Buch

Jenny Taylor ist glücklich! Sie hat ihr Leben im Griff, mit Philippa die beste Freundin, die man sich wünschen kann, und ihr Freund, der hinreißende Matt, hat sie endlich um ihre Hand gebeten. In dieses Idyll platzt ausgerechnet Jennys Mutter. Die will feiern und trinken und shoppen, alles, nur bloß keine Hochzeit planen, denn dass das Konzept Ehe nicht funktioniert, musste sie gerade am eigenen Leib erfahren. So kommen beide nicht zusammen, Jenny braucht eine Mutter, die sich mit ihr freut und alles genau plant, ihre Mutter will eine Tochter, die mit ihr zusammen feiern geht.

Und dann benimmt sich auch noch Philippa total komisch. Sie, die noch nie ein großer Fan von Matt war und schon immer der Meinung, er sei der absolut Falsche für Jenny, ist vehement gegen die Hochzeit und hält damit auch nicht hinterm Berg. Stress pur! Einziger Lichtblick ist natürlich Matt. Und vielleicht auch noch der Typ aus der Apotheke, der, im Gegensatz zu Matt, Schmetterlinge im Bauch und weiche Knie auslöst …

Autorin

Lucy-Anne Holmes ist Schauspielerin und Autorin. Sie hat lange in London gelebt und wohnt derzeit in New York. Wer braucht schon Schmetterlinge im Bauch ist bereits ihr vierter Roman bei Blanvalet.

Von Lucy-Anne Holmes bei Blanvalet lieferbar:

Oh Happy Dates · Halb verliebt ist voll daneben ·
Liebe lieber lebenslänglich

Lucy-Anne Holmes

Wer braucht schon
Schmetterlinge
im Bauch?

Roman

Aus dem Englischen
von Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Just a Girl Standing in Front of a Boy«
bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, London

1. Auflage
Deutsche Erstausgabe März 2014
bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2014 by Lucy-Anne Holmes
Copyright © 2014 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung eines Motivs von
© Getty Images/Datacraft/sozaijiten
Redaktion: Margit von Cossart
LH · Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-11350-6

www.blanvalet.de

Für all die großartigen Frauen, die ich kenne,
und für jene, die ich nicht kenne,
und die alle mit den dunklen Tagen kämpfen …

1

Mein Name ist Jenny Taylor, aber jeder nennt mich Fanny. Ich gebe zu, es ist nicht ideal, Fanny genannt zu werden, aber es könnte schlimmer sein. »Es könnte schlimmer sein« ist mein Leitspruch. Ich brauche ihn oft. Mir lief das Glück nämlich nicht gerade nach. Nehmen wir zum Beispiel den Grund, wie ich zu dem Namen Fanny kam. Als ich noch zur Schule ging, entdeckten meine Mitschüler, dass mein richtiger Name, wenn man ihn sehr schnell hintereinander sagte, wie das englische Wort genitalia klang. Jahrelang bekam ich eine kreative Auswahl von Spitznamen verpasst, die sich von Genitalien ableiteten, aber Fanny war der Name, der schließlich hängen blieb – und er war nicht der schlimmste.

Also, mein Name ist Jenny Taylor oder Fanny, und sonst gibt es eigentlich nicht viel über mich zu sagen. Ich bin ein ziemlich unauffälliger Mensch. Würde ich an einer Wunderlampe reiben und ein lächelnder Dschinn würde erscheinen und mir einen Wunsch freistellen, würde meine Antwort nicht »Ruhm und Reichtum« lauten, nicht einmal »Weltfrieden«. Nein, ich würde sagen: »Hallo, Flaschengeist, könnte ich bitte einfach nur glücklich sein bis ans Ende meiner Tage?«

Diese Antwort zeugt nicht gerade von viel Ehrgeiz, oder? Aber Glücklichsein ist für mich wichtig. Und zwar deshalb, weil es einmal eine Zeit gab, in der ich ganz und gar nicht glücklich war.

Ich habe das, was man witzigerweise eine »depressive Vorgeschichte« nennt. So, jetzt ist es raus. Ich fühle mich immer ein bisschen wie eine Versagerin, wenn ich das zugebe. Obwohl ich mich bemühe, das Gefühl abzustellen. Statistisch gesehen ist jede vierte Frau von einer Depression betroffen. Ich frage mich, ob diese Frauen, wenn sie über ihre Krankheit sprechen, auch alle Panik davor haben, dass die Leute denken könnten: Boah! Die hat aber einen ziemlichen Dachschaden! Ich hoffe nicht. Philippa, meine beste Freundin, betrachtet meinen Vater als die Ursache für meine Depression, weil mein Vater mich HASST. Im Ernst, wann immer ich ihn sehe, sagt er mindestens ein Mal: Jenny, du bist so nutzlos. Im Prinzip hat er damit nicht unrecht, aber das ist wahrscheinlich nicht gerade der aufbauendste Kommentar, den man seiner Tochter gegenüber abgeben kann. Meine frühen Lebensjahre waren also kein Zuckerschlecken, und dann war auch noch meine erste Liebe ein ziemlich böser Reinfall. Ich war in diesen Typen, Steve, bis über beide Ohren verliebt, obwohl er auf mich geschissen hat, und das aus gewaltiger Höhe. Aber das liegt nun schon viele, viele Jahre zurück.

Heute dreht sich bei mir alles um das Glücklichsein. Das ist für mich so wichtig, dass ich sogar mein eigenes Glücksmanifest habe, das innen an meiner Zimmertür hängt. Es wurde von Philippa verfasst, kurz nachdem sie im Fernsehen eine Dokumentation über ein Glücksprojekt gesehen hatte. Sie hat im Prinzip die wesentlichen Punkte abgekupfert, die die Glücksforscher in der Sendung testeten.

Das Lächelnde-Fanny-Manifest
von Philippa Flemming

(Fanny, du musst UNBEDINGT jeden Tag diese Aufgaben
erfüllen, oder ich werde all deine Klamotten verbrennen!)

1) Telefoniere mit einem Freund/einer Freundin. Das kann ruhig immer ich sein. Sag einfach: »Ich rufe an, um den ersten Punkt auf meiner Liste abzuhaken.« Und dann können wir über das Übliche quatschen: wie wir später einmal unsere Kinder nennen werden, unsere fünf Lieblingsbeläge auf Sandwiches, was du zu Robbie Williams sagen würdest, wenn du ihm zufällig auf der Straße begegnen würdest …

2) Züchte etwas, also nicht jeden Tag etwas Neues, sondern lass einfach etwas gedeihen – zum Beispiel eine Pflanze! Alter Teesatz in einer Tasse zählt nicht!!!

3) Denke vor dem Einschlafen an das, was an diesem Tag gut war und wofür du dankbar bist. Ein Beispiel dafür, das mir zufällig und spontan einfällt, könnte »meine beste Freundin Philippa« sein!!!

4) Unterhalte dich mit jemandem von Angesicht zu Angesicht. Skype gilt nicht, du musst dafür schon das Haus verlassen. Ein simples »Schönes Wetter heute, nicht? Wissen Sie, was die für morgen vorhergesagt haben?« zu dem Mann im Eckladen reicht bereits.

5) Belohne dich selbst (das muss nicht zwingend Geld kosten – ein wohltuendes Bad in der Wanne, ein Abstecher in den Charity Shop, um diverse Sachen anzuprobieren, so was in der Art).

6) Lache – mein Favorit – siehe beiliegendes Geschenk!!!

7) Bewege dich (kann auch nur ein zehnminütiger Spaziergang um den Block sein).

8) Schenke einem Fremden ein Lächeln oder ein Hallo (es muss eine andere Person sein als in Punkt 4).

9) Vollbringe eine gute Tat – indem du entweder jemandem hilfst oder keine Mühen scheust, um zu jemandem nett zu sein.

10) Sieh nie mehr als zwei Stunden am Tag fern.

Es gibt zwei Dinge, die diese Liste über Philippa verrät: erstens, dass sie sich sklavisch an das Motto hält »Wozu einen Punkt setzen, wenn man stattdessen sechstausend Ausrufezeichen verwenden kann?«, und zweitens, dass sie die beste Freundin ist, die frau sich jemals, jemals, jemals (und so weiter) im Leben wünschen kann. Bei dem Geschenk, das sie erwähnt, handelte es sich um je eine Live-DVD meiner drei Lieblingscomedians.

Also, ich bin von dem Glücksmanifest begeistert. Es hält nicht nur die dunklen Tage in Schach, auch habe ich dadurch einige wunderbare/schreckliche/magische/höchst eigenwillige Menschen kennengelernt und bei zahlreichen Gelegenheiten wunderbare/schreckliche/magische/höchst eigenwillige Abenteuer erlebt. Der einzige Haken an dem Glücksmanifest ist, dass man jeden Tag zehn Dinge erledigen muss, was ziemlich anstrengend sein kann. Aus diesem Grund kann man mich regelmäßig dabei beobachten, dass ich um zwei Uhr morgens (nach sorgfältiger Überlegung haben Philippa und ich beschlossen, dass für das Glücksmanifest der Tag erst dann endet, wenn ich ins Bett gehe, statt um Mitternacht) wahllos fremde Leute angrinse und versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln, oder sie anflehe: »Bitte, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Damit meine ich allerdings keine sexuellen Gefälligkeiten!«

Auf diese Weise habe ich Al, meinen Mitbewohner, kennengelernt. Das war am Posh Nosh, einem Imbisswagen, der immer vor dem Tiddlies steht, Tiddlesburys einzigem Nachtklub. Arty, der Chef vom Posh Nosh, machte mir gerade Cheesy Chips and Beans, während ich ein Auge auf ihn hatte. Es ist nämlich sehr wichtig, dass zuerst das Salz und der Essig auf die Pommes kommen, dann die Bohnen und zu guter Letzt die Käsesoße. Jede andere Variante funktioniert nicht. Ich verhinderte also in aller Ruhe ein Cheesy-Chips-and-Beans-Desaster, als ich diesen seltsam aussehenden Typen wahrnahm, der plötzlich neben mir auftauchte. Er war ungefähr zwei Meter groß und hatte längere leuchtend rote Wuschelhaare, studierte die Speisekarte und rieb sich das Kinn.

»Kann ich dir bei deiner Entscheidung behilflich sein?«, fragte ich ihn vergnügt.

Ich klinge recht oft vergnügt, wenn ich andere frage, ob sie Hilfe benötigen, besonders in den frühen Morgenstunden. Das ist etwas, an dem ich arbeiten muss.

»Äh …«, murmelte er.

»Hilfe, Arty, stopp, bitte zuerst die Bohnen«, keuchte ich erschrocken.

»Äh …«, murmelte der seltsam aussehende Typ wieder.

»Du bestellst sowieso einen Lamm-Döner.«

»Bitte?«

»Männer nehmen immer den Lamm-Döner.«

»Was?«

»Zuerst starren sie eine Ewigkeit auf die Karte und bestellen dann immer den Lamm-Döner mit extra Knoblauchsoße.«

Arty, der gerade Käsesoße über meine Pommes träufelte, lächelte.

»Habe ich nicht recht?«

»Sie hat recht.«

»Kann ich bitte einen kleinen Klecks Barbecuesoße an der Seite haben zum Dippen?«, bat ich. Die Soße enttäuscht einen nie.

»Ich nehme einen Lamm-Döner.«

»Siehst du?«

»Ich glaube, den wollte ich eigentlich gar nicht. Du hast mir das eingeflüstert.«

»Das machen wir hier in Tiddlesbury öfter.«

»Bist du von hier?«

»Na ja, ich bin hier zur Schule gegangen. Aufgewachsen bin ich ein paar Kilometer weiter. Ich bin erst später hierhergezogen, als ich achtzehn war. Ich hatte die Wahl zwischen London, Edinburgh und Tiddlesbury. Und du?«

»Ich wohne seit heute hier.«

»Herzlich willkommen. Hast du vor, morgen die Sightseeing-Tour in dem offenen Doppeldeckerbus zu machen?«

»Es gibt hier eine …?«

»Nein, das war ein Scherz.«

»Oh.«

»Aber meine Freundin Philippa und ich können dir die Stadt zeigen, falls du Lust hast.«

»Oh … äh … super, wirklich, wow, danke.«

Damit war die gute Tat für den kommenden Tag schon geklärt. Sauber.

»Ich würde dir Philippa ja gerne vorstellen, aber …« Ich drehte den Kopf nach rechts, zu den Müllcontainern des Nachtklubs, hinter denen Philippa gerade mit dem Typen knutschte, der an der Heißtheke im Supermarkt arbeitete. Philippa beendet den Abend gern mit einem kleinen Flirt. »… sie ist gerade beschäftigt.«

»Und du bist dir sicher, es macht euch nichts aus, mich herumzuführen?«

»Nein, ganz und gar nicht. Wir treffen uns morgen hier um fünf. Zieh dir bequeme Schuhe an und steck ein bisschen Geld ein. Wie heißt du eigentlich?«

»Al. Und du?«

»Jenny. Aber alle nennen mich Fanny. Willkommen in Tiddlesbury.«

»Danke.«

Und damit überließ ich ihn seinem Lamm-Döner. Ohne zu ahnen, dass ich fünf Tage später von Philippas Elternhaus zu Al ziehen würde, wo ich immer noch wohne. Genau in diesem Moment liege ich in meinem Bett und lausche dem Klappern und Scheppern von Al in der Küche. Er nennt das kochen. Er steht morgens recht häufig früher auf, um vor der Arbeit in der Küche herumzuwerkeln. Heute Morgen backt er einen Kuchen. Ich glaube, irgendeine extravagante Schokoladenkreation. Ein süßer Duft weht zu mir herüber, sodass mein Magen gurgelt und mein Mund sich mit Speichel füllt. Etwas, das nicht passiert, wenn Al am frühen Morgen Entenragout kocht.

Das Glücksmanifest prägt also bis heute zu einem großen Teil mein Leben. Tatsächlich fürchte ich mich vor dem Gedanken, wo ich ohne es wäre.

»Fan! Fanny, Fanny!« Al klopft an meine Tür.

»Komm rein«, rufe ich.

Al stößt die Tür weit auf und stürmt auf mein Bett zu. Er trägt seine Boxershorts mit den Acid-House-Smileys und seinen Frotteebademantel, an dem der Gürtel fehlt und der ihm knapp bis zu den Knien reicht, und er ist voller Mehlstaub. In der Hand hält er einen kleinen Teller, auf dem ein riesiges Stück Schokoladenkuchen liegt.

»Fanny, ich hab sie klargemacht.«

»Wen hast du klargemacht?«

»Nigellas Schokoladentorte«, informiert er mich stolz.

»Ach so, das war gerade missverständlich.«

»Iss!«, befiehlt er und legt den Teller auf meine Bettdecke.

Ich strahle. Falls es überhaupt ein frühes Anzeichen dafür gibt, dass der Tag ein Knaller wird, dann ist das Schokoladenkuchen zum Frühstück – und dann noch einer nach einem Rezept von Nigella Lawson, der berühmten Fernsehköchin. Ooh, ich muss es noch mal sagen. Schokolade. Ich liebe das Zeug.

Ich haue gierig rein. Al beobachtet mich, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Er mustert mich sehr genau. Ich höre auf zu kauen und sehe ihn misstrauisch an.

»Starrst du auf meinen Damenbart?«, frage ich.

»Deinen was?«

»Meinen Damenbart«, wiederhole ich und streiche betrübt über den pelzigen Flaum über meiner Oberlippe. Ich sehe zurzeit nichts anderes mehr, wenn ich in den Spiegel schaue.

»Fan, du hast keinen Damenbart.«

Gott, ich liebe Al. Er ist absolut und total süß. Obwohl er ziemlich riesig ist und unheimlich aussieht. Ernsthaft! Würde er einen nach Hause verfolgen, würde man sich vor Angst in die Hose machen. Ich muss in jener Nacht von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, als ich ihn vor dem Imbisswagen ansprach. Abgesehen davon, dass Al der größte Mensch ist, dem ich jemals begegnet bin, und dass seine Haare an feuerrote Zuckerwatte erinnern, ist das einzig Auffällige an ihm ein bleibender Bluterguss auf der Stirn, weil er ständig mit dem Kopf gegen Deckenlampen und Türrahmen stößt. Er ist liebenswürdig, aufmerksam und treu wie ein Hündchen, aber er arbeitet in der Stadtverwaltung und neigt daher zum Jammern. Oh, und er ist übrigens bemerkenswert gut im Bett für jemanden, der so tollpatschig ist. Das weiß ich aus erster Hand, weil ich einmal mit ihm geschlafen habe. Na schön, elfmal. Okay, vielleicht war es auch fünfzehnmal. Aber das war letztes Jahr während dieses unglaublichen Kälteeinbruchs, als unsere Heizung den Geist aufgab und ich seit einer Million Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte, also kann man mir das kaum vorwerfen. Aber haltet mich jetzt bitte nicht für ein Flittchen. Ich habe nur mit drei Männern geschlafen, und ich bin siebenundzwanzig. Das ist eine Quelle der endlosen Enttäuschung.

»O Gott, der Kuchen ist der Hammer«, stöhne ich.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich die Schokoladentorte klarmache«, säuselt Al.

»Bitte, ich krieg sonst dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf.«

»Ich hätte nichts dagegen …«

»Themawechsel«, sage ich mit erhobener Hand. »Okay, Al, also, ich brauche deine ehrliche Meinung. Siehst du, ich habe ihn blond gefärbt …«

Al blickt mich verständnislos an.

»Meinen Damenbart«, fauche ich. »Findest du nicht, dass er jetzt noch übler aussieht? Wie ein goldenes Meerschweinchen? Ich kann ihn aus dem Augenwinkel sehen.« Ich kneife ein Auge zu, während ich mit dem anderen nach unten schiele, und stülpe die Oberlippe vor, um mein Argument zu untermauern. »Ich weiß nicht, ob ich Enthaarungscreme oder Wachs benutzen soll oder was anderes. Das ist ein …« Ich werde in meinen Überlegungen von meinem Handy unterbrochen, das auf dem Nachttisch liegt und klingelt. »Wohl ein Frühaufsteher«, sage ich und greife danach. Ich sehe die Nummer von zu Hause. »O nein, das ist mein Dad«, flüstere ich. In meiner Brust bildet sich auf der Stelle ein vertrauter harter Knoten.

Wow, mein frühmorgendliches Schokoladenhoch ist bereits zu Fall gebracht. Ich habe seit Wochen nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen. Es kann sein, dass es schon über einen Monat her ist. Wir haben nicht gerade das beste Verhältnis. Es ist kompliziert, wie es so schön heißt.

»Hallo?«

»Jenny! Oh, oh, Liebes. Jenny, ich muss los, aber wir sehen uns später!«

Die Verbindung wird gekappt.

Es war gar nicht mein Vater. Es war meine Mutter. Und das wiederum ist sehr, sehr eigenartig.

2

»Ahhhhhh!« Ich brülle, als würde ich gerade eine sehr intime Enthaarung durchführen. »Ahhhhh!«

»Fan, muss ich mir Sorgen machen?«, schreit Al und hämmert an die Badtür.

»Nein, alles okay«, rufe ich aus der Dusche.

»Sicher?«

»Ja. Ich hatte heute Morgen nur schon ziemlich viel Zucker, und dann rief meine Mum an und sprach die gefürchteten Worte ›Wir sehen uns später‹. Ahhhhh!«

»Verständlich, Fan, nur verständlich.«

Dies ist keine unübliche Reaktion auf einen potenziellen Besuch meiner Eltern. Ich versuche, sie so selten wie möglich zu Gesicht zu bekommen. Ich habe vor langer Zeit erkannt, dass es für mein seelisches Wohlbefinden besser ist, wenn ich sie nicht zu oft sehe. Ich habe genug davon, meinen Vater fragen zu hören: »Und, Jenny, hast du etwas erreicht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Hast du einen gefunden, der dich heiraten will? Nein? Und warum überrascht mich das nicht?« Das ist außerdem gesünder für meine Leber, weil ich normalerweise eine ganze Flasche Wein und eine sehr, sehr lustige DVD brauche, um mich von einer elterlichen Begutachtung zu erholen.

»Ahhhhh!«

Schreien in der Dusche ist sehr befreiend. Obwohl es für mich ungewöhnlich ist, dass ich das an einem Freitag brauche. Ich liebe die Freitage, die Tage vor dem Wochenende. Freitags lächeln die Menschen immer, wozu sie an den anderen Werktagen eher nicht neigen. Aber das Beste ist eine Erfindung von Philippa namens Fashion Friday. Freitagmorgens um Punkt acht schicken Philippa und ich uns im Wechsel per SMS einen Dresscode für den Tag. Zuerst simsten wir so etwas wie »Blümchenlook« oder »Gothic«, aber im Laufe der Jahre wurden unsere Ideen immer extremer. Vergangene Woche lautete der Code »Verregneter Damentag in Ascot«, und in der Woche davor »Yogalehrerin mit Schwäche für tantrischen Sex«. Wir leben in einer Kleinstadt mitten in England, darum brauchen wir jede Aufregung, die wir kriegen können.

»Ahhhhh!«

Laut der Uhr im Bad ist es 7.57 Uhr. Das muss dann wohl mein letzter Schrei gewesen sein. Ich steige aus der Dusche und schlüpfe in meinen Bademantel, um anschließend meine erste tägliche Aufgabe des Glücksmanifestes zu verrichten. Ich gieße Matilda, meine Topfpflanze.

»Morgen, Hübsche«, sage ich.

Es gibt eine Untersuchung, die gezeigt hat, dass das Wachstum von Pflanzen unterstützt wird, wenn man mit ihnen spricht, und wenn ihr mich fragt, dann ist da etwas dran, weil Matilda praktisch die Größe einer ausgewachsenen Kuh hat. Früher hatte sie ihren Platz im Wohnzimmer, bis sie nirgendwo mehr stehen konnte, ohne eine Tür oder die Sicht auf den Fernseher zu blockieren. Also residiert sie nun im Bad. Wir mussten die Kommode herausstellen, um Matilda dort unterzubringen, was allerdings schade war. Da von der guten, alten Matilda gesprächstechnisch nicht viel zurückkommt, übertreibe ich es nicht, sondern begnüge mich immer mit einer knappen Aufmunterung. Würde jemand mit mir am Tag nur zwei Worte reden, wäre ich zufrieden mit »Morgen, Hübsche«.

Ich gehe in mein Zimmer zurück. Dort setze ich mich auf das Bett, lege mein Handy in den Schoß und warte auf den Code für den Fashion Friday. Ich greife nach meinem Buch, um noch kurz darin zu schmökern, bevor Philippas Anweisung kommt. Der Roman, den ich gerade lese, ist genial. Er handelt von einer Dreißigjährigen namens Rosie, die ihre eigene Radioshow zur Hauptsendezeit hat; ja, Rosie ist ziemlich cool, obwohl ihr am Mikrofon immer wieder versehentlich beleidigende Kommentare herausrutschen, weshalb ich mir ein bisschen Sorgen um ihren Job mache und eigentlich auch um ihre Beziehung. Sie ist mit diesem süßen Soap-Darsteller liiert, aber sie verbockt die Sache aus ihrem verzweifelten Wunsch heraus, dass er um ihre Hand anhält.

Eigentlich fällt es mir jedes Mal schwer, das Buch zur Seite zu legen, aber heute Morgen, bevor ich überhaupt anfange, in die Geschichte einzutauchen, schaue ich aus dem Fenster und stöhne auf. Habe ich verschwitzt, dass meine Eltern heute kommen wollten? Nein. Ganz bestimmt nicht. Das weiß ich, weil Matt, mein Freund, heute Abend irgendetwas Besonderes mit mir vorhat und ich mich definitiv nicht doppelt verabredet hätte. Ich stöhne wieder. Dass meine Mutter angerufen hat, ist wirklich eigenartig. Meine Mutter greift sonst nie zum Hörer. Mein Vater reagierte früher nämlich immer sehr komisch, wenn sie telefonierte. Es widerstrebte ihm, dass sie Anrufe entgegennahm. Er überprüfte grundsätzlich jeden Einzelverbindungsnachweis und fragte sie dann über ihre Telefonate aus. Als Folge davon hörte sie auf zu telefonieren. Was erklärt, dass ihr Anruf vorhin so außergewöhnlich war. Wir sehen uns später, sagte sie definitiv.

Ich habe nichts dagegen, meine Mutter nachher zu treffen. Sie ist nicht annähernd so schrecklich wie mein Vater. Im Großen und Ganzen sind meine Mutter und ich gut miteinander ausgekommen, als ich noch zu Hause wohnte, obwohl wir uns nicht mehr so nahestehen, seit ich ausgezogen bin. Trotzdem habe ich an sie ein paar schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit. Sie hat ihr Bestes versucht, um mich gegen meinen Vater zu verteidigen, sie bereitete das beste Brathähnchen und den besten Shepherd’s Pie zu, und donnerstagabends, wenn Dad Squash spielen war und wir den Fernseher für uns allein hatten, saßen wir gemeinsam davor und kringelten uns über Only Fools and Horses.

Aber mein Vater kann es nicht leiden, dass meine Mutter ohne ihn irgendwohin geht, also heißt das, wenn ich sie heute sehen werde, wird er garantiert dabei sein.

Mein Handy vibriert, Philippas SMS kommt. Ich halte die Luft an wie immer. Es ist acht Uhr, der Dresscode für heute.

Der Fashion-Friday-Code dieser Woche … Kantinenfrauen!

Das ist eine Verarsche. Zumindest hoffe ich das. Philippa ist sauer, weil ich heute Abend mit Matt ausgehe. Normalerweise trifft Matt sich freitagabends mit seinen Arbeitskollegen beim Inder zum Biertrinken und Curryessen, weshalb Philippa und ich dann immer zusammen auf die Piste gehen. Es kann nicht sein, dass Philippa will, dass ich zu meinem heißen Date heute Abend als Kantinenfrau verkleidet erscheine. Sie muss sich ja auch so anziehen, und sie will selbst ausgehen, zu unserer Lieblingsveranstaltung im Klub, der Flying-Hirsch-Night. Definitiv wird sie jemanden abschleppen wollen, aber in der Aufmachung als Kantinenfrau dürfte das sogar ihr schwerfallen. Man könnte sie für die Putzfrau halten und sie bitten, die Sauerei in der Toilette zu beseitigen. Ich behalte das Handy in der Hand und warte auf den nächsten glamouröseren Vorschlag. Ah, da ist er schon.

Verarscht! Der Fashion-Friday-Code diese Woche … The Child of Destiny!! Xxx

Ich simse rasch zurück.

Hübsch! Xxx

»The Child of Destiny« ist unsere Bezeichnung für die hochverehrte Frauenband Destiny’s Child. Philippa und ich sind große Fans der Gruppe, schon seit der Schule.

Ich hüpfe vom Bett und lasse den Blick durch mein Zimmer schweifen in der Hoffnung auf Inspiration. Ich liebe mein Zimmer, obwohl es bis zu einem wahrscheinlich schmerzhaften Punkt vollgestopft ist mit Secondhandware, den Rest habe ich geschenkt bekommen, nur ein paar besondere Einzelstücke sind in richtigen Läden oder im Internet neu gekauft. Meine Klamotten sind im ganzen Raum nach Farben sortiert verteilt, was einen schönen psychedelischen Regenbogeneffekt ergibt. Die Wände dahinter sind blassrosafarben tapeziert, aber das weiß nur ich.

Gestern Abend habe ich aufgeräumt. Das mache ich donnerstags immer, weil ich jeden Freitagmorgen auf die Schnelle ein Outfit zusammenstellen muss, damit ich pünktlich um Viertel vor neun auf der Arbeit bin. So wie im Moment. Ich stehe bereits in der silbernen Ecke und habe ein paar Sachen auf das Bett geworfen. Es mag extrem sein, dass ich so viele Klamotten besitze. Aber ich habe Gesellschaft im Reich der Extreme, denn Philippa ist genauso. Das ist der Grund, warum wir den Fashion Friday eingeführt haben – wir wollen unsere ausgefalleneren Errungenschaften lüften, ohne auf, sagen wir, einen besonderen Anlass warten zu müssen oder auf eine Kostümparty.

Das dritte Kleid, das ich anprobiere, ist es. Ein langärmeliges Minikleid im Metalliclook. Der Rock ist eng und das Oberteil etwas weiter, was ideal ist, weil ich in einer Arztpraxis arbeite und die Leute hauptsächlich meine obere Hälfte zu sehen bekommen – ich sitze am Empfang. Vor dem Spiegel betrachte ich mich, dann stoße ich ein Seufzen aus. An manchen Tagen ist es einfach hart, in den Spiegel zu blicken. Dieser ist offenbar einer davon. Der Gedanke an meinen Vater bewirkt immer, dass meine Augenlider und meine Mundwinkel hängen, die Kombination, die nicht gerade das hübscheste Gesicht ergibt.

»Komm schon, JT, es könnte schlimmer sein«, sage ich zu meinem Spiegelbild und ringe mir ein kleines Lächeln ab. »Schon besser.«

Ich möchte nicht von meinem Aussehen deprimiert sein. Ich werde dieses Gesicht mein ganzes Leben lang haben, da kann ich genauso gut Frieden mit ihm schließen. Außerdem sehe ich definitiv viel besser aus als früher. Als ich ein Kind war, sagten die Leute immer, ich würde komisch aussehen. Sie hatten nicht unrecht. Ich habe Fotos, die das beweisen. Ich hatte früher abstehende Ohren, einen riesigen Mund und Gliedmaßen, die ich nicht richtig unter Kontrolle hatte, was bedeutete, dass ich ständig mit Menschen und Gegenständen zusammenstieß, etwas, das meinen Vater auf die Palme brachte. Heute habe ich keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mädchen von damals. Seit Jahren hat niemand mehr mein Aussehen als komisch bezeichnet, jedenfalls nicht mein Gesicht. Obwohl, wenn man das früher oft zu hören bekam, wird man dieses Gefühl nie ganz los, um ehrlich zu sein. Vielleicht ist das der Grund für meinen Kleiderfimmel. Und für meine gefärbten Haare, denn das ist auch so ein Tick von mir. Vielleicht färbe ich nur, um die Tatsache zu verschleiern, dass ich unter der ganzen Verpackung eine seltsam aussehende, schlaksige junge Frau bin, die sich die Ohren anlegen ließ. Wer weiß! Der Gedanke ist ein bisschen makaber.

Also weiter. Meine Naturhaarfarbe ist Mausbraun, oder jedenfalls war sie das, als ich sie zum letzten Mal sah, vor sieben Jahren. Zurzeit trage ich einen himbeerroten Fünfzigerjahrebob mit kurzem Pony. Ich habe erfreulicherweise schlanke Beine, aber unerfreulicherweise keine nennenswerte Taille. Eine meiner kleinen Brüste ist deutlich größer als die andere, außerdem habe ich braune Augen. Mein Mund ist zwar immer noch groß, aber das stört mich eigentlich nicht mehr. Manchmal bekomme ich von anderen gesagt, dass sie mein reizendes Lächeln lieben, was ich sehr gern höre. Nein, ich habe kein Problem mit meinem Mund, er ist nützlich zum Reden und auch zum Essen, zwei Dinge, die ich häufig mache, und er ist auch noch für andere Sachen nützlich, die ich auch recht häufig mache, seit ich einen Freund habe, wenn ihr versteht, was ich meine. Und da mein Matt ein schöner Mann ist, kann ich wohl nicht allzu hässlich sein. Glückliche Zeiten.

Beziehungsweise dieser Tag könnte sich zumindest wie ein Glückstag anfühlen, wenn ich nicht den dumpfen Verdacht hätte, dass meine Eltern mich mit einem Besuch überraschen wollen. Und wenn ich eines weiß, dann, dass mein Vater von meinem Minikleid sicher nicht angetan sein wird und mir in leidenschaftlicher Ausführlichkeit erklären wird, warum nicht.

Ahhhhhhh!

Hör auf, an deinen Dad zu denken, Jenny. Denk an deinen Freund. Das ist viel schöner.

3

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich übersensibel bin, aber ich habe den Eindruck, dass die Leute oft überrascht sind, wenn sie erfahren, dass ich einen Freund habe. Ihr Erstaunen könnte nicht größer sein als meins. Mein Freund heißt Matthew Parry. Jenny Parry. Jenny Parry. Nicht dass Matt um meine Hand angehalten hätte. Aber die Beziehung geht nun schon seit einem Jahr, deshalb kann man nie wissen. Jenny Parry. Keinerlei genitale Assoziationen. Ein Umstand, der mich immer wieder zum Lächeln bringt. Matt ist eins achtundachtzig groß und dunkelblond. Er geht regelmäßig ins Fitnessstudio und hat muskulöse Arme. Und er ist ehrgeizig. Genau, ehrgeizig. Er arbeitet für ein großes Finanzunternehmen und wird als Vorstandsmitglied gehandelt. Ich weiß! Und er gehört mir. Allerdings hat er vor Kurzem angefangen, Golf zu spielen, was beweist, dass man nicht alles haben kann.

Würde es das Fanny-Manifest nicht geben, wären Matt und ich uns nie begegnet. Obwohl diese Begegnung nicht das war, was man als romantisches Kennenlernen bezeichnen würde. Es sei allen verziehen, die die leidenschaftliche sexuelle Anziehungskraft zwischen uns beiden nicht wahrnahmen, denn schließlich hat Matt gedroht, wegen mir die Polizei zu rufen.

Ich sollte vorher erklären, dass Punkt neun des Glücksmanifestes, obwohl dies zweifellos der Punkt ist, der am meisten Spaß in mein Leben bringt, zugleich die mit Abstand nervigste Aufgabe auf der Liste beinhaltet. Es gibt 365 Tage im Jahr. Ich befolge diese Regeln seit über sechs Jahren. Ich habe also mehr als zweitausend gute Taten vollbracht. Mehr als zweitausend gute Taten. Tagein, tagaus, ohne Pause, muss ich nach einer Möglichkeit suchen, um jemand anderem zu helfen. Darum habe ich in meiner Handtasche immer einen Vorrat an hübschen Notizkarten, sodass ich bei passender Gelegenheit eine freundliche, anonyme Botschaft für einen Fremden schreiben kann. Ich liebe es, Botschaften zu verteilen. Mich begeistert die Vorstellung, dass eine leicht unsicher wirkende junge Frau nach Hause kommt und in ihrer Tasche ein Kärtchen findet, auf dem steht, dass sie heute Abend in diesem pinkfarbenen Pullover klasse aussah und dass alle Männer sich zweimal nach ihr umdrehten und alle Frauen sich wünschten, so gut rüberzukommen wie sie. In letzter Zeit haben Philippa und ich sogar versucht, mithilfe unserer Botschaften Leute miteinander zu verkuppeln.

Egal, zurück zu der ersten Begegnung von Matt und mir. Das war an einem Freitagabend, und entgegen seiner üblichen Gepflogenheiten war Matt nicht mit seinen Arbeitskollegen ein Bier trinken und ein Curry essen, sondern besuchte einen Pub in Nunstone. Nunstone ist eine Kleinstadt ungefähr zehn Kilometer von uns entfernt, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit Tiddlesbury aufweist. Wie Tiddlesbury hat sie … eine Kirche, in die keiner geht, eine Arztpraxis, in die jeder geht, sechs Immobilienbüros, die alle nebeneinanderliegen, ein unterschwelliges Drogenproblem, nicht weniger als fünf Charity Shops, sieben Pubs, von denen drei Thai Food anbieten, einen Kebab-Laden, der sich türkisches Restaurant nennt und einen Nachtklub, in dem mal einer abgestochen wurde.

Philippa und ich fahren jeden ersten Freitagabend im Monat nach Nunstone, so wie sie das auch heute vorhat, weil der Nachtklub dort, der Ursünde heißt, dann die sogenannte Flying-Hirsch-Night veranstaltet, in der der Flying Hirsch zum halben Preis angeboten wird. Philippa und ich lieben den Flying Hirsch. Ein Shot Jägermeister in einem Longdrinkglas Red Bull ist das perfekte Nachtklubgetränk. Es trinkt sich schnell, was bedeutet, dass man auf der Tanzfläche beide Hände frei hat, und man nimmt nicht zu viel Flüssigkeit in sich auf und kommt so seltener in die Verlegenheit, die grauenhaften Toiletten in der Ursünde benutzen zu müssen. Außerdem bekommt man davon keine Fahne beziehungsweise fühlt sich am nächsten Morgen nicht, als wäre einem ein Schwertransporter auf den Kopf gekracht, wie das bei Wein der Fall ist. Aber ich schweife ab, das liegt an dem Flying Hirsch. Zurück zu der eigentlichen Geschichte.

Philippa und ich waren also in Nunstone und stimmten uns mit einem Drink in dem führenden (führend, weil es das einzige ist) Kneipenrestaurant vor Ort ein, bevor wir zur Flying-Hirsch-Night weiterzogen. Weil Freitag war, traten wir als Stewardessen einer Billigfluglinie auf, was hauptsächlich damit zusammenhing, dass wir in einem Charity Shop zwei identische Jacken im Military-Stil entdeckt hatten und dachten, dass wir, wenn wir diese mit Minirock, High Heels und viel Jägermeister kombinierten, bei den Typen Eindruck machen könnten.

Da saßen wir also nun in Nunstones führendem Kneipenrestaurant, gekleidet wie Stewardessen, und hielten im Raum nach einer geeigneten Person Ausschau, der wir eine wohlmeinende Botschaft zukommen lassen konnten.

»Da!«, zischte Philippa und beugte sich mit ausgestrecktem Zeigefinger über den Tisch, um auf meinen Arm zu tippen, bevor sie mit demselben Finger meine Aufmerksamkeit auf eine hübsche junge Frau lenkte, der ein attraktiver dunkelblonder Mann gegenübersaß.

»Oh.« Ich seufzte. »Oh, das arme Ding.«

Die junge Frau war ungefähr in unserem Alter und trug ein niedliches Blümchenkleid. Sie war außergewöhnlich hübsch, hatte eine makellose Haut wie Samt. Ihre kastanienbraune Lockenmähne war allem Anschein nach echt. Dennoch beneidete ich sie nicht einmal um ihre Naturwelle, weil die Arme einen kreuzunglücklichen Eindruck machte. Sie erinnerte mich an mich selbst vor dem Glücksmanifest. Ich schauderte kurz bei dem Gedanken an mein verängstigtes achtzehnjähriges Ich, das sich in Philippas Gästezimmer die Augen ausheulte und sich weigerte, das Haus zu verlassen.

»Philippa, du weißt, dass du jeden Abend mein erster Lichtblick bist?«

»Ja.«

»Cool.«

»Also, was schreiben wir ihr?«

»Vielleicht sollte ich ihr das Manifest aufschreiben.«

»Gute Idee«, erwiderte Philippa mit einem Lächeln. »Ich erteile dir hiermit das Copyright.«

»Vielen Dank.«

Also kramte ich in meiner Handtasche – ich nenne sie eine Handtasche, obwohl »Reisetasche« wahrscheinlich angemessener wäre. Ein Nebeneffekt von Punkt neun des Glücksmanifestes sind die Unmengen von Zeug, das ich ständig mit mir herumschleppe, weil es nützlich sein könnte, anderen Leuten zu helfen (manche würden Müll dazu sagen). Ich verlasse das Haus nie ohne Schmerztabletten, Pflaster, Umgebungskarte, Kugelschreiber, zwei Mac-in-a-sack-Regenjacken, Süßigkeiten, Minzpastillen, Kaugummi, Flaschenöffner und, wie schon erwähnt, mein Herzstück, eine Auswahl hübscher Notizkarten. Ich zog eine davon heraus, die ich seit Monaten mit mir herumtrug, und schrieb meine Botschaft darauf.

Hallo, du machst keinen besonders glücklichen Eindruck, und ich hoffe, du bist nicht beleidigt, aber Untenstehendes könnte dir helfen. Meine beste Freundin hat es für mich geschrieben, als ich total down war – ein Glücksmanifest. Ich erfülle die Aufgaben nun schon seit vielen Jahren jeden Tag, und es hat mir wirklich geholfen. Wenn du nichts damit anfangen kannst, gib es jemandem, der es gebrauchen kann.

Es gelang mir dann irgendwie, alle zehn Punkte darunterzuquetschen. Zum Schluss wurde meine Schrift immer winziger, sodass man sie wahrscheinlich nur noch mit einem Mikroskop entziffern konnte. Egal, jedenfalls bekam ich alles auf die Karte, ob man es nun lesen konnte oder nicht.

Philippa und ich tranken aus und brachen auf. Wir mussten uns beeilen, um noch ohne Eintritt in den Klub zu kommen. Es war nicht nötig, den nächsten Part abzusprechen, weil wir nach all den Jahren perfekt aufeinander eingespielt waren. Philippa stand auf und ging zu dem Tisch hinüber, an dem die hübsche Frau mit ihrem Freund saß. Ich folgte ihr. Ich sah, dass die Handtasche der Fremden (natürlich auch eine Reisetasche) vorne auf der Sitzbank neben ihr lag, offen und darauf wartend, dass ich die Botschaft hineingleiten ließ. Ein Kinderspiel.

»Bin ich jetzt blöd?«, sagte Philippa, während ich mich von hinten an die Handtasche heranpirschte. »Ich kann die Damentoilette nicht finden.«

»Oh«, begann die unglückliche junge Frau.

Ich ließ die Karte in ihre Handtasche fallen. Das ging wie geschmiert.

»He! He!«, rief ihr blonder Begleiter und sprang auf. »Was macht ihr da an ihrer Handtasche?«

Er forderte uns heraus. Philippa und ich starrten ihn an, mit offenem Mund. Wir waren bisher noch nie erwischt worden. Ich konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein, und ertappte mich bei dem Gedanken, wie nett es doch wäre, jemanden zu haben, der so gut auf mich aufpasste. Einen Flügelmann. Sicher, ich hatte eine Flügelfrau. Ich hatte mit Philippa die beste Flügelfrau der Welt. Aber als dieser schöne Mensch aufsprang, spürte ich unwillkürlich Sehnsucht nach einem Mann, der auf mich aufpasste und mich beschützte. Damals überkam mich oft diese Sehnsucht. Ich nehme an, ich sehnte mich nach Liebe. Er ist galant, dachte ich, und mir wurde bewusst, dass »galant« ein Wort war, das nicht mehr oft benutzt wurde. Jedenfalls nicht in Nunstone.

»Die Frage ›Wo ist hier das Klo?‹ ist das älteste Ablenkungsmanöver der Welt. Diebe!«, rief er. »Diebe! Ich werde die Polizei rufen!«

Nun möchte ich an dieser Stelle gern sagen, dass nicht ich mit dem Lachen angefangen habe, sondern Philippa. Sie fängt immer als Erste damit an. Das war schon damals in der Schule so, wenn wir zum Beispiel in das Büro des Direktors zitiert wurden, weil wir einen Tumult verursacht hatten (einmal haben wir versucht, Oregano zu rauchen, und dabei den Feueralarm ausgelöst). Während wir uns also kleinlaut unseren Anschiss abholten, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, dass Philippa plötzlich still zu beben begann. Unkontrolliertem Lachen geht immer ein stilles Beben voraus, und wenn es einmal anfängt, dauert es im Allgemeinen ungefähr viereinhalb Sekunden, bis ich auch lachen muss. Ich bin dann nicht fähig, ernst zu bleiben.

»Schau nach, ob was fehlt! Check deine Handtasche!«, forderte der Blonde seine Begleiterin auf und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. »Ich dachte immer, Stewardessen würden gut bezahlt!«

Die viereinhalb Sekunden waren um. Philippa fing an zu prusten. Ich musste mich setzen, weil der Lachanfall so heftig war. Ein Barmann kam zu uns herüber. Die junge Frau nahm die Karte und starrte blinzelnd auf unsere Botschaft.

»Schon gut, Matt, sie haben mir nichts gestohlen. Sie haben mir nur eine Karte zugesteckt. Lass uns gehen.«

»Eine Karte?«

»Ja.«

»Was steht drauf?«

»Nur ein Kompliment über mein Kleid.«

Der Blonde schüttelte den Kopf, als hätte er noch nie so etwas Lächerliches gehört. Die hübsche Frau lächelte beinahe, aber nicht ganz. Philippa und ich nickten uns zu und machten uns auf in Richtung Ausgang.

Ich hatte damals nicht die leiseste Ahnung, dass der Blonde mich sechs Monate später nackt sehen würde. Allerdings hatten er und ich noch ein paar weitere schicksalhafte Begegnungen, bis es so weit war.

Man darf Philippa auf keinen Fall auf meine erste Begegnung mit Matt ansprechen. Sie ist nämlich der Meinung, dass Matt nicht der Richtige für mich ist. Sie begründet das damit, dass ich bei dieser ersten Begegnung keine Engelschöre jubilieren hörte und in meinem Unterleib kein Feuerwerk losging. Sie sagt immer: Wenn er deine Eingeweide nicht zum Zucken bringt, kannst du ihn vergessen. Sie spricht oft über zuckende Eingeweide.

Es ist merkwürdig. Meine beste Freundin Philippa ist die klügste Person, die ich kenne. Ihrem Vater gehört die Arztpraxis in Tiddlesbury, ihre Mutter lebt in Amerika und ist Lebensberaterin/Sexualtherapeutin (das steht tatsächlich auf ihrer Visitenkarte), und Philippa selbst arbeitet für die Lokalzeitung, sodass sie praktisch alles über alles weiß. Sie gibt erstklassige Ratschläge zu einer ganzen Reihe von Themen, aber von der Liebe hat die Gute leider keine Ahnung. Sie glaubt, mit der Liebe sei es wie in einem Roman beziehungsweise wie in einem Film mit Hugh Grant oder Sandra Bullock, und sie ist davon überzeugt, dass es möglich ist, dass zwei Menschen sich blind verstehen und in einer unplatzbaren Blase der Glückseligkeit zusammen alt werden. Ich weiß. Das ist lächerlich.

Trotzdem finde ich es toll, eine Beziehung zu haben. Wirklich. Matt ist mein allererster Freund, was ein bisschen peinlich ist. Aber es könnte schlimmer sein, schließlich habe ich ja noch die Kurve gekriegt. Und zumindest verhindert der Gedanke an Matt, dass ich über meinen Vater nachgrübele, während ich mich für die Arbeit fertig mache.