Wolf S. Dietrich
Der dritte Patient
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte, die im Roman erwähnt werden, sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Göttingen. So ist auch das hier erwähnte Universitätsklinikum real. Dort gibt es jedoch keine Transplantationsabteilung mehr. Herztransplantationen konnten auch in der Vergangenheit nicht durchgeführt werden.
Originalausgabe 2015
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Lektorat: Anette Kleszcz-Wagner
Korrektur: Christiane Helms
Cover: © xixinxing - fotolia.de
ISBN: 978-3-95475-111-2
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Der Autor
Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen.
Der dritte Patient ist sein vierzehnter Krimi im Prolibris Verlag und der sechste, der in Göttingen spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.
Jutta Donsbach, Christine Parr und Dr. Lili Seide für die kritische Durchsicht des Manuskripts, Kriminalhauptkommissar Michael Artmann und Oberstaatsanwalt Dr. Wilfried Ahrens für fachliche Beratung in polizeilichen und ermittlungstechnischen Fragen, letzterem auch für wertvolle inhaltliche Anregungen. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Kristine für Unterstützung und Geduld mit dem schreibend abwesenden Ehemann.
Wolf S. Dietrich
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Vom selben Autor
Mit atemberaubender Geschwindigkeit rauschte der Zug in Richtung Norden. Hanau, Fulda, Kassel-Wilhelmshöhe hießen die Stationen. Mit müden Augen, aber fasziniert von der ungewohnten Umgebung, betrachtete er abwechselnd die vorbeifliegende Landschaft und den eleganten Innenraum des Waggons. In seiner Heimat war er auch schon gelegentlich mit der Eisenbahn gefahren. Gemächlich rumpelnd und mit einer lauten Sirene hatte sich das Gefährt den Weg durch die Hüttenwelt der Vorstadt gebahnt. Die hölzernen Sitzbänke waren von Menschen mit Bündeln, Pappkartons und Haustieren besetzt, die Gänge mit weiteren Gepäckstücken und Fahrgästen gefüllt gewesen. Mit lautstarken Unterhaltungen hatten sie gegen die Fahrgeräusche und den kaum abreißenden Ton der Hupe angeredet.
Hier saßen nur wenige Menschen in seiner Nähe. Sie schwiegen, beschäftigten sich mit Smartphones, unterhielten sich nur gelegentlich und sprachen leise.
Sein Freund hatte den Kopf gegen die Polster gelehnt und schlief. Auch ihm machte die Müdigkeit zu schaffen. Seit zwei Tagen waren sie unterwegs, der Flug von Manila über Abu Dhabi nach Frankfurt war anstrengend gewesen, sie hatten kaum schlafen können. Aber jetzt näherten sie sich ihrem Ziel. Eine Stadt mit einem schwer auszusprechenden Namen. Göttingen.
Er schloss die brennenden Augen und überließ sich den Erinnerungen an die seltsame Verkettung von Ereignissen, die ihn und seinen Freund in dieses Land auf dem europäischen Kontinent geführt hatten.
»Bewegt euch!«, rief der Fotograf, gab Danilo ein Zeichen und hob die Nikon ans Auge. Einer der Jungen warf den Ball über das Netz, sofort begann ein lebhaftes Spiel. Sie hatten es mehrmals geübt, und nun gelang der Ballwechsel auf Anhieb. Routiniert richtete Danilo den Reflektor aus und beleuchtete die jungen Spieler. Gleichzeitig begann neben ihm eine Videokamera zu surren, die von einem älteren Mann bedient wurde, der offensichtlich nicht auf den Philippinen zu Hause war. Während er das Objektiv auf die hüpfenden Kinder richtete und näher an deren Körper heranzoomte, murmelte er Unverständliches und stieß in einer unbekannten Sprache kaum hörbare Laute des Entzückens aus. Englisch oder Spanisch hätte er verstehen können, mit beiden Sprachen war er aufgewachsen. Offenbar stammte der Fremde nicht aus Amerika. Wahrscheinlich ein Europäer. Dafür, dass er hier selbst filmen durfte, musste er sicher viel Geld bezahlen. Danilo vermutete, dass die Summe dem Jahreseinkommen einer ganzen Familie aus seinem Dorf entsprach.
»Pass auf, Idiot!«, zischte der Fotograf und deutete auf zwei Jungen, die regelwidrig um den Ball rangen, ihre Körper mit Armen und Beinen ineinander verschlungen hatten und sich im Sand wälzten. Danilo war gehalten, solche Rangeleien sofort auszuleuchten, anscheinend waren sie ein beliebtes Motiv. Rasch richtete er den Reflex des Sonnenlichts auf die Szene. Dabei erschien ihm der Lichtschein schwächer, als er eben noch gewesen war. Unwillkürlich richtete er den Blick zum Himmel. Dessen eben noch klares Blau wurde von einem milchigen Schleier bedeckt, der sich von Osten her ausbreitete. Gleichzeitig bemerkte er das Rauschen des Windes, der um die hohen Mauern des Grundstücks strich und die Wipfel der Bäume in sanfte Bewegung versetzte.
Der parkähnliche Garten gehörte zur Villa Salita, dem Besitz eines Geschäftsmannes aus Manila. Das Anwesen eignete sich gut für diese Art Aufnahmen. Es lag im besten Viertel der Provinzhauptstadt Batangas City, war üppig bepflanzt und von nirgendwoher einsehbar. Selbst wenn es jemandem gelungen wäre, die Mauer zu erklimmen, ohne von einem der Wächter mit den scharfen Hunden daran gehindert worden zu sein, hätte er nur auf eine undurchdringliche Wand von Kokospalmen, Mangroven und Bambushölzern blicken können.
Der Apparat in den Händen des Fotografen klickte, die Videokamera surrte, Danilo konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Dass er diesen Job bekommen hatte, war ein Glücksfall für ihn und seine Familie. Die Bezahlung für einen Arbeitstag von drei bis vier Stunden entsprach dem Monatseinkommen, das sein Vater mit der Herstellung von Weidenkörben erzielte. Während die Jungen von Rizaldo, dem Fotografen, von ihren Heimatdörfern abgeholt wurden, ließ Danilo sich von Honesto, der ein zweisitziges Moped besaß, an jedem Wochenende zur Villa Salita fahren. Nach dem Shooting brachte der Freund ihn wieder nach Hause. Für diese Gefälligkeit musste Danilo ein wenig von seinem Verdienst abzweigen. Aber erstens blieb noch genug übrig, zweitens war Honesto sein bester Freund und drittens war er zuverlässig. Auch heute würde er draußen vor der Mauer auf ihn warten.
Mehrere Jahre trug Danilo nun schon auf diese Weise zum Familieneinkommen bei. Anfangs hatte er zu den Jungen gehören sollen, die im Garten der Villa Salita fotografiert und gefilmt wurden. Doch nach einigen Wochen war er nicht mehr in der Lage gewesen, unbefangen im Sand oder auf dem Rasen herumzuspringen. Als sie sich einmal gegenseitig mit einem Wasserschlauch hatten abspritzen müssen, war der lauwarme Strahl auf seinem Penis gelandet, und dieser hatte sich unvermutet aufgerichtet. Der Fotograf hatte es bemerkt und war in schallendes Gelächter ausgebrochen. Danilo hatte sich zu Tode geschämt und war blindlings ins nächste Gebüsch gekrochen. Später hatte Rizaldo ihm vorgeschlagen, an einem anderen Tag zu kommen. Allein, ohne die anderen Jungen. Sie würden dann Aufnahmen in den Innenräumen der Villa machen. Mit anderen, ebenfalls erwachsenen Männern. Fotos und Videos würden an Agenturen in Amerika, Kanada und Europa verkauft werden. Niemand auf den Philippinen würde sie je zu Gesicht bekommen. Und sein Verdienst würde das Zehnfache betragen. Er müsse allerdings bereit sein, mehr zu tun, als nur mit einem Wasserschlauch zu hantieren, hatte er grinsend hinzugefügt. Danilo hatte keine Vorstellung, was das bedeuten konnte, und sich angesichts des Betrages, den Rizaldo genannt hatte, zögernd bereit erklärt, zu einer solchen Verabredung zu erscheinen. Nicht zuletzt, weil er zu den erwachsenen Männern gehören wollte.
Danilo schüttelte die Erinnerung ab, als er Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. Die Erwartungen des Fotografen hatte er nicht erfüllen können. Er sollte … und mit anderen Männern … Nein, er wollte daran nicht mehr denken. Er war nur froh, dass es keinen Ärger gegeben hatte. Rizaldo war natürlich wütend gewesen, aber dann hatte er ihm den Job als Beleuchter angeboten. Aus Mitleid, hatte Danilo zunächst geglaubt. Inzwischen wusste er, dass Rizaldo damit sein Schweigen erkaufte.
»Wir brechen ab«, rief der Fotograf und deutete zum Himmel. Der Europäer ließ einen Laut der Enttäuschung vernehmen, doch Rizaldo trieb bereits die Jungen zu einem abgelegenen Nebengebäude. »Zieht euch an! Wir fahren in zehn Minuten los.«
Mit bedauerndem Ausdruck verstaute der Hobbyfilmer seine Videokamera in einer Umhängetasche. Doch dann wandte er sich Danilo zu und entblößte ein kräftiges Gebiss mit vorstehenden Schneidezähnen, zwischen denen ein auffälliger Spalt klaffte. »Du machst das gut«, sagte er auf Englisch. »Wie heißt du?«
Danilo zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?«
Prüfend glitten die Augen des Mannes an Danilo herab. »Bist ein hübscher Junge. Können wir uns vielleicht mal privat treffen?« Seine Handbewegung umfasste das Grundstück der Villa Salita. »Ohne das hier. Und ohne den da.« Er deutete in Richtung des Fotografen. »Nur für ein paar Fotos. Ich würde dich besser bezahlen als er.«
Danilo schüttelte den Kopf. Inzwischen konnte er sich vorstellen, was der Europäer von ihm wollte. »Kein Interesse.«
»Du willst kein Geld verdienen?«
»Schon.« Danilo sah den Fremden skeptisch an. »Aber nicht so.«
»Gut. Das kann ich verstehen. Ist für mich auch nur ein Nebengeschäft. Aber ich kann dir eine andere, eine ganz große Chance bieten. Dafür müsstest du allerdings dein Land verlassen. Hast du Familie?«
»Ich muss jetzt gehen.« Danilo deutete auf eine kleine Tür in der Mauer. »Meine Eltern und meine Geschwister warten auf mich.«
Bedauernd verzog der Mann das Gesicht und murmelte etwas in einer fremden Sprache. Trotzdem nickte er ihm freundlich zu und gesellte sich dann zu dem Fotografen, der seine Ausrüstung zusammenpackte. Nacheinander sahen die Männer zu ihm hinüber. Während er sich fragte, ob sie über ihn sprachen, verließ er das Grundstück durch die Pforte, die nur von innen geöffnet werden konnte.
Honesto saß auf seinem Moped und presste ein kleines Radio ans Ohr. »Es gibt Sturm«, sagte er und deutete in Richtung Osten. »Vielleicht sogar einen Taifun. Sie nennen ihn Gottes Donner.« Er lachte. »Warum Gott seinen Donner schon wieder zu uns schickt und nicht nach Amerika oder Europa, sagen sie nicht.«
Außerhalb der Mauern war böiger Wind zu spüren. Danilo deutete auf das Moped. »Lass uns fahren! Taifun Haiyan hat ziemlich viel Unheil angerichtet. Warum sollte es diesmal anders sein?«
»Die machen immer so viel Wind um den Sturm«, grinste Honesto. »Wird schon nicht so schlimm werden.«
Danilo dachte an seine kleinen Schwestern. Die Zwillinge hatten große Ängste ausgestanden, als der letzte Orkan über das Land gezogen war. Das Dorf war glimpflich davongekommen. Außer ein paar entwurzelten Bäumen und zwei abgedeckten Hüttendächern war kein größerer Schaden entstanden. Aber an das Heulen des Windes und den peitschenden Regen, an jenen Tag in stundenlanger beunruhigender Finsternis, konnte er sich gut erinnern. Lailani und Mayumi würden sich auch jetzt wieder ängstigen, es wäre besser, bei ihnen zu sein. »Lass uns fahren!«, wiederholte er.
Sein Freund schob die Antenne in das Radio und ließ das Gerät in der Tasche verschwinden. Wenig später waren sie auf dem Weg nach Bawayan.
Sie hatten den Wind im Rücken, und Honesto erreichte mit dem Moped eine nie zuvor erlebte Geschwindigkeit. Danilo rechnete sich aus, in weniger als zwei Stunden zu Hause zu sein. Rechtzeitig vor dem Eintreffen des Sturmes, so dass er seinen Eltern noch helfen konnte, Fenster und Türen zu sichern. Das Geld, das er durch seinen Job in der Villa Salita verdiente, hatte wesentlich dazu beigetragen, aus der Holzhütte ein Haus aus gemauerten Wänden zu machen. Mit einem abgeteilten Schlafzimmer für die Eltern, einem Raum für die Zwillinge und einer Küchenecke. Damit gehörte seine Familie zu den besser gestellten Bewohnern des Dorfes, die überwiegend zu mehreren in einfachen Holz- oder Wellblechhütten hausten.
Danilo war entschlossen, der Armut zu entkommen. Eines Tages würde er ein Haus in der Stadt besitzen und seinen Eltern und den Zwillingen ein besseres Leben ermöglichen. Noch musste er sich dem Willen seines Vaters beugen und ihm bei der Verarbeitung von Flechtweide zu Körben und Schalen helfen. Aber er hatte bereits etwas Geld beiseitegelegt und sich vorgenommen, sobald es ausreichte, einen Weg zu suchen, der ihn aus dem Elend der Mittellosigkeit in den Wohlstand städtischen Lebens führen würde. Auch ohne das zweifelhafte Angebot des Europäers.
Ein heftiger Schlenker des Mopeds riss ihn aus seinen Gedanken. Hätte er sich nicht instinktiv blitzschnell an Honesto festgeklammert, wäre er vom Sitz gerutscht. Sein Freund stieß unverständliche Flüche in den Fahrtwind und verringerte die Geschwindigkeit. »Der Wind hat gedreht«, rief er schließlich und deutete mit einem Kopfnicken auf die Bäume am Straßenrand. Die Zweige neigten sich tief, Blätter fegten über die Fahrbahn.
Er hat auch zugenommen, ergänzte Danilo für sich und wandte den Blick rückwärts. Hinter ihnen war der Himmel schwarz geworden. Dunkelgraue Wolkenungetüme rasten über das Land. Das nachlassende Knattern des Mopeds wurde von einem Lärmteppich aus Heul- und Pfeiftönen überdeckt. Danilo spürte, wie der Wind an ihnen zerrte und Honesto zum Fahren von Schlangenlinien zwang.
Wir müssen Schutz suchen, dachte er. Gleichzeitig sah er die verängstigten Gesichter seiner Schwestern vor sich. Nein, er wollte nach Hause, er musste nach Hause.
Honesto verlangsamte das Tempo weiter. Er schien Danilos Gedanken zu ahnen. »Wir fahren erst mal weiter«, rief er über die Schulter. »Solange es nicht regnet, kann ich einigermaßen die Spur halten. Zum Glück ist kein Verkehr.«
Danilo klopfte ihm zur Bestätigung auf den Rücken. Vielleicht zog der Sturm an ihnen vorbei oder ließ wieder nach. Um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, schmiegte er sich dicht an seinen Freund und umklammerte dessen Oberkörper. Die starre Verbindung mit dem Fahrer schien das Lenken zu erleichtern. Seitliche Ausschläge wurden geringer, und Honesto beschleunigte vorsichtig. Noch hatten sie fast die Hälfte des Weges zu bewältigen. Danilo betete zum Gott des Wetters, ein Einsehen zu haben und ihn rechtzeitig zu Hause ankommen zu lassen.
Obwohl er die Strecke genau kannte, wusste er nicht mehr, wo sie sich befanden. Die Sicht war eingeschränkt, der Himmel hatte sich weiter verfinstert und vor einigen Minuten hatte Regen eingesetzt. Der Wind peitschte die Tropfen nahezu waagerecht über das Land, im Nu war seine Kleidung durchnässt. Honesto reduzierte wieder die Geschwindigkeit. »Ich kann nicht mehr viel erkennen!«, schrie er. »Wir müssen uns irgendwo unterstellen.« Danilo wollte widersprechen, doch in dem Augenblick, in dem er den Mund öffnete, gab es einen heftigen Schlag. Das Moped schoss quer über die Fahrbahn, schwankte bedrohlich, landete in einem Graben und blieb mit dem Vorderrad stecken. Wie von einem bockenden Pferd wurden die Freunde abgeworfen und fanden sich in einem schlammigen Rinnsal wieder, das rasch anschwoll. Das Geräusch des Motors erstarb. Aus dem Regen war eine Sturzflut geworden, in dicken Tropfen prasselte er vom Himmel. Der weitere Verlauf der Straße war kaum noch zu erkennen.
»Meine Maschine«, rief Honesto, rappelte sich mühsam auf und packte Danilos Handgelenk. »Wir müssen sie da rausholen. Bevor der Motor voll Wasser läuft.«
Mit vereinten Kräften zerrten sie das Moped aus dem Graben und schoben es zur Straße. Einige Speichen des Hinterrades waren verbogen. Offenbar war ein abgebrochenes Aststück in das Rad geraten. Zuversichtlich trat Honesto auf den Kickstarter. »Sie hat mich noch nie im Stich gelassen«, brüllte er gegen Sturm und Regen an. Danilo betrachtete den mit Schlamm bedeckten Antrieb und registrierte das strömende Wasser auf Zündkerze und -kabel. Der Anblick machte wenig Hoffnung, dass sich der Motor zum Leben erwecken lassen könnte. Während Honesto sich mit zunehmender Ungeduld abmühte, sah Danilo sich um. Schemenhaft erkannte er den Bahndamm, der hier neben der Straße entlangführte. Nun wusste er wieder, wo sie waren. Zwei oder drei Kilometer weiter kreuzte die Bahnlinie die Straße. Dort, in der Unterführung, konnten sie Schutz suchen.
»Wir schieben bis zur Bahnbrücke«, schlug er vor. »Da haben wir wenigstens so was wie ein Dach über dem Kopf.«
Honesto zögerte.
»Es ist nur ein Kilometer«, log Danilo. »Unter der Brücke kann deine Maschine abtrocknen. Vielleicht fährt sie dann wieder.«
Noch einmal versuchte sein Freund, den Motor zu starten, schließlich willigte er ein. Er schwang sich auf den Sitz. »Du schiebst zuerst«, bestimmte er. »Wir wechseln uns ab.«
Ein Teil der Strecke erwies sich als leicht abschüssig, so dass sie die Unterführung schneller erreichten, als Danilo vermutet hatte. Außerdem hatten Sturm und Regen nachgelassen. Erleichtert überschlug er die restliche Fahrzeit. Vielleicht würden sie ihr Dorf doch noch erreichen. Mit deutlicher Verspätung, aber vor Einbruch der Nacht.
»Das war aber mehr als ein Kilometer«, schimpfte Honesto erschöpft, als er das Moped abstellte.
»Stimmt«, bestätigte Danilo. »Ich habe mich geirrt. Aber ich dachte, wir wären schon weiter.« Honesto winkte ab und wandte sich seinem Fahrzeug zu. »Hoffentlich kriege ich sie in Gang.« Er hockte sich vor die Maschine und zog den Zündkerzenstecker ab. »Ich brauche etwas Trockenes. Zum Abwischen.«
»Morgen vielleicht«, erwiderte Danilo bitter. Er hob den Kopf und lauschte. War es Donnergrollen, das inzwischen eingesetzt hatte, oder hatte er gerade einen Motor gehört? Auf dem Weg waren ihnen kaum Fahrzeuge begegnet, überholt hatte sie niemand. Auf der Strecke gab es auch sonst wenig Verkehr, aber dass nicht ein einziger Lastwagen oder Transporter auf dem Weg in ihr Dorf war, erschien ihm seltsam. Angestrengt versuchte er, den Regenschleier zu durchdringen und das Motorengeräusch noch einmal aus dem Getöse des Windes herauszuhören. Allmählich, aber immer deutlicher, geriet der vage Ton zu einem dumpfen Brummen. »Ein Lastwagen«, rief Danilo. »Vielleicht kann er uns mitnehmen.«
Honesto erhob sich und neigte den Kopf. »Das wäre die Rettung. Das Moped …« Er unterbrach sich, als in der grauen Suppe gelbliche Lichter auftauchten, die langsam näherkamen.
Danilo winkte heftig, der Fahrer stoppte und kurbelte die Scheibe runter. Ein vernarbtes Gesicht mit grauen Haaren und Bartstoppeln erschien. »Was ist los?«
»Wir kommen nicht weiter«, rief Danilo und zeigte auf das Moped. »Können Sie uns mitnehmen?«
»Euch schon. Aber für das Moped ist kein Platz.« Er deutete zur Ladefläche, auf der Betonrohre gestapelt waren.
Fragend sah Danilo Honesto an. Der steckte den Zündkerzenstecker in die Hosentasche und nickte. »Ich komme mit. Mein Moped holen wir morgen ab.«
Die Jungen kletterten ins Führerhaus und quetschten sich auf den Beifahrersitz.
Trotz der schweren Ladung schwankte der Lastwagen, als sie aus dem Schutz der Unterführung auf freies Feld kamen und der Sturm mit offenbar neu entfesselter Kraft das Fahrzeug erfasste. »Gut, dass ich Beton geladen habe«, knurrte der Fahrer. »Sonst hätte mich der Wind schon in den Graben gedrückt.«
Kilometer um Kilometer quälte sich das schwere Gefährt voran. Der Weg war kaum noch zu erkennen, Wasser floss über die Fahrbahn oder vermischte sich mit Erde, schwemmte Sand, Steine und Schlamm auf die Straße. Blitze zuckten über das Land und erleuchteten für Sekundenbruchteile die Gegend. Donner krachte ohrenbetäubend, übertönte kurzzeitig den dröhnenden Motor. Sie erreichten die Wegkreuzung, von der aus man die Lichter des Dorfes hätte sehen müssen. Doch so sehr Danilo sich auch bemühte, seine Augen konnten die Finsternis nicht durchdringen. Eine diffuse Angst stieg in ihm auf. Was war dort geschehen? Stromausfall?
Auch Honesto schien beunruhigt. Er deutete nach vorn. »Kann doch nicht sein, dass schon alle schlafen. Zumindest Joselitos Laden müsste noch beleuchtet sein.«
»Da komme ich mit meinen Rohren wohl zu spät«, murmelte der Fahrer.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Danilo.
»Wahrscheinlich ist alles überschwemmt, und das Wasser hat den Transformator erreicht. Kurzschluss. Paff! Ende. Die Ecke, wo der steht, sollte trockengelegt werden. Eigentlich schon vor drei Jahren. Aber mein Chef hat erst in diesem Sommer den Auftrag gekriegt.«
Danilo schüttelte den Kopf. »Unser Bürgermeister hat gesagt, es kann nichts passieren. Die Rohre würden nur vorsorglich verlegt.«
Der Fahrer zog geräuschvoll den Rotz hoch und spuckte zwischen seinen Beinen auf den Boden des Führerhauses. »Na, der muss es ja wissen.«
Das Dorf lag vollständig im Dunkeln. Als sie die ersten Hütten erreichten, hielt Danilo es nicht mehr aus. »Ich muss aussteigen«, rief er. »Können Sie bitte anhalten.«
Der Fahrer stoppte, die Jungen kletterten aus dem Führerhaus und standen sofort bis zu den Knöcheln im Wasser. Sie stemmten sich gegen den Wind, der um Hütten und Häuser heulte. Während der schwere Lastwagen im Schritttempo über die Dorfstraße rumpelte, versuchten Danilo und Honesto, den Weg zu erreichen, der zu ihren Elternhäusern führte. Vor ihnen tauchte ein Licht auf. Es schwankte und flackerte. Ein Mann mit einer Handlampe hangelte sich an einem Zaun entlang. Als sie näherkamen, erkannten sie Joselito. Er schrie etwas gegen den Sturm, das sie nicht verstanden. Erst als sie ihn erreichten, wurden aus den Sprachfetzen Worte.
»Ihr müsst umkehren! Wir müssen ins Oberdorf. Hier ist es zu gefährlich. Alles überschwemmt. Einige Häuser sind schon eingestürzt.« Wie zum Beweis krachte es neben ihnen. Die Wand eines Holzhauses knickte weg, das Dach polterte herab, Schindeln und Bretter segelten durch die Luft, irgendwo jaulte ein Hund.
Entsetzt starrten die Jungen auf die Trümmer. »Wir haben ein Steinhaus«, murmelte Danilo. »Da kann so schnell nichts passieren.«
Joselito zuckte mit den Schultern. »Bei Ismeldas Eltern ist eine Mauer umgefallen. Der Fluss ist über die Ufer getreten und fließt mitten durchs Unterdorf, sein Wasser weicht den Boden auf und schwemmt die Erde weg. Dem hält nichts stand, auch die Steine nicht.« Er schwenkte seine Lampe. »Kommt mit! Eure Familien sind bestimmt auch schon oben.«
Danilo schüttelte den Kopf. »Ich muss erst nachsehen, ob meine Eltern … Meine Schwestern … Vielleicht brauchen sie Hilfe.« Er wandte sich um und stemmte sich erneut gegen den Wind. Honesto blieb zurück. »Ich gehe mit Joselito«, rief er. Danilo war mit seinen Gedanken schon bei seiner Familie. Die Angst trieb ihn an, er versuchte, schneller zu laufen, doch Sturm und Regen ließen ihm keine Chance.
Als das Haus in Sicht kam, registrierte Danilo erleichtert, dass Dach und Wände unversehrt waren. Die alte Hütte, die nur noch als Werkstatt und Lager für die Weidenkörbe diente, schien reichlich windschief. Weil nirgends Licht brannte, wirkte das Grundstück verlassen. So rasch der Wind es erlaubte, strebte er vorwärts, erreichte schließlich die Tür. Er öffnete und rief erst nach Lailani und Mayumi, dann nach seinen Eltern, doch drinnen rührte sich niemand.
Ein beängstigendes Geräusch von draußen ließ ihn zurückschrecken und das Haus umrunden. Angstvoll verharrte er vor dem Schuppen. Die Wände bewegten sich im Rhythmus der Windböen, Holz knarrte, Balken ächzten. Krachend schlug die offene Tür gegen den Rahmen. Erst jetzt erkannte Danilo, was passiert war. Eine Kokospalme war auf die Hütte gestürzt und hatte das Dach eingedrückt. Einige der Wellblechplatten fehlten, andere waren ins Innere der Hütte gefallen und bewegten sich scheppernd im Wind. Ungehindert prasselte der Regen auf das Lager. Der Schaden wäre unermesslich. Oder hatte Vater die Körbe rechtzeitig in Sicherheit gebracht? Vorsichtig näherte er sich der Tür, ergriff ein herumliegendes Brett und verkeilte sie damit. Im Inneren der Hütte herrschte Dunkelheit. Dennoch wusste Danilo sofort, dass die Ware verdorben war, denn er roch die Feuchtigkeit in der Flechtweide. Zögernd betrat er den Raum. Er stieß auf einen nachgebenden Widerstand und hockte sich nieder, um nach dem Hindernis zu tasten.
Füße. Sie waren nackt, darüber umgekrempelte Hosenbeine. Danilo schrie auf. »Nein! Nein! Nein!« Sein Gehirn weigerte sich, die Wahrheit aufzunehmen. Während er den vom Wasser umspülten Körper nach einem Lebenszeichen befühlte, hoffte er auf ein Wunder. »Gib mir meinen Papa wieder!«, betete er und zerrte an der leblosen Gestalt. Sie ließ sich nicht bewegen. Danilo kroch zum Oberkörper seines Vaters. Quer über der Brust lag ein Balken, im Hals steckte ein Stück Wellblech. Schwindel erfasste Danilo, und ihn überfiel die Sehnsucht, sich neben seinem Vater dem gurgelnden Wasser zu ergeben. Die Kälte brachte ihn zur Besinnung. Er musste Helfer holen. Den Vater befreien, wiederbeleben, ins Krankenhaus bringen. Er sprang auf und rannte aus der Hütte.
Vor dem Haus hielt er inne. Wo waren seine Mutter und die Mädchen? Im Inneren des Hauses stand ebenfalls das Wasser. Es war dunkel, aber in der Küche musste eine Taschenlampe sein. Er fand die Schublade, schaltete das Licht ein und erstarrte erneut. Seine Mutter saß vornübergebeugt in ihrem Sessel. Er hastete zu ihr und stieß sie an. »Mama! Was ist …?« Ihr Körper kippte nach vorn und platschte ins Wasser. Erst jetzt bemerkte er den Geruch nach erkaltetem Feuer. Wasser tropfte auf halb verkohltes Holz im Kamin. Der Sturm musste die Verkleidung auf dem Dach fortgerissen haben. Wind und Regen hatten das Feuer erlöschen lassen und gleichzeitig den Abzug des Rauchs verhindert. Danilo zerrte den toten Körper seiner Mutter auf den Sessel zurück, damit er nicht im Wasser lag. Dann stürzte er ins Zimmer der Zwillinge.
Mayumi lag auf dem Bauch in ihrem Bett, presste den Kopf in die Armbeuge und wimmerte leise vor sich hin. Den anderen Arm hatte sie um Lailani gelegt, die dicht neben ihr lag. Deren Blick war starr, reagierte nicht auf den Lichtstrahl der Taschenlampe, Mayumi dagegen hob den Kopf. Obwohl ihm die Beine wegzuknicken drohten, packte Danilo seine Schwester und zog sie hoch. Mühsam löste er ihre Hand vom Hals der Zwillingsschwester. Lailanis Körper war kalt. »Was ist passiert?«, fragte er atemlos. Doch Mayumi schluchzte nur und bekam kein Wort heraus. Noch einmal ließ er den Strahl der Taschenlampe über Lailanis bleiches Gesicht huschen, dann wandte er sich um und trug seine Schwester aus dem Haus.
Der Sturm peitschte ihm Regen ins Gesicht, und Mayumis Gewicht lastete schwer auf seinem Arm, aber er wusste, dass sie und er nur überleben würden, wenn sie das Oberdorf erreichten.
Anna Lehnhoff schreckte aus dem Schlaf und starrte auf die Leuchtziffern des Radioweckers. Halb sechs. Viel zu früh. Im Traum hatte ein Bär sie verfolgt. Ein kräftiger Braunbär mit dem Gesicht von Markus Wille, ihrem Chefredakteur. Er war von einem riesigen Sockel auf dem Bahnhofsvorplatz geklettert und hatte ihr zugerufen, sie solle auf ihn warten. Um seinen Pranken zu entgehen, rannte sie im Slalom um die Säulen der Pergola, die das Bahnhofsgelände zur Stadt hin abgrenzten. Doch plötzlich stand er vor ihr, statt eines Fells trug er nun jenen geräumigen Cordanzug, in dem sie ihn vor vierzehn Jahren kennengelernt hatte, als sie zur Vorstellung beim Tageblatt nach Göttingen gekommen war. In dem Augenblick, in dem Wille den Mund geöffnet hatte, um ihr etwas Bedeutendes mitzuteilen, war sie aufgewacht.
Weil ihre Blase sie drängte, verließ sie das Bett und wankte benommen ins Bad. Während sie auf der Toilette saß, versuchte sie die Traumbilder zu verscheuchen. Gleichzeitig wusste sie um deren reale Hintergründe. Seit Wochen beschäftigte sie sich mit einem in der Stadt geplanten Denkmal, das aus einem tonnenschweren Sockel bestehen würde, der nichts zu tragen hätte als eine Inschrift mit den Namen der Göttinger Sieben und dem der Künstlerin. Der Entwurf war umstritten, und die Diskussion darum füllte die Leserbriefspalten ihrer Zeitung. Obwohl es bereits das von Günter Grass geschaffene Denkmal am Campus gab, fand Anna es richtig, auch auf dem Bahnhofsplatz an die Göttinger Professoren zu erinnern, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestiert hatten und darum vom Landesherrn geschasst worden waren. Nicht nachvollziehen konnte sie den Wunsch der Künstlerin, ihren Namen dort einzureihen, als gehörte sie dazu.
Anna spülte. Während sie die Hände wusch und trocknete, betrachtete sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. Bis zu ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag hatte sie nicht ans Älterwerden gedacht. Doch inzwischen war sie der Vierzig näher als der Dreißig, und die Jahre hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Die Krähenfüße an den Augen waren noch zu ertragen, aber um den Mund hatten sich Falten gebildet, die sich von Jahr zu Jahr weniger kaschieren ließen. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und kehrte ins Bett zurück.
Heute stand ihr ein wichtiges Gespräch mit Markus Wille bevor. Der Chefredakteur würde bald in Pension gehen und hatte angedeutet, vorher noch ein paar Weichen für die Besetzung der Ressorts stellen zu wollen. Anna wusste, dass sie im Gespräch für »Lokales« war. Sie rechnete damit, sich heute entscheiden zu müssen, war aber immer noch unsicher, ob sie die Verantwortung übernehmen wollte. Mehr Freiheit hatte sie mit ihrem jetzigen Status als Redakteurin ohne eigenes Ressort auch. Und die würde sie ungern aufgeben. Vielleicht sollte sie ihre Entscheidung vom Verlauf des Gesprächs abhängig machen.
Markus Wille hatte sie seinerzeit in Empfang genommen, als sie sich nach erfolgreicher Bewerbung in der Redaktion vorgestellt hatte. Sie hatten sich gut verstanden, später hatte sie mit der einen oder anderen journalistischen Eskapade seine Geduld und Nachsicht bis an die Grenzen strapaziert. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie sich an die Geschichte der Göttinger Feldhamster erinnerte. Was ihr zunächst als Satire erschienen war, hatte sich als reales Göttinger Phänomen entpuppt. Die Stadtverwaltung hatte einen Baustopp verfügt, nachdem das Bauland für ein Forschungsinstitut von einer Hamsterfamilie besiedelt worden war. Investitionen von fünfzig Millionen hätten auf der Kippe gestanden. Nach heftigem Streit zwischen Naturschützern, Stadt und Universität waren die Nagetiere umgesiedelt und die Bauarbeiten wieder aufgenommen worden. Aber dann waren die Hamster zurückgekehrt. Drei der possierlichen Steppentiere waren im Universitätsgelände herumspaziert. Man hatte sie eingefangen, und die Diskussion hatte von Neuem begonnen.
Göttingen war immer für eine Provinzposse gut. Zuletzt hatte ein Streit um Fußmatten in der Fußgängerzone für deutschlandweite Belustigung gesorgt, nachdem die Verwaltung einen Geschäftsinhaber – wohl wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit – aufgefordert hatte, einen Türvorleger zu entfernen.
Um die Sechs-Uhr-Nachrichten nicht zu verpassen, schaltete sie das Radio ein. Noch lief Musik. »Atemlos durch die Nacht« trällerte die Stimme dieser Kräuterbutter-Tchibo-Goldschmuck-Schlagersängerin.
»Der Kragenbär, der holt sich munter einen nach dem andern runter«, sang Anna laut auf die Schlagermelodie und schlug die Bettdecke zurück. Schlafen würde sie doch nicht mehr können. Vielleicht sollte sie die Zeit nutzen, der Herrichtung ihres Äußeren ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu widmen als sonst. Sorgfältiger schminken und die Kleidung farblich abstimmen. Markus Wille war, was das weibliche Geschlecht anging, jenseits von Gut und Böse, aber Mann blieb Mann.
Summend schlüpfte sie aus dem Nachthemd, ging wieder ins Bad und begutachtete erneut ihr Spiegelbild.
Eigentlich schade, dass Ingo mich so nicht sieht, dachte sie, nachdem sie die aufwändige Prozedur beendet hatte. Ihr Freund befand sich auf einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrer, darum hatte sie nicht bei ihm übernachtet. Übermorgen wäre er wieder da. Vielleicht sollte sie sich dann die Zeit nehmen, um sich noch einmal so zu schminken? War nur die Frage, ob er es überhaupt bemerken würde. Ingo war ein liebevoller und umsichtiger Partner, dazu ein wunderbarer Liebhaber. Aber meistens war er so auf seine Arbeit konzentriert, dass Anna gelegentlich den Eindruck hatte, er müsse sich erst an sie und den Rest der Welt erinnern.
Obwohl Ingos Wohnung groß genug für sie beide wäre, hatte sie ihr Apartment in Nikolausberg behalten. Einerseits wegen der Phasen, in denen Ingo intensiv arbeitete und sie ihn besser in Ruhe ließ, andererseits wegen der Unabhängigkeit, die sie sich so erhielt. Nach abendlichen Terminen oder einem Zug um die Häuser mit Freundinnen schlief sie lieber allein. Der Nachteil bestand darin, dass sie sich ihr Frühstück selbst machen und dafür einkaufen musste. Aber es gefiel ihr, ihren Kaffee mit einem frischen Croissant und Vollkornbrötchen mit selbstgemachter Marmelade, die ihr eine mütterliche Freundin aus dem Haus geschenkt hatte, in aller Ruhe genießen und dabei die Zeitung studieren zu können.
Vor der Verkaufstheke der Bäckerei Küster in dem kleinen Edeka-Einkaufszentrum traf sie die Kollegin aus dem Feuilleton, die ebenfalls zu früher Stunde Brötchen kaufte. »Habe um acht den ersten Interviewtermin«, erklärte sie. »Reinhard Mey. Gestern war das Konzert, um neun fahren er und seine Leute schon wieder weiter. Nach Bochum.«
Anna wünschte ihr viel Glück und machte sich auf den kurzen Rückweg. In allen Ressorts gab es mehr Arbeit für weniger Leute als noch vor vierzehn Jahren. Ihre Kollegin war vom Lokalen zum Magazin gewechselt, um es etwas ruhiger angehen zu können. Doch die Rechnung war offenbar nicht aufgegangen.
Im Hausflur zog sie das Tageblatt aus dem Briefkasten und eilte die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Schon auf der Treppe überflog sie die Schlagzeilen der ersten Seite. Oben prangte eines dieser schrecklichen Unfallfotos von der A 7. Wieder einmal hatte man die Autobahn sperren müssen, weil ein Transporter in die Leitplanke gefahren und dann mit einem Lkw kollidiert war. Der war umgekippt und hatte seine Ladung – lebende Hähnchen – auf der Fahrbahn verteilt. Unwillkürlich schüttelte Anna den Kopf. Seit Jahren verging kaum ein Monat ohne schweren Unfall auf der A 7 im Raum Göttingen. Sie fragte sich, ob das eine zufällige Häufung sein konnte oder ob auf anderen Abschnitten und anderen Autobahnen genauso viel passierte.
Der Blick auf die Lokalseite ließ sie schmunzeln. Mehrere Göttinger wollten am Abend in Geismar einen Schwarm unbekannter Flugobjekte gesichtet haben, die leuchtend und blinkend ihre Bahn gezogen hätten. In Göttingen gab es UFO-Gläubige, die sogar einen Landeplatz für fliegende Untertassen von fernen Galaxien kreiert hatten. Kollege Georg Jäkel hatte sich mit Vergnügen auf die Aufgabe gestürzt, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Klarheit über mögliche Ursachen hatte es jedoch nicht gegeben. Auch keinen Kontakt zu Außerirdischen.
Als Anna ihr Frühstücksgeschirr abräumte, stellte sie fest, dass sie mehr Zeit vertrödelt hatte, als sie nach ihrem Gefühl zur Verfügung gehabt hatte. Nun wurde es schon wieder knapp. Sie steckte ihr Smartphone in die Handtasche, nahm ihre Schlüssel und verließ die Wohnung.
In der Redaktion herrschte eine eigentümliche Stimmung. Trotz der frühen Stunde gab es bereits Hektik, aber alle Aktivitäten verliefen seltsam lautlos. Auf dem Weg zum Newsdesk begegnete ihr Tom. »Was ist hier eigentlich los?«, fragte sie.
Er antwortete leise mit einer Gegenfrage. »Hast du nicht heute einen Termin mit Markus?«
Anna nickte. »Ja, noch vor der Blattkritik.«
»Die Verabredung fällt aus«, flüsterte ihr Kollege. »Wille kommt nicht.«
»Wieso nicht?« Anna schüttelte verständnislos den Kopf. Ihr Chefredakteur war zweifellos stark übergewichtig und sah nicht besonders gesund aus. Aber er war nie ernsthaft krank gewesen und hatte in all den Jahren kaum einmal gefehlt.
Tom neigte den Kopf und sprach noch leiser. »Er ist gestern Abend mit dem Notarztwagen ins Klinikum gebracht worden. Wir wissen nicht, weshalb. Aber offenbar ist es ziemlich ernst.«
»Sie können es sich in Ruhe überlegen! Nur denken Sie nicht zu lange nach! Es gibt noch andere Kliniken und andere Transplantationschirurgen. Aber wir würden gern mit Ihnen zusammenarbeiten. Wir sind sicher, in Ihnen den richtigen Partner gefunden zu haben.« Der gut gekleidete Besucher mit den streng nach hinten gegelten dunklen Haaren, die er im Nacken etwas zu lang trug, hatte sich als Janosch Brodsky vorgestellt. Er erinnerte an den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer Norddeutschen Landesbank, der wegen des Vorwurfs der Veruntreuung von Bankvermögen vor Gericht gestanden hatte. Schon als er durch die Tür gekommen war, hatte Professor Fabricius ihn als halbseiden empfunden. Eigentlich empfing er am Nachmittag niemanden mehr. Der Besucher musste sich irgendwie am Vorzimmer vorbeigemogelt haben. Nun zog er ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts, faltete es auseinander und schob es über den Tisch.
Fabricius warf einen Blick auf die Seite. Und entdeckte das vertrauliche Zahlenwerk zur finanziellen Zukunft seiner Abteilung. »Woher haben Sie das?«
Brodsky lächelte nachsichtig. »Wir machen uns kundig, bevor wir unsere Geschäftspartner auswählen.« Er deutete auf das Papier. »Wir wissen beide, dass Sie in den nächsten Jahren mehr Operationen brauchen, wenn Sie Ihre Abteilung und Ihren Ar… äh … Posten retten wollen. Sie müssen auch an Frau und Kinder denken. Töchterchen Franziska beispielsweise benötigt für ihr Studium Unterstützung. Und wir wollen doch beide, dass ihr die gute Gesundheit erhalten bleibt, die sie von Mutter Constanze geerbt hat. Oder doch von Ihnen beiden? Vom Junior sprechen wir vielleicht lieber nicht. Obwohl – selbst einen missratenen Sohn möchte man nicht verlieren. Oder?«
»Lassen Sie meine Familie aus dem Spiel!«, knurrte Fabricius wütend. Zugleich registrierte er erschrocken, über welche Informationen der Besucher verfügte.
»Wie Sie wollen.« Brodsky hob die Hände. »An mir soll es nicht liegen. Ganz allein Ihre Entscheidung, Herr Professor. Sie zeigen sich kooperativ, und nichts wird sich ändern. Allenfalls zum Positiven.« Er deutete auf das Papier. »Denken Sie an die Zahlen!«
»Wie stellen Sie sich das vor?«, presste Fabricius heraus. »Ich kann hier nicht allein entscheiden.«
»Das findet sich«, erklärte Brodsky mit einer großzügigen Geste. »Es gibt Erfahrungen. Wir sind Ihnen gerne mit ein paar Tipps behilflich. Entscheidend ist der Wille zum Erfolg. Wir bringen Ihnen die Patienten. Natürlich nur Persönlichkeiten mit entsprechendem finanziellem Hintergrund. Im Bedarfsfall auch Spender. Sie, verehrter Herr Professor, sorgen dafür, dass zeitnahe Operationen stattfinden und rechnen großzügig ab. Dabei sind Ihren Privatliquidationen nach oben keine Grenzen gesetzt. Sie sehen, es gibt nur Gewinner. Ihre Abteilung gewinnt an Aufschwung und Reputation, die Finanzverwaltung freut sich über steigende Einnahmen, der Stiftungsrat der Universität ist begeistert, Ihre persönlichen Einkommensverhältnisse verbessern sich. Kurzum: Alle sind glücklich und zufrieden. Mal ganz abgesehen von den Patienten, denen Sie das Leben retten.«
»Das ginge auf Kosten anderer Patienten«, empörte sich Fabricius. »Wenn OP-Termine verschoben würden, könnte das für den ein oder anderen kritisch werden.«
Brodsky lehnte sich zurück und breitete die Arme aus. »Die Welt ist nun mal nicht gerecht. In Afrika sterben massenhaft Leute am Ebola-Virus, woanders schlachten sich die Menschen gegenseitig ab. Früher hätten Ihre Patienten auch keine Chance gehabt. Wenn sich die nun im Einzelfall ein klein wenig verringert – so what?«
Fabricius schüttelte den Kopf. »Mein ärztliches Ethos erlaubt mir nicht …«
»Das sollten Sie uns ersparen, Herr Professor!« Brodskys verbindlicher Ton bekam plötzlich Schärfe. »Von Ethos zu sprechen, macht sich nicht gut vor dem Hintergrund eines Todesfalls, für den Sie die Verantwortung tragen.« Er zog einen Stapel Blätter hervor und warf ihn auf den Tisch. »Als Sie noch in der Unfallchirurgie waren, hatten Sie einen Notfall-Patienten, der mit starken Schmerzen im Brustbereich eingeliefert worden ist. Sie haben unterstellt, dass die Beschwerden auf die Einklemmung eines Nervs im Bereich der Halswirbelsäule zurückzuführen seien, weil dieser Verdacht vom Patienten selbst geäußert worden war. Daraufhin haben Sie eine Wirbelblockade und Muskelverspannungen diagnostiziert, keine weiteren Untersuchungen eingeleitet und den Mann nach Hause geschickt. Dort ist er wenige Stunden später an einem Herzinfarkt verstorben. Weitere Einzelheiten finden Sie in diesem Dossier.«
Der Arzt spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich und sein Puls sich beschleunigte. »Das ist … war … eine Verkettung unglücklicher Umstände«, stieß er hervor. »Das Gericht hat die Klage abgewiesen und die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren eingestellt.«
»Ja, ja. Wie sagte Platon? Die schlimmste Art der Ungerechtigkeit ist die vorgespielte Gerechtigkeit.« Brodsky beugte sich vor und tippte auf die Unterlagen. »Das Gericht ist Ihren Gutachter-Kollegen gefolgt. Aber wie die Sache ausgeht, wenn man das Verfahren heute noch einmal aufrollt, steht in den Sternen. Die Witwe hat seinerzeit verzichtet. Aber inzwischen wäre der Sohn bereit, noch einmal vor Gericht zu ziehen.« Er sah sich um und umfasste mit einer Geste das gesamte Büro des Professors. »Mit all diesem hier wäre jedenfalls Schluss. Nach dem Prozess gegen Ihren Kollegen wegen der dubiosen Lebertransplantationen wird sich kein Gutachter mehr finden, der Ihnen einen Persilschein ausstellt.«
Fabricius’ Hand zuckte, er war versucht, zum Telefon zu greifen und den Sicherheitsdienst anzurufen. Und anschließend Oberstaatsanwalt Wegemann, den er aus dem Golfclub kannte. Doch gleichzeitig schreckte er vor dem Gedanken zurück, den Erpressungsversuch und damit die Geschichte von damals öffentlich zu machen oder gar seine Familie zu gefährden. Dieser Janosch Brodsky war nicht dumm, hatte sich gut informiert und schien ohne Skrupel zu sein. Und mit Sicherheit arbeitete er nicht allein. Auch der zweite Impuls – ihn umzubringen – war wohl keine Erfolg versprechende Option. Er musste nachdenken. In Ruhe. Auf das Angebot eingehen würde er jedenfalls nicht. Dafür würde die Reihenfolge der Organvergabe manipuliert werden müssen. Undenkbar. Obwohl … wenn Franziska etwas geschah, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden. An seinen Sohn dachte er erst in zweiter Linie. Er war immer schwierig gewesen und bereitete als Einundzwanzigjähriger mehr Probleme als je zuvor. Lennart war unberechenbar und konnte die verrücktesten Dinge tun, wenn er in Bedrängnis geriet.
»Ich sehe«, meldete sich Brodsky – nun wieder in konziliantem Ton – nach einigen Sekunden des Schweigens, in denen man den Zeiger der großen Uhr an der Bürotür ticken hörte, »Sie müssen nachdenken, Herr Professor. Das ist völlig in Ordnung. Wir geben Ihnen Zeit. Gehen Sie in sich, wägen Sie ab und kommen Sie zu einer Entscheidung!« Er zog einen kleinen Karton in Form einer Visitenkarte aus der Tasche und warf ihn auf den Schreibtisch. Darauf stand nicht mehr als eine handgeschriebene Mobilfunknummer. »Und dann rufen Sie hier an! Wenn Sie die letzten beiden Ziffern vertauschen, erreichen Sie mich im Auto. Ich bin zuversichtlich, dass wir zu einem für beide Seiten gewinnbringenden Ergebnis kommen.«
Der Besucher erhob sich. Fabricius sprang auf. Brodsky hob abwehrend die Hände. »Ich finde allein hinaus. Auf Wiedersehen, Herr Professor.«
Die Tür blieb offen. Sekunden später erschien das Gesicht der Vorzimmersekretärin Marion Kleinert. »Ist alles in Ordnung?«
Fabricius vernahm die Stimme wie durch einen Nebelschleier, ohne ihre Worte wirklich aufzunehmen.
»Herr Professor?«
Er zuckte zusammen, und es gelang ihm mit Mühe, in die Welt zurückzukehren. Dennoch hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen. Hastig schob er ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her. »Ja, Frau Kleinert, was gibt es denn?«