Prolog

Effie presste sich mit dem Rücken gegen die schwere Stahltür, während Eden von außen immerzu dagegen hämmerte, damit sie ihn hineinließ. Am liebsten hätte sie die Tür aufgerissen, ihre Arme um ihn geschlungen und ihn nie wieder losgelassen. Aber sie musste jetzt stark bleiben … Gegen die Tränen ankämpfen, die in ihr aufstiegen … Sie wollte dem Töten ein Ende setzen, die Menschen retten, die sie liebte … Und sie war bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

Nachttraining

»Autsch!« Choi taumelte zurück, fing sich aber schnell wieder. »Mann, wer hätte gedacht, dass du so eine gute Kämpferin bist?« Anerkennend nickte er und ging erneut in Angriffsposition.

Adrenalin schoss durch Effies Adern. Sie senkte den Kopf und wartete auf die nächste Attacke.

Herausfordernd breitete er die Arme aus. »Bereit?«

Sie lächelte. »Mehr als bereit.«

In dem Moment trat Eden aus dem Schatten der Kokospalmen. Für einen Sekundenbruchteil fing er ihre Aufmerksamkeit. Lange genug, dass Choi sie von den Beinen riss, sie rücklings in den Sand fiel und in den schwarzen Nachthimmel blickte.

»Diesmal war ich schneller, Schätzchen.« Choi hielt ihr seine Hand hin und half ihr hoch.

Nicht nur Eden hatte sein Training unterbrochen, sondern auch einige Wächter versammelten sich am Strand und beobachteten Choi und Effie. Mit ihren Trainingsanzügen und den einheitlich kurz geschorenen Haaren, sahen die Wächter sich so ähnlich, dass es Effie immer noch schwerfiel, sie auf den ersten Blick auseinanderzuhalten.

Choi grinste. In der nächsten Sekunde sprang er auf Effie zu. Sie breitete die Arme aus, ein Energieschub schoss durch ihren Körper und spannte jeden ihrer Muskeln an, bis sie sich mit den Füßen vom Boden abstieß und in die Luft erhob. Schon flog sie so hoch, dass er nicht mehr nach ihr greifen konnte, und sauste dann im Sturzflug auf ihn hinab, umklammerte seinen Oberkörper und schleuderte mit ihm zu Boden. Sie kugelten über den kalten Sand, bis sie Chois Arme und Beine fixierte.

»Ha«, triumphierend sprang sie auf. »Zwei zu eins würde ich sagen.« Leicht außer Atem reichte sie ihm diesmal ihre Hand zur Hilfe.

»Deine Fortschritte der letzten Wochen sind riesig. Ich erkenne dich im Kampf kaum wieder«, sagte er und lachte. »Wer bist du und was hast du mit Effie gemacht?«

»Haha«, machte sie, zwang sich zu einem Lächeln und klopfte sich den Sand von der Trainingshose.

Es war nur ein Scherz, sagte sie sich in Gedanken. Er wusste nicht, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Ja, es stimmte, sie beherrschte ihre Kräfte richtig gut. Nur war Effie sich nicht sicher, ob sie es war, die die Kontrolle hatte, oder die Phönix-Seele in ihr, die immer mächtiger wurde. Tief in ihr spürte sie, dass die Tierseele ihr Handeln stärker beeinflusste als jemals zuvor.

Das war auch einer der Gründe, warum sie die Nachttrainingseinheiten so genoss. Sie hielten sie davon ab zu schlafen und wenn sie in den frühen Morgenstunden ins Bett ging, war sie meist viel zu müde, um noch zu träumen.

Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, fürchtete sie sich. Davor, dass der Phönix Kontakt mit ihr aufnahm. Es war schwer zu beschreiben und sie traute sich nicht, darüber zu reden. Mit niemandem. Seit ihrer Verwandlung vor einigen Wochen war es anders. Die Phönix-Seele regte sich häufiger, und sie wollte bestimmen. Die Richtung angeben.

Bis jetzt schaffte Effie es, sich diesem Drängen zu widersetzen. Aber wie lange würde sie stark bleiben?

»Eure Art zu kämpfen ist mehr als plump«, riss Raphael, einer der Wächter, sie aus ihren Gedanken. »Ihr seid nur gut, weil ihr übernatürliche Kräfte habt.«

Choi legte den Kopf in den Nacken und schloss genervt die Augen. Raphael mischte sich ständig ein, selbst wenn niemand nach seiner Meinung fragte, wie zum Beispiel jetzt. Es dauerte einen Moment, bis Choi die Augen wieder öffnete und ihn ansah. »Möchtest du mich zum nächsten Kampf herausfordern?«

»Wenn du ein Mensch wärst, würde ich dich in weniger als zwanzig Sekunden besiegen, aber das Kräfteverhältnis ist leider unausgeglichen, daher wäre es unfair.«

Raphael und die anderen Wächter sprachen Deutsch, was die Kommunikation deutlich erleichterte, anders als mit den Priesterinnen, unter denen nur die Pythia und Rea die deutsche Sprache beherrschten. Mit den anderen Priesterinnen musste Effie sich mit Händen und Füßen verständigen oder indem Eden und Choi für sie übersetzten. In solchen Momenten war sie neidisch auf die Fähigkeit der beiden, sich in jeder Sprache verständigen zu können.

»Ach was!« Choi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für so einen guten Kämpfer wie dich dürfte doch selbst ein stärkerer Gegner kein Problem sein.«

Raphael ging einen Schritt auf ihn zu. »Wir könnten ja Effie fragen, ob sie dir deine Kräfte aussaugt«, sagte Raphael herausfordernd. »Dann kämpfen wir von Mensch zu Mensch.«

Choi fing aus tiefster Seele an zu lachen. »Das hättest du wohl gern, du arroganter Schnösel. Ich liebe meine Fähigkeiten.« Er musterte ihn von oben bis unten. »Warte mal«, sagte er und beugte sich ein Stück vor, nah an Raphaels Gesicht heran. »Sehnst du dich nach übernatürlichen Kräften?«

Raphael presste die Lippen zusammen.

Bei seinem Anblick klappte Choi das Kinn herunter und es sah nicht einmal gespielt aus. »Wirklich? Du möchtest ein Elementar sein? Du wüsstest doch gar nicht, mit deinen Fähigkeiten umzugehen.«

Selbstgefällig hob Raphael die Nase in die Luft und betrachtete Choi von oben herab. »Deine Überheblichkeit wird dir schon vergehen.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von ihnen ab und marschierte davon.

Choi schnaubte. »Wenn er kein Mensch wäre, hätte ich ihm längst eine runtergehauen. Und zwar so fest, dass es richtig wehtut.«

»Mach dir nichts draus.« Ermutigend klopfte Effie ihm auf die Schulter. »Er ist nur neidisch.«

»Du hast gut reden«, sagte er und zog eine Zigarettenschachtel aus der Trainingsjacke, »dich nervt dieser Idiot ja auch nicht permanent.«

»Nein, ich bin schließlich der Phönix-Elementar«, scherzte sie. »Mich ignoriert er lediglich.«

»Du Glückliche.« Er lachte, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. »Ich denke, für heute haben wir genug trainiert.« Er nahm einen tiefen Zug, stieß eine Rauchwolke in die Luft und war im nächsten Augenblick im Dunkel der Nacht verschwunden.

Beinahe als wären sie enttäuscht, zogen sich die umstehenden Wächter mit hängenden Schultern zurück. Nur Eden blieb übrig. Im Mondlicht war seine dunkle Silhouette zu sehen. Er kam zu ihr und als er vor ihr stand, schmiegte Effie ihren Kopf an seine kühle Jacke.

Gemeinsam mit Ilias, einem älteren Wächter, war Eden für das Training und die Vorbereitungen für den Kampf gegen Nathaniel zuständig. Und obwohl sie hier gemeinsam auf der Insel ›festsaßen‹, sah Effie ihn verdammt selten: beim Training, beim Essen und wenn sie nachts todmüde ins Bett fielen. Dass sie mal einige Minuten allein waren, kam so gut wie nie vor. Wenn sie genau darüber nachdachte, waren Tage vergangen, seitdem sie sich abseits der anderen zu zweit unterhalten hatten. Ständig wurde Eden von Zenon, Ilias, den anderen Wächtern und hin und wieder auch von einigen Priesterinnen in Beschlag genommen. Im Vergleich zu ihm ließen sie Effie regelrecht in Ruhe. Was sie ehrlich gesagt wunderte, jetzt, wo sie der voll verwandelte Phönix-Elementar war.

Ein plötzliches Stechen in ihrer Brust ließ sie zusammenzucken. Seit einigen Tagen schon quälte sie dieses Gefühl: ein Sog, ein Riss in ihrer Herzgegend, als würde etwas fehlen. Sie wusste genau, was ihr fehlte: der Stein, den Nathaniel wieder an sich gerissen hatte. Das versteinerte Phönix-Ei war von den Vorfahrinnen der Priesterinnen mit einem Zauber belegt worden, um die Phönix-Seele im menschlichen Körper gefangen zu halten … In Effies Körper … Wenn sie ihn bei sich trug, gab er ihr Kraft, schenkte ihr Zuversicht und löste in ihr das Gefühl der Vollkommenheit aus. Aber er war nicht bei ihr, dabei brauchte sie ihn doch so sehr. Ihre Seele, oder vielmehr die Phönix-Seele schrie danach. Tagsüber, und nachts in ihren Träumen noch viel mehr. Sie musste ihn holen. Sie musste ihn holen, um sich komplett zu fühlen.

Mit einem Ruck ließ sie von Eden ab und schüttelte sich. Diese Gedanken und Gefühle … Es waren nicht ihre. Oder doch?

Gelassen steckte er seine Hände in die Hosentaschen, legte den Kopf schief und musterte sie. »Alles in Ordnung?«

»Es … Ich …«, die richtigen Worte für das zu finden, was in ihr vorging, war nicht so einfach.

In ihr regte sich ein ärgerliches Gefühl. Oder war es Belustigung? Jedenfalls fühlte es sich fremd an, als wären es nicht ihre eigenen Emotionen. Versuchte die Phönix-Seele nun schon im Wachzustand mit ihr zu kommunizieren?

Effie wollte die Kontrolle nicht verlieren. Was, wenn die Phönix-Seele bald die Oberhand über ihr Handeln gewann? Dann wäre sie nicht mehr Besitzerin und Chefin ihres Körpers, sondern nur noch Untermieterin, die in eine tiefe dunkle Ecke vertrieben wurde, in der ihr kein Mitspracherecht mehr zustand. Während die Phönix-Seele durch die Lüfte flog und sich auf einem einsamen Berg niederließ, fern von jeglicher Zivilisation.

O nein, bitte nicht. So wollte sie nicht enden.

Eden schmunzelte. »Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.«

»Nimmt dein Seelentier oft Kontakt mit dir auf?«, fragte sie.

Sein Lächeln versiegte. Auch wenn er die Kontrolle über seine Gesichtszüge behielt, spürte Effie, dass ihn diese Frage ärgerte.

»Ich meine, in deinen Träumen«, fügte sie hinzu.

Er schürzte seine Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Seit wann bist du so neugierig?«

»Ich war schon immer neugierig«, sagte sie und musterte ihn skeptisch. Dank ihrer Neugierde hatten sie sich schließlich kennengelernt.

Einen Moment wirkte er irritiert.

»Stimmt«, sagte er dann, löste seine Arme, griff nach ihrer Hand und zog sie wieder zu sich. »Ich wollte dich nur testen.« Behutsam legte er seine Hände um ihren Kopf und sah ihr in die Augen.

Sein Atem streichelte über ihre Haut und ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Langsam näherten sich seine Lippen den ihren. Sie seufzte. Das machte er clever. Seitdem sie auf der Insel waren, fanden sie kaum noch Zeit für sich. Wenn sie ins Bett gingen, schaffte sie es gerade noch, ihm Gute Nacht zu sagen, bevor sie vor Müdigkeit und Erschöpfung sofort einschlief.

»Eden«, sie nahm etwas Abstand, damit sie nicht zum Opfer ihrer Leidenschaft wurde. »Versuchst du gerade, meiner Frage auszuweichen?«

Abwartend sah er sie an, als hoffte er, dass sie keine Antwort verlangte. Aber so leicht kam er ihr nicht davon. Sie hielt seinem Blick stand und wartete. So lange, bis er ergeben seufzte.

»Ja.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Mein Seelentier nimmt Kontakt mit mir auf.«

»Häufiger als früher, ich meine, bevor ich mich vollständig verwandelt habe?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

Wenn er wüsste, wie verdächtig er sich durch diese Antwort machte. Vielleicht sollte sie mal über einen Job bei der Polizei nachdenken. Gerade hatte sie ihr Talent, Menschen zu durchschauen, entdeckt.

»Warum ärgert dich die Frage? Ist doch nichts dabei.« Unschuldig hob sie die Schultern. »Es interessiert mich einfach.«

»Ich weiß nicht genau.« Amüsiert zog er die Brauen hoch. So schnell hatte er seine Fassung zurückgewonnen. »Vielleicht, seitdem du dich vollständig verwandelt hast.« Er beugte sich zu ihr hinunter. »Oder seitdem wir hier auf der Insel sind.« Obwohl er ihr nah blieb, verschränkte er seine Arme wieder vor der Brust. »Darf ich jetzt eine Frage stellen?«

Zögernd nickte sie. »Warum nicht?«

»Nimmt die Phönix-Seele Kontakt zu dir auf?«

»Ja«, sagte sie bedächtig, »das weißt du doch.«

»Ich meine, ob sie es häufiger tut als sonst?« Er redete langsam, als spräche er mit einem kleinen Mädchen.

Verärgert musterte sie ihn. Was war nur los mit ihm? Eden kam ihr fremd vor, als stünde vor ihr eine andere Person. Zum Glück funktionierte die Fähigkeit von Nathaniels Gestaltwandler-Elementar bei ihr nicht – Effie würde einen Gestaltwandler erkennen, der versuchen würde, sich als Eden auszugeben. Anderenfalls wäre sie sich gerade nicht so sicher, ob das hier der Echte war. Doch vor ihr stand definitiv Eden. Was die Sache verkomplizierte.

»Ja, mehr als sonst«, antwortete sie.

Ein zufriedener Ausdruck trat in sein Gesicht. »Gut.«

»Gut?«, wiederholte sie. »Du findest es gut, dass die Phönix-Seele sich in meinem Körper ausbreitet und versucht, meine menschliche Seele zu vertreiben?«

»So ist es nicht.«

»Ach nein?«

»Nein«, antwortete er ungerührt. »Die Phönix-Seele leiht sich nur deinen Körper.«

»Ach so!« Sie schaffte es nicht, den Sarkasmus in ihren Worten zu unterdrücken. »Das ist natürlich was ganz anderes. Wirklich sehr beruhigend.«

Abrupt wandte Eden sich ab und rieb sich die Schläfen. Er drückte fest zu, als wollte er stechende Kopfschmerzen vertreiben. »Tut mir leid«, sagte er und blinzelte, als müsste er sich orientieren. »Ich … das, was ich gerade zu dir gesagt habe … ich meine es nicht so.« Er sah sie wieder an. »Geht es dir gut?«

»Die Frage ist wohl eher: Geht es dir gut?« Sie musterte ihn. »Ich habe das Gefühl, mit zwei verschiedenen Personen zu sprechen.«

Nachdenklich zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Ich weiß nicht genau«, gestand er. »Ich habe mich reden hören und mich beobachtet, als hätte ich die Steuerung über mein Handeln verloren.«

Eden sprach genau das aus, was sie befürchtete. Was, wenn nicht nur die Phönix-Seele, sondern auch die Tierseelen der anderen Elementare stärker wurden? Was war mit Choi? Bei ihm hatte sie bisher nichts bemerkt. Aber er war eben Choi … »Meinst du, unsere Tierseelen sind dabei, die Kontrolle über unsere Körper zu ergreifen?« Eine leichte Brise kalter, salziger Meeresluft wehte ihr übers Gesicht.

»Das sollten wir schnellstens herausfinden«, sagte Eden und sein Blick verfinsterte sich. »Wenn dem so ist, müssen wir einen Weg finden, es zu verhindern.«

Erleichtert atmete sie auf. So redete der Eden, den sie kannte. Ohne Vorwarnung fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn. Verlegen erwiderte er ihren Kuss, als hätte er ihn nicht verdient, und streichelte ihr sanft über den Rücken.

Frühstück unter Palmen

Einige Wochen waren vergangen, seitdem sie aus Nathaniels Reich geflohen waren und Ted sie auf die Phönix-Insel gebracht hatte, auf der die Priesterinnen des Orakels von Delphi lebten. Mittlerweile hatte Effie ihr Zeitgefühl verloren.

Da die Insel mit einem Zauber belegt war, der Menschen und Elementare fernhielt, stellte sie das perfekte Versteck vor Nathaniel dar. Nicht nur Ted, Eden, Choi und Effie waren hier untergekommen, sondern auch fünfzig Wächter der Pythagoreer, die mit ihnen gemeinsam in den Kampf gegen Nathaniel ziehen wollten. Einzig Vespa fehlte … Aber sie würden sie finden, sie aus Nathaniels Fängen befreien und zurückholen.

Die Größe der Insel war überschaubar. In normalem Schritttempo hatte man sie in einem Tag umrundet. In der Mitte, nahe dem heiligen Tempel, gab es eine Quelle, wo sie frisches Wasser bekamen. Die achtzehn Priesterinnen, die hier seit Jahrzehnten lebten, schliefen in Baumhäusern. Unter den Frauen waren fast alle Altersklassen vertreten, die jüngsten von ihnen waren Anfang zwanzig. Sie hatten den Besuchern die Strohhütten überlassen, die zwischen den Kokospalmen standen, und teilten sich jeweils zu dritt oder zu viert ein Baumhaus. Dennoch reichten die Schlafplätze nicht aus, deshalb hatten die Wächter am Waldrand ein Zeltlager aufgebaut.

Effie und Eden teilten sich eine Hütte. Sie diente lediglich als Schlafzimmer, denn viel mehr als eine Matratze, ein kleines Regal und ein winziges Schränkchen passte nicht hinein. Choi schlief nebenan.

Das Klima, nun ja, wie sollte man es am besten beschreiben … es war sehr wechselhaft. In der Nacht kühlte es stark ab, während es am Tag schweißtreibend heiß wurde und das gemischt mit einer Luftfeuchtigkeit, die man in Deutschland niemals erleben würde. Besonders am Nachmittag fühlte Effie sich, als liefe sie durch ein Tropengewächshaus.

Vom ersten Tag an trainierten die Elementare und die Wächter hart. Wenn sie gerade keine neuen Kampftechniken lernten, schmiedeten sie Angriffspläne, aßen oder schliefen. Das war doch ein Inselleben, wie es sich jede Frau wünschte …

Mit den Priesterinnen hätte Effie allerdings auch nicht tauschen wollen. Was machten sie eigentlich den ganzen Tag? Kleider nähen und geheime Zeremonien durchführen? Ehrlich gesagt, hatte sie keine Ahnung. Während die Priesterinnen in ihren hellen Kleidern herumliefen, waren die Wächter nur in Trainingsanzügen anzutreffen, ausgenommen Zenon, der weiterhin die weiße Leinenkutte der Pythagoreer trug, und der Pythia, die in ihrem aquamarinblauen Kleid an eine Priesterin aus Die Nebel von Avalon erinnerte.

Je länger sie auf der Insel waren, desto schlechter fühlte Effie sich. Während sie hier trainierten, hielt Nathaniel Vespa gefangen und tat ihr sonst was an. Effie versuchte, jegliche Gedanken daran zu verdrängen. Viel schlimmer war Chois wachsende Ungeduld. Hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sah sie, wie er ein Foto von Vespa aus seiner Jackentasche zog. Dann trat ein Ausdruck in seine Augen, den sie nicht von ihm kannte. Eine merkwürdige Mischung aus Wut, Liebe und Verzweiflung.

Allmählich machte Effie sich große Sorgen, dass er plötzlich auf eigene Faust losziehen könnte.

Aber sie brauchten noch Zeit, auch wenn beim Training schon große Fortschritte zu erkennen waren. Denn eins stand fest: Wenn sie Nathaniel besiegen wollten, dann mussten sie verdammt gut vorbereitet sein.

***

Früh am Morgen, noch bevor die Sonne aufging, versammelten sich alle zum Frühstücken.

Die Wächter und die Priesterinnen nahmen ihre Mahlzeit wie immer schweigend am Strand ein. Die ersten Tage hatten Choi, Effie und Eden es ihnen gleichgetan, mittlerweile aßen sie jedoch abseits der anderen auf ein paar Baumstämmen, die sie sich zwischen den Kokospalmen zusammengelegt hatten.

Wie bei jeder Mahlzeit war auch heute Morgen auf einer langen Steinplatte das Frühstücksbuffet aufgebaut, auch wenn die Auswahl nicht sonderlich groß war. Nüsse, klein geschnittenes Obst und Kokosmilch.

Effie nahm sich eine Schale und füllte sich von allem ein bisschen hinein. Als sie zu ihrem Frühstücksplatz kam und sich auf den Baumstamm zwischen Choi und Eden setzte, hatte Choi sein Schälchen schon fast geleert. Mit vollem Mund blickte er zu ihr.

»Gemeinsam Essen ist eine Form der Kommunikation und keine Meditation«, begrüßte er sie und löffelte sich sein Tropenmüsli in den Mund. »Und das sage ich euch als ein absoluter Genussmensch.«

Das schweigsame Essen der Priesterinnen und Pythagoreer ärgerte ihn regelrecht. Effie grinste. Im Gegensatz zu ihm genoss sie es, abseits der anderen zu speisen. In ihrer Schulzeit hatte sie ihr Essen in der Schulkantine immer gegen ihre Mitschüler verteidigen müssen und meistens war es auf dem Tisch oder dem Boden gelandet, statt in ihrem Mund. Seitdem aß sie nicht gern unter vielen Menschen. Sie schob sich ein Stück Ananas in den Mund und kaute langsam.

»Ich könnte den ganzen Tag essen und hätte immer noch das Gefühl zu verhungern«, seufzte Choi und rieb sich über den Bauch. »Das Zeug, das die uns hier servieren, macht doch nicht satt. Was würde ich für einen Burger geben!« Er stocherte in seiner Schale herum und konnte sich offenbar nicht entscheiden, ob er als Nächstes eine Nuss oder ein Stück Mango essen sollte. »Oder ein Burrito, oder eine XXL-Pizza«, träumte er weiter. »Ich versteh das nicht, wir sind doch auf dieser Insel nicht gestrandet. Ted fährt regelmäßig aufs Festland, warum bringt er nichts Vernünftiges mit?«

Ted konnte als Einziger von ihnen in unsichtbarem Zustand die Insel verlassen. Die Wächter rechneten überall mit Nathaniel oder seinen Elementaren, nachdem er es einmal geschafft hatte, sich bei ihnen einzuschleichen.

Nahrungsmittel und alles andere Nötige schaffte also Ted heran. Die Auswahl ihrer Kleidung hielt sich auch in Grenzen. Ted hatte lediglich einmal Trainingsanzüge für alle gekauft, die dann durch Chois Kräfte mehrmals verdoppelt wurden. Demzufolge trugen sie jeden Tag das Gleiche.

»Wir können Ted fragen.« Eden kramte in seiner Trainingsjacke und zog kurz darauf einen zerknüllten Zettel heraus. »Hat jemand einen Stift?«

In Sekundenschnelle hielt Choi ihm einen Kugelschreiber entgegen. »Seit den Zwanzigerjahren trage ich ihn immer bei mir«, sagte er. »Er ist mein Glücksbringer.«

Effie begutachtete den goldenen Kugelschreiber in Edens Hand und fasste abwesend an ihr Armband. Einen Glücksbringer konnte jeder gebrauchen.

»Wie hat der Kugelschreiber es denn geschafft, dein Glücksbringer zu werden?«, fragte sie und schmunzelte.

Chois Miene blieb ernst. »Er hat mir das Leben gerettet.«

»Was soll Ted euch mitbringen?«, fragte Eden und hielt Choi davon ab, seine Geschichte zu erzählen.

»Rum«, sagte dieser sofort.

Eden schrieb seinen Wunsch auf das knittrige Papier. Außerdem zählte Choi Zutaten für eine Pizza auf, wobei Effie überlegte, wo sie diese backen wollten. Hier gab es nur das Lagerfeuer und die riesigen Steinplatten, die sich erhitzten, wenn man unter ihnen ein Feuer entzündete … Auf denen könnte es vielleicht funktionieren.

»Schokolade!«, rief Choi, als hätte er einen Geistesblitz.

Zucker … Eine sehr gute Idee. Bei dem Gedanken daran lief Effie das Wasser im Mund zusammen. Den Priesterinnen und Pythagoreern fiel es leicht, darauf zu verzichten, weil sie nie Zucker aßen. Aber wenn der Körper an Zucker gewöhnt war, gestaltete sich das schwieriger. Das hatte sie bei einer Folge ›Dschungelcamp‹ gelernt. Nicht, dass sie diese Sendung regelmäßig gesehen hätte, sie hatte nur zufällig eingeschaltet … Wie auch immer.

»Wenn Ted mir keine Schokolade mitbringt«, sagte Choi, »gehe ich selbst los und hol mir welche. Und es ist mir so was von egal, ob ich da draußen Nathaniel oder einem seiner Elementare über den Weg laufe.«

Effie lachte. Choi sprach ihr aus der Seele. »Für mich bitte auch eine Tafel Schokolade«, sagte sie zu Eden.

»Schokolade«, notierte er. »Sonst noch was?«

Sie überlegte. »Ein Handy, das funktioniert, wäre gut. Ansonsten soll er mir eine Postkarte mitbringen, damit ich meinen Eltern schreiben kann.«

Wahrscheinlich drehten sie vor Sorge längst durch, weil sie seit Wochen kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Das Problem war nur, dass man hier auf der Insel nirgendwo Handyempfang bekam, und Effie hatte es wirklich mit allen Handys ausprobiert, die sie auftreiben konnte. Kein einziges funktionierte.

Bevor sie dazu kamen, weitere Wünsche aufzuzählen, traten Daphne und Medea zu ihnen. Effie schaffte es gerade noch, sich zu beherrschen und bei ihrem Anblick nicht die Augen zu verdrehen.

Daphne und Medea waren zwei jüngere Priesterinnen, höchstens Anfang zwanzig so wie Effie, die ständig den Kontakt zu ihnen suchten. An sich hätte Effie das sehr nett gefunden, wenn die beiden nicht auf Eden und Choi fixiert gewesen wären. Hinzu kam, dass Effie kein einziges Wort von dem verstand, was sie sagten. Doch am meisten störte sie, und das hätte sie niemals laut zugegeben, dass die beiden Edens und Chois Aufmerksamkeit vollkommen in Anspruch nahmen, die Effie dabei zu vergessen schienen. Ziemlich erschreckend, wie schnell man zur Außenseiterin wurde, wenn man eine Sprache nicht beherrschte …

Dafür konnte sie ihre Gesten und Körpersprache ganz gut interpretieren. Dass Daphne Choi einen nicht vorhandenen Fussel vom Hemd zupfte, bedeutete zum Beispiel: Ich fass dich an, obwohl ich das eigentlich nicht sollte. Sofort dachte Effie an Vespa. Sie wäre bestimmt nicht begeistert, wenn sie davon wüsste.

Choi hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und lehnte sich misstrauisch zurück. Offensichtlich wusste er selbst nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Daphne sagte etwas und warf ihre langen schwarzen Haare kokett nach hinten. Irritiert weiteten sich Chois Augen.

»Leider versteh ich sie nicht, aber vielleicht wäre es clever, Vespa mal zu erwähnen«, sagte Effie.

»Hab ich schon«, antwortete er. »Aber entweder kapiert sie es nicht oder es interessiert sie nicht.« Er nickte in Edens Richtung. »An deiner Stelle würde ich mir ein bisschen mehr Sorgen um Medea machen.«

Das wurde ja immer besser. Genervt sah sie, wie Medea sich durch ihre langen roten Haare fuhr und Eden anlächelte, wobei sich niedliche Grübchen in ihren Wangen bildeten. Wieder verstand Effie nicht, was sie sagte, aber Eden runzelte skeptisch die Stirn. Im nächsten Moment nahm Medea wie selbstverständlich Edens Hand und lief los.

Widerspruchslos ließ er sich von ihr mitziehen.

»Wohin geht ihr?«, rief Effie gerade noch rechtzeitig, bevor sie zwischen den Palmen verschwanden.

»Zur Pythia«, sagte Eden flüchtig.

»Zur Pythia?«, wiederholte Effie. Was wollte die denn von ihm?

»Das Kampftraining fängt gleich an, wir treffen uns am Strand«, rief er und blickte von Effie zu Choi. »Seid pünktlich.«

»Aber du wolltest Ted doch die Einkaufsliste geben«, sagte Effie. Ein kläglicher Versuch, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, mit Medea zu gehen.

Einen Sekundenbruchteil später stand Eden wieder vor ihr. Es hatte funktioniert. Ihr Herz machte einen Hüpfer und ein kleines bisschen freute sie sich über den Triumph. So leicht konnte Medea Eden nicht von ihr wegzerren.

Er nahm ihre Hand und legte den Zettel hinein. »Gib du ihn Ted, falls du ihn siehst. Wir sehen uns gleich.« Ein flüchtiger Kuss auf Effies Stirn, dann eilte Eden wieder zu Medea und ging mit ihr davon.

Plopp … Die Glücksseifenblase in Effies Kopf zerplatzte und sie starrte den beiden resigniert hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Zu früh gefreut … Medea schien es nicht mal für nötig zu halten, Effie eines Blickes zu würdigen, und das war seltsam in Anbetracht dessen, dass die Priesterinnen den Phönix-Elementar angeblich anbeteten. Von wegen … Wenn es so wäre, würden sie Effie mit Sicherheit etwas mehr Beachtung schenken und sie nicht behandeln, als wäre sie Luft. Und Eden … Ach, es machte sie einfach nur wütend.

»Ich geh zum Strand. Ilias wartet bestimmt schon.« Offensichtlich nutzte Choi dies als Ausrede, um sich aus Daphnes Fängen zu befreien. Effie spürte einen Luftzug und im nächsten Moment war auch Choi verschwunden.

Es dauerte einen Augenblick, bis Daphne realisierte, was gerade geschehen war. Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken, sah verlegen zu Effie und verließ ebenfalls den Frühstücksplatz.

Das Geheimnis der Pythia

Das war doch nicht zu fassen. Eden war einfach so mit Medea mitgegangen … Es gab mehrere Dinge, die Effie an dieser Tatsache störten. Genau genommen drei.

Erstens ließen die Männer sie hier mit dem dreckigen Frühstücksgeschirr zurück. Zweitens gefiel es ihr überhaupt nicht, dass Eden mit einer aufdringlich flirtenden, rothaarigen Schönheit allein über die Insel spazierte. Und drittens wollte die Pythia anscheinend mit Eden etwas Wichtiges besprechen und Effie wurde nicht involviert. Worüber wollten sie sich denn bitte unterhalten? Mit Sicherheit nicht über das angenehm tropische Klima.

In dem Moment, als hätte Effie es durch ihre Gedanken heraufbeschworen, fegte der Passatwind über die Insel und eine Regenwolke ergoss sich über ihr. Aber das machte sowieso keinen großen Unterschied. Die Luftfeuchtigkeit befand sich jeden Tag gefühlt bei achtzig Prozent. Dementsprechend war Effies Kleidung immer klamm, sogar schon morgens, wenn sie sich anzog. Das Gute war, dass niemand mehr so recht wusste, ob man schwitzte oder ob die feuchten Flecken auf der Kleidung einem Regenschauer zuzuschreiben waren.

Genervt sammelte sie die Müslischalen ein und brachte sie zum Spülbecken, das neben dem Frühstücksbuffet aufgebaut war. Sie tauchte die Schalen ins Wasser und wusch sie hastig ab.

Medea war mit Eden bestimmt zum Tempel gelaufen. Wo wollten sie die Pythia sonst antreffen? Sie war immer am Tempel. Wahrscheinlich schlief sie sogar dort. Je mehr Effie darüber nachdachte, desto stärker breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Was, wenn Medea Eden überhaupt nicht zur Pythia gebracht, sondern es nur als Vorwand benutzt hatte, um ihn von Effie wegzulocken? Stopp. Sie durfte sich gar nicht erst in solche Gedanken hineinsteigern. Eden würde sich niemals auf Medea einlassen und wenn die Priesterin noch so sehr um seine Aufmerksamkeit buhlte. Andererseits, wenn Effie an ihre Beziehung mit Leon zurückdachte … Da war sie ja schon etwas naiv gewesen. Viel zu naiv, genau genommen. Was, wenn ihr das Gleiche nun mit Eden passierte? Abrupt ließ sie die Schalen zurück ins Becken plumpsen und rannte los. So einfach würde sie es Medea nicht machen.

Nach kurzer Zeit erreichte sie den Tempel. Und jetzt? Was würde sie denn tun, wenn sie Eden und Medea in flagranti erwischte? Sie würde ihn zur Rede stellen. Ganz einfach. Aber vielleicht würde sie die beiden gar nicht hier am Tempel finden. Was sollte sie dann tun, wie sollte sie die Sache dann aufklären? Effie beschloss, sich darüber erst Gedanken zu machen, wenn es so weit war.

Von den Palmenblättern tropfte warmes Regenwasser, während die schwüle Luft sich in Effies Nebenhöhlen einnistete und ihr das Atmen erschwerte. Flüchtig wischte sie sich über die Arme, um die Feuchtigkeit zu entfernen, doch sie verschmierte den nassen Film lediglich.

Dann schob sie so leise wie möglich den meterhohen Farn zur Seite, der ihr den Weg versperrte. Vor ihr tat sich die Lichtung auf, in deren Mitte der steinerne Tempel stand. In der tropischen Umgebung wirkte er etwas fehl am Platz. Er war rund und aus weißem Stein gemeißelt. Vier massive Säulen stabilisierten das Tempeldach. In die Mauern waren verschiedene Reliefs eingemeißelt, die Frauen, Männer und Fabelwesen zeigten. Zumindest hatte Effie einen Phönix und auch einen Pegasus in dem Kunstwerk entdeckt, als sie sich die Figuren vor einiger Zeit näher angesehen hatte. Meist stand die stählerne Tempeltür offen, aber wenn man sie schloss, bekam sie selbst ein Elementar nicht auf. Falls Nathaniel die Priesterinnen hier entdecken sollte, würde der Tempel ihnen als Schutz- und Zufluchtsstätte dienen. Nur einmal hatte Effie ihn betreten und sie musste sagen, von außen sah er definitiv schöner aus. Darin war es düster und kahl und in der Mitte stand ein großer, gruseliger Brunnen. Lange war Effie nicht geblieben, denn die Hohepriesterin hatte sie gebeten, das Heiligtum zu verlassen, weil sie es für eine Zeremonie vorbereiten wollte. An den Zeremonien, die die Priesterinnen hier ständig abhielten, hatte Effie jedenfalls noch nicht teilgenommen. Vielleicht wurde es mal Zeit, ein bisschen Unterhaltung neben dem ganzen Kampftraining konnte nicht schaden …

Gerade als sie durch das Gestrüpp treten wollte, hörte sie eine Frau sprechen. Die Stimme der Pythia. Auch wenn sie auf Griechisch redete, verstand Effie ein Wort sehr gut. Ein Name fiel immer wieder. Und zwar ihrer.

»Nein«, erwiderte eine männliche Stimme, die sie sofort erkannte: Eden.

Effie versteckte sich hinter dem Farn, richtete ihren Elementar-Hörsinn aus und konzentrierte sich auf die sprechenden Personen. Befremdliches Gemurmel folgte, indem mehrmals das Wort »Pegasus« fiel. Lange verstand sie kein Wort.

»Eden?«, fragte die Pythia gefühlte Minuten später. Dann redete sie auf Griechisch weiter. So ein Mist.

»Nein«, sagte Eden plötzlich und er klang, als würde ihm das Sprechen schwerfallen. »Effie wird dabei sterben.«

Was? Effie schnappte nach Luft und griff einen Ast neben sich. Er zersplitterte unter ihrem Gewicht.

»Das kann nicht der einzige Weg sein!«, schaltete sich nun eine weitere Priesterin ein. Effie erkannte Reas Stimme sofort. Oh, bitte, hoffentlich würden sie weiter auf Deutsch miteinander reden. Sie musste wissen, was hier vor sich ging.

»Sie kämpfen auf unserer Seite. Ich dachte, wir wollen Nathaniel besiegen.« So aufgebracht hatte sie die alte Priesterin noch nie reden hören.

»Wir alle wollen Nathaniel besiegen«, antwortete die Pythia zu Effies Freude auch auf Deutsch. »Aber seine Kräfte können wir nur bannen, indem wir die Phönix-Seele von Effies Seele trennen. Opfer müssen nun mal gebracht werden, um ein höheres Ziel zu erreichen, Rea.«

»Für euren Wunsch nach dem Goldenen Zeitalter sind schon viel zu viele Menschen gestorben.« Die Wut in Edens Stimme war nicht zu überhören, auch wenn er so angestrengt sprach, als würde er einen inneren Kampf mit sich ausfechten.

»Das Goldene Zeitalter? Darum geht es schon lange nicht mehr. Es ist eine Utopie und das weißt du genauso gut wie ich.« Die Stimme der Pythia klang so wunderschön klar und melodisch und zugleich so kalt und falsch. »Pythagoras hat versagt. Die Menschheit hat versagt. Wir müssen den Göttern die Magie des Phönix zurückgeben, ansonsten wird es unser aller Ende sein.«

»Das Opfer, das du verlangst, ist zu groß«, sagte Rea matt.

»Nein«, entgegnete die Hohepriesterin. »Es ist unumgänglich.«

Was sollte das bedeuten? Dass es keine Möglichkeit gab, Nathaniel zu besiegen, außer durch Effies Tod? Warum musste sie denn sterben, wenn die Priesterin die Phönix-Seele von ihrer trennte? Und was war mit Eden los? Warum hatte er ihr nichts davon erzählt?

»Wir brauchen den Stein, um die Zeremonie durchführen zu können, und es ist wichtig, dass Eva nichts davon erfährt.«

Schweigen folgte. Nun war nur noch das fremdartige und gleichzeitig vertraute Zwitschern der Vögel zu hören. Und Effies Herz, das viel lauter und schneller schlug als sonst.

Plötzlich knackte es hinter ihr. Sie schreckte auf und blickte in Teds Gesicht. Er stand einfach nur da und sah sie an. Aber sein Blick reichte aus. Das schlechte Gewissen, das in seinen Augen aufblitzte, verriet, dass er von den Plänen der Pythia gewusst haben musste.

Sekunden verstrichen, in denen sie versuchte, sich zu sammeln. Sie hatte genug gehört. Gerade als Ted etwas sagen wollte, ließ sie den zersplitterten Ast los, an dem sie sich noch immer festgehalten hatte, und rannte davon.

Ted blieb ihr dicht auf den Fersen. »Warte!«, rief er. »Effie, lass es mich erklären.«

Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich um und blieb so plötzlich stehen, dass er ins Stolpern geriet. »Du wusstest davon, stimmt's?« Sie blitzte ihn an.

Teds Blick wanderte zu Boden, als traute er sich nicht, sie anzusehen. Er hatte sie hierhergebracht. Er hatte sie mit den Priesterinnen und Pythagoreern vertraut gemacht. Und das alles nur, um sie nun irgendwelchen Göttern zu opfern?

»Verräter«, zischte sie, als er nichts erwiderte, und wollte wieder losrennen, aber Ted fasste ihren Arm und hielt sie fest.

»Du musst das verstehen.«

»Tatsächlich?« Ihr Schock verwandelte sich allmählich in Wut. »Muss ich das? War das also Arias letzter Wille? Die ach-so-heilige Priesterin hat es lediglich darauf abgesehen, den Phönix-Elementar zu opfern? Das ist ja so viel edler, als ihn sofort zu töten. Von wegen, ihr habt mich vor Nathaniel gerettet.«

Ted riss seine Augen entsetzt auf, schockiert, dass Effie es wagte, so über Aria zu sprechen.

Aber das war ihr egal. Aria, Teds geliebte Priesterin, die von Eden getötet wurde, hatte den Phönix-Elementar nie retten wollen, wie sie es vorgegeben hatte. Sie wollte ihn nur zur Pythia bringen, damit diese ihn opferte, um so Nathaniel zu besiegen. Und dann wagten die Priesterinnen und Wächter es tatsächlich, so zu tun, als würden sie Effie helfen. Wirklich sehr ehrenvoll.

»Ihr alle hier seid genauso schlimm wie Nathaniel.«

»Hör mir zu«, sagte Ted.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob ihr Kinn. »Du hast eine Minute.«

»Seit Jahrtausenden versuchen wir, Nathaniel zu besiegen.«

»Erzähl mir was Neues.«

»Effie«, Ted biss sich auf die Unterlippe. »Die Phönix-Seele gehört nicht zu dir. Sie ist gestohlen. Pythagoras hat den Phönix getötet und seitdem wird seine Seele in menschlichen Körpern gefangen gehalten.«

»Ich habe mir dieses Schicksal nicht ausgesucht.«

»Nein«, stimmte Ted zu. »Du hattest einfach Pech, dass die Phönix-Seele dich erwählt hat.«

»Schön, dass wir uns da einig sind.«

»Durch diesen Zauber ist das Gleichgewicht zwischen der irdischen und der göttlichen Welt durcheinandergeraten. Und wir sind in der Lage, es wiederherzustellen.« Er hielt inne. »Dass Aria sich …«, er schluckte. »Wie auch immer. Im Gegensatz zu den Pythagoreern haben die Priesterinnen schon vor langem eingesehen, dass ihre Vorfahrinnen einen riesigen Fehler gemacht haben. Ja, ich bin wütend auf Aria, aber dennoch stehe ich hinter ihrer Entscheidung. Während Zenon immer noch von einem scheinheiligen Goldenen Zeitalter predigt, haben die Priesterinnen des Orakels mir die Augen geöffnet. Und deshalb stehe und kämpfe ich, trotz allem, was geschehen ist, auf der Seite der Priesterinnen. Ich will, dass Nathaniel vernichtet wird, und ich möchte verhindern, dass der Sieg lediglich eine Machtverschiebung wird. Denn das ist es, was Zenon sich erhofft. Zenon und die anderen Wächter wissen nichts von dem Plan der Priesterinnen. Sie wissen nicht, dass die Pythia vorhat, die Phönix-Seele zu befreien und den wahren Phönix auferstehen zu lassen.« Ted fuhr sich über seinen kahlrasierten Kopf. »Zenon will das Wohl für die ganze Menschheit. Und glaube mir, es ist zweifelhaft, dass seine Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter sich mit denen der restlichen Menschheit decken.«

Ehrlich gesagt interessierte es sie kein bisschen, was Ted da erzählte. Effie wollte nur wissen: »Was habt ihr mit Eden gemacht? Er verändert sich, seitdem wir hier auf der Insel sind.«

Ted zögerte und hielt die Luft an. Mit prüfendem Blick musterte er sie, als überlegte er, ob er erzählen sollte, was er wusste. Und dann, plötzlich, füllten sich seine Augen mit Tränen. Was hatte das zu bedeuten? Er sollte nicht heulen. Das überforderte sie. Die Einzige, die Grund zum Weinen hatte, war ja wohl sie. Nicht dieser Bär von einem Mann, der gerade vor ihr stand.

»Es ist nicht, seitdem du hier auf der Insel bist«, sagte er. »Es ist, seitdem du dich verwandelt hast. Die Pegasus-Seele«, er schluckte, »Aria, sie hat sich … Ich habe es auch erst vor kurzem erfahren. Ihr Tod … sie wusste, dass sie sterben würde.« Jetzt fing er schon wieder damit an. Allmählich konnte sie dieses Gerede nicht mehr hören. »Sie war das menschliche Opfer, das benötigt wurde, um die Pegasus-Seele zu aktivieren. Das ist die Hilfe, die uns die Götter senden. Die Pegasus-Seele soll die Phönix-Seele befreien.«

»Was?« Effie verstand überhaupt nichts mehr. »Willst du damit sagen, es war von den Priesterinnen gewollt, dass Eden Aria tötet?«

Ted atmete tief ein und nickte.

»Und du wagst es, ihm deswegen Vorwürfe zu machen?«

»Ich weiß es erst seit ein paar Wochen«, antwortete Ted.

Solange sie Eden kannte, quälte ihn die Tatsache, dass er die unschuldige Priesterin getötet hatte. Sie war der Grund, weshalb er dem Töten der Phönix-Elementare abgeschworen hatte, weil sie ihm angeblich im letzten Moment vergeben hatte. Nun kam heraus, dass das alles eine Lüge war. Und Ted kam erst jetzt auf die Idee, endlich mit der Wahrheit herauszurücken? Plötzlich verstand Effie: Es war keine Vergebung gewesen, die Eden im Angesicht des Todes in Arias Augen gesehen hatte, sondern die Hingabe für das Opfer, das sie erbracht hatte.

Wie stark musste Arias Glauben gewesen sein, wenn sie bereit war, dafür zu sterben? Wenn sie bereit war, die Liebe ihres Lebens anzulügen? Effie musterte Ted. Kein Funken Mitgefühl regte sich in ihr, nur die Wut kochte hoch.

»Sie hat dich angelogen«, sagte sie. »Sie hat dir versprochen, dich zu heiraten, wenn ihr diesen Auftrag erledigt habt, dabei wusste sie, dass sie nicht überleben wird. Und du stehst immer noch zu ihr?«

»Ich bin mir sicher, dass sie es nicht aus einer bösen Absicht getan hat. Du kanntest sie nicht. Sie konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun.«

»Offenbar doch. Schließlich war es ihr letzter Wunsch, den Phönix-Elementar hierherzubringen, oder liege ich da falsch? Ihr letzter Wunsch war es, mich zu töten.«

»Sie wollte nur ihren Teil dazu beitragen, Nathaniel endlich zu besiegen.«

Effie schnaubte. Das war ein kläglicher Versuch von Ted, sich ihr Handeln schönzureden. »Wie fühlt es sich an, sich selbst zu belügen, Ted?«

Sie hatte sein scheinheiliges Gerede satt. Sie hatte es satt, dass Eden sich permanent Vorwürfe für Arias Tod machte, und sie hatte es satt, dass diese Frau als die Unschuld in Person dargestellt wurde, obwohl sie offenbar die ganze Zeit über die Opferung des Elementars, der den Phönix in sich trug, in Kauf genommen hatte. Was war daran bitte ehrenvoll?

Ted schüttelte den Kopf, als bereute er, es ihr erzählt zu haben. »Vergiss es einfach. Die Pegasus-Seele in Eden wird stärker. Mehr musst du nicht wissen. Keiner von uns kann Nathaniel besiegen. Auch dir wird es nicht gelingen. Der einzige Weg, dem Ganzen ein Ende zu setzen, ist, die Phönix-Seele von deiner zu trennen. Dadurch verwandelt sich jeder Elementar wieder zurück in einen Menschen.«

»Stopp.« Sie kam nicht mehr mit. »Was meinst du damit, die Aufgabe des Pegasus sei es, die Phönix-Seele zu befreien? Muss ich jetzt Angst haben, dass Eden mich im Schlaf ersticht?«

»Ganz im Gegenteil.« Teds Mund verzog sich zu einem höhnischen Lächeln. »Er wird alles dafür tun, um dich zu schützen. So, wie du es von ihm kennst. Das ist seine Aufgabe, bis er den Stein hat. Dann wird er dich zu den Priesterinnen bringen und die übernehmen mithilfe des Steins den Rest.« Er dehnte den Hals, wirkte verspannt. »Weißt du was?«, sagte er dann und beugte sich zu ihr herunter. »Mir ist es egal, wie du dich entscheidest. Flieh, lass alle im Stich, wenn dich das glücklich macht. Die Priesterinnen wissen, dass du störrisch bist, deshalb weihen sie dich nicht in ihre Pläne ein. Nur sei dir darüber bewusst, dass dir dann nicht nur Nathaniel auf den Fersen ist, sondern auch die Pythagoreer, die darauf hoffen, dass der nächste Phönix-Elementar kooperativer sein wird.«

»So wie Aria?«, fragte sie zynisch.

Wut blitzte in seinen Augen auf. »Und was ist mit Eden? Glaubst du, er hätte dieselben Gefühle für dich, wenn die Pegasus-Seele in ihm nicht so stark nach dem Schutz des Phönix-Elementars drängen würde?« Er wich wieder zurück. »Ich bin fertig mit dir.« Ein Luftzug streifte sie und er war verschwunden.

Wütend blickte sie sich um. Ließ er sie etwa einfach hier stehen? Nach alldem, was er ihr gerade erzählt hatte. Dieser … dieser