©Irmela Schröck 2020
Machandel Verlag Haselünne 2021
Charlotte Erpenbeck
Cover: Motortion und Rislan, depositohotos.com
ISBN 978-3-95959-308-3
Irmela Schröck, Jahrgang 1944, lebt seit 2003 mit Ihrem Mann im Emsland. Ihre Hobbys sind Radfahren, reisen, malen und kochen. Seit einigen Jahren hat sie das Malen von Ölbildern und Aquarellen zugunsten der Schriftstellerei weitgehend eingestellt. Mit ihrem Mann erkundete sie die Welt auf dem Fahrrad. Reiseberichte darüber kann man bei Amazon lesen.
Weitere Krimis der Autorin:
Vernichtende Wahrheit
Kriminaloberrat a.D. Walter Hausner flattert eine Todesanzeige ins Haus. Normalerweise nichts Ungewöhnliches, doch diese hat es in sich. Seine Ex-Freundin Inka ist im fernen Emsland verstorben. Und die Formulierung ihrer Todesanzeige lässt bei Walter die Alarmglocken klingen.
Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt. Denn was zunächst wie ein Selbstmord aussah, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Mord. Nur, wer sollte gegen die lebensfrohe Künstlerin Inka einen derartigen Hass hegen?
Rentner sein hin oder her, Walter muss einfach ermitteln.
Tod im Kino
Still und friedlich ist es im Emsland ... nicht!
Als in dem Städtchen Haselünne plötzlich ein Toter gefunden wird, deuten alle Anzeichen auf Mord. Kommissar Mark Köster wittert seine Chance. Das ist die Gelegenheit für ihn, Beruf und Privatleben zu verbinden. Statt in Osnabrück Dienst zu schieben, kann er den Fall von der Haselünner Polizeiwache aus bearbeiten und zugleich mehr Zeit mit seiner in Haselünne lebenden Freundin Ella verbringen.
Es gibt nur eine kleine Komplikation: Ella könnte tiefer in den Fall verwickelt sein, als ihm lieb ist.
Mark Kössner erwachte. Er lauschte aufmerksam. Etwas hatte sich verändert. Eine Berufskrankheit, dachte er, als Kommissar war man irgendwie ständig unter Spannung. Sogar im eigenen Schlafzimmer. Nein, kein verdächtiges Geräusch, es war nichts zu hören. Dann begriff er. Es regnete nicht mehr, kein Trommeln auf dem Dach, kein Tropfen von der Dachrinne. Seit Tagen und Nächten hatte es ununterbrochen gegossen, die Hase war angeschwollen und über die Ufer getreten. Aber jetzt war es still. Mark streckte und dehnte sich wohlig. Er konnte seinen Samstag ohne Regen genießen. Ellas Atem strich ruhig und gleichmäßig über seine Schulter. Mark drehte sich zu seiner Frau um und betrachtete ihr hübsches, entspanntes Gesicht. Ihr Mund war leicht geöffnet und entließ mit einem sanften Ton die Atemluft. Die blonden Haare lagen wie ein Fächer um sie herum auf dem Kopfkissen. Unwillkürlich musste er an seine Hochzeit vor sieben Monaten denken. Es war ein schönes Fest gewesen. Sein Chef, der Oberkriminalrat Detlev Heilmann, war zum Gratulieren gekommen und hatte ihn zur Seite genommen. „Mark“, hatte er gesagt, „ich bin jetzt über sechzig und werde spätestens in drei Jahren in den Ruhestand gehen. Ich habe Sie zu meinem Nachfolger vorgesehen, vorausgesetzt, dass alles so gut weiter läuft und Sie Ihre Fälle klären!“ Ein leiser Seufzer drang aus Marks Mund. Die Fälle klären! dachte er leicht frustriert. Welche Fälle?
Seit er sich von Osnabrück nach Haselünne hatte versetzen lassen, waren die Fälle, die auf seinem Schreibtisch landeten, kaum der Rede wert. Einbruch, Diebstahl, Autounfälle mit Blechschaden, Fahrerflucht nach einer Rempelei auf einem Parkplatz, eine kleine Kneipenschlägerei, aber kein Kapitalverbrechen. Und erst recht kein Mord. Dabei war Mord für ihn erst ein richtiger Fall, jene Art von Herausforderung, in der er die Puzzlesteine Stück für Stück zusammenfügen musste, bis sich das Bild eines Täters und des Tatverlaufs ergab. Nun, er hatte sich für Haselünne und seine Ella entschieden, obwohl er genau wusste, dass es ihn in die Provinz verschlug. Damit musste und wollte er jetzt leben.
Gerade überlegte er, ob er schon aufstehen und den Kaffeetisch decken sollte, als das Klingeln des Telefons ihm die Entscheidung abnahm. Vorsichtig schlüpfte er aus dem Bett, aber Ella wurde trotzdem wach.
„Musst du schon aufstehen, heute ist doch Samstag?“, murmelte sie verschlafen, hörte dann ebenfalls das Klingeln und verstand. Kein gemeinsames Frühstück heute. Sie rollte sich zur Seite und zog sich die Decke über die Ohren.
Mark wusste, dass dieser frühe Anruf nur von seiner Dienststelle kommen konnte. Er hob den Hörer mit der linken Hand hoch und drehte gleichzeitig mit der Rechten das Wasser für den Kaffee auf: „Hier Mark Kössner“, meldete er sich.
„Sie müssen sofort kommen, Herr Kössner, in der Hase ist eine Leiche gefunden worden!“, verkündete die Stimme seines Kollegen Jens Köppke.
Mark fühlte sich wie elektrisiert. Eine Leiche? Also endlich mal ein richtiger Fall?
„Wo genau?“, fragte er aufgeregt.
„In Hamm, kurz hinter der Bootsanlegestelle! Die Männer der Spurensicherung sind schon vor Ort, Sie werden sie sehen können“, sagte der Kollege.
„In Ordnung, ich bin in zwanzig Minuten da!“, versicherte Mark.
Er eilte ins Bad und machte sich fertig, während das Kaffeewasser leicht plätschernd durch den Filter floss. Rasch füllte er sich eine ordentliche Portion des Kaffees in einen Becher mit Deckel und nahm ihn mit zum Auto, um ihn auf der Fahrt zu trinken.
Die Straße nach Hamm war am Samstagmorgen kaum befahren. Es war Oktober, der Himmel verhangen und dunkel. Nebelschwaden zogen über die Wiesen. Mark konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen. Er überlegte, ob die Leiche in der Hase ein Mordfall werden könnte. Er hoffte es, fast inbrünstig. Eine Tat aufzuklären, bedeutete ihm viel und verschaffte ihm Genugtuung , ganz zu schweigen davon, dass so ein Mordfall seine Karriere weiterbringen konnte.
Mark bremste ab und näherte sich der angegebenen Leichenfundstelle behutsam. Aus dem Nebel heraus schälten sich menschliche Silhouetten. Mark erkannte sie in ihren Overalls als Männer der Spurensicherung. Er parkte sein Auto auf einem Grünstreifen hinter der Brücke und duckte sich an der Böschung unter der Absperrung durch. „Moin!“, rief er in die Runde der Anwesenden. „Wo ist die Leiche?“ Ein junger Mann, dessen Overall sich über dem Bauch spannte, antwortete:
„Sie ist noch unten im Wasser. Wir wollten mit der Bergung warten, bis Sie da sind, damit Sie sich ein Bild machen können!“
Mark warf einen Blick zum Ufer und erfasste undeutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers im Wasser. „Wer hat die Leiche gefunden?“, fragte er. Es schien ihm seltsam, dass jemand in dieser Dunkelheit und bei dem matschigen Ufer einen Körper entdeckt hatte. Wer ging da so nah ans Gewässer?
Der junge Mann klärte ihn auf: „Eine Frau Niemeyer hat sie entdeckt oder besser ihr Hund.“
„Und wo ist diese Frau Niemeyer jetzt?“, fragte Mark und schaute sich suchend um.
„Sie sitzt im Polizeiwagen, weil ihr so kalt war. Vermutlich war das der Schock“, erklärte der junge Mann.
„Okay, ich werde kurz mit ihr sprechen, damit sie nach Hause gehen kann! Danach müssen wir die Leiche bergen“, ordnete Mark an.
Er trat an den Streifenwagen und öffnete die Seitentür. Eine blasse Frau von ungefähr sechzig Jahren schaute ihn durch eine randlose Brille erwartungsvoll an. Sie trug eine dicke graue Kapuzenjacke, helle Jeans und braune Stiefeletten. Zu ihren Füßen hockte ein Cockerspaniel, den sie am Halsband festhielt.
„Kommissar Mark Kössner“, stellte er sich vor. „Sie sind Frau Niemeyer, die den Fund gemacht hat?“ Das Wort Leiche wollte Mark in diesem Moment nicht über die Lippen kommen.
Frau Niemeyer nickte und wies auf den Hund. „Er war es, mein Cäsar. Ich hatte ihn frei laufen lassen, weil er immer gern ans Wasser geht, um etwas zu trinken. Aber er kam nicht zurück und bellte ununterbrochen, bis ich ihm folgte und sah, warum!“, schloss sie ihren Bericht.
„Konnten Sie denn Genaueres sehen? Es war doch noch dunkel“, fragte Mark nach.
„Ich habe immer eine Taschenlampe bei mir, wenn ich im Dunkeln den Hund ausführe. Ich habe nichtsahnend den Strahl der Lampe auf etwas Helles im Wasser gerichtet und konnte nicht glauben, was ich da sah. Einen Menschen, einen toten Menschen!“ Sie fröstelte bei der Erinnerung daran und zog ihre Kapuzenjacke enger um ihren Körper.
„Um wie viel Uhr war das?“, fragte Mark.
„Das muss kurz vor halb sieben Uhr gewesen sein“, erinnerte sie sich.
„Und dann haben Sie die Polizei gerufen?“
„Ja, und die sagten, dass ich warten muss bis Sie kommen. Kann ich denn jetzt gehen?“, wollte sie wissen.
„Ich nehme an, dass Ihre Personalien schon aufgenommen wurden?“
„Ja“, bestätigte Frau Niemeyer.
„Gut, dann können Sie jetzt gehen. Oder soll Sie ein Beamter nach Hause fahren?“, erkundigte sich Mark fürsorglich.
„Wenn das geht“, seufzte Frau Niemeyer, „wäre es schön!“
Mark nickte dem Beamten am Steuer zu und der verstand.
„Frau Niemeyer, Sie müssen allerdings noch heute Nachmittag oder morgen früh auf die Wache kommen, um das Protokoll zu unterschreiben.“
„Das mache ich“, versprach sie und lächelte Mark dankbar an.
Mark schloss die Tür, ging zu seinem Wagen, nahm aus seinem Kofferraum Gummistiefel heraus, zog sie an und marschierte damit zu den wartenden Männern. Inzwischen war es so hell geworden, dass Mark den toten Körper erkennen konnte. Es war offensichtlich eine Frau. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser, graue Haare ließen vermuten, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Am Ufer selbst befanden sich tiefe Fußspuren von Cäsar und seinem Frauchen, aber auch andere, die wohl von den Polizisten stammten. Das matschige Ufer hatte jeden Schritt konserviert. Mark schaute sich genau um. Die Möglichkeit, dass die Frau hier ins Wasser gefallen oder geworfen worden war, schloss er aus. Der Weg war für ein Abrutschen zu weit vom Ufer entfernt und die Brücke lag stromabwärts. Dafür zeigte ihm verklumpter Unrat in den Zweigen einer halb überschwemmten Uferweide, dass die Strömung genau hier so Einiges gegen das Ufer trieb. Vermutlich war auch die Leiche vom Hochwasser hierher getrieben worden.
Mark gab den Männern ein Handzeichen und sie begannen mit der Bergung der Toten. Zwei Beamte legten eine Plastikplane aus, auf die sie den leblosen Körper gleiten ließen. Sie drehten ihn auf den Rücken, so dass Mark in das Gesicht der Frau schauen konnte. Es war stark aufgedunsen, teigig und weißgrau. Weder er noch ein anderer der Anwesenden kannte die Tote. Sie mochte zwischen fünfundsechzig und fünfundsiebzig Jahre alt sein. Sie trug eine helle Steppjacke und einen bunten Rock, der ihre dünnen Beine notdürftig bedeckte, aber keinen Schmuck, auch keinen Ehering. In der Steppjacke fanden die Beamten weder einen Ausweis noch irgendeinen Hinweis auf ihre Identität. Werner Koch, der anwesende Rechtsmediziner, konnte über den Todeszeitpunkt noch keine Angaben machen. Er schätzte, dass sie mindestens vier längstens sechs Tage im Wasser gelegen hatte. Näheres könne er erst nach der Obduktion sagen. Mark bedankte und verabschiedete sich. Im Moment konnte er nichts weiter tun als ins Büro zu fahren.
Im Polizeirevier traf Mark auf seine Kollegen, Jens Köppke und Kevin Schmitt. Sie waren begierig zu erfahren, was Mark am Haseufer entdeckt hatte. Mark zeigte den beiden das Foto der Leiche, das er mit seinem Handy aufgenommen hatte. Aber auch sie schüttelten den Kopf, sie kannten die Frau nicht. Es war ja auch nicht gesagt, dass sie aus dieser Gegend stammte, es konnte eine Touristin sein, das Emsland hatte in den letzten Jahren sehr an Beliebtheit gewonnen. Mark fuhr seinen Computer hoch und begann eine Datei vermisster Personen zu durchforsten. Niemand passte auf die Tote, entweder waren die vermissten Personen zu jung oder die Anzeige lag viel zu lange zurück. Mark war es ein Rätsel, dass es Menschen gab, die schon fast eine Woche verschwunden, aber offensichtlich nicht vermisst worden waren. Die Datei hatte nichts gebracht, also musste eine andere Methode her. Die Identität der Toten war die Voraussetzung für jede weitere Nachforschung. Mark sprach mit Kevin, der ein Spezialist für das Herstellen von Phantombildern war.
„Könnten Sie auch das Foto so bearbeiten, dass die Frau nicht so aufgedunsen aussieht?“
„Das kann ich versuchen“, meinte Kevin. „Wer braucht das Bild?“
„Ich möchte es an die Presse geben“, erklärte Mark, „aber nicht so entstellt!“
Mark sah Kevin zu, als dieser das Foto in den Computer lud. Mit einem speziellen Programm begann Kevin, Änderungen daran vorzunehmen. Das sah erfolgversprechend genug aus, dass Mark wieder in sein Büro ging und den Text für die Presse vorbereitete. Danach rief er bei der Zeitung an und bat die Redaktion um schnellstmögliche Veröffentlichung seines Textes. Man versprach ihm die Veröffentlichung bereits für Montagmorgen.
Wer kennt diese Frau?
Am Samstagmorgen wurde in der Hase der tote Körper einer 65-75 jährigen Frau geborgen. Sie ist mit einer hellen Steppjacke und einem bunt geblümten Rock bekleidet. Sie trug braune Schnürschuhe und beigefarbene Strümpfe. Wer Angaben zu dieser Person machen kann, melde sich bitte bei der Polizeiwache Haselünne. Der Ansprechpartner ist Kriminalkommissar Mark Kössner.
Mark nahm das inzwischen fertige Foto von Kevin und mailte es mit seinem Text an die Meppener Tagespost und zur Sicherheit noch an den EL-Kurier, weil er wusste, dass manche Haselünner keine Tagespost abonniert hatten.
Anschließend begann er, das Protokoll mit der Aussage von Frau Niemeyer anzufertigen. Er speicherte es ab und sagte Jens Köppke Bescheid, wo er es finden könnte, falls Frau Niemeyer schon am Nachmittag in das Büro käme, um es zu unterschreiben. Danach telefonierte er mit dem Rechtsmediziner und erkundigte sich nach Einzelheiten. Die helle Steppjacke stammte von der Firma Gerry Weber. Die Firma war bundesweit bekannt, das brachte ihn also in der Beurteilung vorerst nicht weiter. Außerdem lag die Grenze nicht weit, es konnte also durchaus auch eine Touristin aus einem der Nachbarländer sein. Er rief Vermisstendateien in den Niederlanden und Belgien auf, leider wieder fast ergebnislos. Eine Frau aus den Niederlanden war seit sechs Tagen vermisst gemeldet, passte aber vom Alter her nicht ganz. Aber wie alt die Tote war, wusste Mark ja nicht genau. Er hatte nur geschätzt. Vielleicht lag er mit seiner Schätzung total daneben und die Frau war erst Ende fünfzig. Er faxte ein Foto zu der Polizeistelle in den Niederlanden. Es dauerte keine zehn Minuten und Mark hatte die Antwort. Die beiden Frauen waren nicht identisch. Mark forschte weiter. Die Schuhe der Ertrunkenen waren von Tamaris. Da sah der Kommissar ebenfalls keinen Anhaltspunkt, der zur Identifizierung helfen könnte. Der geblümte Rock schien selbst genäht zu sein. Allein der Pulli unter der Jacke könnte auf eine Bewohnerin aus Haselünne deuten. Er trug ein Label der Firma Canda. Diese Firma befand sich im Industriegebiet von Haselünne. Damit war Mark Kössner erst einmal zufrieden. Für den Moment blieb ihm jetzt nichts weiter übrig, als nach Hause zu fahren.
Seine Frau Ella löcherte ihn bei einer Tasse Kaffee umgehend mit tausend Fragen. Sie nahm immer lebhaft Anteil an seinen Fällen und wollte natürlich wissen, warum er von seinen Kollegen am Samstagmorgen aus dem Bett geholt worden war. Mark erzählte Ella von dem schrecklichen Fund und zeigte ihr das Foto, aber auch sie konnte keine Aufklärung zu der Identität der Toten beitragen. Ihr fiel aber das Gleiche auf wie Mark.
„Wieso hast du nichts über sie in der Vermisstendatei gefunden? Irgendwer muss doch das Verschwinden dieser Frau bemerkt haben.“
„Wir wissen doch noch gar nichts über sie. Vielleicht war sie alleinstehend und deshalb hat sie keiner vermisst“, erklärte Mark.
Ella war nicht überzeugt. „Und was ist mit Nachbarn?“, fragte sie nach.
„Das wäre leider nicht das erste Mal“, knurrte Mark „dass jemand in seiner Wohnung stirbt und keiner der Nachbarn etwas bemerkt hat!“ Ella seufzte und nickte zustimmend.
Am Sonntagvormittag fuhr Mark wieder ins Büro und versuchte weiter, einen Hinweis auf die Identifizierung der Ertrunkenen zu finden. Er fragte bei ortsansässigen Hotels und Pensionen nach vermissten Personen. Ohne Erfolg. Am Nachmittag unternahm Mark mit seiner Frau einen Spaziergang, zunächst um den See und dann an der Hase entlang. Das Wetter war kühl, aber sonnig. Seine Gedanken hingen immer noch der Toten nach. Mark bemerkte, dass er Ella kaum zuhörte. Ständig suchte er mit den Augen das Ufer nach möglichen Stellen des Unfalls oder des Mordes ab. Aber die Ufer waren wegen des Hochwassers noch weitläufig und flach.
Selbst wenn hier jemand hineingefallen wäre, hätte er aufstehen und wieder hinauslaufen können. Er wäre nicht ertrunken. Das bedeutete, dass der Tod der Frau vor der Überschwemmung passiert sein musste. Wann hatte es angefangen zu regnen? Das muss am Wochenbeginn gewesen sein, rechnete Mark nach. Oder hatte es schon am Sonntag begonnen?
„Weißt du noch“, fragte er Ella, „wann es angefangen hat, so unaufhörlich zu regnen?“
„Ich glaube Sonntagnacht, denn Montag bin ich auf dem Weg zur Arbeit schon durch Wasserlachen gefahren.“
„Stimmt“, pflichtete er ihr bei, „jetzt fällt es mir auch wieder ein, ich musste vor dem Büro einer großen Pfütze ausweichen.“
Mark hakte seine Frau unter und machte sich mit einem selbstsicheren Lächeln etwas Mut. Er würde den Fall schon klären. Ella lehnte sich zärtlich an ihn und fragte, worauf er heute Abend Appetit hätte. „Soll ich uns ein Bauernomelett machen?“, fragte sie, nachdem von Mark keine Antwort kam.
Mark nickte begeistert. „Und einen grünen Salat!“, fügte er hinzu.
Am Montagmorgen schaute Mark erwartungsvoll in die Zeitung. Das Foto der Toten prangte oben auf der Seite „Lokales“. Er war gespannt, ob sich jemand dazu melden würde, deshalb beeilte er sich, ins Büro zu kommen. Als er zur Tür eintrat, hatten seine beiden Kollegen ihr Telefon am Ohr. Das sah vielversprechend aus. Tatsächlich hatten bereits verschiedene Leute angerufen, wie Köppke und Schmitt ihm berichteten. Aber alle behaupteten etwas anderes. Ein Anrufer meinte, dass er die Frau vorige Woche im Kaufhaus Schröder gesehen hätte, konnte aber keinen Namen nennen. Eine Anruferin glaubte eine alte Nachbarin aus Helte erkannt zu haben, der Name sei Gerda Wilmering. Aber wohin diese Frau Wilmering gezogen war, das wusste sie nicht. Auch der dritte Anruf brachte nicht die gewünschte Erkenntnis, musste aber trotzdem überprüft werden. Am wahrscheinlichsten erschien Mark der Anruf einer Elisabeth Vohrer. Sie glaubte in dem Foto ihre Freundin zu erkennen, von der sie schon seit einer Woche nichts mehr gehört oder gesehen hatte, was ungewöhnlich für sie war.
„Kommen Sie, Kevin, wir fahren direkt zu der Frau, um Näheres zu erfahren. Sie scheint die Tote gekannt zu haben“, sagte Mark und verließ von Kevin gefolgt das Büro.
Frau Vohrer wohnte in einem Mehrfamilienhaus auf dem Erikaweg 15. Sie ließ die beiden Männer, die vor ihrer Wohnungstür standen und sich als Kriminalbeamten auswiesen, sofort ein. Mark sah sich einer etwa siebzigjährigen recht korpulenten Frau gegenüber. Ihre langen, graublonden Haare waren in der Mitte gescheitelt und hinten zusammengebunden. Um ihre Rundungen etwas zu kaschieren, hatte sie ein lockeres Shirt über einer weiten, blauen Hose an. Mark und Kevin folgten ihr in ein geräumiges Wohnzimmer mit Eichenmöbeln und einer braunen Kunstledergarnitur. Eine rotgetigerte Katze sprang maunzend vom Sofa und verschwand mit hoch erhobenen Schwanz durch eine offene Tür in den Nebenraum.
„Bitte nehmen Sie doch Platz“, forderte Frau Vohrer sie auf und ließ sich selbst in einen Sessel fallen. Mark setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa und zog einen Notizblock aus der Tasche. Den Kugelschreiber hielt er schreibbereit in der Hand.
„Also“, begann er, „Sie meinen, auf dem Foto Ihre Freundin zu erkennen?“
Auf dem Couchtisch lag die aufgeschlagene Zeitung und Frau Vohrer zeigte aufgeregt auf das Bild:
„Das ist Elvira, hundertprozentig!“ Sie schnaufte etwas. Vor Aufregung oder wegen ihrer Körperfülle?
„Elvira wer?“, fragte Mark nach, „und wo wohnt sie?“
„Elvira Enning, sie wohnt auf der Lingener Straße 140. Sie ist Witwe und wohnt dort allein!“
Mark notierte sich den Namen und die Adresse und schaute dann vom Notizbuch wieder hoch auf Frau Vohrer. Ihre Wangen zeigten hektische rote Flecken.
„Hat Frau Enning Kinder oder Verwandte hier in Haselünne?“
„Oh, doch, einen Sohn hat sie!“, japste Frau Vohrer wütend, „aber der lässt sich nicht bei ihr blicken! Können Sie das verstehen? Sie hat nur den einen Sohn. Ihr Mann ist schon lange tot. Aber die Mutter mal zu besuchen, ist für den Herrn Sohnemann wohl zu viel verlangt!“, erregte sie sich und ihre Wangen färbten sich noch röter.
„Aha“, machte Mark nur. „Sie wissen sicher, wo der Sohn wohnt?“
„Ja, der wohnt in Lehrte, aber die genaue Adresse weiß ich nicht. Dennis heißt er, Dennis Enning!“
Frau Vohrer schaute Mark herausfordernd an, so als wolle sie von ihm eine Bestätigung für das schlechte Benehmen des Sohnes haben. Mark reagierte nicht darauf, sondern stellte seine nächste Frage.
„Und mehr Verwandtschaft hat Frau Enning nicht?“
„Nur noch Boris, den Enkel“, prustete sie.
„Dann ist Dennis Enning verheiratet!“, stellte Mark fest.
„Ja, aber mit der Schwiegertochter kommt Elvira nicht gut aus. Das ist eine ziemliche Zicke, die ihr und Dennis das Leben schwer macht! Wenn Sie wüssten, was die Elvira alles angetan hat. Das Haus hat sie ihr verboten und den Kontakt zu Boris.“
Frau Vohrer kam sich mit ihrem Wissen um die Freundin offenbar sehr wichtig vor. Leute wie sie waren Mark unsympathisch, aber das durfte er sich nicht anmerken lassen. Trotzdem konnte er sich nicht verkneifen, Frau Vohrer auf die Tatsache von Frau Ennings Tod hinzuweisen. „Frau Vohrer, Sie sagten doch, Frau Enning sei Ihre Freundin gewesen. Da verwundert es mich etwas, dass Sie offenbar keine Trauer über ihren Tod empfinden.“
Frau Vohrer schaute Mark etwas verblüfft an und antwortete schnippisch: „Ich bin kein Typ, der vor anderen seine Tränen zeigt! Meine Trauer ist hier drinnen.“ Sie klopfte mit der Hand auf ihren mächtigen Busen und verzog ihr Gesicht etwas schmerzlich. „Was ist denn mit ihr passiert?“, fragte sie nun doch. „Warum ist sie ertrunken?“
„Das versuchen wir noch herauszufinden“, erklärte Mark kurz.
„Wie schrecklich, Elvira ist tot“, jammerte sie auf einmal schluchzend.
Mark ignorierte ihr Getue und stellte die nächste Frage: Wann hatte sie Frau Enning das letzte Mal gesehen? Frau Vohrer kniff die Lippen zusammen und schien nachzudenken.
„Das muss am Sonntag gewesen sein“, ließ sie dann verlauten. „Ja, genau, es war Sonntag. Elvira hat Sonntags immer Depressionen, weil sie doch früher mit Boris so gerne am Sonntag etwas unternommen hat. Sie hat mich jammernd angerufen und wir haben uns im Burgkeller verabredet, um dort einen Flammkuchen zu essen“, ergänzte sie.
Mark kannte den Burgkeller nur von außen. Er hatte da noch nie gegessen. Im Sommer konnte man dort allerdings gemütlich im Hof sitzen, wie er schon öfters gesehen hatte. Er müsste mit Ella einmal dorthin gehen, nahm er sich vor. Jetzt war es eigentlich schon zu kalt im Hof, aber der goldene Oktober hatte noch ein paar Sonnentage hervorgebracht. Vielleicht hatte er Glück und es war noch geöffnet.
„Hat sie dann irgendetwas Auffälliges gesagt oder war sie anders als sonst?“, wollte Mark wissen.
Frau Vohrer ächzte: „Sonntags ist es immer schrecklich mit ihr. Ich mag mir das Gejammer schon nicht mehr anhören, aber sie hat sonst niemanden. Sie sagt dann, am liebsten würde sie sich das Leben nehmen, aber das sagt sie schon seit Jahren!“
Mark dachte sofort, dass es dann doch Selbstmord gewesen sein könnte und meinte: „Vielleicht hat sie es dieses Mal tatsächlich getan!“ Dann fiel ihm ein, dass früher nicht alle Kinder schwimmen gelernt hatten, und Frau Enning gehörte in diese Zeit. „Wissen Sie zufällig, ob Frau Enning schwimmen konnte?“, fragte er deshalb.
Frau Vohrer richtete sich auf, man sah ihr an, dass sie es genoss, etwas zu wissen, was andere nicht wussten. „Nein, sie konnte nicht schwimmen“, bestätigte sie und fügte dann reißerisch hinzu: „Als Baby ist sie mal in der Badewanne unter Wasser gerutscht, als die Mutter sich gerade weggedreht hatte und seither hatte sie panische Angst vor Wasser.“ Sie schaute Mark erwartungsvoll an.
Hm. Das verkomplizierte die Lage wieder. Marks Gedanken rotierten. Warum sucht jemand dann den Freitod im nassen Element, wenn er Angst vor Wasser hat? Darüber musste er nachdenken oder mal mit einem Psychologen sprechen. Erst einmal fragte er weiter: „Und nach Sonntag hat sie sich nicht mehr bei Ihnen gemeldet?“
Frau Vohrer verzog leicht ihr Gesicht und quetschte ein „Nein“ zwischen ihren Lippen hervor.
„Wie oft haben Sie normalerweise Kontakt zu ihr?“, forschte Mark nach.
Frau Vohrer schnalzte leicht mit der Zunge. „Wir telefonieren recht häufig miteinander. Aber an diesem Sonntag war mir ihr Gejammer ziemlich auf den Geist gegangen. Ich war froh, danach nichts von ihr zu hören!“, gab sie etwas widerwillig zu.
Mark notierte ihre Aussagen, nickte Kevin zu und erhob sich. „Wir werden sicher noch einmal zu Ihnen kommen, Frau Vohrer, wenn Fragen auftauchen. Vorerst danke ich Ihnen.“ Mark reichte ihr die Hand. „Einen schönen Tag noch!“
Frau Vohrer stemmte sich schnaufend aus dem Sessel hoch und begleitete leicht watschelnd die Beamten zur Tür.
„Okay“, meinte Mark Kössner zu Kevin Schmitt, „wir werden erst einmal Frau Ennings Wohnung durchsuchen, um ihre Identität zu überprüfen. Fahren wir also zur Lingener Straße.“
Das Haus Lingener Straße Nummer 140 war ein Einfamilienhaus aus grauen Klinkersteinen mit einem niedrigen Dach. Der Vorgarten war mit dunkelgrauen Kieselsteinen belegt. Zwei große Eiben standen darin. Es sah ordentlich, aber langweilig aus. Sicherheitshalber schellten sie, aber wie zu erwarten war niemand im Haus. Kevin öffnete mit einem Dietrich die Tür und beide traten ein. Ein schmaler Flur empfing sie. Gleich hinter der Eingangstür war ein Schlüsselbrett an der Wand befestigt, daran hingen mehrere große und ein kleiner Schlüssel. Mark nahm den kleinen Schlüssel, öffnete und leerte damit den Briefkasten. Ein Brief von Ärzte ohne Grenzen und ein Zettel befanden sich darin.
Leider kann ich nichts machen. Tut mir leid.
Der Zettel trug keine Unterschrift, also muss Frau Enning die Schrift vertraut gewesen sein. Vielleicht stammte er von ihrem Sohn? Mark schaute sich im Haus weiter um. An der Garderobe hingen zwei dunkle Jacken und ein heller Mantel, zwei Paar braune Schuhe standen unterhalb. Ein Foto an der Wand zeigte einen lächelnden kleinen Jungen. Er mochte zwischen fünf und sechs Jahren sein. Außer einem kleinen Tischchen, auf dem ein Telefon stand, war weiter nichts im Flur. Am Ende des Ganges führte eine geöffnete Tür zum Wohnzimmer. Ein großes Blumenfenster gab den Blick in den kleinen Garten frei. Der bestand nur aus einer Grasfläche, die von einer dichten Grünhecke umgeben war. Dafür strotzte die Fensterbank vor blühenden Orchideen in allen Farben. Das Zimmer war mit Schrankwand, Sitzecke und Esstisch möbliert. Außer der direkt anschließenden kleinen Küche und dem großzügigen Bad gab es noch ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett und einem großen Kleiderschrank. Der Raum daneben war ein Kinderzimmer mit bunten Möbeln und einer lustigen Tiertapete. Hier wird der Enkel Boris schlafen und spielen dürfen, vermutete Mark. Die beiden Beamten durchsuchten die Räume und die Schränke. Sie öffneten Schubladen, um die Identität von Elvira Enning anhand eines Ausweises bestätigen zu können. Außer Bankauszügen, die auf Elvira Enning lauteten, fanden sie jedoch nichts, keine Brieftasche und auch kein Portemonnaie. Mark vermutete, dass Frau Enning bei ihrem Sturz ins Wasser ihre Handtasche, in der vermutlich der Ausweis war, verloren haben musste. Er versiegelte das Haus und beide Männer begaben sich zurück zum Auto. Nun mussten sie dem Sohn die traurige Mitteilung überbringen.