VORWORT DES HERAUSGEBERS
ZEPHYR
Stefan Wimmer
NETZER
Uschi Müller
COUCH CLUB
Nadine Koßmann und Daniel Daugsch
HOLY HOME
Albrecht Mangler
FAVORIT BAR
Brandl
I BIN I
Austrofred
ZUM WOLF
Rafaela Evers
ICH BIN HIER NICHT FREIWILLIG
Anna Jung
FLASCHENÖFFNER
Wolfgang Dietl
KIOSK AN DER REICHENBACHBRÜCKE
Friederike Kohl
BALD NEU
Jo Lendle
AUF DER SUCHE NACH DEM STENZ
Heike Braun
MUSS MAN SICH MÜNCHEN SCHÖN TRINKEN?
Clemens Dreyer
DIE MACHT DER TRACHT
Sibylle Bauschinger
MÜNCHEN FLIMMERT
Bettina Meissner
STRØM
Lia Max
TAXISGARTEN
Thomas Bitschnau
CAFE JASMIN
Albrecht Mangler
STEINHEIL 16
Christine Kabus
JENNERWEIN
Markus Röleke
CABANE BAR
Enno Pülhorn
UNGEWITTER BEI CHARLOTTE
Heinz Schmolke
ABSACKER IM ALTEN OFEN
Roland Leicht
WELTWIRTSCHAFT
Andreas M. Scheu
VALLEY’S
Theresa Schenkel
HERAUSGEBER UND AUTOREN
Ich bin kein gebürtiger Bayer, besitze keine Lederhose, und München muss man nicht schöntrinken. Das habe ich bei meinem ersten Biergartenbesuch schnell gemerkt.
Ich erinnere mich genau – es war ein herrlicher Sommertag im Juli, der Biergarten klassisch unter Kastanienbäumen und gute Freunde zu Besuch. Ich holte das Bier. In guter preußischer Manier fragte ich höflich am Ausschank, ob es möglich sei, statt einer ganzen Maß lediglich einen halben Liter Helles zu erhalten. Die Antwort? »Wir sind hier im Biergarten und nicht im Kindergarten.«
Blitzartig begriff ich: München ist ein Ort zum schön trinken – viel, wenig, langsam, schnell, stilvoll, abgeranzt, im Anzug, Abendkleid, oder im Kapuzenpulli mit Bier, Cocktails, Wein in Biergärten, Szenekneipen, Boazn, Clubs oder einfach entspannt an der Isar. Kurz: Mehr Möglichkeiten, als es Biersorten gibt.
Für ihre Eindrücke und Geschichten möchte ich allen Autorinnen und Autoren herzlich danken. Von der Maxvorstadt über Giesing bis nach Sendling und ins Glockenbachviertel erzählen sie in diesem Buch vor allem von einem: von München. Eine wundervolle, lebendige Stadt, auch für Nicht-Bayern ohne Lederhose – natürlich mit einer ganzen Maß auf dem Biertisch.
Viel Spaß wünscht Ihnen Ihr
Albrecht Mangler
PS: Die Ranke oberhalb der Texte ist Hopfen.
Zephyr. Baaderstraße 68, 80469 München
Mo-Do 20-2 Uhr, Fr-Sa 20-5 Uhr, So geschlossen
2011 WAR DAS JAHR, in dem ich beim Heinzel-Verlag arbeitete, einem Yellow-Press-Magnaten in München Hasenbergl. Ich war dort tätig bei einem Männer-Magazin namens »Don Diego«, das ursprünglich einmal seinen Sitz im noblen Altschwabing gehabt hatte, in der Ära des Sparzwangs jedoch inzwischen in ein randseitiges Hochhaus-Ghetto verlegt worden war, das nur über ein Röhrensystem namens U-Bahn erreicht werden konnte. Die Fahrten in dieses Hochhaus-Ghetto waren an sich schon ein kleines Abenteuer: Öfters hatte ich erlebt, wie in der U-Bahn Gläubige nach Mekka beteten. Ich hatte erlebt, wie Mongolen-Familien über mehrere Sitzreihen hinweg meterlange Dämmfolien aufploppen ließen, um sich an den Geräuschen zu erfreuen, ich hatte erlebt, wie türkische Gangs mit Baseballschlägern an den Sitzen entlangschredderten, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Kurz und gut: Ich hatte Szenarien gesehen, wie man sie sonst nur aus ganz harten US-Thrillern kannte – wenn gezeigt werden sollte, dass der Film in einer Gegend spielte, in der jede Hoffnung verloren war und es nur noch ums nackte Überleben ging. Und so ähnlich war es denn auch: Ich hatte keine Jobperspektive und musste aus Geldmangel bei der Stange bleiben.
Schon acht Jahre zuvor war ich mal in einem ähnlichen Job bei der Komet Media Group angestellt gewesen – dem direkten Konkurrenz-Unternehmen des Heinzel-Verlags, und seit damals hatte sich viel geändert: Mein alter Chef liebte knallenge Boss-Anzüge und rief mehrmals am Tag »Supi!« und »Mega!«, wenn er einen Promi fürs Heft gewonnen hatte; mein neuer Chef hatte einen Hang zur österreichischen Melancholie und jammerte immer: »I konn diesen Job ned ausstääh’, i hob des alles satt – jede Minuten, die i in diesem Guantánamo zuabring’, macht mi ferdig!« Mein alter Chef hetzte immer mit Tschakka-Armbewegungen durch den Gang, sprang und jubelte, wenn ihm eine Idee gekommen war, mein neuer schleppte sich gorillaartig durch den Flur – mit hängender Jeans, die er des Öfteren mit der Faust hochhieven musste. Bei meinem alten Chef konnte ich um 18 Uhr Feierabend machen, beim neuen musste ich so lange Überstunden schieben, dass mir vor Stress die Fingernägel zerkrümelten. Es war also Ansichtssache, ob die Zeiten früher oder heute besser waren.
Eines jedoch war heute eindeutig besser: Bei meinem jetzigen Job saß ich einem Kollegen gegenüber, der ein ziemlich cooler Hund war: Timmi – acht Jahre jünger als ich, immer die gleiche Schiebermütze auf dem Eierkopf, immer einen Witz auf den Lippen. Timmi hatte fröhliche Augen, konnte hinklotzen und gut schreiben, außerdem war er schnell und zuverlässig. Das Einzige, was ich nicht verstand, war: Aus irgendeinem sonderbaren Grund hatte er eine Fetisch-Beziehung zu Technik-Schnickschnack – in Fachkreisen »Gadgets« genannt –, den er immer mit modischen Ausdrücken umschrieb. »Okeeey …«, sagte er beispielsweise am Telefon, »ich hab guuute Notizen für Sie! Wir machen jetzt ’n Sommer-Gadgets-Special – acht Seiten, richtig groß, mit vielen heißen Hinguckern und Aufregern! Dafür brauchen wir warme, emotionale Produkte – haben Sie da nicht irgendwas …? Aber Vorsicht: keine schwulen Sachen! Was, Apple hat ’nen neuen iSolator? Hahahaha, wie geil ist das denn!«
Außer Timmi arbeiteten in unserer Zeitschrift noch Bertram, der Autoredakteur – ein Mann, von dem man nur wusste, dass er eine Scheidung hinter sich hatte, viel Unterhalt zahlen musste und für seine Autotests seitdem kurvige, gefährliche Pass-Straßen bevorzugte – am liebsten Pisten im Kosovo und in Mazedonien –, und dann waren da noch Natty und Babs, die die Foto-Abteilung betreuten, sowie unser Vorgesetzter Thierry – der Stellvertreter des Chefs –, ein missgelaunter Sonderling, der in einem kleinen Verschlag am Anfang des Büros saß und unser aller Tun überwachte.
Doch der Grund, warum ich diese Geschichte schreibe, war jemand anderes, jemand sensationell anderes! Voilà, ein Tusch für Lavinia, die Moderedakteurin, Vorhang auf und Applaus! Denn hier kommt sie auch schon, immer pechschwarz gekleidet, immer supersexy, vom Zehennagel bis zum Bob! Doch während ich schwarze Outfits trug, weil ich mit jedem Tag existenzialistischer wurde, kleidete sich Lavinia in diese Roben, weil sie wie eine durchtriebene, perverse Zofe wirken wollte – was ihr auch ganz gut gelang. Lavinia war Schweizerin und stammte aus irgendeinem lichtlosen Tal im Bergell – den Namen hatte ich vergessen, wahrscheinlich Val dei Perversi –, und genauso verschattet und mysteriös war auch ihre ganze Psyche. Sie hatte riesige getuschte Puppen-Augen, einen mit Lipgloss beschichteten Mund und ein Lächeln süß wie Limonade. Dazu trug sie bizarre Manga-Klamotten: hohe Kimono-Schühchen, die mit Leder bezogen waren, Tüllkleider mit langen Schleppen, Strümpfe mit exzentrischen Mustern, Samt-Bustiers, Tangas und Schals, und wenn sie an einem vorbeistelzte – wie gerade jetzt –, roch es zuerst nach einer riesigen Parfümwolke, und dann nach Sex und Verdammnis. Ich sog den abgründigen Geruch ein, Lavinia rief irgendetwas in Richtung des Chef-Büros, rauschte an uns vorbei, ignorierte Thierry, grüßte Natty, nickte Timmi herablassend zu und hatte für mich nur einen sonderbaren Augenaufschlag übrig – ganz klar, denn ich hatte ihr gestern Abend eine Mail geschickt, vordergründig, um sie zu bitten, mir bei einer Reportage zu helfen, in Wirklichkeit jedoch, um sie zu einem Drink einzuladen – harrharrharrharr (teuflisches Gelächter) –, und dieser sonderbare Augenaufschlag ließ hoffen, dass mein Plan aufging.
Timmi hielt in der Arbeit inne und sah Lavinia nach. Vor meiner Zeit beim Heinzel-Verlag hatte er nach einer Firmenparty mal was mit Lavinia gehabt, und das machte ihn umso faszinierender.
»Schon ’n verrücktes Huhn, diese Lavinia!«, sagte Timmi und schüttelte den Kopf. »War echt ’n heißes Ding, aber mir einfach zu gefährlich, einfach zu riskant!«
»Mich – würde das nicht abschrecken …«, murmelte ich leise.
Timmi lachte knapp auf – so als hätte ich nicht die allergeringste Ahnung, wovon ich sprach.
»Hast du nicht mal erzählt, dass man mit Lavinia alles machen kann?«, fragte ich und machte ein betont unbeteiligtes Gesicht.
»Klar!«, nickte Timmi. »Aber wer will das schon! Da kommste ja über kurz oder lang in die Klapse!«
Da ich davon überzeugt war, bessere Nerven als Timmi zu haben, eiste ich mich von meinem Arbeitsplatz los, schlich mich pfeifend zu Lavinias Büro (außer Thierry und dem Chef war sie die Einzige, die über ein eigenes Büro verfügte) und stellte mich davor. Je nach Tageslaune klang aus ihrem Büro ein zuckersüßes Lachen – oder aber ein höhnisches, blechernes Meckern, wenn sie sich über einen Kunden lustig machte. Heute hörte man nur ein charmantes Gezwitscher, und ein paar Meter weiter sprach der leichenhafte Bertram ins Telefon: »Die Route nach Radoste – noch gefährlicher als die Straße nach Kicevo? Ständig tödliche Unfälle? Gut, dann komm ich übermorgen mit dem Fotografen vorbei …« Ich strich mir wie Simon LeBon meine Haarsträhnen zurück, öffnete die Tür und steckte den Kopf in Lavinias Büro.
»Allooó«, sagte Lavinia – mit starkem Akzent – und beendete ihr Handy-Gespräch. »Naaa! Wie geht es dir? Hast du ausgeschlafen – nach dieser wilden Mail, die du mir gestern geschickt hast?«
»Jaja«, sagte ich und zwängte mich durch die Glastür in ihr Büro. »Das ist schon ’ne verrückte Sache mit dieser Reportage über die Dating-Börsen, die ich da schreiben soll …«
»Ja«, sagte Lavinia. »Das hast du mir geschrieben. Wo liegt denn das Problem?«
»Tja«, sagte ich und kratzte mich am Kopf, »aus irgendeinem Grund krieg ich keine Angebote, sondern nur Absagen. Die Frauen klicken auf mein Foto, und schon schicken sie mir einen negativen Bescheid. Ich vermute, irgendwas stimmt mit dem Bild nicht … Wenn dem so ist, müsste man einen Porträt-Fotografen beauftragen … Kannst du mal kucken, ob das Foto ok ist?«
»Na, da bin ich ja mal gespannt …«, sagte Lavinia lachend. »Hast du das Foto da?«
Ich reichte ihr den Abzug, Lavinia besah ihn sich eine Weile.
»Wieso? Ist doch süß«, sagte sie. »Ein bisschen bubihaft, aber ok. Höchstens die verschränkten Arme wirken etwas reserviert.«
»Als ich sie eingehakt habe, sah es nach Lustknabe aus, und mit hängenden Armen irgendwie affenartig.«
»Das Foto ist ok«, sagte Lavinia und gab es mir zurück. »Und die schicken dir wirklich lauter Absagen?«
»Um ehrlich zu sein, sogar standardisierte Absagen! Ich bekomme so Mails wie: Mitglied Soundso möchte mit Ihnen künftig nichts mehr zu tun haben – und ich muss die Reportage in drei Wochen fertig haben.«
Ich übte einen verzweifelten Hundeblick – und Lavinia nickte.
»Und was hast du für ein Pseudonym?«, fragte sie.
»Nun ja«, druckste ich herum, »da ist mir nichts Gescheites eingefallen. Mein Nickname lautet Dichterfürst.«
Lavinia lachte auf.
»Na, das klingt aber abschreckend. Warum hast du dir so einen hochgestochenen Namen rausgesucht?«
»Ich dachte mir, dass man als Literat vielleicht bessere Chancen hat. Kehlmann und so.«
»Ja, das Ganze muss aber viel frecher rüberkommen. Eigenname mit ’nem netten Zusatz. Ingo-Super-Lover. Ingo-All-night-long. Strap-On-Ingo. Auf so was stehen die Frauen! Nur keine falsche Bescheidenheit.«
»Ich kann mich doch nicht Strap-On-Ingo nennen!«, jaulte ich auf. »Dieses Heft wird im ganzen Verlagsgebäude gelesen! Wie steh ich denn da vor all den Angestellten in den anderen Etagen? Ich muss die doch jeden Morgen im Aufzug sehen!«
Lavinia überlegte kurz und hatte offenbar Verständnis für mein Problem. »Na, dann nenn dich doch einfach Ingo-The-Right-One und schreib bei ›Beruf‹: Schriftsteller, bei dem die Länge stimmt …«
»Hahaha!«, sagte ich und klopfte mir auf den Schenkel. »Du bist echt ulkig! Du hast einen erstaunlichen Humor! Man könnte fast meinen, du bist auch auf solchen Seiten …«
Lavinia machte eine vieldeutige Geste – und ich sagte: »Bist du etwa auch auf solchen Seiten? Na ja, egal … Um die Wahrheit zu sagen: Das mit der Reportage belastet mich, aber der Hauptgrund, warum ich dir geschrieben habe, war, weil ich was mit dir trinken wollte: Hast du Lust?«
»Ja«, sagte Lavinia knapp.
»Toll«, sagte ich. »Pass auf, ich kenn eine gute Cocktailbar, lass uns doch heute nach der Arbeit dorthin gehen. Ich reservier zwei Plätze mit Tisch …«
»Wegen mir kannst du auch gerne was am Tresen reservieren …«
»Noch besser, noch besser«, sagte ich.
Und so »ging ich mit Lavinia also ins Zephyr – meine Lieblingsbar …«, und auch wenn die Geschichte bunt zusammengereimt ist: Das Zephyr gibt es wirklich – gottseidank (!), denn es ist in der Tat meine »Lieblingsbar« und die beste Bar Münchens. Denn wie die Schriften sagen: »Der schwere, tempelartige Tresen, die anthrazitfarbenen Wände, das gelbe Schummerlicht – hier war man im 7. Himmel! Man musste einfach nur beobachten, mit welcher Konzentration und Genauigkeit Tom, Alex, Lukas, André und Fabian die Drinks komponierten, wie souverän sie einen flüssigen Geniestreich nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelten.«
Soweit die Ausführungen, und man kann es auch journalistisch sagen: Es gibt im Zephyr die wahrscheinlich besten Cocktails der Stadt – in der Regel Eigenkreationen, die Alex Schmaltz, Tom Graf, Lukas Motejzik, Fabian Schulze und André Meier aus der Taufe gehoben haben. Ein paar kleine Beispiele:
Genie in a Bottle: Ketel One Vodka, Mango, Minze, Zitronengras, Ginger Beer und orientalisches Kewra Wasser.
Mexican BBQ: Mezcal, geröstete Paprika, Koriander, Rhabarber, Gurke und Ginger Beer.
Last Geisha: Mit Kirschblüten infusionierter Tanqueray Gin, geröstete Mandeln und Pink Grapefruit.
Natürlich gibt es auch alle Klassiker der Cocktailgeschichte zu trinken, siehe hierzu: »Lavinia nahm einen Manhattan, ich bestellte einen Moscow Mule …«, aber die Cocktails wären noch nicht einmal der Hauptgrund, warum ich das Zephyr so liebe. Ein paar weitere Gründe sind:
– Die Barkeeper sind die coolsten der Stadt, allerdings völlig ohne Arroganz, Aufgeblasenheit, wichtigem Getue, sondern einfach schlichte, natürliche Coolness.
– Das Zephyr ist bevölkert von hübschen Frauen, außerdem von Männern, die man anschauen kann, ohne gleich an der Welt zu verzweifeln.
– Das Zephyr ist sehr benutzerfreundlich: Wenn ich einen Drink in starker Variante haben möchte, bekomme ich genau so einen Drink.
– Da das Zephyr eine Art Stüberl-Charakter hat, kommt man öfters mit den Gästen ins Gespräch, vom Sommer und seiner wunderbaren Schemelreihe, auf der wir sitzen wie die Korsen in Asterix, einmal ganz zu schweigen.
So schön ist das Zephyr, und ob mit den Moscow Mules die Mächte der Finsternis besiegt werden, Lavinia erobert und die Flirtportale erstürmt – das kann man hier nicht verraten.
Netzer. Baaderstraße 33, 80469 München
Do 20-3 Uhr, Fr + Sa 20-4 Uhr
DIE KNEIPE, DIE ICH AM BESTEN KENNE, in der war ich noch nie. Na ja, nie stimmt so auch wieder nicht, denn einmal war ich ja da. Einen Monat nach meinem Einzug in die Baaderstraße im zweiten Stock bin ich ins Erdgeschoss zum Netzer gegangen, im Schlafanzug. Aber weil es schon fünf Uhr morgens war, ist das keinem sonderlich aufgefallen. Auch nicht dem Kellner, bei dem ich mich beschwert habe, dass es zu laut ist. Der hat zwar keine Anstalten gemacht, die Musik leiser zu drehen, aber immerhin hat er mir ein Bier angeboten. Als Zeichen der Versöhnung fand ich das sehr angebracht, wollte aber nicht, weil ich ja im Schlafanzug war.
Mit der Zeit habe ich dann das Netzer immer besser kennengelernt, von außen eben. Wann ist der beste Zeitpunkt für einen großen Auftritt (kurz vor Mitternacht), wie ist das Publikum (Studenten und solche, die es immer noch sein wollen), welche Getränke kann man empfehlen (Bier, Bier und Bier), und wie ist die Kneipe musikalisch einzuordnen (konservativ). Irgendwann habe mich daran gewöhnt, so gegen halb vier Uhr früh aufzuwachen und Oasis laut und deutlich im Klo zu hören: »’Cause maybeeeeeee, you gonna be the one that saves meeeee …«. Und bin ab da dann nicht mehr im Schlafanzug eingelaufen.
Das Publikum sind, wie gesagt, überwiegend Studenten, darauf lässt die sehr hohe Räderdichte vorm Netzer schließen und auch der Kleidungsstil der Raucher, die man ja in erster Linie immer vor der Tür sieht. Sie tragen normale Jeans, Adidasjacken und drunter ausgewaschene T-Shirts der Musikband Ramones1, an den Füßen Adidasturnschuhe. Manchmal kann man frühmorgens wie ein Indianer Spuren lesen und sich eine Geschichte dazu ausdenken. Neulich lagen z.B. Rosenblätter vor meiner Haustür. Auch mal ein schöner Kontrast zur Kotze, die man sonst immer mit dem Gartenschlauch von der Schwelle spritzen muss. Da hab ich mir überlegt, ob es vielleicht zu einem spontanen Heiratsantrag gekommen ist, wegen der Rosenblätter jetzt, meine ich. Oder – ganz anders: Ob jemand wutentbrannt die geschenkten Rosen aus enttäuschter Liebe zerrissen hat. (schluchz) »Du blöder Arsch, erst schenkst du mir Rosen und dann gräbst du diese blonde Schlampe an!« (schluchz) Einmal standen auch Schuhe vor der Tür. Da hab ich dann für die Dame, es waren Ballerinas in Größe 38, gehofft, dass sie sich keine Scherben eingetreten hat. Zerbrochene Bierflaschen liegen auch ganz oft vorm Netzer.
Lustig ist es auch, wenn man ganz früh, so gegen fünf, sechs Uhr, aufstehen muss. Im Blaugrau der Nacht, die sich grad aus dem Staub macht, sieht man dann sich küssende oder streitende Paare; ein Hauch von blindem Aktionismus liegt in der Luft: »Gehen wir doch noch ins Sunshine-Pub, oder – oder, an die Isar baden!« Im November. Ja. Klar. Aber ich muss sagen, immer sehr freundliche Leute. Die, auch wenn sie grade die Pizza im Mund haben, noch freundlich auf der Haustürschwelle zur Seite rutschen, wenn man aufsperren mag. Oder die den intensiven Zungenkuss kurz unterbrechen, sich verschämt lächelnd wieder in die Realität zurückbeamen und ein paar Zentimeter rutschen. Zu später Stunde, so ab Mitternacht, greifen die Gäste aus dem Netzer gerne die Taxis auf, die mich heimbringen – und die sie weiter ins Nachtleben tragen. Für die Taxler praktisch eine Win-Win-Situation.
Ganz selten werde ich ungemütlich – so keifendes Waschweib, das kann ich ganz gut. Zum Beispiel, wenn unser Eingang als Urinal missbraucht wird. Da schau ich aber immer erst, ob ich im Rücken eine weibliche Person hab, die mir denselbigen bei Bedarf stärken kann, und schimpfe drauflos: »Ja schau, dassd weiterkommst. I glaub, du spinnst, bisln im Hauseingang, schleich di, du dreckader Bazi!« Meistens entschuldigen sich Wildbisler dann ganz höflich und gehen zum nächsten Hauseingang. Ist mir aber dann egal. Am nächsten Tag kann ich ungestört zum Bäcker gehen.
Wer ins Netzer will, findet es vielleicht nicht auf Anhieb. Es ist nämlich, wie alle guten Kneipen, nicht überdeutlich als solche ausgewiesen. Aber über dem kleinen Vorsprung beim Eingang (der wie an einer abgeschnittenen 90-Grad-Kante liegt) ist gut sichtbar ein 1 Meter hohes schwarzes Kreuz angebracht. Was einen nicht-katholischen Besuch von uns zu denken veranlasst hat, wir würden wohl über einer Kirche wohnen? Ganz im Gegenteil. Wenn ich mal umziehe, dann gehe ich auch mal ins Netzer. Oder vielleicht nächsten Samstag, jetzt hab ich nämlich richtig Lust bekommen.
1 Haben Sie gewusst, dass Dee Dee Ramones Roman Chelsea Horror Hotel vor Kurzem im Milena Verlag erschienen und sehr lesenswert ist? Anm. des sympathischen Verlags
Couch Club. Klenzestr. 89; 80469 München
Di-Do 20-1 Uhr, Fr-Sa 20-3 Uhr, So+Mo geschl.
ES REGNET IMMER NOCH heftig, als wir am Couch Club ankommen.
D: »Fuck, zu! Die machen erst in 10 Minuten auf.«
C: »Dann lass uns doch noch schnell was essen gehen.«
A: »Nee, Mann, lass uns doch kurz warten – die haben Pizza, glaub ich.«
S: »Selbst wenn, bis die aufmachen, sind wir doch komplett nass.«
Bevor wir die Diskussion beenden können, hören wir, wie hinter uns die Tür aufgesperrt wird – also nix wie rein.
Wir hatten uns seit Längerem mal wieder zum Fußballspielen verabredet. Aber pünktlich zum Feierabend, wir hatten uns alle gerade getroffen, fängt es an zu regnen – heftiger Platzregen mit Weltuntergangs-Szenario.
D: »Fuck, scheiß Regen!«
C: »Dann lass uns auf nächste Woche schieben, so macht das keinen Sinn.«
A: »Nee, Mann, das hört gleich wieder auf.«
S: »Selbst wenn, der Platz steht schon jetzt komplett unter Wasser«
Bevor wir die Diskussion beenden können, kommt der rettende Vorschlag: Tischkickern im Couch Club, das geht immer. Also alle ab Richtung Glockenbachviertel.
Durch den kleinen Vorraum mit Zigarettenautomat und den üblichen Szene-Magazinen und Partyflyern betreten wir die geräumige Bar. Rechts unter den großen Fenstern stehen gemütliche Sessel und Couchen mit Flohmarktcharme, die der Bar wohl den Namen verleihen. Hinter den Fenstern sehen wir den Regen weiter herunterprasseln. Gegenüber der Couchlandschaft empfängt uns die lange Theke, wo mindestens fünfzehn Personen nebeneinander entspannt ihr Feierabendbierchen trinken können. Im Spiegelregal hinter der Bar erwartet uns ein beeindruckendes Flaschensortiment. Allen voran findet der Gin-Liebhaber hier ein Schlaraffenland, mit über 130 verschiedenen Gin-Sorten. Aber wir sind ja nicht zum Chillen da, sondern wollen uns sportlich betätigen!