Hexenwerk

– Die gestohlenen Kinder

von Schwarzbach

Ein Horrorroman von

Tanja Hanika

Impressum

Weitere Bücher der Autorin:

Der Angstfresser (Englische Ausgabe: The Fear Monger)

Scream Run Die

Zwietracht – Mörderische Freundschaft

Arbeitsbuch für Schriftsteller (Englische Ausgabe: Writer’s Workbook)

1. Auflage August 2019

Copyright © 2019 by Tanja Hanika

www.tanja-hanika.de

kontakt@tanja-hanika.de

Gartenstr. 12, D-54595 Weinsheim

Korrektorat:

Doris Eichhorn-Zeller, www.perfekte-texte-coburg.de/

Unter Verwendung von:

© Covergestaltung: Cathy Strefford

© Autorenfoto: D. Pfingstmann

© Coverdesign »Zwietracht« by Rob Allen @n23art

© Coverdesign »Der Angstfresser« Christian Eickmanns

© Coverdesign »Scream Run Die« javarman / Fotolia.com

Alle Rechte in jeglicher Form vorbehalten. Sowohl Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme als auch mechanische, elektronische sowie fotografische Vervielfältigung – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Figuren, Namen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über die Autorin:

Tanja Hanika wurde 1988 in Speyer geboren. Ab 2008 studierte sie erfolgreich an der Universität Trier Germanistik und Philosophie. Nun lebt sie mit Mann, Sohn und zwei Katzen in der Eifel.

Mit acht Jahren entdeckte Tanja Hanika durch eine Kinderversion von Bram Stokers »Dracula« nicht nur ihre Liebe zu Büchern, sondern wollte fortan auch selbst solche Geschichten schreiben.


Diesen Roman möchte ich allen Bloggerinnen und Bloggern widmen,

die mit Herzblut und Feuereifer uns Autoren,

vor allem uns Selfpublisher, unterstützen.

Für

Mimi, Cathy, Janna,

Sina und Jemima.

Eure Unterstützung bedeutet mir so viel.


Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Stein für Stein

Simon

Erster Sommerferientag, Abend

Wie verrückt drückten Simon und Linus auf den Controllern der Spielekonsole herum. Das Klicken der Tasten nahm gegen Ende des Levels eine immer höhere Geschwindigkeit an. Ihre Hände schlossen sich fester und fester um den Kunststoff. Simon beugte sich weiter nach vorne, zum Bildschirm hin.

»Panzer!«, rief Linus. Leider vergeblich, denn beide wurden getroffen.

Simon warf seinen Controller auf das Bett. »So ein dämlicher Mist. Auf dieses doofe Spiel hab ich eh keine Lust mehr.«

»Das sagen die Loser immer.« Linus grinste Simon breit an und streckte seinen Controller wie einen Pokal über den Kopf. »Wir müssen hier nur die Zeit totschlagen, weil du Kinoverbot bekommen hast. Genau genommen musst ja nur du hier deine Strafe absitzen. Hättest echt zur Abwechslung mal die Klappe halten sollen.« Linus ließ sich umfallen und lag neben Simon auf dem Teppichboden des Kinderzimmers, den ein verworrenes Netzwerk von Straßen mit Ampeln und Schienen zierte. Früher hatten sie mit ihren Spielzeugautos etliche Kilometer darauf zurückgelegt und Unfälle gebaut, bis irgendwelche Superhelden herbeigeflogen kamen, um die Schurken einer gerechten Strafe zuzuführen. Mit zwölf waren sie für solche Kinderspiele inzwischen die meiste Zeit zu cool.

»Was fragt mich auch meine Mutter zum tausendsten Mal, ob ich die filzlausverseuchte Puppe meiner bescheuerten Schwester irgendwo gesehen habe?«

»Vielleicht, weil du sie ständig versteckst?«, fragte Linus mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, und? Ich hab Nein gesagt. Aber trotzdem bin ich natürlich schuld.«

»Bist du doch auch, da hinten liegt sie, unter deinen Trainingsklamotten.«

Simon winkte ab. »Muss man seinem Sohn nicht glauben, wenn er Nein sagt?«

»Nicht, wenn er so viel lügt wie du. Du machst den Mund auf und man rechnet automatisch mit einer Lüge.«

»Alter, auf wessen Seite bist du eigentlich?«, fragte Simon und rammte Linus seinen Ellenbogen gegen die Rippen.

»Ich wäre gerne auf der gegenüberliegenden Seite der Kinoleinwand. Mit einer Tüte Popcorn auf dem Schoß. So wie Melvin, Chris und Lenni. Dein bester Freund zu sein ist echt ein Knochenjob.«

»Der Film ist bestimmt Scheiße. Nicht mal Titten.« Simon streckte die Arme aus und knetete mit seinen Fingern die Luft, in der er sich wohl Brüste vorstellte.

»Würdest du ein Mädchen so anfassen, würden ihr die Titten abfallen.«

»Das weißt du, weil du schon so viele begrapscht hast?« Simon ließ die Hände fallen. Er versuchte seine Stimme gelangweilt klingen zu lassen, aber sie hüpfte bei seinen nächsten Worten vor Aufregung. »Das Beste hab ich dir noch gar nicht erzählt: Kinoverbot hab ich nicht fürs Verstecken der Puppe, sondern für das, was ich zu meiner Mutter gesagt habe.«

»Was denn?« Die beiden Jungen drehten auf dem Boden liegend ihre Köpfe zueinander und schauten sich an. Auf beiden Gesichtern stand ein gleichermaßen vorfreudiges Grinsen.

»Ich hab zu meiner Mutter gesagt, sie soll sich die beschissene Puppe zurück dahin stecken, wo sie sie sonst immer stecken hat, so wie das hässliche Ding immer stinkt.«

»Hast du nicht.«

Simon wackelte mit den Augenbrauen, woraufhin beide brüllendes Gelächter ausstießen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, sagte Linus: »Jeder Tag müsste so sein wie der allererste Ferientag.«

»Ja, scheiß auf Kino.« Simon und Linus boxten sachte ihre Fäuste gegeneinander.

»Weißt du, was ich beim Herfahren gesehen habe? Ich wär fast vom Fahrrad gefallen! Erinnerst du dich an die Kinderfresserinnen, vor denen wir früher Schiss hatten? Über die wir uns diese Gruselgeschichten ausgedacht haben?« Linus wartete ein Zeichen der Erinnerung von Simon ab, ehe er mit seinem Bericht fortfuhr. Tatsächlich wurden Simons Augen größer, während er zuhörte. »Bei denen ist eine neue alte Frau eingezogen.«

»Die haben sich eine dritte Kinderfresserin dazu geholt? Krass. Hoffentlich schnappen sie sich meine Schwester, die dämliche Petze. Da würde ich ihnen auch eine Flasche Ketchup dazu spendieren.«

»Kinder, Abendessen!«, rief Simons Mutter von unten. Sofort wurde hastiges Trampeln seiner kleinen Schwester Lisa laut, die durch den Flur und die Treppe hinunterrannte.

»Wie ein bescheuertes Schoßhündchen«, kommentierte Simon, ehe er sich selbst betont lässig erhob.

Kaum hatten die beiden Jungen am Esstisch Platz genommen und sich so viel Pizza in den Mund gestopft, als wäre es entweder ein Wettbewerb oder als wären beide dem Hungertod nah, teilte Simon seinen Eltern die große Neuigkeit mit. Da niemand verstand, was er mit vollem Mund von sich gab, wiederholte er, nachdem er fertig gekaut hatte: »Wisst ihr noch, die beiden Kinderfresserinnen? Bei denen ist noch so eine eingezogen.«

»Simon!«, fuhr sein Vater ihn an. »Ich möchte nicht, dass du so über betagte Damen sprichst. Aus dem Alter solltest du raus sein, also wirklich.«

Schon als Lisa ihren Mund öffnete, verdrehte Simon die Augen. Er ahnte, dass es ein ganzer Wortschwall werden würde, den sie auf alle niederregnen lassen würde. »Was sind Kinderfresserinnen? Essen die Kinder, Mama? Wollen die auch mich essen? Warum essen die keine Pizza? Weil man ja teilen soll, dürften die auch von meiner Pizza was abhaben, aber nur, wenn die mir nicht alles wegessen.«

»Damen? Hast du dir die alten Hexen mal angeschaut?« Simon verschränkte empört die Arme vor der Brust. Als er merkte, dass er so keine Pizza in sich hineinschaufeln konnte, gab er es auf und nahm sich das nächste Stück.

Simons Mutter legte ihrem Mann die Hand auf den Arm und wandte sich in versöhnlichem Ton an ihren Sohn, dessen Nerven sie mit diesem Getue aufs Höchste strapazierte. »Dein Vater hat recht. Sprich nicht so über ältere Menschen.« Sie wandte sich an Lisa und erklärte, dass es so etwas wie Kinderfresserinnen nicht gab und sie nachher ein großes Eis bekäme, weil sie mit anderen teilen wollte.

Lisa jubelte und sprühte Käse-Tomaten-Speichel-Bröckchen auf den Tisch.

Simon spürte ein Kribbeln auf der Zunge. Es würde neuerlichen Ärger bedeuten, aber er konnte es sich nicht verkneifen, seine Mutter auf ihren Fehler aufmerksam zu machen.

»Ganz korrekt ist das nicht«, tönte er und rückte sein nicht vorhandenes Monokel erhobenen Hauptes zurecht. »Es ist nicht nur historischer Fakt, dass es Menschenopfer gab. Im Zuge dieser Opferungen wurden manche gewiss auch verspeist. Nein, auf manchen Inseln, wo die genau liegen, weiß ich leider nicht mehr, werden noch heute Menschen gegessen. Aber nicht, während sie noch leben, soweit ich weiß. Kannibalismus heißt das.«

Während Linus ein Lachen kaum unterdrücken konnte, schauten Simons Eltern ihren Sohn mit aufgerissenen Augen an, die sich binnen weniger Sekunden zu scharfen Schlitzen verengten. Lisa hingegen ließ ihre Pizza fallen. Ihr Gesicht verriet, dass die erste Träne jederzeit kullern konnte.

»Ich habe nur die Fakten richtiggestellt«, verteidigte sich Simon, ehe es Ärger gab.

»Menschen essen andere Menschen?«, japste Lisa nun.

Simons Mutter streichelte seiner Schwester über den Kopf. »Ich habe noch niemanden so einen Quatsch wirklich machen sehen, Süße. Und falls das vorkommt, ist das ganz, ganz weit weg von uns.«

»Dich isst niemand«, fügte Simons Vater hinzu.

»Leider«, flüsterte Simon. Linus, der selbst einen jüngeren Bruder hatte, was Simon wesentlich besser als eine Schwester fand, legte sich eine Hand vor den Mund. Simon fand es toll, wie sehr sein bester Freund darum kämpfen musste, nicht lauthals loszulachen.

Simons Mutter zog die Augenbrauen weit hinauf. »Weißt du, Simon, wenn deine Schwester heute Nacht Albträume hat wegen dem Unsinn, den du immer von dir gibst, solltest du sie trösten.« Seine Mutter wischte sich mit einer Serviette über den Mund. »Beim nächsten Mal bin nicht ich es, die sich die Nacht um die Ohren schlägt.«

»Jetzt hören wir alle auf zu streiten und benehmen uns wenigstens zivilisiert, wenn wir einen Gast zum Essen dahaben. Linus, wie geht es deiner Familie?«, fragte Simons Vater.

»Lauf, Linus, lauf, du bist unser Gast zum Essen«, rief Simon, aber sein Scherz verhallte, ohne dass jemand lachte. Lediglich Linus grinste schief und biss in seine Pizza. Beleidigt biss Simon ein besonders großes Stück von seiner Salami-Pizza ab.

»Denen geht es allen gut«, sagte Linus und berichtete von der neuen Kettensäge, die sich sein Vater am Vormittag gekauft hatte und die seine Mutter für total übertrieben hielt, um den einen Strauch im Vorgarten zurückzuschneiden.

Kaum waren die Teller geleert und die Mägen aller gefüllt, rannten Simon und Linus die Treppe wieder hinauf ins Kinderzimmer und sperrten die Tür hinter sich ab.

»Eltern!«, seufzte Simon theatralisch. Die Kinderfresserinnen bekam Simon nicht mehr aus dem Kopf, aber er hatte eine Idee. Er zog an seinen Fingern, damit diese knackten, und fragte anschließend: »Sollen wir später, wenn es dunkel ist, mal mit den Rädern hinfahren? Wir könnten ein paar Steine ans Fenster werfen, vielleicht zeigt sich die Neue ja. Ich würde die echt gerne sehen.«

»Die würden uns auffressen, wenn die uns erwischen.« Linus fuhr grinsend mit dem Zeigefinger eine Straße auf dem Teppich nach. Simon wusste genau, dass es nur ein einziges weiteres Wort brauchte, damit Linus mitmachen würde. Die beiden kannten sich von klein auf und konnten fast die Gedanken des jeweils anderen lesen, wodurch es Simon schwerer fiel, seinen besten Freund so zu verarschen wie die anderen. Aber hin und wieder gelang es ihm und dieser Sieg schmeckte umso süßer.

»Hast du etwa immer noch Angst vor den alten Weibern? Komm schon, Linus. Das wird lustig. Besser als Kino. Dann sind es morgen die anderen, die den Spaß verpasst haben, und nicht wir zwei.«

»Na gut, wird bestimmt lustig. Früher hatten wir mächtig Schiss vor denen, weißt du noch? Wir sind doch mal einer auf dem Marktplatz begegnet und haben uns sofort gruselige Sachen über sie ausgedacht. Waren wir da fünf? Oder sieben?«

»Eher acht oder neun. Wir haben die gesehen und es stand sofort fest: Kinderfresserin!«

Simon und Linus widmeten sich einer neuerlichen Runde Videospiele und tauschten währenddessen unter mehreren Lachanfällen die eine oder andere Kindheitserinnerung aus, die alle scheinbar sehr weit zurücklagen. Sie machten es sich gemütlich und genossen den Abend, an dem Linus bei ihm übernachten würde. Ein guter Trost, um sich vom Kinoverbot abzulenken, fand Simon.

Als schließlich Ruhe im Haus eingekehrt war, schlich Simon sich in den Flur. Er ging auf die Knie und betrachtete den Spalt zwischen Boden und Schlafzimmertür seiner Schwester. Kein Licht war zu sehen. Von unten ertönten Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer. Das Licht irgendeiner Fernsehshow flimmerte bis in den Flur hinein. Simon richtete sich auf und zeigte Linus einen aufgerichteten Daumen. Es ging los.

Linus war oft genug bei Simon gewesen, dass er keine Warnung benötigte, um zu wissen, dass die dritte Treppenstufe quietschte. Mit ausführlichen Ninja-Bewegungen meisterten sie das Hindernis und schlichen sich in die Garage. Das Garagentor stellte die größte Hürde bei ihrem Ausbruchsplan dar. Um unnötigen Lärm zu vermeiden, öffnete Simon es lediglich zur Hälfte, sodass die Fahrräder mit den Lenkern darunter durchpassten. Er ließ das Tor auf halber Höhe hängen und beide stiegen auf ihre Fahrräder.

Die nächtlichen Straßen waren leer gefegt und das Licht der Straßenlaternen warf sichere Inseln auf den Asphalt, die sie lachend passierten. Um das Haus der Kinderfresserinnen zu erreichen, brauchten die Jungen keine fünf Minuten. Mit einer Vollbremsung hielten sie ihre Räder mitten auf der Straße an, sobald sie am Ziel ankamen.

Das Haus, von dem und dessen Bewohnerinnen sie sich schon vor Jahren kindische Gruselgeschichten erzählt hatten, sah seither unverändert aus. Klein und ohne Anbau, schlichte, einstmals weiß verputzte Wände, die inzwischen einen grauen Schmutzschleier aufwiesen. Über der Haustür prangte stolz die Jahreszahl 1834, in dem das Haus wohl erbaut worden war. Zur Haustür hinauf führten drei Steinstufen und das Dach war mit Sicherheit älter als Simons Eltern. Im Vorgarten waren keine Blumen, sondern schlichte grüne Sträucher gepflanzt.

»Steine …«, sagte Simon.

»Du willst das durchziehen?«, fragte Linus und wartete das unbekümmerte Nicken seines Freundes ab, ehe er mit dem Fahrrad zum Bürgersteig rollte und den angrenzenden Grünstreifen nach winzigen Steinen absuchte. Simon folgte ihm.

Die Jungen bückten sich einige Male, wogen die gefundenen Steine in der Hand und suchten die Fenster der benachbarten Häuser nach heimlichen Beobachtern ab. Da sie niemanden entdecken konnten, holte Simon als Erster aus und warf einen Stein an die rechte Fensterscheibe im oberen Stockwerk. Das eigentlich leise Geräusch dröhnte in Simons Ohren, als hätte ein Erdbeben eine Lawine aus Geröll gelöst, die polternd ins Tal krachte.

Linus spähte über seine Schulter, ehe er ebenfalls warf. Der Aufprall des Steins auf dem Fensterglas verursachte das typische Geräusch, es zerbrach jedoch nicht. Im Haus wurde es hell. Nicht jedoch plötzlich, als betätigte man einen Lichtschalter. Der Lichtschein erinnerte Simon an das Lagerfeuer, das sie letzten Sommer im Garten entzündet hatten. Sie warfen die nächsten Steine mit dem Gefühl, dass es gleich Zeit war, abzuhauen.

Simon verschluckte sich fast an seinem eigenen Speichel, als er die Alte in der offenen Haustür stehen sah. Die spitzen Züge wirkten unfreundlich und als wären sie zu einem vernichtenden Blick fähig. Ihre schmalen Lippen schienen Verwünschungen zurückzuhalten. Sie zeterte nicht, sie kam auch nicht mit einem Besen aus dem Haus gerannt, um die Jungen zu vertreiben. Wie sie mit mürrischem Gesicht dastand, das nicht Wut über einen Kinderstreich, sondern puren Hass zeigte, ließ Simon erschaudern. Ihre kurzen Haare glänzten auffällig silbern. Abgesehen davon, dass sie sie nun kürzer trug, hatte sich an ihr nichts verändert, seit Simon sie vor einigen Monaten zuletzt gesehen hatte. Mit einem Nicken wies er Linus auf die Alte hin.

Hastig ließen die Jungen ihre letzten Steine auf die Wiese fallen und rannten zurück zu ihren Fahrrädern. Sie sprangen auf die Pedale und radelten im Stehen los. Die alte Frau verzichtete weiterhin auf Schimpftiraden oder Drohgebärden. Ihr stilles Beobachten erschreckte die Jungen mehr, als es jedes Gekeife gekonnt hätte. Keiner der beiden schaute zurück, aber Simon war sicher, dass auch Linus die Blicke der Kinderfresserin spürte, die ihn wie ein nasses, kaltes Tuch einhüllten. Simons Arme kribbelten von der Gänsehaut, die sich dort ausbreitete.

»Die Alte war ja creepy«, stellte Linus fest, sobald sie um die erste Kurve gefahren waren und es sich auf dem Sattel gemütlich machten.

Simon schluckte schwer. »Der Kinderfresserin haben wir bestimmt Appetit gemacht.«

Keiner der beiden hätte es zugegeben, aber sie beide wünschten sich auf dem Rückweg mehr der sicheren Lichtinseln, die die Straßenlaternen auf den Boden warfen.

Zu Hause flüsterten die beiden noch bis tief in die Nacht hinein und kaum ein Satz betraf nicht die Kinderfresserinnen.

Am nächsten Vormittag holte Simon Linus mit dem Fahrrad ab. Zwar war Letzterer erst zwei Stunden zuvor nach Hause gegangen, aber sie waren mit ihren Freunden an der Bäckerei verabredet und Linus‘ Haus lag auf Simons Weg. Nach seinem eigenen Abenteuer hatte Simon das Gefühl, dass alle Neckereien, die sie vorbringen würden, weil er den Film verpasst hatte, einfach an ihm abprallen würden. Die morgendliche Sonne kämpfte noch darum, die sommerkühle Luft der Nacht zu erhitzen, aber wo ihre Strahlen auf Simons Haut fielen, wärmten sie ihn und stimmten ihn euphorisch. Sommerferien. Was gab es Schöneres im Leben? Es dauerte nicht lange, nachdem Simon geklingelt hatte, bis Linus an der Haustür war.

»Kann es losgehen?«, fragte Simon.

Linus hatte Augenringe, die sich mit seinen eigenen messen ließen. Zuerst hatte er nach ihrem Abenteuer nicht einschlafen können und als er es endlich geschafft hatte, waren es gleichermaßen quälende wie skurrile Albträume, die ihn immer wieder hatten aufschrecken lassen. Auch Linus war in der Nacht mehrfach aus dem Schlaf hochgeschreckt, aber sie handhabten es wie vermeintlich echte Männer und sprachen nicht darüber.

Nachdem Linus seiner Mutter zugerufen hatte, dass er jetzt unterwegs sei, stiegen sie auf ihre Räder und radelten gemütlich die Straßen entlang. Obwohl sie über Alltägliches plauderten und über ihre Mitschüler scherzten, spürte Simon, wie sie beide einen großen Gesprächsbogen um die alten Frauen aus dem Unteren Weberbach machten.

Wenige Minuten später trafen Simon und Linus ihre Freunde Melvin, Chris und Lenni vor der Bäckerei, wo sich die Jungen mit Süßigkeiten aller Art versorgen wollten. Das Glöckchen klingelte, als die Ladentür hinter Annika, einem Mädchen aus der Parallelklasse, zufiel. Sie grüßte einsilbig und spazierte mit einer großen Tüte – wahrscheinlich voller Brötchen und Brezeln – davon.

»Das Zimmer lag im Dunkeln, aber man hat die Umrisse des Killers erkennen können, an dem die halb nackte Tussi vorbeigelaufen ist. Ihr hättet sehen müssen, wie Melvin und Lenni gezuckt haben, als er zugestochen hat.« Chris ahmte seine Freunde mit übertrieben erschrockener Mimik nach. Es war nicht der erste Film, der zwar ab sechzehn Jahren empfohlen wurde, in den sich die Zwölfjährigen aber heimlich hineingeschmuggelt hatten.

»Die laute Musik hat mich erschreckt«, rechtfertigte sich Melvin und biss seinem ersten Fruchtgummitier den Kopf ab, während seine Freunde der Reihe nach ihre Auswahl beim Bäcker trafen. Lenni schien von allem etwas zu wollen.

Chris lachte ungläubig. »Ich habe echt gedacht, du rufst gleich nach deiner Mami.«

Melvin schubste Chris und erklärte: »Wenn, dann rufe ich nach deiner Mami.« Chris schubste ihn halbherzig zurück und kaufte als Letzter eine Papiertüte voller bunter Naschereien.

Lachend und feixend stiegen die Jungen auf ihre Fahrräder und radelten zur Wiese am Waldrand, die früher ein Spielplatz gewesen war. Simon konnte sich gut an all die Geräte und Klettergerüste, an die lange Röhrenrutsche und die Schaukeln erinnern, die auf der Wiese verteilt gestanden hatten. Lediglich ein von Unkraut überwachsener Sandkasten, dessen letzte freie Sandflecken von den Katzen der Nachbarschaft als Toilette benutzt wurden, war übrig geblieben. Nachdem innerhalb eines Jahres zwei Kinder vom Spielplatz verschwunden waren, hatte der Stadtrat entschieden, die Geräte abzubauen.

Die Jungen ließen ihre Räder ins Gras fallen und setzten sich auf einige der gestapelten Baumstämme am Rand der Wiese. Der Lieblingsort für ihr süßes Picknick lag auch an heißen Sommertagen angenehm nah am Wald, dessen kühle Luft sie einhüllte.

»Das Krasseste an dem Film war, wie der Freund der Tussi umgebracht wurde«, sagte Lenni unvermittelt, bevor er sich einen grünen Gummiwurm in den Mund stopfte.

Melvin spielte den Todeskampf der Filmfigur nach und fügte dem hinzu: »Man hat seine Gedärme gesehen, die hingen ihm aus seinem Bauch raus. Das sah so genial aus! Ich habe mal gelesen, die würden für solche Filmszenen Schweineinnereien benutzen.«

Chris gluckste. »Stellt euch mal vor, wir hätten den bescheuerten Film schauen müssen, für den wir eigentlich die Tickets gekauft haben. Da verstecke ich mich gerne zwanzig Minuten auf dem Klo, bis der richtige Film losgeht.« Er, Melvin und Lenni boxten sich gegen die Fäuste.

Linus stieß Simon mit dem Ellbogen an. »Eine Tussi und Gedärme. So scheiße war der Film dann wohl doch nicht. Lass uns den bei Gelegenheit gucken gehen, okay?«

»Was habt ihr gestern gemacht?«, fragte Chris, warf ein saures Bonbon in die Luft und fing es mit dem Mund auf. Wenige Sekunden später verzog er das Gesicht und schüttelte sich. »Warum kaufe ich die jedes Mal?«

Simon und Linus schauten sich verschwörerisch an, ehe Simon antwortete. »Wir sind in den Krieg gezogen. Lach nicht, Mel. Bei den Kinderfresserinnen ist eine neue Alte eingezogen. Wir sind nachts hingefahren und haben Steine an die Fenster geschmissen. Die sollen wissen, wer in der Stadt das Sagen hat.«

Melvin grinste breit. »Und das hast etwa du? Hab ich gar nicht mitbekommen, Mann.«

»Echt, die leben immer noch?«, fragte Chris. »Die lassen sich echt selten blicken.«

»Mit denen legt ihr euch an? Habt ihr die mal von Nahem gesehen?«, wollte Lenni wissen.

Linus nickte. »Eine von denen hat die Tür aufgemacht. Die mit diesen silbernen Haaren.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Melvin.

»Nichts. Kein einziges Wort.« Simon warf eine Gummi-Colaflasche in die Luft. Sie verfehlte seinen Mund, traf ihn stattdessen an der Wange und fiel unerreichbar zwischen die Baumstämme. »Mist. Verdammter Mist.« Simon war sich selbst nicht sicher, ob er die alten Frauen oder die verlorene Süßigkeit meinte.

Nachdem die Kinder ihr süßes Picknick beendet hatten, trafen sie sich mit anderen Klassenkameraden auf dem Bolzplatz und ließen sich vom Sommerferientag durch Schwarzbach treiben.

2. Kapitel – Ein gestohlenes Kind

Linus

Dritter Sommerferientag, morgens

Am oberen Ende der Treppe blieb Linus stehen. Er hörte seine Eltern in der Küche sprechen. Sie flüsterten, aber ihr Ton klang aufgeregt. Spontan entschied Linus, nicht wie üblich die Treppe hinunterzurennen, stattdessen stieg er vorsichtig von Stufe zu Stufe und trat nur auf die darauf angebrachten Teppichstücke, um seine Schritte zusätzlich zu dämpfen. Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen. Hinter der Wand links von ihm lag die Küche. Er konnte seine Eltern zwar nicht sehen, aber er verstand deutlich genug, was sie besprachen.

Zeitungspapier raschelte, ehe seine Mutter sagte: »Ich kann es nicht glauben. Schon wieder eines. Wir leben in einer so kleinen Stadt und ständig verschwinden hier die Kinder!«

»Überall verschwinden Kinder.«

»Wir hätten niemals hierherziehen dürfen.« Seine Mutter hörte sich an, als wäre sie den Tränen nahe.

»Ben und Linus sind schlau. Wir passen alle gut auf. Unsere Jungs …«

»Die anderen Kinder sind auch nicht dumm und passen auf. Wenn das so weitergeht, ich weiß auch nicht.«

Die Neugierde trieb Linus aus seinem Versteck. Kaum betrat er die Küche, nahm seine Mutter hektisch die Zeitung vom Tisch und versteckte sie hinter ihrem Rücken. »Was gibt’s?«, fragte er ganz unschuldig. »Ihr seht besorgt aus. Naht die Zombie-Apokalypse?«

»Nein, der einzige Hirntote bist du, mein Sohn«, sagte Linus‘ Vater und erntete einen tadelnden Blick seiner Frau, die ihre Geringschätzung seines Spaßes mit einem Kopfschütteln untermalte, sich ein unstetes Lächeln allerdings nicht verkniff.

Nach einem Augenrollen bat Linus seine Mutter, ihm die Zeitung zu geben. Da sein kleiner Bruder Ben und der Familienhund, ein Mischling namens Levi, sich nicht in der Küche aufhielten, tobten sie entweder gemeinsam im Garten herum oder lagen zusammen auf der Couch. Als Linus einmal zu seiner Mutter gesagt hatte, die beiden seien wie Zwillinge, hatte sie vor Lachen Schluckauf bekommen, weil sein Scherz sehr nahe an der Wahrheit lag.

Mit verräterisch hoher Stimme fragte sie: »Zeitung lesen? Warum gerade heute? Das tust du doch sonst auch nicht.«

»Mir ist eben danach.«

»Ach, da sind so viele Kaffeeflecken drauf, ich lege dir die Zeitung morgen zur Seite.«

»Hast du Lust, eine Runde Ballspielen zu gehen? Ein paar Minuten habe ich noch, bevor ich los muss«, bot sein Vater an.

Linus änderte seine Taktik. Er fühlte die Anspannung in seinem Körper. »Wer ist es? Wer ist verschwunden? Kenne ich ihn – oder ist es wieder eine Sie?«

Während seine Mutter die Lippen aufeinanderpresste, als würde keine mittelalterliche Foltermethode dieser Welt sie zum Reden bringen, sagte sein Vater im Plauderton: »Nein, das Mädchen geht auf eine andere Schule. Ich glaube nicht, dass du sie kennst. Laura Neumann.«

»Was ist mir ihr geschehen?«

»Sie ist verschwunden. Ihr Fahrrad und einer ihrer Schuhe wurden am Straßenrand gefunden. Sie war am frühen Abend auf dem Nachhauseweg von einer Freundin. Sie ist zwölf. So alt wie du.«

»Ich weiß, wie alt ich bin.«

Seine Mutter hob die Augenbrauen. »Die Polizei sucht schon nach ihr. Ein richtiges Aufgebot ist das dort draußen. Sie scheinen sich wieder auf die Spürhunde zu verlassen. Ich wette, es wären auch Hubschrauber unterwegs, wenn das das erste vermisste Kind wäre.«

»Ja, schon klar, Trubel und so. Und jetzt wollt ihr mich nicht mehr mit dem Fahrrad zu meinen Freunden und durch Schwarzbach fahren lassen.«

Seine Mutter seufzte, während sein Vater ihm versicherte, dass dem nicht so sei.

»Wo wurde ihr Fahrrad gefunden?«

»Im Kiefernweg.«

»Was? Das ist doch gerade auf der anderen Seite der Hauptstraße. Das ist fast Nachbarschaft für Chris und Lenni. Ich geh in mein Zimmer telefonieren.«

»Warte, Linus«, rief seine Mutter und er blieb mit dem Handy in der Hand auf der dritten Treppenstufe stehen. »Du hast doch noch gar nicht gefrühstückt. Gib ihren Eltern eine Chance, es deinen Freunden selbst zu sagen.«

Linus stapfte zurück in die Küche. Er schlang seine üblichen zwei Schüsseln mit Cornflakes herunter und dachte beim Kauen angestrengt nach. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum gerade aus Schwarzbach dermaßen viele Kinder verschwanden. Zwar kursierten allerhand Gerüchte dazu in der Schule und immer, wenn ein weiteres Kind verschwand, kamen bestimmt fünf neue Theorien dazu, aber nichts, was ihm bisher zu Ohren gekommen war, schien der Wahrheit zu entsprechen. Dass ein Kindermörder in Schwarzbach lebte, der sich so schlau anstellte, wie kaum jemand zuvor, glaubte er nicht, auch wenn es die naheliegende Lösung wäre. Auch die Nachbarorte waren teilweise betroffen, aber nirgendwo war es so schlimm wie hier. Kein einziges der verlorenen Kinder war jemals wieder aufgetaucht, keine Leiche war gefunden worden. Sie waren einfach weg und blieben für immer verschwunden. Seine leere Schüssel schob er schließlich von sich.

Sein Vater küsste Linus‘ Mutter auf die Nasenspitze und sagte: »Die große Hunderunde übernehme ich heute Abend.« Linus boxte er gegen die Schulter und machte sich anschließend auf den Weg zur Arbeit.

»Mama, seit wann verschwinden schon Kinder von hier?« Seine Mutter klappte die Geschirrspülmaschine zu, in die sie zuvor das Frühstücksgeschirr eingeräumt hatte, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken und setzte sich ihm gegenüber.

»Okay, du bist alt genug. Wie du weißt, haben wir das Haus von meiner Oma geerbt. Eigentlich wollte ich, dass wir es verkaufen, aber es hat alles so perfekt gepasst. Die Arbeit von deinem Vater ist leicht zu erreichen, ich hatte meine Arbeit schon in Aussicht und wir haben uns zwei Kinder gewünscht. Das Haus war in gutem Zustand und bot die perfekte Größe für unsere Familienplanung. Dein Vater und ich waren frisch verheiratet und die Vorstellung vom eigenen Nest war zu verlockend.«

»Seit wann?«, wiederholte Linus, um seine Mutter aus ihren Erinnerungen zurückzuholen.

»Ja. Seit wann. Also, ich kann mich erinnern, dass ich als kleines Mädchen hier bei meinen Großeltern übernachtet habe. Sie tuschelten, aber deine Tante und ich, wir haben mitbekommen, dass irgendetwas geschehen war. Wir haben nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass ein Kind gestohlen wurde. So hat es meine Großmutter formuliert. ›Gestohlen‹.« Seine Mutter seufzte erneut und nahm seine Hand fest in ihre. »Versprich mir, dass du auf dich aufpasst, Linus.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es geht schon, solange ich denken kann. Wahrscheinlich länger.«

»Wie viele Kinder sind seither verschwunden?«

»Ich kann es ehrlich nicht sagen. Irgendwie sind diese Entführungsfälle wie ein Hintergrundrauschen. Es passierte über die Jahre immer wieder, aber es war zu schrecklich, um sich damit zu befassen. Man schob es gedanklich zur Seite und machte weiter. Es sind viele Kinder verschwunden, Schatz.«

Linus stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich vor. »Und doch seid ihr hergezogen?«

»Kurz bevor wir unsere Entscheidung treffen mussten, wurde ein Mann verhaftet und wir dachten, damit wäre die Sache geklärt. Erst als wir hier schon eingezogen waren, ging es weiter und weiter. Wir haben es ausgeblendet und auf euch aufgepasst.«

Linus trommelte mit den Fingern gegen die Tischkante. Seine Gedanken wirbelten ihm wilder durch den Kopf, als er mit den Fingern einen Rhythmus zustande brachte. Das war für ihn eine der Situationen, in der man mit seinem besten Freund reden musste. »Ich gehe rüber zu Simon. Er ist bestimmt auch schon wach.«

»Viel Spaß. Und Linus? Pass auf dich auf.«

Linus war ein paar Straßen weiter zu Simon geradelt und bevor er den Klingelknopf drücken konnte, hörte er von drinnen Simons kleine Schwester schreien und seinen Freund fluchen. Grinsend klingelte er und innerhalb weniger Sekunden riss Simon die Tür auf.

Statt abzuwarten, was es bei Linus gab, schlüpfte er hinaus. »Besser, ich verschwinde erst mal aus der Schusslinie. Lass uns in den Garten gehen.« Sie setzten sich nebeneinander auf die Kante der groben Steinmauer, die eines der Blumenbeete seiner Mutter umrandete.

»Was war denn da drinnen los?«, fragte Linus und dachte an den Ärger, den er hin und wieder mit seinem jüngeren Bruder hatte. Lisa war definitiv schlimmer und er hatte fast ein wenig Mitleid mit Simon, dass sie kein Junge geworden war.

Simon winkte ab. »Nichts Neues. Ich weiß nicht, ob Lisa nerviger ist als dumm oder umgekehrt. Immerhin hat sie gestern Abend mit Filzstiften auf Mamas Schlafzimmerteppich gemalt. Die Farbe ging teilweise durch das Papier durch. Das gab Ärger für die kleine Mistratte, sag ich dir.« Ein Lächeln huschte über Simons Gesicht, als er in der Erinnerung schwelgte.

»Vielleicht bekommt sie Zimmerarrest, dann kann sie dich nicht mehr nerven.« Linus konnte es nicht abwarten und platzte mit der Neuigkeit heraus, die ihn beschäftigte, seit er davon erfahren hatte. »Hast du es schon mitbekommen? Es ist wieder ein Mädchen verschwunden. Keine Spur von ihr bisher.«

»Wer?«

»Laura Neumann, von einer anderen Schule, zwölf Jahre alt. War auf dem Nachhauseweg.«

Simon seufzte, jedoch nicht aus Mitleid. »Wenn meine Eltern das in der Zeitung lesen, wollen die mich bestimmt abends nicht mehr rauslassen. Am Schluss darf ich nicht mal mehr zu dir oder muss heimgehen, bevor es dunkel wird. Wobei das jetzt in den Ferien noch nicht so schlimm ist. Warte ab, im Herbst muss ich um vier Uhr schon daheim sein. Ist das ätzend, dass gerade bei uns so ein Mist läuft.«

»Wenn wir überhaupt wüssten, was da genau läuft.«

Simon stand auf. »Lass uns Brennholz sammeln, dann können wir nachher ein Lagerfeuer machen und Marshmallows rösten.« Linus schloss sich ihm an und sie streiften durch den Garten. Hier und da lagen einige Zweige auf dem Boden und sie brachten sie zur offenen Grillstelle in der Mitte des Gartens. Halbherzig warf Simon noch einige Tannenzapfen dazu. Ihre Ausbeute an Ästchen, die sich innerhalb des Steinkreises sammelte, war recht kläglich, weswegen sie auf die Holzscheite für den offenen Kamin zurückgreifen mussten.

»Wenn wir mehr Holz hätten, könnten wir die alten Weberbach-Hexen grillen«, gab Simon zu bedenken.

Linus lachte. »Dann hätten wir kein Lagerfeuer, sondern einen Scheiterhaufen.«

»Ich sammle den ganzen Tag Holz, wenn wir dafür meine Schwester draufwerfen können.«

»Alter, du bist krass«, sagte Linus. »Als könntest du einen Menschen töten.«

»Wenn ich wüsste, dass es ein Bösewicht ist, würde ich ihn mit bloßen Händen ins Feuer drücken, bis er verbrannt ist.« Simon schaute mit Stolz auf seine beiden Hände, als hätten sie schon jetzt Heldentaten vollbracht.

Auch Linus betrachtete Simons Hände, war aber noch nicht ganz überzeugt. »Das sagt sich leicht. Sonst übertreibst du auch immer.«

Simon zog ein entsetztes Gesicht, als würde Linus‘ Vorwurf ihn schockieren, wurde dann aber wieder ernst. »Ja, aber wenn es einen Grund gäbe, wenn es wirklich notwendig wäre, würde ich das definitiv bringen.«

»Dann kannst du mit deinen verbrannten Händen bestimmt acht Wochen nicht mehr zocken. Sicher, dass du das riskieren willst?«

Simon riss die Augen auf. »Stimmt, dann wäre das Opfer doch zu heftig. Ich glaube, mein Gehirn schaltet sich einfach ab, wenn ich länger als vierundzwanzig Stunden nicht zocken kann. Es gibt dann den Geist auf. Vielleicht explodiert es ja.«

Linus lachte, obwohl er solchen Quatsch von Simon zur Genüge kannte. Gerade deswegen war er sein bester Freund. »So schlimm wird es schon nicht kommen.«