ISBN: 978-3-95764-056-7
1. Auflage 2014, Altenau (Deutschland)
© 2014 Hallenberger Media GmbH
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Umschlagabbildung: Rolf Hannes. Die Internetseite des Künstlers mit vielen weiteren Informationen finden Sie unter rolfhannes.de, sein Blog unter futura99.de.
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Sport ist unserer Gesellschaft wichtig. Er verkörpert ihren Geist: den Wettbewerbscharakter. Und Sport selbst ist Zusammenwirken von Körper und Geist eines Menschen, und wenn beide perfekt harmonieren, kann man kleine Wunder erleben. Ich fuhr erst seit zwei Jahren begeistert mit dem Rennrad herum, als ich in Freiburg 1992 in das „Institut für Grenzgebiete der Psychologie“ eintrat, das weltweit die größte Sammlung an Büchern über Parapsychologie besitzt. Bald entdeckte ich einschlägige Bücher, vor allem „Psi im Sport“ von Michael Murphy und Rhea White, das so in deutscher Sprache erstmals 1983 erschien. Da ging es um Grenzerfahrungen, die die Sportler selber nicht gern erzählten, da sie sich nicht unbequemen Fragen stellen wollten. Doch es war keine Frage, dass sich im Sport manchmal paranormale und erstaunliche Dinge ereignen, zumal, wenn eine Mannschaft beteiligt ist und ihr Gegner gegenüberstehen. Der Einsatz ist hoch, alle Kräfte werden mobilisiert, und so wird gezaubert.
Material musste gesammelt werden. 1997 dann schrieb ich eine erste Fassung, aber weil ich nicht wusste, wen das interessieren würde, legte ich das Manuskript beiseite. Murphy und White haben übrigens ihr 1978 erstmals erschienenes „The Psychic Side of Sport“ (das erwähnte „Psi im Sport“) 17 Jahre später als „In the Zone“ neu und erweitert wieder aufgelegt – und das gab mit Mut, meinen alten Text wieder zu bearbeiten und ihn ebenfalls 17 Jahre später hier vorzulegen. Es ist ein bunter Streifzug durch den Sport geworden, ein Steinbruch aus seltsamen Geschichten und Kuriositäten, gewürzt und angehoben durch Ausflüge in Spiritualität und Religion. Die Sportler, die damals aktiv waren, sind heute zwar nicht mehr bekannt, aber es geht um die Phänomene, die sich heute nicht anders darstellen als damals.
Man steigt auf sein Rad oder läuft los; man geht hinaus in die Welt und auch in sich, und es gibt keine einfachere und gesündere Praxis, Erfahrungen mit sich zu machen, als Sport zu treiben. Die theoretische Beschäftigung damit ist etwas zu kurz gekommen, finde ich, und „Magischer Sport“ will diesem Mangel abhelfen. Die Hoffnung des Autors ist es, dass die Leserinnen und Leser des Buchs mit einem anderen Blick und einem erweiterten Bewusstsein zum Zweck einer sportlichen Betätigung hinausgehen in die Welt und gleichzeitig in sich hinein.
Das, was ungewiss am Sport ist – was unwägbar, unvorhersagbar, unauslotbar ist -, kann ruhig auch einen Namen bekommen. Nennen wir das Unwägbare einfach Ball. Der bekannteste Vertreter der Gattung ist: der Fußball. „Der Ball soll kugelförmig sein. Der Umfang des Balles darf nicht mehr als 71 Zentimeter und nicht weniger als 68 Zentimeter betragen. Das Gewicht des Balles bei Spielbeginn darf nicht mehr als 435 Gramm und nicht weniger als 396 Gramm betragen. Der Ball ist erst dann im Spiel, wenn er eine Strecke von der Länge seines Umfangs zurückgelegt hat.“ Nur die Hand eines Riesen kann ihn greifen. Ein Ball rollt: Er hat keine Ecken, keine Kanten; anders als ein Ziegelstein oder ein Buch trollt er sich davon, wenn man ihn anstößt, und er lässt sich ablenken. Sein Schwung wird zu Bewegung. Auf ihn verwendete Arbeit wird Geschwindigkeit.
Ein anderes Ding ist tatsächlich zu greifen. „Das Flugobjekt wiegt ganze 150 Gramm, misst siebeneinhalb Zentimeter im Durchmesser und besteht aus gepresstem Kork, umgürtet von 300 Meter eng gewickelten Garn, um den sich ein Mantel aus Rindsleder schmiegt, zusammengehalten von 216 Stichen aus rotem Zwirn. Es ist der Ball.“ Um genauer zu sein: der Baseball. Manche Schläger können ihn auf 160 Kilometer in der Stunde beschleunigen.
Dass der Ball rollt und sich ablenken lässt, könnte zu dem Gedanken verleiten, er habe ein eigenes Leben. „Der Chef hatte ein besonders feines Gespür dafür“, sagte Fritz Walter, und mit dem „Chef“ war Sepp Herberger gemeint, von 1950 bis 1964 Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft. „Er hörte schon am Klang eines aufspringenden Balles, ob er gut war oder schlecht. Klang es dumpf und hohl, dann schüttelte er den Kopf: der hat keine Seele, der ist leblos. – Wir recht er hatte, spürten wir später. Der Ball spielte nicht mit, er sang nicht, er ließ sich nicht streicheln, er war nicht Kamerad und Freund des Spielers, sondern ein Fremder.“
Dass der Ball – als Fremder oder Freund – anscheinend seiner eigenen Wege geht, ist in der Fußballgeschichte unzureichend gewürdigt worden. Denn der Ball spielt eigentlich mit uns. Er ist der Hauptdarsteller. Er spielt Schicksal, rollt inmitten allem dahin und wird Anlass zu höchster Komik und tiefster Tragik.
Rund waren in der Weltgeschichte nur Kanonenkugeln und die Köpfe, die oft genug rollen mussten. Rund war die Kristallkugel, aus dem sich die Zukunft ersehen ließ, wie sie der Magier zu sehen beliebte. Nichts Verlässliches, so ein rundes Ding; darauf lassen sich keine Reiche bauen. Der Stein der Weisen, der heilige Gral und die Kaaba in Mekka sind nach allem, was wir wissen, nicht rund. Aber der Erdball ist es, dem man aber einfach nicht abnehmen will, dass er rund sei. Etwas Rundes flutscht schnell davon und stört die Ordnung. Loriot sagte: „Das Komische ist das Zusammenbrechen der Ordnung in die Katastrophe.“ Das gilt besonders im Spiel; da kann man oft genug darüber lachen, denn es ist ja ein Spiel.
Etwas Unordentliches passiert: Der Verteidiger säbelt über den Ball, die Kugel springt über den Torwart und kullert in die entgegengesetzte Seite des Tors. Alle die Eigentore – köstliche Kreationen! Der Torwart bekommt den Ball nicht zu fassen, robbt ihm hinterher, und das garstige Ding hoppelt vor ihm her, in Zeitlupe über die Linie rollt es, gerade weit genug, dass der Verfolger es nicht mehr erreichen kann. Das sind die schönsten Situationen: Wenn der Ball selbst zu leben scheint, die Spieler wie gelähmt auf ihn starren, auf ihn, der ganz in Ruhe seine Kapriolen ausspielt.
Europacup-Endspiel Saragossa gegen Arsenal London, Sommer 1995: Ein Spanier hält einfach drauf, drischt in der letzten Minute, 45 Meter vor dem Tor befindlich, die Kugel in Richtung Gehäuse: eine unsinnige Handlung, keine Frage, eine Verzweiflungstat. Der Ball fliegt hoch, weg aus dem Blickfeld der Kameras; von steil oben senkt er sich dann, erstaunlich gemächlich, auf das Tor; der englische Torwart ahnt Böses, stolpert rückwärts, Panik in den Augen, der Ball strebt boshaft weg von ihm und seiner ausgestreckten Hand, plumpst („wie eine reife Pflaume“) dorthinein, wohinein er soll und nicht soll: Und der Torwart fällt hintennach. Entsetzen auf der britischen, fassungslose Freude auf der spanischen Seite. 1:0, darauf der Schlusspfiff. Sieg Saragossa.
Ror Wolf, deutscher Schriftsteller vom Jahrgang 1932, hat von 1966 („erste Ballberührung“) bis 1979 („letzte Ballberührung“) deutsche Fußballgeschichte mit Bosheit und dem Blick fürs Absurde in Szenen und Sagen dokumentiert. In „Soccer World“ hat er folgende berühmt gewordene Geschichte gefunden:
„Mittelstürmer Georg Davidson vom FC Southampton trat den Ball bis Australien. Im Spiel gegen Bolton Wanderers hob er den Ball weit über das Tor. Der Ball schwebte über die Stehränge hinweg, flog hinaus und landete auf einem vorbeifahrenden Lastwagen, dessen Ladung gerade auf ein Schiff gebracht wurde. Von der englischen Hafenstadt Southampton schaukelte der Ball leicht nach Australien, Afrika entlang, um das Kap der guten Hoffnung herum, zwanzigtausend Kilometer weit. In Melbourne wurde die Ladung gelöscht. Man staunte nicht schlecht, als man zwischen den Kisten den englischen Fußball fand.“
Da will der golfverliebte Erich Helmensdorfer nicht abseits stehen. Ein Ball kommt vor, ein Lastwagen, doch statt bis Australien gelangte der ausgerissene Golfball nur auf einen Londoner Gemüsemarkt. Auch ein Reiseziel.
„Ein wahres Wunder von Schlag ließ einen Ball sechzig Kilometer weit fliegen, bevor er zum Boden zurückkam. Laut 'Golfers Handbook' schlug ein Spieler auf dem Golfplatz John O'Gaunt Club bei Biggleswade in Bedfordshire (rund 60 km nördlich von London) seinen Ball ab. Das gute Stück landete auf einem gerade vorbeifahrenden Lastwagen mit Gemüse. Erst beim Entladen auf dem Großmarkt in London fiel der Ball aus einem Packen Grünkohl. Der Fahrer dachte an den Golfplatz, an dem er nahe vorbeifahren musste, und er gab den Golfball nach seiner Rückkehr zurück. Übrigens hätte der Spieler seine Runde mit dem Ball fortsetzen können. Der Laster war ein 'bewegliches Hemmnis', und nach Regel 24-1b hätte der Ball so nahe wie möglich unterhalb der Stelle, wo er auf dem beweglichen Hemmnis zur Ruhe gekommen war, straflos fallen gelassen werden müssen.“
Ein Golfball wird es weiter geschafft haben als 60 Kilometer. Was von der folgenden Geschichte zu halten ist? Wir hören sie.
„Am 23. September 1994 hatte eine Gruppe von fünf Golfspielern aus Oklahoma auf der Highlands Golfanlage in Bella Vista (Arkansas) gerade vom Tee abgeschlagen, als ein schwarzer Helikopter mit zwei Männern auf dem Rasen landete. Ein Mann stieg aus und nahm den Ball an sich, der Randall Kent aus Wetuemka (Oklahoma) gehörte, stieg wieder in den Hubschrauber ein und flog ab. Die Polizei von Bella Vista recherchierte bei der FAA (Federal Aviation Administration) und bei nahegelegenen Flughäfen nach, konnte aber keinen Helikopter ausmachen, auf den die Beschreibung zugetroffen hätte.“
Diese schwarzen Helikopter wurden von 1988 an häufig in den USA gesichtet, vor allem in Texas. Angeblich handelt es sich bei einer Reihe um Maschinen einer Spezialtruppe der Drogenpolizei – sollten sie die verdächtigen Golfer als Rauschgifthändler verdächtigt haben? Auch nach seltsamen Verstümmelungen an Rindern (die auf Insekten zurückgehen) wurden schwarze Helikopter gemeldet, die vielleicht nur Hirngespinste im Dunstkreis des Ufo-Wahns sind. Nun zur Tragik:
„Den einzigen Killer-Baseball in der Geschichte der Major League gibt es noch, 58 Jahre nachdem er einem Shortstop der Cleveland Indians das Leben geraubt hatte. Bob Curley, ein Redakteur des 'Sentinel Star' in Orlando (Florida), hält ihn in einem Schrank in seinem Haus unter Verschluß, nur zum Teil wegen seines historischen Wertes. Der gebrauchte und leicht zerfetzte Ball hat zweimal Unheil gebracht.
Der Ball, der Raymond Johnson Chapman vor 58 Jahren tötete, kam durch einen der Spieler, der an der Partie teilnahm, in Curleys Hände, der damals Sportreporter war. Es war der Centerfield von Cleveland, Chuck Jamieson, der den Ball in seine Tasche steckte, nachdem er Chapman niedergestreckt hatte, und der 1950 den Ball Curley gab.
Chapman, der 'Shortstop' der Cleveland Indians, wurde von einem Wurf von Carl William Mays von den New York Yankees am 17. August 1920 auf den New York Polo Grounds an der Schläfe getroffen. 'Als wir versuchten, Ray zu helfen, stolperten wir immer wieder über den Ball. Danach hob ich ihn einfach auf und steckte ihn in meine Rückentasche.'
Als Curley den Ball erhielt, legte er ihn vorübergehend in das Handschuhfach seines Autos. Er war seinerzeit Trainer an der St. Luke High School in Ho Ho Kus, New Jersey. Am nächsten Tag entdeckte ihn eine Gruppe seiner Spieler und benutzten ihn beim Infield-Training; es war das erste Mal, dass der Ball seit dem Zwischenfall mit Chapman zum Einsatz kam.
Curley erzählt, ein vergleichsweise schwacher Schlag sei auf den dritten Baseman gezielt gewesen. Als dieser nach ihm habe greifen wollen, habe der Ball einen merkwürdigen Drall bekommen und ihn in der Nähe des rechten Auge getroffen, wobei dem Baseman der Wangenknochen zerschmettert wurde.
Danach sei der Ball für immer beiseite gelegt worden, sagt Curley. 'Er sieht fast nie das Tageslicht, und ich halte ihn in einer Plastiktüte in einem abgesperrten Schrank versteckt. Ich habe immer Angst, der Ball könnte hinausrollen, jemand würde auf ihm ausrutschen und sich den Hals brechen.“
Dieses Motiv – die bösartige Qualität eines Baseballes, der Schicksal spielt – hat der amerikanische Romancier John Irving in seinem Buch Owen Meany eingesetzt, in dem das Baseball-Spiel die Handlung strukturiert. Owen ist ein linkischer kleiner Bursche, der nie richtig Baseball spielen konnte. Aber dann …
„Meine Mutter stand mit dem Rücken zum Schlagmal; … Sie stand neben der dritten Base, als Owen Meany ausholte. Er schien schon auszuholen, noch ehe der Werfer den Ball geworfen hatte – der Ball kam schnell, wie das bei Schülerspielen oft der Fall ist, doch Owens Schläger war schon in der Luft und traf erstaunlicherweise auch. (…) Das Krachen, mit dem der Schläger den Ball traf, war so laut, dass selbst die Aufmerksamkeit meiner Mutter wieder auf das Spiel gelenkt wurde. Sie drehte sich um – ich vermute, sie wollte sehen, wer da so fest zugeschlagen hatte – und der Ball traf sie an der linken Schläfe; so dass sie sich wie ein Kreisel um die eigene Achse drehte …“ Sie stürzte mit dem Gesicht voran auf die Erde und war anscheinend schon tot, bevor sie den Boden berührte.“
Schön ist das nicht. Aber nicht nur das Heitere bewirkt der Ball, und wieviele Ehen mag er zugrunde gerichtet haben. Er ist eben immer in Bewegung, wie ein Trickster, und wenn er wegrollt, meint man manchmal, er habe ein Auge und zwinkere damit, bevor er ins Tornetz schlüpft. Ein Ball ist mehr als ein Ball. Er ist bisweilen sein Gewicht in Gold wert. Besonders der Baseball, dem in den Vereinigten Staaten mystische Qualitäten zukommen. „500 000 Dollar zahlt der amerikanische Hotelier Michael Lasky für jenen Baseball, der am 6. September einem Glücklichen in die Hände fiel. Danny Jones, der jenen Ball fing, den Baseballspieler Eddie Murray zum fünfhundertsten 'home run' befördert hatte, geht in die Sportgeschichte ein, weil er ein Stückchen davon verhökert.“ Das war 1996.
Auch der Ball, der zum ominösen „dritten Tor“ 1966 beim Fußball-Weltmeisterschafts-Endspiel im Wembley-Stadion auf die Torlinie sprang (die deutsche Interpretation) wurde zu mehr als einem Ball. Helmut Haller (1939-2012) selbst, der damals deutscher Spielführer gewesen war, musste ihn 1996, dreißig Jahre später, vor der Fußball-Europameisterschaft nach England fliegen. Am Flughafen warteten viele Reporter und Fotografen. Haller hat darauf mit Unverständnis reagiert. Doch dieser Ball hatte sich aufgeladen mit Bedeutung. Er war ein Stück Geschichte.
In den Ballspielen dreht sich alles um den Ball. Wir können noch so viel theoretisieren und ein Spiel vorbereiten: Dann kommt der Ball ins Spiel, und die Post geht ab. Etwas passiert. Wenn man das Spiel dann gesehen hat, was hat man gesehen? Aus dem Shakespeare-Drama oder dem Liebesfilm erinnert man sich an Szenen – vom Fußballmatch bleibt nichts. Man hat anscheinend gebannt nur den Lauf des Balles verfolgt, und ohne die Zeitlupen Szenen hätten wir nichts in der Erinnerung. Die Situation vor einem Tor könnten wir vielleicht grob nachskizzieren, aber das wär’s auch. Ein Fußballspiel, das sind ein paar abgerissene Sätze von abgehetzten Akteuren und ein paar Analysen von Fachleuten; alles bleibt abstrakt und nebelhaft ohne Bilder. Ein Fußballspiel ist ein Ergebnis, ein Eindruck und eine Art Bewusstlosigkeit, was die vergangenen 90 Minuten betrifft.
Fußball ist ein rollender Ball, umgeben von wild agierenden Komparsen.
„Meinen Sie nicht auch, dass sich
der wahre Charakter eines Menschen
bei keiner Gelegenheit deutlicher
offenbart als beim Spiel?“
wandte sich Missi an Nechljudow.
Leo Tolstoi, Auferstehung
Der Ball ist umkämpft. Jeder gegen jeden. „Homo homini lupus“ ist ein Spruch des römischen Komödiendichters Plautus (250-184 v. Chr.): Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Konkurrenz prägt unser Zusammenleben. Wir brauchen nun nicht von Kriegen zu sprechen oder von blutigen Ereignissen ― es gab eine Phase in der englischen Geschichte, da wurden sechs Könige hintereinander umgebracht ―, denn das liegt weitgehend hinter der westlichen Zivilisation. Dennoch gibt es überall Konkurrenz, denn wir haben ja eine Leistungsgesellschaft.
Das erste Buch, das durchgehend über Sport als Zeitvertreib geschrieben wurde, heißt „The Compleat Angler“ von Izaak Walton, erstmals veröffentlicht 1653. Es wurde fast so oft gedruckt wie die Bibel und hat nur den Schönheitsfehler, dass der Autor anscheinend viel bei einer katholischen Nonne abgeschrieben hat, Dame Juliana Berners, die schon 1496 einen Aufsatz über das Fischen („fisshinge wyth an Angle“) veröffentlichte. Angeln kann gerade noch als Sport durchgehen und stellt sozusagen das Bindeglied zwischen dem Menschen als Jäger und Sammler und dem Menschen als Freizeitwesen dar. Das Buch enthält wertvolle Ratschläge über das Fangen und das Kochen des Fischs und ist ein wertvoller Ratgeber über das englische Landleben. Derartige Bücher bringen uns eine ganze Welt nahe. Sport ist nicht etwas, das man durch das Studium von Regeln lernen könnte. Sport ist der Vollzug von Handlungen inmitten von Menschen, die in einem sozialen Geflecht stehen. Sport beschenkt uns mit einem intensiven Gemeinschaftserlebnis. Es ist Kampf gegeneinander und Kampf miteinander, Kennenlernen der eigenen Psyche und des eigenen Körpers.
Gunter Gebauer und Gerd Hortleder schrieben in ihrem Buch „Die künstlichen Paradiese des Sports“: „Im Sport feiert die sich die Gesellschaft, sie gibt sich selbst das Spektakel ihres Duell-Charakters. (…) Im Sport will sich die Gesellschaft ihre Realität bestätigen, sich von ihrer, wenngleich konfliktvollen, Existenz überzeugen, von ihrer Macht der Unterordnung und Überschreitung von Ordnung und Unordnung, von ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Risiko …“ Es ist eine Parallelwelt, die die „ernste“ Welt von Gesellschaft und Politik interpretiert und ergänzt. Und: „Kurz, der Sport stellt sich fundamental als Fest des gezähmten Bürgerkriegs und in dieser Eigenschaft als nützlich dar.“
Richtig. Wie viel Energie wird auf ihn verwendet – Energie, die andernfalls für Feldzüge und Kriege aufgewendet werden würde. Man könnte sagen, die westliche Zivilisation habe durch Massenmedien und den Sport sich selbst zivilisiert und ihre dunklen Seiten sublimiert: verarbeitet und umgearbeitet. Dafür müssen wir eben die Stunden mit Fußball und Fernsehkrimis ertragen; aber man muss ja nicht hinschauen. Allerdings ist die Grenze zwischen Sport und nackter Gewalt dünn. Fanklubs ziehen vor Spielen durch die Straßen der Stadt, die Schauplatz der Partie sein wird, wie es früher marodierende Banden taten. Da herrscht plötzlich das Faustrecht, die Zivilisation ist aufgehoben. Auf den Zuschauerrängen werden Rauchbomben gezündet.
Vergessen wir nicht den „Fußballkrieg“ im Juni 1969 zwischen Honduras und El Salvador, der zum Glück nur fünf Tage dauerte. Nach den Fußballspielen zwischen beiden Staaten, in denen es um die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko ging (das dritte Spiel entschied El Salvador mit 3:2 in Mexiko-Stadt für sich und schaffte es zur WM), brachen Unruhen aus. In Honduras befanden sich illegale Einwanderer aus dem Nachbarland, El Salvadors Armee marschierte ein, es kam zu Luftkämpfen mit Propellermaschinen, den letzten weltweit, bis endlich die Kampfhandlungen eingestellt wurden. Lateinamerika: Da wurde auch einmal ein Spieler, der ein Tor nicht geschossen hatte, von einem Fan erschossen. (Und es fällt einem ein, dass einmal ein empörter Theaterbesucher den Darsteller eines Schurken auf der Bühne erschoss.)
Sport gab es natürlich schon zweieinhalb Jahrtausende vor dem „Compleat Angler“, aber es war nicht das, was wir unter dem Wort Sport verstehen, der untrennbar mit Großbritannien verbunden ist, dem „Mutterland des Sports“, der zur Zeit der Industralisierung aufkam. Der Sport und die Arbeitswelt sind verwandt, sind sich „strukturell ähnlich“; das sagen alle Sportwissenschaftler.
Vor der durchorganisierten Sport- und Arbeitswelt gab es die Jagd, den Krieg, das Angeln. In der berühmten „Encyclopédie“ von Denis Diderot und d’Alembert, entstanden vor der Französischen Revolution, sucht man das Wort „Sport“ vergebens; jedoch gibt es 35 Tafeln über Netze und das Angeln, 25 Einträge, in denen „Jagen“ vorkommt und 8 über das Reiten.
Die leiblich orientierten Spiele der Antike hatten einen anderen Charakter. Sagen wir also: die Geschichte der Körperkultur. Sie hat Julius Bohus 1986 vorgelegt, wobei er sich auf Europa beschränkte. In anderen Kulturen gab es zeremonielle Läufe oder Wettbewerbe, die jedoch meist kultischen Charakter trugen. Bewegt wurde sich schnell zu Zwecken des Krieges, der Religion und des Nahrungserwerbs, sicher auch zur Nachrichtenübermittlung.
In der kretisch-mykenischen Epoche von 1600 bis 1200 vor Christi Geburt herrschte der achäische Adel. Ihm ging es um elitäre Lebensgestaltung und gehobene Exklusivität. Man konnte sich auf Feldzügen, bei der Jagd oder bei Festen auszeichnen. Es gab Wettkämpfe, bei denen Ruhm winkte. 776 vor Christus fand die erste Olympiade statt, die eigentlich den Vierjahreszeitraum bezeichnete. 14 Mal 4 Jahre, also ein halbes Jahrhundert gab es dabei nur die Stadionläufe. Dann kamen bis 520 vor Christus Doppellauf, Langlauf, Fünfkampf, Ringkampf, Faustkampf, Reiten, Viergespann-Rennen und Waffenlauf hinzu.
Neben den „Olympiaden“ gab es andere Spiele, etwa die Isthmien, und der Kultdichter Pindar (ca. 520-446 v. Chr.) schrieb 10 Oden für die Sieger, die man ihm gut bezahlte. Er huldigte dem Sieger des Fünfkampfs 480, Cleandro sowie Melisso, und er schreibt: „Unverwundbar sind sie wirklich: Söhne der Götter.“ Pausanias, ein Reiseschriftsteller des antiken Griechenland und Zeitgenosse Pindars, schilderte die Laufbahnen und Treffpunkte der Sportler, die Altäre für die Gottheiten und die Trainingsräume für die Teilnehmer.
Dann, erläutert Bohus, löste sich die archaische Adelsgesellschaft auf, und so etwas wiederholte sich. Es erinnert an den Niedergang des Rittertums um 1400 und die Zeit vor der Industrialisierung 1850: Der Geburtsadel wurde vom Prinzip des Geldadels abgelöst. Ein guter Geschäftsmann galt mehr als ein tüchtiger, schöner Krieger. In Athen widmete man sich der Gymnastik, und auch Bürger durften in den Wettbewerben siegen.
Die folgenden tausend Jahre sind nur dünn belegt. Immer ging es um Härte, Mut und militärische Tüchtigkeit. Im Mittelalter kennt man nur die Ritterturniere, und erst in den mittelalterlichen Städten entwickelten sich Bewegungsspiele, so im 14. Jahrhundert in der Toskana, England und Frankreich gleichzeitig Vorformen des Fußballspiels sowie ein tennisartiges Spiel, das jeu de paume. „Sport“ taucht sogar in den Shakespeare-Dramen auf. Als Antwort auf einen bösen Vorwurf ihres Mannes, des Königs Leontes, sagt Königin Hermione: „What is this? sport?“ Das heißt etwa: „Was soll das sein? Ein schlechter Scherz?“
In der Zeit der Aufklärung rückt der Körper in den Mittelpunkt. Leibeserziehung gibt es regelmäßig in den Schulen von Pestalozzi (1746-1827), und 1774 gründete Johann Bernhard Basedow in Dessau das erste philanthropische Internat. Ab 1784 nahmen die Leibesübungen in Schnepfenthal unter der Leitung von Johann Christoph Friedrich Gutsmuths (1759-1839) einen Aufschwung. Guthsmuths forderte, keiner solle lange untätig bleiben, und „die Ruh such im Bett, auf dem Übungsplatz wohnt die Bewegung“. Nie erlaubt sei „träges Lagern am Boden und müßiges Gaffen“, und am Ende der Bewegungen – immer nach „körpergesetzlicher Maßgabe“ – war nur ein „allgemeines Hurrah“ erlaubt.
1811 kam der Turnvater Jahn, der nichts mehr hasste als „faulthierisches Hindämmern, brünstige Lüste und hundswüthige Ausschweifungen“. Er funktionierte das Turnen zu einer Bekundung für den Nationalstaat um. Von 1820 bis 1842 gab es sogar ein von oben verordnetes Turnverbot. In England jedoch fand 1811 schon eine Boxveranstaltung mit 20000 Zuschauern statt, der Sportjournalismus fasste Fuß, und nach 1850 setzten sich auf den britischen Inseln (aber auch in Frankreich) Radrennen durch, und die Autorennen folgten dann im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts.
Ab 1880 griff diese Bewegung auch auf den „Kontinent“ über. Die ersten olympischen Spiele der Neuzeit fanden 1896 statt, und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden viele Fußballvereine gegründet. In den 1920-er Jahren machte die Nudistenbewegung von sich reden, man liebte den Tanz und eine „natürliche“ Lebensweise. Dann der Rückschlag: Im Nationalsozialismus ab 1933 wiederholte sich die Entwicklung in Mykene, Athen und dem alten Rom: Junge Menschen sollten sich ertüchtigen, um gute Soldaten zu werden und in den Krieg ziehen zu können.
Nach dem Zweiten Weltkrieg drängte sich der Sport in den Vordergrund. Von 1949 bis 1980, in 30 Jahren, verfünffachte sich etwa in Frankreich die Zahl der Sporttreibenden: von zwei auf zehn Millionen. Die Trimm-Dich-fit-Bewegung in Deutschland, Radtouren, Volksläufe, und die Medien erhöhten in den 30 Jahren seither die Präsenz des Sports in der Gesellschaft in dem Maße, in dem die Präsenz der Religion abnahm. Säkularisierung, Demokratisierung, Individualisierung nennt Pierre-Olivier Monteil in einem Aufsatz von 1992 als Stichworte. Junge Männer wollen heute Fußballstars sein mit Traumgehältern, einem schönen Model als Partnerin und beachtet von der Öffentlichkeit, die langatmig und wie besessen über Sport diskutiert, vor allem über Fußball. Das sind Ersatzhandlungen in einer hochspezialisierten Gesellschaft, deren gemeinsamen Nenner – möchte man fast meinen – die großen Sportveranstaltungen darstellen.
Irgendwo fand ich das Zitat eines Gelehrten aus den 1920-er Jahren, in dem prophezeit wurde, irgendwann werde alles Sport sein. Das hat sich fast hundert Jahre später bestätigt. Wir könnten es freilich auch Spiel nennen: Der Mensch spielt gern, er ist nicht völlig rational. Je langweiliger und ereignisloser sein Leben, desto attraktiver werden Spiel und Sport. Denn da ist das Ergebnis unvorhersehbar. Männer gehen zum (oder schauen) Fußball, weil sie nicht wissen, wie die Partie ausgeht. Quizsendungen ohne Ende, und viele ernsthafte Beiträge sind auf ein überraschendes Ende zugeschnitten. Die großen Wettbewerbe wie Fußballweltmeisterschaften werden langatmig vorbereitet und ebenso detailliert nachbearbeitet; die Spannung wird professionell geschürt. Sport bringt Spannung ins Leben. Er wird untermalt mit pathetisch wirkender Musik, und die Zeitlupe macht alles bedeutungsvoll.
Alle machen bei der großen Inszenierung wissentlich mit. Die Zuschauer gingen früher zum Spiel, weil sie ihre Mannschaft unterstützen wollten; heute sind viele dabei, die aus Lust am Spektakel hingehen und weil sie plötzlich auch Darsteller sind. Ich war dabei! Die Spieler wissen, dass sie beobachtet werden und denken sich schöne Torjubel-Gesten aus. Vieles passiert „für die Galerie“; so sagte man, wenn ein Politiker nicht fürs Parlament, sondern für die Zuschauer seine Rede hielt. Die Medien schenken heute Gegenwart. Sie sind in die Rolle geschlüpft, die man immer dem Allerhöchsten zuschrieb: „Gott sieht alles.“ Wir werden überall beobachtet. Wir wollen auch beobachtet werden und von anderen die Bestätigung bekommen, dass wir leben: Wir twittern und schreiben auf Facebook, was wir gerade tun.
Zur Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz kam ein Begleitbüchlein heraus, das „Fussball unser“ hieß. In der Schweiz ist man nicht besonders religiös und vermutlich auch in deren östlichem Nachbarland nicht, darum konnte der Titel, der auf das „Vaterunser“ anspielt, nicht als Blasphemie gewertet werden. Aber sprach man nicht immer vom „Gott Fußball“? Für ein paar Wochen stand ein Land (hier waren es zwei Länder) im Bann einer Religion, die wundertätige Heilige hat (man hat deren Torausbeute in dem Büchlein mit der PS-Zahl ihrer Fahrzeuge verglichen), Regeln, Reliquien und Rituale, Symbole und Sinnsprüche. „Fußball ist unser Leben.“ Eine Weltmeisterschaft ist eine große Pilgerreise, von der mancher noch seinen Enkeln erzählt. Die Fans glauben, im Dienst einer größeren Sache zu stehen, die sich aus jedem Zusammenhang gelöst hat. Die Frage nach dem Sinn ist sinnlos geworden. Die Meisterschaft ist ein Absolutum; die Außenwelt existiert nicht wie damals bei den olympischen Wettkämpfen in Athen, als jegliche Kriege aufhören mussten. Es ist ein Akt der Versenkung, nach dem der Gläubige wieder auf sich selbst zurückgeworfen sein wird. Da gab es beim Endspiel der Veranstaltung 2014 in Brasilien das beeindruckende Fernsehbild, wie die Sonne hinter der Christusstatue unterging, dem Wahrzeichen Rio de Janeiros. Es stand noch 0:0. Der deutsche Kommentator stammelte: „Christus, der Erlöser ... Wer wird Deutschland in diesem Finale erlösen?“ Der religiöse Bezug bot sich an.
Doch die Versenkung soll unterhaltsam sein. Fußball ist am ehesten Tragödie. Die Komödie ist, wie Aristoteles meinte, die Nachahmung von Menschen, die schlechter sind als wir; und die Tragödie sei die Nachahmung von Menschen, die besser sind als wir. Fundament und Seele der Tragödie ist der Mythos, also die Nachahmung von Handlung. „An zweiter Stelle stehen die Charaktere.“ Wichtig ist also, was passiert, nicht wer es ausführt. Für den Sport können wir sagen, dass ein Fußballspiel und eine Etappe beim Radrennen immer spannend sein können und es nicht davon abhängt, dass ein bestimmter Sportler dabei ist. Es geht um den Wettkampf und die Aktualität: Was passiert? Und wie passiert es? Tragödie ist für Aristoteles die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung, die eine bestimmte Größe hat. Ein Ganzes sei, was Anfang, Mitte und Ende habe. Die tragischsten Tragödien sind die, die erfolgreich aufgeführt werden. Und dann mahnt Aristoteles: Schaudern und Jammern hervorrufen, nicht das Grauenvolle. Wichtig sei die Peripetie, also der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in sein Gegenteil. Im Sport wünscht man die Überraschung. Die ganze Unterhaltungsindustrie baut auf die Erwartung und das Unerwartete auf, und da Krimis zu produzieren teuer ist, sendet man Sport oder Shows, in denen der Ausgang offen ist – oder man hoffen darf, dass das Ergebnis offen, die Veranstaltung „ergebnisoffen“ ist.
Das Dschungelcamp bietet Abwechslung, bei „Deutschland sucht den Superstar“ kämpfen mehrere Kandidaten um die Krone, und zunehmend hetzt man zwei Kontrahenten aufeinander, die sich verbal duellieren sollen. Talkshows und Streitgespräche; harsche und pointierte Fragen an Politiker; Dokumentarfilme aus Umgebungen, in denen Stress herrscht und hohe Leistung verlangt wird. Der Krimi-Boom hat da seine Wurzeln. Er ist auf das Ende zugeschrieben, und man will den Täter finden, und da Leichen immer für Gänsehaut sorgen, werden die Opfer immer schlimmer hingemetzelt; außerdem ist es ein Duell zwischen Kommissar und (noch nicht bekanntem) Täter. Es ist Denksport. Sport kennzeichnet unsere Zeit.
Es ist eben keine gemütliche Zeit mehr wie vor fünfzig Jahren, als es harmlose Familienserien im Fernsehen gab und nur Radiosendungen über die Fußball-Bundesliga. Die Stimmung im Land ist ernster geworden, die Verteilungskämpfe und Positionskämpfe erbittert. So haben alle zu tun und die Zeit vergeht. Man wird von einem Ereignis zum nächsten getrieben wie der Esel, dem man eine Karotte vorhält; und dann ist das Ereignis schon wieder vorbei, das Resultat ist bekannt, und schon warten wir auf das nächste Spiel wie die Kinder aufs Christkind. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ – „Das nächste Spiel ist immer das schwerste.“ Die Unterhaltungskultur hat alles unterwandert und überwölbt, hat alles durchdrungen und geprägt. In den 1960-er Jahren hieß eine Sendung mit Sammy Drechsel und Klaus Havenstein „Sport, Spiel, Spannung“.
Bei Sport herrscht oft Spannung. Sport ist Spiel. Was ist das Spiel? Darüber hat sich der Ethnologe Victor W. Turner in seiner letzten Arbeit über Körper, Gehirn und Kultur („Body, Brain, and Culture“) Gedanken gemacht. Er beginnt bei der Arbeitsteilung des Gehirns. Zwar sind viele Funktionen in ihm verteilt, doch vorwiegend ist die linke Hemisphäre (oder Gehirnhälfte) für das Denken, Sprechen und Planen zuständig, die rechte für Routinen, Gefühle und die Wahrnehmung. Das autonome Nervensystem spielt eine eigene Rolle; es regelt die Vitalfunktionen wie Blutdruck und Herzschlag. Im Sport spielt, wenn es um zielgerichtetes Tun geht, die linke Hälfte die Hauptrolle. (Später werden wir hören, wie gut es ist, wenn man die rechte Hälfte „machen“ lässt.) Sie spielt Dramen aus, die rechte Hälfte ist für die grundlegende Arbeit zuständig.
Das Spiel passe nicht so richtig in das System, schreibt Turner. Es sei etwas Anderes, ein „Joker“. Der Spieltrieb sei für die Kultur gefährlich, da er das Funktionieren des Alltags bedrohe – also versuchen die Institutionen, das Spiel einzutüten und zu begrenzen: ins Theater, in den Sport, in Tänze und Vergnügungen. Das Spiel drückt mit einer „Metasprache“ (eine Sprache über und jenseits der verbalen) etwas über die Gesellschaft aus, es ist ein „Kommentar zur sozialen Ordnung“ (Don Handelman). Spiel ist überall und nirgends, kann alles imiteren und nichts bewirken; es ist transzendent, reicht also über das gewohnte Leben hinaus in ein anderes Reich, in dem Rationales mit Irrationalem vermischt ist. Turner sah das Spiel als einen Modus der Grenzüberschreitung, flüchtig und nicht gut zu fassen, also ein trügerisches Ding. Das Spiel ist weder nur rituelles Handeln noch eine Meditation und auch nicht nur Spaß. Es mokiert sich über alles Mögliche, imitiert und provoziert und bietet eine Unterbrechung. Das Spiel ist ein „Schattenkrieger“: überall präsent, aber harmlos, geschützt durch seine Leichtigkeit und Flüchtigkeit. Es hat „die Kraft des Schwachen, eine kindliche Kühnheit im Angesicht des Starken“, meinte Turner.
Spielen kann auch lehrreich sein. Man kann etwas einüben, bevor es ernst wird. Sogar Tiere tun das. Und das Spiel ist eben spielerisch, das heißt zufällig und absichtslos, außerdem in einem eigenen Raum angesiedelt, in dem es „als ob“ und „was wäre, wenn“ heißt statt „Das ist“. Spiel ist bei Turner vielleicht der unwägbare Faktor in der Evolution, das Überflüssige und Zwecklose, das laut Theodor W. Adorno als einziges unersetzlich ist. Früher hieß es, das Spiel rühre aus einem Übermaß an Energie her, das ausgelebt werden wolle. Manchmal kommt es damit zu Ironie, Satire, turbulenten Spielen, die wie eine Karikatur und Kritik der herrschenden Verhältnisse wirken.
Dennoch (oder deshalb?) hat das Spiel eine wichtige Rolle in der Gesellschaft – und heute mehr als je zuvor -, wohl als Regulativ und Filter, als Ventil und Kanal, zur Zerstreuung und Rekreation … während Sport, vor allem Leistungssport, schon nicht mehr Spiel ist und von der Welt einkassiert wurde. Sport auf hohem Niveau ist, da es um Prestige und viel Geld geht, so ernst und professionell geworden (der Arbeitswelt verwandt), dass es nichts mehr vom Flüchtigen und Ungreifbaren hat, kein „trügerisches Ding“ mehr ist. Betrügerisch ist manchmal das Verhalten der Akteure, die die Regeln zuweilen zu ihren Gunsten auslegen und das Spiel da ins Spiel bringen, wo es nicht mehr passt. Aber auch das ist ein Kommentar zur Lage der Gesellschaft.