ihn ins Leben entließe, als wäre ich mächtig genug, den Tod aufzuhalten. In seinen entsetzten Augen sah ich die Tür aufgehen und den Tiger springen, der ihm das Herz aus dem Leib reißen würde. Unsere Ängste standen einander gegenüber und ließen keinen Kompromiß zu: meine Angst vor dem Verlassenwerden gegen seine Angst vor der Auslöschung.
Beruhige dich, sagte ich, und laß die Finger von den Damen, wenn du gerettet werden möchtest.
Aber er war den ganzen Abend schlechter Laune und verfolgte mich mit mißtrauischen Blicken. Wie hätte ich sein fassungsloses Entsetzen deuten sollen? Er nahm das Spiel so ernst, als öffnete ich dem Tod die Tür, ich, der er immer vertraut hatte. Klammerte er sich an mich als den einzigen Menschen, der dem Tod den Eintritt verwehren konnte, weil trotz allem sein und mein Leben unser Leben war? Natürlich hätte ich dich gerettet, sage ich jetzt in der Einsamkeit des leeren Hauses, um jeden Preis hätte ich dich vor dem Tod gerettet, selbst um den Preis, verlassen zu werden.
In jedem Leben gibt es eine letzte Nacht und einen letzten Morgen. Er war allein, und jede Geste war ein Abschiednehmen, jeder Blick ein letzter, aber er wußte es nicht. Hatte er eine Vorahnung, etwas wie eine unbestimmte Furcht? Das letzte Mal die Katzen gefüttert, das letzte Mal den Rasierapparat aus der Hand gelegt, das letzte Frühstück, ein gekochtes Ei auf ein paar Salatblätter geschnitten, ein hellbraunes Teesäckchen in kochendem Wasser. Das Geschirr steht noch im Ausguß. Eigenartig, wie wichtig gerade die letzten Worte und Handlungen werden. Je näher der Tod, desto größer das Gewicht jeder unbedeutenden Geste, alles ist wie ein letzter Blick zurück, bevor der Faden reißt, an dem sein Leben seit geraumer Zeit schon gehangen war. Als müßte ich aus seinen letzten Verrichtungen, aus der leeren Tasse und dem verwelkten Salatblatt auf dem Teller Botschaften herauslesen, die schon beinahe aus dem Jenseits kommen, mit einem zusätzlichen Wissen, das mir als Lebender versagt ist. Als wüßte ich nicht, daß es keine Kommunikation zwischen hier und drüben gibt. Aber gerade das Schweigen ist so schwer zu ertragen, wenn man sich nach einem einzigen, noch so unscheinbaren Zeichen sehnt.
Nach einer Stunde auf dem Sofa stehe ich wieder auf, ohne Licht zu machen. Es ist halb zwei. Ich kenne die Gegenstände in jedem Raum auswendig, bewege mich zwischen ihnen ohne anzustoßen, berühre sie kaum, als wären sie vertraute Körper, die an seiner Statt atmeten. Nur über meinen halbleeren, überflüssigen Koffer stolpere ich, er ist ein Fremdkörper. Neben dem Computer liegt ein Blatt Papier, auf das er mit großen Buchstaben ein Gedicht von William Butler Yeats geschrieben hat: Man brought Death into the World. Jemand hatte Jerome ein paar Tage zuvor gebeten, für einen verstorbenen Richter eine Grabrede zu halten, und er hatte den Thesaurus nach Gedichten über den Tod durchsucht oder vielleicht hatte er sich von früher an dieses Gedicht erinnert. Der Tod war in den letzten Monaten in vielerlei Gestalt an ihn herangetreten, aber Jerome hatte ihn stets verhöhnt oder ignoriert. Im Winter lag einige Wochen lang Der Tod des Ivan I jitsch im Schlafzimmer herum. Seltsam altmodisch erzählt, meinte er dazu. Ende April kaufte ich den gerade erschienenen Roman von Philip Roth. Hast du Everyman schon angefangen, fragte ich bei unserem letzten Telefongespräch am Abend vor seinem Tod. Schon gelesen, sagte er. Und, wie ist er? Deprimierend, sagte er, am liebsten möchte man sich gleich für den Sarg Maß nehmen lassen, wenn man sich vorstellt, was einem noch alles bevorsteht. So begegnete er seiner Angst vor dem Tod: mit dem grimmigen schwarzen Humor, für den ich ihn liebte. Auch wenn ich wütend war, selbst wenn ich in gekränktes Schweigen verfiel, konnte er mich damit zum Lachen bringen.
Es ist still mitten in der Nacht. Totenstill. Ich öffne Schubladen und Fächer, die ich noch nie geöffnet habe, und fühle mich wie ein Eindringling, eine nächtliche Einschleichdiebin. Manche Laden sind bereits leer, vom Eifer der Schwägerin einem Ordnungsprinzip oder einem Vernichtungssystem unterworfen, das ich noch nicht durchschaue. Ich lege seine Uhr in eine Schublade, seinen Führerschein, seine Brieftasche, seinen Paß, den Notarstempel. Lauter Dinge, die man auf keinen Fall verlieren will, sie sicherten ihm vor dem Gesetz das Recht, der zu sein, der er war. Alles, was für seine Identität bürgte, fällt nun ohne ihn in seine tote Gegenständlichkeit zurück, hat nichts mehr mit dem zu tun, was er jetzt ist, nackt auf einer Bahre, in einem Kühlfach, oder schon von den Männern der Chewra Kadischa gewaschen und in einen Gebetsmantel gehüllt im Sarg. In wessen Gebetsmantel? Er besaß keinen, borgte sich zu den Hohen Feiertagen einen von der Synagoge aus. Dann eben nur in ein Laken, ich werde es nie wissen.
Auch aus den Schreibtischladen sind die wichtigen Dokumente und Akten schon verschwunden, dort und da liegt noch ein abgebrochener Bleistift, eine Büroklammer, ein vergilbtes einzelnes Blatt Papier. Im untersten Fach finde ich ein gefaltetes Pergamentblatt, das an der Rückwand festklemmt. Noch bevor ich es öffne, weiß ich, daß es unser Verlobungsvertrag ist. Nach fünfunddreißig Jahren lese ich es zum erstenmal wieder, dieses nur für uns verfaßte Dokument in der Sprache eines jungen Juristen, der sich um Objektivität bemüht, obwohl von Liebe die Rede ist. Es ging uns darin nicht um Sicherheiten im Fall der Scheidung, und an Besitz und Güterteilung dachten wir damals nicht. Wir stellten hohe Ansprüche an uns selber, Ansprüche, an denen wir dreißig Jahre lang immer von neuem scheiterten und die wir irgendwann vergaßen. Aber am Ende haben sie, beschädigt und viele Male gebrochen, trotzdem alle Trennungen überlebt. Wir wollten vernünftig lieben, mit Maß und gegenseitigem Respekt. Wir waren beide davor schon zu oft blind und maßlos verliebt gewesen, und ahnten, daß niemand einem anderen Menschen auf Dauer alles sein konnte, wonach er sich sehnte. Damit unsere Liebe niemals ende, versprechen wir einander, habe ich in feierlicher Schönschrift mit Haarlinien und fetten Abstrichen an den Anfang gemalt. Darauf folgt eine Liste von Geboten, die wir uns selber gaben und die wir nicht halten konnten, weil wir nicht mit der Hartnäckigkeit unserer Sehnsüchte und Leidenschaften gerechnet hatten, mit unseren Grausamkeiten, unseren Ängsten und unserem Egoismus. Es hätte der Selbstlosigkeit zweier Heiliger bedurft oder zweier Menschen, die nur einen Blick zur Verständigung benötigten, die jede Nuance der Stimme und des Gesichtsausdrucks des anderen deuten konnten, und die einander so gut kannten, daß jeder des anderen Sätze vollenden konnte. Zu unserem eigenen Erstaunen waren wir am Ende zu einem solchen Paar geworden. Aber dazu hatten wir ein ganzes Leben gebraucht.
Wir würden Einander nie belügen, gelobten wir vor fünfunddreißig Jahren, aber auch die Wahrhaftigkeit nicht benützen, um einander weh zu tun. Wir würden einander beschmutzen und mit Rat und Hilfe unterstützten, ohne Abhängigkeiten zuzulassen. Wir würden alles teilen, aber unser Recht auf Eigenständigkeit bewahren. So präzis und klar, so paradox hatten wir es uns ausgedacht. So beispielhaft wollten wir leben, jeder dem andern der nächste Mensch, ohne ihn daran zu hindern, eigene Wege zu entdecken und ihnen zu folgen. Ein Leben lang verbunden, manchmal näher, mitunter so nah, als befänden wir uns in der Haut des andern, dann wieder fern, immer in Rufweite. Der andere sollte der Mensch sein, dem wir uns verwandt fühlten, einerlei, wo er sich befand und welches Leben er gerade führte, er sollte der Ort sein, den wir Zuhause nannten. Vater und Mutter verlassen, um einander anzuhangen, steht in der Tora, jedoch nur so lange, wie es dem anderen erträglich ist, gebot die Zeit, in der wir jung gewesen waren. Wir müssen uns mit diesem Manifest wie Revolutionäre gefühlt haben. Hat es uns an Vertrauen oder an Leidenschaft gemangelt? Wovor hatten wir so große Angst? Ich weiß es nicht mehr.
Jetzt in der Dunkelheit der Nacht kann ich unser Leben auf keinen Nenner bringen, ich weiß nicht, wie wir es hätten vermeiden können, einander zu verletzen. Wir hatten nur ein Leben, es war zu kurz für alles, was wir von ihm erwarteten. Also mußten wir auseinanderrücken, damit das, was wir brauchten, darin Platz fand: seine Frauen und meine Bücher, sein Beruf, der Seßhaftigkeit verlangte, und meiner, der Abwesenheiten mit sich brachte, seine Sehnsucht nach dem vollkommenen Glück und meine Rastlosigkeit. Die Vorstellung, wie viele Möglichkeiten uns offenstünden, wie viele Chancen und Glücksversprechen, und das Wissen, daß wir dafür nur dieses eine Leben hatten, erfüllte uns oft genug mit Gier und Verzweiflung. Wenn ich zwei Leben gehabt hätte, dann hätte ich ihm eines davon ohne Vorbehalte geschenkt, ganz und gar, so wie er es sich trotz der vergessenen Freiheitsschwüre vorgestellt hatte. Das andere, das zweite wäre für mich gewesen. Aber ich hatte nur eines, er mußte teilen, mehr von mir herzugeben war mir nicht möglich, und meine Freiheit war eine andere als die seine.