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Martin Kohn

Das verflixte 4. Schuljahr

Stressfalle Übertritt: Analysen – Perspektiven – Auswege

Kösel

In der Schule des Lebens bleibt man stets ein Schüler.

Christine von Schweden (1626–1689)

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Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlag: fuchs_design, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Tom Grill

ISBN 978-3-641-08317-5
V002

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Vorwort

Stresstest Grundschule

Ein Drittklässler bricht in einer westfälischen Grundschule über einer Klassenarbeit zusammen und wird ins Krankenhaus eingeliefert.

Zwei neunjährige Mädchen aus Thüringen reißen von zu Hause aus, weil sie den Druck ihrer Eltern nicht mehr aushalten.

Ein Realschüler der 5. Klasse aus Bayern leidet unter Depressionen, weil er es sich nicht verzeihen kann, dass er den Sprung aufs Gymnasium verfehlt hat.

Drei Schlagzeilen, drei Bundesländer. Ein Thema. Stress, Leistungsdruck und Versagensangst machen sich zunehmend an deutschen Grundschulen breit. Das Lernen aus Freude an Neuem ist zu einem Streben nach guten Noten geworden, um unbedingt eine Empfehlung oder den nötigen Notendurchschnitt fürs Gymnasium zu erreichen.

Kaum ein Schüler kann von sich behaupten, stressfrei durch die Grundschule zu kommen. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO leidet jeder fünfte Schüler unter Symptomen wie Bauchschmerzen oder Einschlafstörungen. Forscher der Universität Mainz fanden heraus, dass es kaum ein Land in Europa gibt, in denen Schüler derart unter Schulstress leiden wie in Deutschland – nur Griechenland schneidet hierbei noch schlechter ab. Besonders hervorzuheben sind dabei Leistungsdruck, Rivalität unter Mitschülern sowie Verständnislosigkeit der Lehrer.

Grundschüler von heute sind die Burnout-Patienten von morgen. Da hilft kein Fernsehglotzen oder Meditation weiter, auch die von vielen Grundschülern bereits in Anspruch genommene Psychotherapie trägt kaum zur Tiefenentspannung bei. Sport und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen könnten eine Balance zum Schulstress darstellen, wenn sie nicht selbst einem starren Zeitplan unterworfen wären und somit zu einem weiteren Pflichtprogramm verkämen. Ein pausenloses Hetzen von Nachhilfe zur Klavierstunde zum Fußball, und das Tag für Tag, hält kein normales Kind aus.

»Gymnasium – wenn’s gut werden muss!« Projekte werden nicht mehr auf der Werkbank angegangen, sondern sind die Früchte des Schlafzimmers. In einer Zeit, in der die Eltern im Durchschnitt immer älter werden, ist der Sprössling der große Hoffnungsträger. Viele Eltern wollen aus ihrem Kind – oft das einzige – das Beste herausholen. Ihr Kind soll es dann bringen, ihr Kind soll der Welt zeigen, dass es gar nicht anders geht, als bei diesen tollen Eltern selber zu einem tollen Kind zu werden. Diese Ideologie führt allerdings zu einer weiteren Zuspitzung in unserem ohnehin schon verrückten Schulsystem, das die Hauptschule in der Tat zu einer Randschule verkommen lässt, mit allen sozialen und emotionalen Abwertungen, die mit solch einer Klassifizierung einhergehen.

Das Gymnasium wird stilisiert zu einer Ikone, zum Maß aller Dinge. Gehste nicht aufs Gymi, biste kein ganzer Kerl. Dies wird mancherorts derart ad absurdum geführt, dass eine Großstadt wie Frankfurt nur noch eine Hauptschule führt. Als Mitglied der Schulleitung bin ich nicht nur für die Zusammenarbeit mit den Grundschulen und den fließenden Übergang von der Grundschule auf unser Gymnasium zuständig, sondern ich stelle – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen benachbarter, anderer Schulformen – unsere Schule auf Elternabenden an Grundschulen vor und berate die Eltern hinsichtlich einer geeigneten weiterführenden Schule für ihre Kinder. Stets ist auch der eine Vertreter der einzigen Hauptschule der Stadt anwesend. Was er sagt, beschreibt eindeutig das Dilemma, in dem wir uns befinden: »Ich weiß, dass Sie mich gar nicht hören wollen«, beginnt er die Vorstellung seiner Schule. »Ihr Kind geht sowieso nicht auf die Hauptschule. Aber man sieht sich immer zweimal im Leben.« Und dann berichtet er, dass sie in der Regel nur 15 bis 20 Kinder in der 5. Jahrgangsstufe haben. In Zeiten überfüllter Klassen ein wahrhaft paradiesischer Zustand. In der 8. Klasse sind es dann aber schon 60 bis 70 Schüler, die von der Realschule oder aus dem Gymnasium abwandern (mussten).

Solche Auswüchse stehen dafür, dass aus der behüteten und sorgenfreien Grundschulzeit von einst, in der ein Kind auch noch Kind sein durfte und sich mancherorts in die Spiel- und Kuschelecke zurückziehen konnte, heute eine Wettkampfarena geworden ist, in der die Kleinen mit olympischem Feuereifer gegeneinander antreten, stets das große Ziel des Übergangs auf das Gymnasium vor Augen. Da sitzen Kinder verzweifelt in der Klasse, weil sie »nur« eine Drei bekommen haben. Andere weinen das Probenblatt nass, weil sie nicht weiterkommen. Höher, schneller, weiter. Dabei sein ist längst nicht mehr alles.

Was den einen antreibt, löst bei vielen Kindern Versagensängste aus. Bereits in der 3. Klasse zeigen viele Grundschülerinnen und Grundschüler Verhaltensauffälligkeiten, denn schließlich geht es in diesem Alter darum, ob sie zukünftig auf die Hauptschule müssen oder die Realschule oder eben am liebsten das Gymnasium besuchen dürfen.

Aber nicht nur die Kinder zittern dieser Entscheidung entgegen. Auch für die Eltern ist die 3. und 4. Klasse eine enorm beunruhigende Zeit. So fiebern auch sie der Vergabe der Zwischenzeugnisse entgegen, die über die Zukunftschancen ihres Kindes entscheiden können. Und so meinen sie es nur gut mit ihren Sprösslingen, wenn sie sie bereits mit acht, neun Jahren zur Nachhilfe schicken oder Prüfungsaufgaben der vergangenen Jahre mit ihnen durchpauken, in der Hoffnung, die eine oder andere Aufgabe würde erneut gestellt. Und sollte einmal trotz dieses Powertrainings nicht mehr als eine Drei herauskommen, geben sie ihnen den Ratschlag mit auf den Weg: »Da müssen wir wohl noch ein bisschen mehr üben!«

Eltern fühlen sich in dieser Zeit wie in einer Zwickmühle. Einerseits wollen sie ihr Kind weitestgehend unterstützen und fördern, aber eben auch nicht überfordern. All dies erzeugt in den Kindern und innerhalb der Familie ungeheuren Druck, der nicht nur in die erwähnte Versagensangst mündet, sondern auch zu regelrechten Zusammenbrüchen führt.

Aber nicht nur die Eltern üben – gewollt oder ungewollt – Druck auf ihre Kinder aus, auch ihre Lehrer, Mitschülerinnen und Mitschüler tun dies. So werden Klassenkameradinnen und Klassenkameraden, die schlechte Noten schreiben, zum Beispiel seltener auf Geburtstagspartys eingeladen als gute Schülerinnen und Schüler.

Wie können Sie als Eltern auf diese ungeheure Belastung reagieren, der Ihr Kind, aber auch Ihre ganze Familie ausgesetzt ist? Was können Sie tun, damit Ihr Kind keine Angst vor dem »Monster« Übertritt entwickelt? Wie bauen Sie Ihr Kind auf, wenn es mit schlechten Noten nach Hause kommt? Wie bereiten Sie sich und Ihr Kind auf möglichen Probeunterricht und Prüfungsaufgaben vor?

Sie als Eltern haben es in der Hand, aus der Grundschulzeit wieder eine schöne Zeit für Ihr Kind und die ganze Familie zu machen. Der vorliegende Ratgeber zeigt Ihnen, wie es geht. Ergänzt werden die Informationen durch Tipps und Hinweise, was Sie als Eltern konkret zur schulischen Situation Ihres Kindes beitragen können.

Martin Kohn

Frankfurt am Main, im Frühjahr 2012

Einführung

» … sondern für die Noten lernen wir«

Der Ernst des Lebens beginnt also für die meisten Kinder bereits in der Grundschule. Kinder sind spätestens in der 3. Klasse gestresst und gehen nur noch äußerst ungern und zum Teil mit Magenschmerzen in die Schule, nachdem sie dem Start ihrer Schulzeit noch mit Freude entgegengesehen hatten. Warum ist das so?

»Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir«, pflegte meine Mutter oft zu sagen, wenn mir mal wieder überhaupt nicht einleuchtete, warum ich diese oder jene Hausaufgabe zu erledigen hatte. Ja, Lust aufs Lernen hatte damals auch ich nicht immer. Und noch weniger Verständnis, warum ich Dreiecke in verschiedenen Größen auf das Blatt malen sollte, wenn mir doch viel mehr der Sinn nach einem Fabelwesen gestanden hätte. He-Man und sein Widersacher Skeletor hatten es mir nun mal mehr angetan als irgendein Grieche, der vor zigtausend Jahren geometrische Figuren in den Sand gezeichnet hat.

Unterricht war also auch früher nicht immer deckungsgleich mit dem, was Kindern Spaß macht. Dennoch bin ich gerne in die Schule gegangen. In den Kindergarten nicht so gern, aber in die Grundschule. Und später dann aufs Gymnasium. Blicke ich heute auf diese Zeit zurück, kann ich mich noch sehr gut an dieses Gefühl der absoluten Unbeschwertheit erinnern. Sicher, auch ich wollte weiterkommen und musste – je älter ich wurde – selbstverständlich auch für Klassenarbeiten mehr und mehr büffeln. Lerntheoretisch ist das auch völlig in Ordnung. Wir müssen nun mal lernen, wie wir lernen. Wem stets alles zufliegt, der wird Schwierigkeiten haben, neue Situationen oder ernste Herausforderungen zu meistern.

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernten wir. Heute lässt sich dieser Satz vielerorts umdrehen. Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Und noch mehr für unsere Noten. Durch Tests und Übergangszeugnisse, die entscheidend sind für die weitere schulische Karriere eines Kindes, wird bereits in den Anfangsjahren ein ungeheurer Druck auf die Heranwachsenden ausgeübt, der in den wenigsten Fällen dazu führt, dass Kinder auch heute noch gerne in die Schule gehen.

Schon für Grundschülerinnen und Grundschüler gilt es, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung zu erbringen, die sie vorher nur grob einschätzen können. Nach der Probe oder Klassenarbeit ist diese Leistung uninteressant und nichts mehr wert, weil dann schon das Thema der neuen Prüfung gepaukt wird. »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«, heißt es beim Fußball. Die Freude am Lernen um des Themas willen, die alle Kinder besitzen (jedes Kind will laufen lernen, jedes Kind will seine Welt entdecken, jedes Kind will sich verständigen können), bleibt dabei auf der Strecke. Kinder werden zu Bulimie-Lernern: Sie pauken, pauken, pauken und spucken nachher alles wieder aus.

Während auch zu Beginn der Grundschulzeit Kinder meist noch Spaß haben, neue Dinge zu lernen und ihre Welt zu entdecken, lernen sie, sobald Prüfungen ins Spiel kommen, ausschließlich dafür. Das, worauf es keine Noten gibt, wird plötzlich uninteressant. Lehrerinnen und Lehrer hören dann häufig Fragen wie: »Bekomme ich darauf eine Note?« Wird die Frage verneint, verliert die Aufgabe an Bedeutung.

Kinder identifizieren sich mit der Note, die sie erhalten. Eine Vier oder schlechtere Note mindert das Selbstwertgefühl; sind es gar mehrere schlechtere Noten, zweifeln Kinder an sich selbst und denken: »Ich kann doch sowieso nichts!« Selbst wenn es in einem Fach besser läuft, überwiegen häufig die schlechten Zensuren in den Köpfen der Heranwachsenden. Dies resultiert nicht selten in einer Angst vor der Schule und einem Blackout bei Klassenarbeiten und Proben.

Noten verhindern also das organische Lernen. Im wahren Leben lernen alle Kinder (oder zumindest die allermeisten) laufen, aber nicht alle tun dies zum selben Zeitpunkt. In der Schule wird aber erwartet, dass alle Kinder zum selben Zeitpunkt eine Sache gelernt und diese abrufbereit haben.

Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2010 hat bereits jeder zweite Grundschüler eine Therapie hinter sich, um die Fehler von Schulen und Eltern auszugleichen. Und so kümmert sich eine zunehmende Zahl von Therapeuten um Vernachlässigung, übertriebenen Ehrgeiz und überforderte Institutionen. Zum ungeheuren Notendruck und der Angst vor Prüfungen kommen nämlich weitere Verpflichtungen der Kleinen hinzu, die ihren Terminplan manchmal voller machen als den eines Börsenmaklers: vormittags Schule, dann Hort. Montags außerdem noch Fußball, dienstags Tennis, donnerstags Klavierstunde. Und dazwischen zweimal die Woche Ergotherapie, damit das Kind in der Schule nicht so häufig abgelenkt ist. So werden bereits siebenjährige Schüler zu Patienten.

Schuld daran ist unsere Kultur des »Höher, Schneller, Weiter«. Vor allem schneller: Frühere Einschulung, der Übertritt auf die weiterführende Schule und das verkürzte Gymnasium (G8) sorgen für eine Arbeitsmoral, die ausschließlich nach dem Nutzen fragt. Schülerinnen und Schüler werden zu Maschinen, die funktionieren müssen.

Die meisten Eltern streben für ihre Kinder eine Gymnasiallaufbahn an. Schließlich gilt als sicher, dass man einen möglichst guten Schulabschluss braucht, um überhaupt auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. Diesen erreichen immer weniger Kinder von allein; wie ein Kapitel in diesem Buch belegen wird, bekommen etwa 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler Nachhilfe. Auch hierdurch steigen der Druck und die Belastung für die Kinder.

Das Paradoxe an der Sache: Obwohl die Belastungen für die Kinder zugenommen haben, können sie heute schlechter mit Druck und Konflikten umgehen als frühere Generationen. Und dies, obwohl zum Beispiel in Bayern der Modellversuch »Flexible Grundschule« durchaus positiv ausgefallen ist und nun flächendeckend ausgeweitet werden soll. Um den Druck in den ersten Grundschuljahren etwas herauszunehmen, dürfen sich Kinder an solch flexiblen Schulen für die ersten beiden Grundschuljahre zwischen einem und drei Jahren Zeit nehmen. Diejenigen, denen alles »zufliegt« und die bereits genügend Vorerfahrungen haben, können problemlos eine Klasse »überspringen«. Die Kinder, denen das Lernen noch recht schwerfällt, dürfen sich ein Jahr mehr Zeit nehmen. Die gesamte Grundschulzeit darf also zwischen drei und fünf Jahren andauern; Kinder erreichen die 3. Klasse genau dann, wenn sie reif dafür sind. Ein demütigendes und demotivierendes Sitzenbleiben bleibt den Kindern erspart; schnellere Lerner werden nicht als Überflieger beneidet. Dies alles soll neben dem Leistungsdruck auch Schulangst vermeiden. Denn unabhängig vom Ehrgeiz der Eltern vergleichen sich Kinder auch untereinander und messen sich daran, wer von ihnen schneller läuft, höher springt oder eben bessere Noten schreibt. Schon die Note Zwei in einem Test kann manchmal zu einem Drama führen!

So weit die ehrgeizige Theorie. Sie funktioniert in der Praxis aber nur dann, wenn Kinder individuell gefördert werden können. Freies Arbeiten je nach individuellem Leistungsstand und Werkstattunterricht setzt allerdings mehr Personal und kleinere Klassen voraus, als es in den meisten staatlichen Schulen der Fall ist.

Zusätzlich zum Stress in der Schule kommt bei immer mehr Kindern der bereits erwähnte Stress in ihrer Freizeit. Sie hetzen vom Hort in die Klavierstunde, danach zum Fußballtraining und zur Gesangsstunde. Das Pferd will gepflegt und geritten werden, und das Balletttraining darf auch nicht ausfallen. Eltern möchten keine Chance auslassen, ihr Kind bestmöglich und vor allem allumfassend zu fördern. Vielleicht verbirgt sich ja doch irgendwo ein bisher noch schlummerndes Talent, das nur noch nicht zum Vorschein getreten ist. Da will man sich später keine Vorwürfe machen, es nicht zumindest probiert zu haben. Die meisten Grundschulkinder haben heute zwar Freizeit, aber keine freie Zeit mehr. Der damit verbundene Bewegungsmangel äußert sich nicht zuletzt in Unkonzentriertheit und Nervosität im Klassenzimmer sowie zu Hause bei der Erledigung der Hausaufgaben oder dem Lernen für eine Klassenarbeit.

Was können Sie als Eltern dazu beitragen, der Stressfalle Übertritt zu entkommen? Statistisch gesehen haben Eltern heute weniger Kinder als früher, dafür mehr Freizeit und mehr Zeit, um ihre Kinder zu unterstützen. Nutzen Sie diese Zeit und stehen Sie Ihren Kindern zur Seite. Spornen Sie sie nicht zu Höchstleistungen an, um so noch mehr Druck auf sie auszuüben, als es die Schule ohnehin schon tut. Reduzieren Sie Ihr Kind nicht auf die Notenskala von 1 bis 6, sondern nehmen Sie es als Mensch wahr, mit all seinen Vorzügen, aber vielleicht auch mit der einen oder anderen Schwäche. Akzeptieren Sie diese und kommunizieren Sie dies auch mit Ihrem Kind. Schaffen Sie Ihren Kindern in Ihrer Familie eine Oase der Ruhe und gestatten Sie ihnen auch, sich austoben zu können, wenn es ihnen danach ist. Überlegen Sie vor der Einschulung, ob Ihr Kind bereits für die Grundschule geeignet ist oder ob Sie nicht lieber ein Jahr warten wollen, um eine spätere Überforderung weitestgehend auszuschließen.

Kurzum: Lassen Sie Ihr Kind Kind sein, denn diese Zeit ist kostbar und vergeht doch viel zu schnell. Der Ernst des Lebens steht früher vor der Tür, als man denkt.

1 Die durch die Hölle gehen

Eltern vor dem Übertritt auf eine weiterführende Schule

Welche Schule ist die richtige?

Zum Ende der Grundschulzeit haben die Eltern die Qual der Wahl. Auf welche Schule soll mein Kind denn nun gehen? Soll ich mein Kind selbst entscheiden lassen, auf welche Schule es gehen soll? Soll es nicht auf dieselbe Schule gehen wie sein Bruder? Das Gymnasium ist im Nachbarort, wäre es da nicht einfacher, mein Kind auf die Realschule im Ort zu schicken?

So wichtig diese Aspekte auch sind, sie sollten nicht der alleinige Grund für die Wahl einer Schule sein. Wichtiger ist vielmehr, dass sich Ihr Kind dort wohl fühlt und dem Unterricht problemlos und ohne täglichen Nachhilfeunterricht folgen kann.

In den meisten Bundesländern endet nach vier Jahren Grundschule die sogenannte Primarstufe. Was folgt, ist der Übertritt des Schulkindes in eine weiterführende Schule. Und ein sprunghafter Anstieg des Stressfaktors, der die letzten zwei Grundschuljahre zu einem regelrechten Höllentrip werden lassen kann. In vielen Familien wird bereits in der 3. Klasse heiß diskutiert, auf welche Schule das Kind denn nach der Grundschulzeit gehen soll oder kann.

»Das Gymnasium wäre schön, aber dafür musst du halt bessere Noten mitbringen.« Solche Aussagen versetzen Kinder in einen unerträglichen Stresszustand. Einige strengen sich verbissen an, weil sie ihre Eltern nicht enttäuschen wollen. Andere fürchten, bei einer Drei versagt zu haben. Wieder andere resignieren, indem sie sich sagen »Ich kann machen, was ich will, das schaffe ich sowieso nicht!«

Sehr viele Eltern wünschen sich für ihr Kind den Übertritt auf das Gymnasium und – auf lange Sicht – das Abitur als Eintrittskarte für ein Studium an der Universität oder eine andere qualifizierte Berufsausbildung. Dabei vergessen sie vielfach, dass bei Weitem nicht alle Kinder das Gymnasium auch mit dem Abitur abschließen. So wechselt jeder Zehnte noch in der Mittelstufe auf eine andere Schulform, weil ihn das Gymnasium schlichtweg überfordert.

»Mir läuft heute noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich an meine Mathe-Stunden auf dem Gymnasium denke.« Leonie senkt ihren Blick zu Boden. Viel lieber erinnert sie sich an ihre Grundschulzeit. Gerne ging sie dorthin, hatte schnell viele Freunde gefunden. Außerdem machte es ihr Spaß, neue Dinge zu lernen. Stolz war sie, als sie das kleine Einmaleins fehlerlos aufsagen konnte. Ihre Grundschullehrerin war auch sehr zufrieden mit Leonies Leistung, gab ihren Eltern aber zu bedenken, dass sie es etwas schwer haben könnte auf dem Gymnasium. Leonies Mutter erinnert sich: »Wir haben es unserer Tochter freigestellt, auf welche Schule sie gehen möchte. Da aber ihre beste Freundin auf das Gymnasium wechselte, wollte sie natürlich auch unbedingt dorthin. Also haben wir sie gelassen.«

Wie in Leonies Fall werden alle Eltern rechtzeitig vor dem Übergang auf eine weiterführende Schule zu einem Beratungsgespräch an die Grundschule eingeladen. In diesem Gespräch informiert der Klassenlehrer über die seines Erachtens nach zu empfehlende weiterführende Schule.

Leonie entschied sich also für das Gymnasium. Aus der anfänglichen Euphorie wurde aber nach und nach eine immer stärker werdende Lustlosigkeit. Erst schob sie es auf die »blöden Mitschüler«, dann auf die Lehrer. »Wir dachten erst, sie würde gemobbt«, fasst ihr Vater seine ersten Gedanken zusammen. »Dass sie aber einfach Angst vor der Schule hatte, haben wir erst am Ende der 6. Klasse gemerkt.« Weil sie nicht mehr mit dem Unterricht mitkam, war auf einmal Leonies Versetzung gefährdet.

Ihr Klassenlehrer lud Leonie und ihre Eltern zu einem ausführlichen Beratungsgespräch in die Schule ein und schlug ihnen den Wechsel auf die Realschule vor. »Zuerst wollten wir das gar nicht wahrhaben«, räumt Leonies Vater ein. »Leonie wollte doch unbedingt auf das Gymnasium, und in der Grundschule war sie doch so eine eifrige Schülerin, die gerne zur Schule ging. Außerdem wollten wir sie nicht aus ihrem Freundeskreis herausholen, die ja alle in ihre Klasse gingen.«

Dieses Argument hatte ihr damaliger Klassenlehrer schon oft gehört. Dabei ist es erwiesen, dass Freundschaften bei einem zu großen Unterschied in der schulischen Leistung häufig sowieso in die Brüche gehen. Dies liegt daran, dass sich leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in der Regel mit ähnlich leistungsstarken Kindern zusammenschließen, die oft ähnliche Interessen haben.

Leonies Eltern mussten sich eingestehen, dass ihre Tochter auf dem Gymnasium überfordert war. Ihr Klassenlehrer konnte sie aber früh genug überzeugen, ihre Tochter auch aus anderen Gründen die Schule wechseln zu lassen: »Ein schwer erkämpftes und vielleicht durch mehrmaliges Wiederholen verspätet erreichtes Abitur garantiert bestimmt keinen guten Ausbildungsplatz. Ein solider Real- oder Hauptschulabschluss mit dem erfolgreichen Nachweis von Betriebspraktika dagegen schon eher«, waren seine Argumente.

Das Kind darf nicht den Eindruck bekommen, ein Schulwechsel bedeute eine Abwertung seiner Person. Eltern sollten erklären, dass das Kind seine Schulzeit auf einer anderen Schule erfolgreicher und stressfreier absolvieren kann. Schließlich handelt es sich bei einem Schulwechsel nicht um eine Einbahnstraße – zu gegebener Zeit kann das Kind durchaus wieder zur alten Schulform zurückkehren.

Bevor sich Leonie und ihre Eltern endgültig für die richtige Schule entschieden haben, konnte Leonie für ein paar Tage probeweise am Unterricht ihrer potenziellen neuen Klasse teilnehmen. Für sie war dieses Austesten eine gute Möglichkeit, herauszubekommen, ob die Schule geeignet für sie ist.

Leonie lächelt. Heute ist Mathematik ihr Lieblingsfach an ihrer neuen Schule, einer Realschule.

Im Mittelpunkt der Übertrittsentscheidung sollte immer das Wohl Ihres Kindes stehen. Die richtige Schule ist deshalb diejenige, die Ihrem Kind die besten Chancen bietet, seine besonderen Talente voll zu entfalten und mit Freude und Erfolg zu lernen.

Druck und Stress vor dem Schulwechsel

In der Übertrittsphase, das heißt in der Regel ab der 3. Klasse, beobachten die Grundschullehrerinnen und -lehrer intensiv, welche individuellen Voraussetzungen ein Kind mitbringt. Diese werden mit den Aufnahmebedingungen der weiterführenden Schularten abgeglichen, sodass Empfehlungen für die ideale weiterführende Schule für Ihr Kind gegeben werden können.

Der großen Bedeutung dieser Beobachtungen sind sich auch die Kinder bewusst. Während manche diesbezüglich ein dickes Fell zu haben scheinen und sich trotz dieses erhöhten Stressfaktors relativ normal verhalten, reagieren andere weniger oder mehr offensichtlich darauf. Sie verlieren die Lust an der Schule oder am Lernen, entwickeln übertriebenen Ehrgeiz (»Es kann doch nicht sein, dass der Moritz aufs Gymnasium darf und ich nicht …«) oder zeigen sogar Symptome von Schulangst. 5E6E5D7194AA49598F43E08FC6BA6EE8.jpg

Fangen Sie in der Familie derartige Anzeichen bereits frühzeitig auf, indem Sie Ihren Kindern angemessenen Ehrgeiz vorleben und ihnen signalisieren, dass die Form der weiterführenden Schule für Sie nicht an erster Stelle steht und Ihr Kind kein Mensch zweiter Klasse ist, wenn es nicht aufs Gymnasium geht. Verdeutlichen Sie Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn, dass es ganz allein darauf ankommt, ob Ihr Kind selbst mit seinen Leistungen zufrieden ist.

So ist Jakob beispielsweise froh und sichtlich erleichtert, dass er in der letzten Mathematikarbeit noch eine Vier bekommen hat, obwohl ihm doch so viele Rechen- und Flüchtigkeitsfehler unterlaufen waren. Während Julia zutiefst enttäuscht ist über ihre Zwei, weil ihr doch nur dieser eine dusselige Fehler eine Eins verwehrt hat.

Unterstützen Sie diese zunächst widersprüchlich erscheinenden Auffassungen, indem Sie sich entsprechend mitfreuen (auch bei einer auf den ersten Blick nicht so guten Leistung) bzw. Ihr Kind trösten, wenn es sich auch um eine recht ordentliche Note handelt.

Zu diesem erhöhten psychischen Druck gesellt sich eine veränderte Lehr- und Lernkultur in den Klassenzimmern. Gelehrt wird nicht mehr, was die Kinder interessiert, sondern was zielführend für den möglichen Probeunterricht an der weiterführenden Schule ist.

Das wissen auch die Eltern. Und so arbeiten sie mit ihren Kindern den Unterrichtsstoff vor, damit ihr Kind sich auch gut am Unterricht beteiligen kann. Ein interessanter, vielleicht sogar spannender Unterricht ist auf diese Weise kaum mehr möglich.

Einige Kinder werden zudem in der Klasse von ihren Mitschülerinnen oder Mitschülern gemobbt, weil sie den Übertritt aufs Gymnasium oder die Realschule wahrscheinlich nicht schaffen werden.

Von einer eignungsgerechten Empfehlung kann jedenfalls nicht die Rede sein. So zeigt die Praxis, dass vor allem jene Kinder den Übertritt aufs Gymnasium schaffen, deren Eltern ihnen bei der Vorbereitung helfen. Kinder, deren Eltern nicht ständig bereitstehen, schaffen es dagegen häufig nicht.

Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Familienleben. Eltern und Kinder erleben in der Phase des Übertritts regelrecht die Hölle auf Erden. Da wird geübt und gepaukt bis in den Abend hinein; anstatt in die Reitstunde geht es zum Nachhilfelehrer. Eine befriedigende Deutscharbeit führt zu einem Nervenzusammenbruch bei seinem neunjährigen Verfasser. Andere werden vermehrt krank und leiden unter Bauchweh, Übelkeit, Kopfschmerzen, Durchfall – die Liste ist lang und wird immer länger.

Zum ungeheuren Leistungsdruck gesellt sich die Angst, dass das Kind einmal auf der Straße sitzen könnte. Und so wird es gegebenenfalls durch Aufnahmeprüfungen gehetzt – wohl wissend, dass sich ein Misserfolg (der ja nicht ganz unwahrscheinlich ist) negativ auf das Kind auswirken kann. Vom zusätzlichen Druck durch diese Aufnahmeprüfungen, die an bis zu drei aufeinanderfolgenden Tagen stattfinden können, einmal ganz abgesehen.

Ein Programm solcher Aufnahmeprüfungen kann wie folgt aussehen:

Dienstag: Lösen mathematischer Aufgaben, Verfassen eines Aufsatzes

Mittwoch: Lösen mathematischer Aufgaben, Rechtschreiben, Leseverständnis

Donnerstag: aktive Teilnahme am Unterricht in Deutsch und Mathematik

Die Kinder schreiben also am Tag bis zu drei Prüfungsarbeiten, die zudem weichenstellend für ihre schulische Zukunft sind. Zum Vergleich: Im regulären Schulbetrieb (auch an der weiterführenden Schule und sogar auf dem Gymnasium!) dürfen laut Schulgesetz in der Regel maximal drei Arbeiten pro Woche geschrieben werden, in der Grundschule sogar häufig nur zwei.

Auch hier sind Sie wieder gefragt. Fangen Sie Ihr Kind auf und ermuntern Sie es nach einer Aufnahmeprüfung. Gehen Sie gemeinsam spielerisch an die Sache heran, etwa so wie vor einem Fußballspiel gegen den Verein im Nachbarort. Sprechen Sie vorher nicht über Konsequenzen bei Nichtbestehen, sondern ermutigen Sie Ihr Kind, ganz gelassen »es selbst« zu sein.