Mathilda Grace

EINSAME HERZEN

 

 

Einsame Herzen

2. Auflage, Dezember 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

© 2018 Mathilda Grace

Am Chursbusch 12, 44879 Bochum

Text: Mathilda Grace 2013

Foto: Comfreak; Pixabay

Coverdesign: Mathilda Grace

 

Web: www.mathilda-grace.de

 

Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.

 

Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drama & Romance

 

 

Liebe Leserin, Lieber Leser,

 

ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.

 

Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.

 

Dankeschön.

 

Liebe Grüße

Mathilda Grace

 

 

Süchtig, ausgestoßen, missbraucht, ohne Zukunft und Perspektive – Sozialarbeiter Jake Porter hat sein Leben all jenen gewidmet, die ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben. Einer dieser Menschen ist Liam Kendall, den ein schwerer Verlust in die Drogensucht getrieben hat. Als Liams Familie Jake um Hilfe bittet, lehnt Jake jedoch ab. Liam ist in seinen Augen noch nicht tief genug gefallen, um ihm helfen zu können. Dessen Familie ist allerdings hartnäckig und sie hat größere Probleme, als es für Jake auf den ersten Blick scheint.

 

 

Für Piccolo,

weil du mich regelmäßig mit den wundervollsten Ideen für meine Geschichten überschüttest.

 

 

Prolog

 

 

 

 

»Ich bin echt zu alt für den Scheiß.«

Adrian gluckste an Davids Schulter, während er mit geübten Griffen die Manschetten öffnete, mit denen David während ihres Liebesspiels ans Bett gefesselt gewesen war.

»Für dein Alter siehst du aber immer noch verdammt sexy aus und du stöhnst auch verdammt laut.«

»Für dein Alter hast du immer noch eine verdammt heiße Mundakrobatik.«

»Übung macht den Meister, das weißt du doch«, konterte Adrian grinsend, während er Davids Arme massierte und sich danach an die Seite seines Mannes legte. »Ist dir kalt?«, fragte er, weil sie die Decke vorhin aus dem Bett geworfen hatten, um sich freier bewegen zu können.

»Nein, ich strahle Unmengen an Hitze aus. Spürst du nicht die Wellen, die durch deinen Körper rasen?«

Adrian lachte. »Ich dachte, das wäre ich.«

David kicherte und streichelte ihm durchs Haar, das völlig verschwitzt war. »Oh nein, das bin alles ich … Und so ungern ich die Stimmung ruiniere, wir kleben.«

»Dusche?«

»Wäre wohl besser.«

»Kommst du alleine hoch? Du weißt, in deinem Alter ...« Weiter kam Adrian nicht, als David ihn von sich schubste und anfing ihn zu kitzeln. Lachend wehrte er Davids flinke Finger ab, aber sein Mann kannte keine Gnade. »Oh Gott … hör auf … Trey, ich schwöre, ich ...«

Das Telefon klingelte.

»Wer ist das denn jetzt?« David stöhnte genervt, ließ von ihm ab, und hob den Kopf, um zum Nachttisch zu sehen, auf dem seit Jahren eine Uhr stand. Neben dem Telefonanschluss, den sie hier runter verlegt hatten, als Isabell flügge zu werden begann, um im Notfall immer erreichbar zu sein. »Himmel, es ist mitten in der Nacht.«

»Siehst du, wer es ist?«

David schüttelte den Kopf. »Unbekannte Nummer.«

»Oben ist der AB an. Lass es klingeln.«

Adrian zog David wieder an seine Seite. Sie hatten in den letzten Monaten kaum Zeit für sich gehabt und diese erste gemeinsame Nacht im Spielzimmer – nach einer in Adrians Augen gefühlten Ewigkeit –, wollte er sich nicht durch einen unbekannten Anrufer ruinieren lassen.

 

»Adrian, wach auf!«

David sah beunruhigt auf ihn hinunter, als Adrian die Augen aufschlug. »Was ist los?«, fragte er und schlug die Bettdecke zur Seite, um aufzustehen. Wenn David an einem Wochenende frühmorgens komplett angezogen am Bett stand, musste etwas passiert sein.

»Wir müssen ins Krankenhaus.«

Adrian ließ die Hose sinken, nach welcher er gegriffen hatte, um David anzustarren. »Warum?«

David rieb sich die Augen. »Der Anrufer letzte Nacht war Nick. Ich war Brötchen holen und habe die Nachricht abgehört. Er ist mit Tristan im Krankenhaus, deshalb auch die unbekannte Nummer. Liam hat gestern versucht, Tristan zu beklauen. Als der ihn erwischte, ist Liam ausgetickt und hat Tristan eine Glasflasche auf den Kopf geschlagen.«

»Großer Gott.« Adrian schlüpfte fassungslos in seine Hose. »Wie geht es Tristan? Hat Nick etwas gesagt?«

»Sie mussten die Wunde nähen, aber er hatte Glück. Keine Gehirnerschütterung oder andere Verletzungen.« David reichte ihm ein Hemd. »Sein behandelnder Arzt will ihn zur Sicherheit eine Nacht dabehalten. Und wir sollten wirklich dringend mit Nick reden.«

Bei Adrian schrillten die Alarmglocken, als sein Blick Davids traf, der gequält das Gesicht verzog. »Was hat er getan?«

»Ich habe ihn angerufen, bevor ich dich wecken kam. Er ist gerade auf dem Weg ins Büro, um einen Antrag für das Gericht aufzusetzen. Nick will Liam am Montag bis auf Weiteres entmündigen lassen.«

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Irgendwer zog an seiner Bettdecke, dabei hatte er eben erst das Licht ausgeschaltet.

Jake wehrte sich mit einem wütenden Fluch und fragte sich gleichzeitig, welcher Wahnsinnige es wagte, ihn jetzt zu stören, obwohl jeder im Haus wusste, dass das hier, nach einer Woche Außendienst in den gefährlichsten Gegenden von Baltimore, die erste Nacht in seinem eigenen Bett war. Eine Woche ohne Dusche, ständig draußen unterwegs, keine geregelten Mahlzeiten und vor allem kaum Schlaf. Und das im tiefsten Winter, denn seit Weihnachten schneite es. Mittlerweile war Ende Januar, aber eine Wetterbesserung nicht in Sicht. Darum war Jake mit seinem Bruder Lennox und einigen Freiwilligen unterwegs gewesen. Um dafür zu sorgen, dass die Obdachlosen auf den Straßen Decken, Schlafsäcke und etwas zu essen bekamen.

Eine alljährliche Tradition vom Porter-Haus und Jake hatte nicht vor, je damit zu brechen. Er war Sozialarbeiter geworden, um Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen konnten, aber dafür bei der Stadt angestellt zu sein, hatte Jake nicht lange ausgehalten. Baltimore fehlte das Geld, um wirklich etwas ausrichten zu können, deshalb war er nach seinem Studium, einigen Praktika und einem Jahr Arbeit beim Sozialamt, in das von seinen Eltern aufgezogene Projekt für Süchtige, Obdachlose und Straßenkinder eingestiegen.

Das Porter-Haus war ein reines Familienprojekt und neben seinem Bruder Lennox, der als Streetworker mithalf, sofern er nicht als selbstständiger Computerspezialist in und um Baltimore unterwegs war, arbeitete auch seine Schwester Maggie im Haus mit. Sie kümmerte sich um die gesamte Organisation und sie war erstklassig darin. Maggie sorgte dafür, dass alles lief und Jake genug Zeit für seine Kids hatte. Sie war seine kleine Schwester und gleichzeitig auch seine beste Freundin, rechte Hand und Helferin für alle Fälle, Notfälle und Unfälle, von denen eigentlich ständig welche im Haus lebten.

Das Porter-Haus war rund um die Uhr geöffnet, falls nötig, und meistens war es das, denn Jake kümmerte sich nur um die schwierigsten Fälle, die alle anderen längst aufgegeben hatten. Problemkids, die total abgestürzt waren und im letzten Augenblick dann doch noch die Kurve gekriegt hatten. Wie alt sie waren, war Jake egal. Er half nur denen, die es wirklich wollten, und die sich bei ihrer Wahl zwischen Leben und Tod für das Leben entschieden hatten. Viele Freunde hatte er sich mit dieser kaltherzigen Einstellung in den vergangenen Jahren nicht gemacht, aber das kümmerte ihn nicht. Baltimore hatte zu viele Drogensüchtige und Problemkids auf den Straßen, und wenn er pro Jahr auch nur einen einzigen retten konnte, war das genau der Erfolg, der ihm immer wieder recht gab und der Jake weitermachen ließ.

Für Preston, der es nicht geschafft hatte, und dessen Tod seine Eltern zum Anlass genommen hatten, all ihre Zeit, Liebe und Geld in dieses Projekt zu stecken, das nun ihm gehörte.

Sein ältester Bruder war an einer Überdosis Heroin gestorben und hatte mit seinem Tod den Grundstein für ein Wohnprojekt gelegt, das seit nun mehr fünfzehn Jahren existierte, die letzten zehn davon in Jakes Hand. Jake steckte sämtliche Energie in die Rettung gefallener Kinder, junger Erwachsener und Menschen, die niemand mehr wollte und die von ihren Familien, sofern sie noch eine hatten, aufgegeben worden waren.

Als das Licht anging, gab Jake den Kampf um seine Bettdecke auf. »Verdammt, was ist denn?«

»Telefon für dich. Ein Notfall.«

Maggie hielt ihm das Telefon hin. Jake seufzte, bevor er sich aufsetzte, um den Anruf anzunehmen. »Ja?«, fragte er müde und grinste, als Maggie lautlos gähnte und sich neben ihn aufs Bett fallen ließ. Er warf ihr die Decke über den Kopf und stand auf, um sich in der kleinen Küchenzeile, die zu seinem Zimmer gehörte, einen Kaffee zu machen.

»Jake Porter?«

Jake war erstaunt. Er kannte die Stimme am anderen Ende der Leitung, obwohl er sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Den vielen Berichten, die nach Kilians Entführung über Wochen hinweg in allen Zeitungen gestanden hatten, war Jake absichtlich aus dem Weg gegangen, weil er sich nicht auch noch Sorgen um einen früheren Schulkameraden machen wollte. Er hatte genug andere Probleme gehabt. »Kilian McDermott, der irische Überflieger. Wie geht’s dir denn?«

»Nicht gerade super, deswegen rufe ich dich an. Sorry, dass ich so früh störe.«

Das klang nach Ärger und Jake wusste, welche Form dieser Ärger hatte. Es erstaunte ihn jedoch, dass Kilian deshalb ihn anrief. Sie kannten sich zwar von früher und hatten eine Weile die gleiche Schule besucht, bis seine Eltern Philadelphia hinter sich gelassen hatten, um nach Baltimore zu ziehen. Freunde waren sie allerdings nicht gewesen. Es hatte sich irgendwie nie ergeben. Trotzdem mochte Jake den Iren und hatte sich in den vergangenen Jahren auch einige von Kilians Bildern gekauft.

Jake setzte Kaffee auf und drehte sich dann um. Sein Blick schweifte unwillkürlich zu einem Landschaftsbild von Kilian, das neben seinem Bett an der Wand hing. Es war ein Gemälde von einer Straße, beleuchtet von der Sonne. Es hatte Ähnlichkeit mit der 'Route 66', und aus diesem Grund hatte Jake es gekauft. Diese Straße war ein Synonym für sein Leben. Frei, aber einsam.

»Es war in den Nachrichten. Rufst du deswegen an?«, hakte Jake nach, als Kilian nichts mehr sagte.

»Ja, ich weiß. Ich habe es gesehen. Das Patenkind des früheren Oberstaatsanwalts von Baltimore versinkt immer tiefer im Drogensumpf. Zum Kotzen!«

»Wie schlimm ist es?«, fragte Jake und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Er musste dringend schlafen, sonst würde er bei der wöchentlichen Teambesprechung morgen nicht bei der Sache sein, und das konnte er sich nicht erlauben. Es war auch nicht sein Stil. »Gib mir nur eine Kurzfassung. Ich war die letzte Woche auf der Straße unterwegs und bin hundemüde.«

»Okay, aber zuerst muss ich wissen … Wie gut kennst du unsere Familiengeschichte?«

Jake drehte sich wieder um und blickte sehnsüchtig auf den durchlaufenden Kaffee. »Kaum.«

»Gut, um es in wenigen Sätzen zu erklären ... Einer meiner besten Freunde, Noah Kendall, wurde bei einer Schießerei in New York City beinahe umgebracht. Ein Kopfschuss. Noah hat sein Gedächtnis verloren, und zwar dauerhaft. Sein Zwilling, Liam, kommt damit nicht klar und hat angefangen Drogen zu nehmen. Seine Väter haben ihn jetzt entmündigen lassen. Wir wissen nicht mehr weiter. Er lässt sich nicht helfen.«

Ein typischer Einstieg bei Drogensüchtigen und eine normale Reaktion der liebenden Familie. Jake zuckte nur mit den Schultern, denn dieselbe Geschichte hatte er in den vergangenen Jahren so oft zu hören bekommen, dass sie ihn nicht mehr berührte. Besser gesagt, er ließ nicht zu, dass es das tat.

»Lasst ihn abstürzen.«

Entsetztes Schweigen war die einzige Antwort, die er bekam, was er erwartet hatte. So reagierten Familien und Freunde immer wieder, wenn jemand aus dem persönlichen Umfeld süchtig wurde.

»Versteh mich nicht falsch, aber wer keine Hilfe will, bekommt keine. Nicht von mir.«

»Jake ...«, begann Kilian.

»Was nimmt er?«, fragte Jake dazwischen.

»Wir wissen von Clubdrogen und Alkohol. Außerdem vermuten wir, dass er mit härteren Sachen zu tun hat.«

»Wie lange und tief steckt er in der Szene?«, fragte er weiter, denn er brauchte Details, um seine Absage besser erklären zu können. Kilians resigniertes »Wir wissen es nicht.« ließ ihn die Stirn runzeln. Hinter der Geschichte steckte mehr, als Kilian ihm erzählte, aber er würde nicht danach fragen, denn Jake hatte nicht vor, Liam zu helfen. »Warum die Entmündigung?«

»Er hat ...« Kilian stoppte und in dem Augenblick verstand Jake, dass die Geschichte, die er nicht kannte, verdammt übel sein musste. »Liam hat vor einer Woche versucht, seinem Vater Tristan Geld zu klauen. Als der ihn erwischte und zur Rede stellen wollte, hat Liam ihm eine Flasche über den Kopf gezogen und ist abgehauen. Nick, sein zweiter Vater, ist Anwalt. Er hat daraufhin bei Gericht die Entmündigung erwirkt, um zu verhindern, dass Liam in den Knast geht.«

Zwei Väter? Jake gestand sich ein, dass er neugierig war, dennoch stellte er keine Fragen. Stattdessen nahm er den fertigen Kaffee, trank einen Schluck und überlegte nebenbei. Was er jetzt zu sagen hatte, würde Kilian nicht gefallen, aber er hatte Prinzipien und die würde er nicht brechen. Jake hatte es einmal getan und dadurch einen seiner Brüder verloren. Den Fehler würde er kein zweites Mal begehen.

»Ihr hättet Liam nicht entmündigen dürfen«, sagte er und hörte, wie Kilian am anderen Ende der Leitung Luft holte. »Ich weiß, wie das klingt, aber du würdest nicht anrufen, wenn du keinen Rat und keine Hilfe willst. Ich helfe Drogensüchtigen, Huren, Callboys und all den Verlorenen, die niemand mehr haben will. Ich tue das seit Jahren, aber ich verschwende meine Zeit nicht mit Junkies, die keine Hilfe wollen.«

Kilians Entsetzen war fast durch die Leitung spürbar. »Wir können ihn doch nicht fallen lassen.«

Jetzt kam der schwerste Teil. Jener Teil, den Jake am meisten verabscheute, und der zugleich der Wichtigste war. »Doch, das könnt ihr. Ihr müsst es sogar. Denn erst, wenn Liam so weit am Boden ist, dass es nicht mehr tiefer abwärts geht, kann ich ihm helfen.«

»Und wenn er dann tot ist?«

Kilian war aufgebracht, was Jake erwartet hatte. Es würde allerdings noch schlimmer werden, das wusste er aus langjähriger Erfahrung. »Ihm bleiben zwei Möglichkeiten. Leben oder sterben. Wofür er sich entscheidet, ist Liams Sache, nicht eure. Wenn er leben will, wird er es euch auf irgendeine Weise wissen lassen. Wenn nicht, so leid es mir auch tut, hat er Pech gehabt.« Jake verkniff sich ein Seufzen, als Kilian schwieg. »Sag es ruhig. Ich höre das ständig.«

»Du gefühlloses Schwein!«

Jake nickte. »Ich weiß, dass ich das bin. Ich muss es sein, weil mich mein Job sonst völlig fertigmachen würde. Ruf mich wieder an, wenn er seine Wahl getroffen und sich für das Leben entschieden hat. Dann werde ich Liam helfen.«

Jake legte auf, ohne Kilian die Möglichkeit zu geben, noch etwas zu sagen. Er trank schweigend seinen Kaffee und wartete. Allerdings hatte Maggie diesmal mehr Geduld, als er es von ihr kannte, denn normalerweise hielt sie ihm nach solchen Anrufen immer einen Vortrag darüber, dass er zu gefühllos war. Heute kam jedoch kein Wort von ihr und Jake fing an zu grinsen, als ihm ein Gedanke kam. Er stellte die Tasse in die Spüle und ging zum Bett, um vorsichtig die Decke anzuheben.

Aus seinem Grinsen wurde ein liebevolles Lächeln, als er sich vorbeugte und Maggie einen Kuss auf die Stirn gab. »Träum süß, Schwesterchen«, flüsterte er, weil er sie nicht wecken wollte, bevor er sich eine Ersatzdecke nahm und sich vorsichtig neben sie legte, um endlich ein paar Stunden zu schlafen.

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

Jake wurde von Gitarrenmusik geweckt.

Er brauchte eine Weile, um wachzuwerden und zu begreifen, dass im Gemeinschaftsraum des Hauses sein jüngster Bruder saß und spielte. Chris war in ihrer Familie der Einzige mit musikalischer Begabung, und hatte trotz seiner erst zweiundzwanzig Jahre bereits vor einem Jahr einen Job in einem der bekanntesten Clubs in Las Vegas bekommen. Chris versuchte im Musikbusiness Fuß zu fassen und Vegas war garantiert nicht der schlechteste Ort, um eine Karriere zu starten.

Jake streckte sich und warf dabei einen Blick auf die Bettseite neben sich. Seine Decke lag ordentlich gefaltet am Fußende, was ihn grinsen ließ. Maggie hatte einen ziemlichen Ordnungsfimmel, aber der fiel neben dem Kleidungs-, Bücher-, Taschen- und Schuhfimmel nicht sonderlich auf. Er schlug seine eigene Decke beiseite und stand auf, um sich zu strecken und danach das Bad in Beschlag zu nehmen. Obwohl er bei seiner Rückkehr vergangene Nacht ausgiebig geduscht hatte, kämpfte Jake immer noch gegen das Gefühl an, dreckig zu sein und zu frieren. Wie jedes Mal, wenn er im Winter unterwegs war. Lennox würde es nicht anders gehen.

Mit einer frisch gefüllten Kaffeetasse in der Hand, schlenderte er schließlich nach unten in sein Büro, stöhnte beim Anblick des überquellenden Schreibtisches laut auf und machte eilig wieder kehrt, um nachzusehen, ob Maggie schon in ihrem eigenen Büro saß.

Jake hatte Glück. »Morgen.«

»Selbst Morgen«, erwiderte sie, mit Blick auf einen Brief in ihren Händen.

»Hast du Neuigkeiten für mich?«, fragte Jake und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder, was ihm einen finsteren Blick einbrachte, da Maggie das nicht leiden konnte. »Auch dein böser Blick kann meine gute Laune an diesem herrlichen Montagmorgen nicht trüben.«

»Wer an einem Montagmorgen gute Laune hat, gehört erschossen«, grummelte sie und hielt ihm den Brief hin. »Von der Bank.«

Jake verzog das Gesicht und erhob sich wieder, den Brief in ihrer Hand dabei ignorierend. »Ich meinte damit eigentlich, ob du schöne Neuigkeiten für mich hast?«

»Ich lasse dir das durchgehen, da du eine Woche im Schnee unterwegs warst«, antwortete Maggie gnadenlos und legte den Brief in die Ablage. »Er bleibt hier liegen, so lange es irgendwie geht, dann bekommst du ein gutes Antwortschreiben von mir, das du schweigend unterzeichnen wirst, verstanden? Vielleicht kriegen wir noch mal einen Aufschub.«

»Maggie ...« Ihr warnender Blick ließ Jake mit einem verlegenen Grinsen verstummen. Schulterzuckend setzte er sich zurück auf die Schreibtischkante. »Okay, was gibt es noch?«

»Rechnungen, um die ich mich kümmern werde, und Trevor hat mich angerufen und gefragt, ob wir eine Lieferung haben wollen, die für einen Kunden war, der heute früh plötzlich abgesprungen ist. Mehrere Bleche Kuchen und ein ganzer Sack Baguettes. War wohl für eine Party. Er ist jedenfalls stinksauer und gibt alles, was wir nicht wollen, an die Armenküche.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Das wir auf jeden Fall einen Stapel der Baguettes und ein Blech Kuchen nehmen. Die Kids freuen sich darüber und mehr kriegen wir sowieso nicht unter.« Maggie griff nach einem weiteren Brief. »Übrigens, Trevor hat mir letzte Woche beim Einkaufen geholfen.«

Jake runzelte die Stirn. »Wieso denn Trevor? Wo war Grant am Freitag?«

»Nicht hier, wie üblich.« Maggie sah zu ihm auf. »Wenn du jetzt keinen Einspruch erhebst, schicke ich noch heute die Kündigung raus. Ich brauche Leute im Haus, auf die ich mich verlassen kann, wenn du nicht da bist. Grant gehört nicht dazu.«

»Er braucht den Job«, warf Jake ein, obwohl es ihn ärgerte, dass Grant Maggie zum wiederholten Male hatte sitzenlassen.

Grant war nie zuverlässig gewesen, aber Jake kannte Grants Vater, der ein Freund seiner Eltern gewesen war, und hatte ihm einen Gefallen tun wollen. Er würde Jim anrufen müssen, um ihm zu sagen, dass Grant den Job los war. Jake seufzte innerlich. Er hasste derartige Anrufe wie die Pest, aber Jim Willows konnte nichts dafür, dass er einen Sohn hatte, der auf dem besten Weg war, sich sein Leben völlig zu versauen.

»Er will den Job aber nicht. Jedenfalls nicht mehr.« Maggie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Sei nicht böse, aber Grant ist völlig unzuverlässig, seit er mit diesen Kerlen aus dem Kavanaugh rumhängt. Ich habe Magnus gefragt, ob er mir in Zukunft aushilft.«

Jake hob eine Braue. »Du denkst, er ist bereit dazu?«

Maggie nickte und begann dabei mit ihrem Kugelschreiber zu spielen. »Er war einer der schlimmsten Typen, die du jemals in dieses Haus geschleppt hast, aber jetzt ist er clean und will es unbedingt bleiben. Um das zu erreichen, braucht Magnus eine neue Perspektive. Damit er weiter auf die Füße kommt. Die erhält er mit einem sicheren Job bei uns.«

»Wie viel Verantwortung willst du ihm geben?«

»Weiß ich noch nicht«, antwortete Maggie grüblerisch. »Ich werde sehen, wie er sich macht. Erst mal nehme ich ihn jede Woche mit zum Einkaufen und mache ihn mit der übrigen Organisation vertraut. Den Großteil kennt er ohnehin schon, er ist lang genug bei uns. Trevor hat ihm zudem einen Aushilfsjob in der Bäckerei angeboten.«

Jake schmunzelte, weil ihm plötzlich klar war, was sie wollte. »Das heißt, ich bin jetzt dafür zuständig, dass er seine eigene Bude bekommt?«

»Du hast es erfasst.« Maggie grinste. »Du kennst deine Leute und weißt, wo was frei ist. Wir haben zwar derzeit ein Zimmer leer stehen, aber er kann nicht ewig im Haus leben. Wenn es irgendwie geht, besorg ihm vorläufig ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft.«

Jake nickte nur. Magnus hatte gern Gesellschaft und war im Grunde ein pflegeleichter Typ. Kaum zu glauben, wenn er daran dachte, wie er ihn vor zwei Jahren gefunden hatte. Halb tot in einer Gasse. Niedergestochen bei einem Streit um Kokain, war Magnus blutend Richtung Straße gekrochen, weil er nicht sterben wollte. Jake hatte ganze sechs Wochen gebraucht, um Magnus' Vertrauen zu gewinnen, und mehrere Monate, um ihn wieder aufzupäppeln. Seither wohnte Magnus im Porter-Haus und Jake wusste, dass auf Maggies Einschätzung immer Verlass war. Die Zeit war reif, dass Magnus einen weiteren Schritt in sein neues Leben machte, also würde Jake sich darum kümmern, dass er die Gelegenheit dazu bekam.

»Ich erledige das«, sagte er und Maggie wandte sich zufrieden wieder ihrem Schreibtisch zu, der genauso voll war wie sein eigener. »Was hast du mir da eigentlich alles auf meinen Schreibtisch gepackt?«

»Das willst du nicht wissen.« Maggie grinste frech und Jake stöhnte. »Setz einfach deine Unterschrift unter die Briefe in der Mappe 'wichtig' und gib sie mir heute Abend zurück.«

»Ja, ja«, nörgelte Jake und stand auf, um sich etwas zu essen zu suchen und dann seinen Schützlingen im Haus guten Morgen zu sagen.

Aktuell waren es vier.

Magnus, Emma und die Brüder Zachary und Ben, die nach dem Mord an ihren Eltern vor einem Dreivierteljahr abgestürzt waren. Lennox war bei einer Tour durch die Stadt auf die beiden aufmerksam geworden und hatte sie Anfang Dezember ins Haus geholt. Da war Emma schon bei ihnen gewesen. Sie lebte seit vier Monaten hier und war Jakes großes Sorgenkind. Auch wenn sie sich nicht mehr an wildfremde Männer auf der Straße verkaufte und aufgehört hatte zu trinken, kam er einfach nicht an sie heran. Jake hatte Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen, um mehr zu erfahren. Das hatte sich jedoch als Sackgasse entpuppt. Schlimmer noch, die Chesters waren aus allen Wolken gefallen, als er ihnen die Wahrheit gesagt hatte. Dem Ehepaar war es ein Rätsel, wieso ihre Tochter auf dem Straßenstrich angeschafft hatte, und sie waren froh, dass sie es jetzt nicht mehr tat. Für Jake war das leider zu wenig. Um Emma richtig helfen zu können, musste er wissen, was passiert war, aber darüber konnte er im Augenblick nur Vermutungen anstellen.

»Bevor ich es vergesse …«

Maggies Worte rissen ihn aus seinen Grübeleien bezüglich Emmas Vergangenheit. Jake hielt mit einer Hand am Türknauf inne und sah über die Schulter zurück. »Ja?«

»Magnus hat zu mir gesagt, dass ich einen Teil seines Gehalts einbehalten soll.«

»Mist«, murmelte Jake, der genau wusste, was Maggie ihm damit sagen wollte. »Ich regle das.«

Maggie nickte. »Du hast übrigens Besuch.«

»Wen?«

Maggie warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie sich weiter um ihren Papierkram kümmerte. »Ich denke, der Anruf von heute früh hat damit zu tun.«

»Na super.«

Jake verdrehte die Augen zur Decke und verließ mit einem Seufzen das Büro, während Maggie lachte. Warum überraschte ihn das nicht einmal? Bei seinem Glück saß Liams Patenonkel Adrian Quinlan im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa, um ihn zu überreden, sich Liam Kendalls doch anzunehmen. Jake war nicht sauer darüber, im Gegenteil. Er hatte viel Verständnis für diese Familie, die Liam über alles liebte und ihm helfen wollte.

Aber Jake hatte Prinzipien und würde seine Meinung nicht ändern. Auch nicht für den ehemaligen Oberstaatsanwalt von Baltimore.

 

 

3. Kapitel

 

 

 

 

Jake war ehrlich überrascht, als er nicht den bekannten Anwalt auf seiner Couch entdeckte, sondern dessen Mann David, der Chris Gesellschaft leistete. Die beiden waren in eine gestenreiche Fachsimpelei über Musik verstrickt, was für Jake ziemlich lustig aussah. Magnus, Zachary und Ben waren auch anwesend und taten so, als wären sie schwer damit beschäftigt, im Fernsehen einer Serie zu folgen, dabei lag ihre gesamte Aufmerksamkeit auf David Quinlan. Jake stutzte, als er bemerkte, dass sogar Emma, die sich hinter einem Buch verschanzt hatte, seitlich daran vorbeisah, als David Chris die Gitarre abnahm und ein ruhiges Lied anstimmte.

U2, wenn er sich nicht irrte. Jake lehnte sich an die Wand, die den Essbereich vom Wohnraum trennte, und hörte zu. Dass Chris gut war, wusste er, aber von Davids Musiktalent hatte er keine Ahnung gehabt. Jake kannte ihn als Künstler und mochte seine Bilder genauso wie die von Kilian.

Chris entdeckte ihn und grinste. »Hey Paps, ohne den Kaffee am Morgen geht immer noch nichts, was?«

»Ich geb dir gleich Paps, du Küken«, grummelte er gespielt finster, was Chris und die anderen zum Lachen brachte.

Diese Anrede war schon seit Jahren ein Jux zwischen Chris und ihm, da Jake als Ältester in der Familie, nach dem Tod ihrer Eltern, für Chris ein Ersatzvater geworden war. Jake trat schmunzelnd in den Gemeinschaftsraum, warf seinen Kids einen prüfenden Blick zu und lachte, als das von Ben mit einer herausgestreckten Zunge kommentiert wurde. Er stellte seine Kaffeetasse auf den Couchtisch und gab David die Hand, der Chris seine Gitarre zurückgegeben und sich erhoben hatte, um ihn zu begrüßen.

»Ich hatte eigentlich mit Ihrem Mann gerechnet.«

David Quinlan schmunzelte. »Keine Sorge. Adrian ist auch hier. Er unterhält sich vor dem Haus mit einem Hünen, der wie ein echter Wikinger aussieht.«

Jake grinste. »Trevor Fairchild. Er gehört zur Familie. Besser gesagt, er wird es, sobald er Maggie endlich überredet hat, ihn zu heiraten.«

»Jake!«, schallte Maggies entrüstete Stimme zu ihnen in den Wohnraum und wieder lachten alle.

Jake winkte David zur Tür. »Lassen Sie uns eine Runde spazieren gehen. Meine Schwester hat etwas gegen das Heiraten, ich setze in dem Fall trotzdem auf Trevor. Er hat mehr Geduld als sie.« Jake zog seine Jacke an und öffnete die Haustür, ehe er über die Schulter sah. »Stellt nichts an, ich erfahre alles.«

»Ja, ja«, schallte einstimmig in den Flur und Jake ließ David den Vortritt, der sichtlich belustigt aus dem Haus trat und dabei auf Trevors Kleinlaster deutete, der mit offen stehenden Türen in der Einfahrt stand.

»Was hat es mit den vielen Baguettes auf sich?«

»Ein Kunde ist ihm kurzfristig abgesprungen und hat Trevor mit seiner Bestellung sitzengelassen. Er überlässt uns einen Teil, der Rest geht an die Armenküche.«

Jake hob seine Hand zum Gruß, als Trevor in ihre Richtung sah, was der nickend erwiderte, bevor er sich weiter mit Adrian Quinlan unterhielt, der in seiner teuren Kleidung komplett deplatziert wirkte, sich daran allerdings nicht zu stören schien. Jake betrachtete David einmal von Kopf bis Fuß. Stiefel, Jeans, gefütterte Winterjacke. Das komplette Gegenteil seines Mannes im Anzug, einem maßgeschneiderten Mantel und Schuhen, die mit Sicherheit aus echtem Leder waren.

»Er sieht das gar nicht.«

»Was?«, fragte er verdutzt und begriff, als sein Blick auf Davids traf. Dem Künstler war seine Musterung nicht entgangen. »Wie kann er das nicht sehen? Es ist offensichtlich.«

»Nur wenn man wirklich darauf Wert legt, jemanden nach Äußerlichkeiten zu beurteilen, was Adrian nicht tut. Das hat er noch nie.«

Das war deutlich. Jake nickte verstehend und ließ das Thema fallen. Stattdessen deutete er auf Trevor. »Er hat eine Bäckerei und liefert uns einmal pro Woche frei Haus Brot, Brötchen, Kuchen, Toastbrot und alles, was ihm sonst noch so einfällt. Ich habe anfangs den Fehler gemacht, ihn dafür bezahlen zu wollen.« Jake schaute zu David, dessen gerunzelte Stirn eine eindeutige Sprache sprach. »Und ich würde es Ihnen verdammt übel nehmen, wenn Sie annehmen, dass Ihr Scheckbuch etwas daran ändert, was ich zu Kilian gesagt habe.«

David seufzte. »Nehmen Sie es mir auch übel, dass ich zumindest daran gedacht habe, es zu versuchen?«

»Nein«, antwortete Jake und meinte es so. »Ich wäre eher verwundert gewesen, hätten sie nicht darüber nachgedacht. Ihr Mann hat einen Ruf, Mister Quinlan, und ich kann mir denken, dass er das Porter-Haus genau unter die Lupe genommen hat. Sie werden also bereits wissen, dass wir Geldprobleme haben. Aber auch das ändert nichts an meinen Prinzipien. Es gibt in Baltimore und der näheren Umgebung genug Entzugskliniken. Bringen Sie Liam dorthin. Hier habe ich keinen Platz für ihn.«

»Sie haben derzeit ein freies Zimmer«, warf David ein und sah ihn prüfend an.

»Und?«

Jake verkniff sich ein Grinsen, als David Quinlan ihn empört ansah, weil er so offensichtlich mit einer anderen Antwort gerechnet hatte, dass es für ihn schon fast lustig war. Mit Sturköpfen kannte Jake sich schließlich aus und David hatte offenkundig nicht vor, allzu schnell aufzugeben. Er schlug den Weg zum Wald ein, der hinter dem Haus begann, auf einen Spazierpfad zu, den er gerne benutzte. Der schmale Pfad führte bis zu einem Bachlauf, der vom Lake Roland gespeist wurde.

Jake hatte vor ein paar Jahren eine Bank und einen Tisch an der Stelle aufgestellt, und ging im Sommer mit seinen Kids oft dort picknicken oder stellte ein Zelt auf, um eine Nacht zu bleiben. Jetzt war zwar alles komplett verschneit und der Bachlauf zugefroren, aber zum Reden war dieser Platz immer gut. Das Porter-Haus stand so weit außerhalb Baltimores, dass es kein Problem war, ein Lagerfeuer zu machen und zu grillen. Es war eine wirklich schöne Gegend, die seine Eltern mit Bedacht ausgesucht hatten. Abgelegen, ruhig, mit einer grandiosen Natur, aber zugleich nah genug am Greater Baltimore Medical Center gelegen, wenn sie schnell einen Arzt brauchten.

»Wie kommt er damit zurecht?«, fragte Jake, woraufhin David ihn irritiert ansah. »Ihr Mann, meine ich. Oder ist er jeden Tag der Grund dafür, dass ein Mitglied seiner Familie von der Presse durch den Dreck gezerrt wird?«

Davids Erstaunen war echt. »Sie sind gut, Jake.«

»Das ist mein Job«, konterte er trocken und zuckte mit den Schultern, als David ihn nachdenklich ansah. »Außerdem war es logisch. Ihr Name ist nicht berühmt, aber doch bekannt, und sobald Kids reicher Eltern durch Drogen auffallen, stürzt sich die Presse wie Aasgeier auf sie. Und weil der ehemalige Oberstaatsanwalt von Baltimore in die Sache involviert ist … Mehr muss ich kaum sagen, oder?«

David verdrehte die Augen. »Nein, müssen Sie nicht. Und Aasgeier trifft es verdammt gut. Letzte Woche stand ein Reporter bei Liams Vätern vor der Tür. Adrian fand das gar nicht komisch und hätte der Zeitung am liebsten Konsequenzen angedroht. Er hatte so einige Mühe, Tristan davon abzuhalten, dem neugierigen Typen eine reinzuhauen.«

»Verständlich.« Jake runzelte die Stirn. »Ist seitdem mehr in der Richtung passiert?«

»Nein, und ich bin froh darüber«, sagte David. »Es würde das Ganze für Liam und seine Väter noch schlimmer machen, und das ist auch der Grund, warum Adrian wegen der Zeitung nichts getan hat. Was nicht heißt, dass er es vergessen hätte.«

Adrian Quinlan war stinksauer, was Jake sehr gut nachvollziehen konnte. »Hat Kilian mich angerufen, um Liam aus der Schusslinie zu bekommen?«, fragte er, weil ihm das logisch erschien, doch David schüttelte den Kopf.

»Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht einmal, dass er mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat. Er hat es uns erst heute Morgen erzählt und danach haben Adrian und ich beschlossen herzufahren. Nachdem mein Mann ein paar Anrufe gemacht hat, um sich zu erkundigen, wer Sie sind … Wir sind mit unserem Latein schlichtweg am Ende, was Liam betrifft. Und von seinen Vätern fange ich besser gar nicht erst an.«

Jake schätzte Ehrlichkeit und dass David Quinlan ihm gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm, verschaffte dem jede Menge Pluspunkte. Jake traf spontan einen Entschluss. »Zuerst mal, ich bin Jake, fertig. Kein Sie, kein Mister, klar? Zweitens, ich bleibe dabei, was ich Kilian gesagt habe. Sobald Liam Hilfe will, bekommt er sie. Nicht vorher. Drittens, mir ist bewusst, dass Liams Väter nur helfen wollten, aber diese Entmündigung war ein Fehler.«

»Ich weiß«, gab David zu und fuhr sich durch graues Haar, das früher braun gewesen war, so viel wusste Jake von Bildern. »Aber wir sind nicht seine Väter und Nick hat nicht mit sich reden lassen, nachdem Liam Tristan niedergeschlagen hatte. Ich kann ihn verstehen, aber es wird trotzdem nicht funktionieren. Übrigens, ich bin David, fertig.«

Jake grinste. »Geht klar, David. Wo ist Liam jetzt?«

»Wissen wir nicht.«

»Er ist verschwunden?« Jake war überrascht.

»Ja. Wir suchen nach ihm und das Ganze ist nur noch nicht bei der Presse durchgesickert, weil Adrian sich um alles kümmert. Er hat Leute engagiert, die Liam finden sollen. Nur bislang ohne Erfolg.«

»Ihr haltet die Polizei heraus«, verstand Jake und wiegte bedächtig den Kopf. »Ist vielleicht besser so.«

»Soll heißen?«

»Meiner Erfahrung nach, bedeutet die Polizei in derartigen Fällen mehr Ärger als Nutzen. Wer auf der Straße nicht gefunden werden will, der wird auch nicht gefunden. Es sei denn, er liegt tot in einer Seitenstraße.« David wurde blass und Jake sah ihn ernst an. »Stellt euch darauf ein, auch wenn das hart klingt. Ein Süchtiger, der keine Hilfe will, endet früher oder später in der Leichenhalle.«

»Nicht Liam!«

Jake sah über die Schulter. Adrian Quinlan kam auf sie zu und hatte seine letzten Worten offenbar gehört. Er drehte sich um und streckte eine Hand aus. Der Anwalt ergriff sie. »Hallo, Adrian Quinlan.«

»Hallo, Jake Porter.« Adrian drückte seine Hand und stellte sich anschließend neben David, um dessen Hand zu ergreifen. »Habt ihr schon Freundschaft geschlossen?«

»Jake hat mir einen freundlichen Vortrag darüber gehalten, dass er von meinem Scheckbuch nichts hält und mir hinterher das Du angeboten.«

»Das gilt im Übrigen auch für Sie«, mischte sich Jake ein, als das Paar einen amüsierten Blick tauschte. »Es sei denn, Sie haben vor, mit Ihrem eigenen Scheckbuch zu wedeln.«

»Ich gebe zu, der Gedanke ist mir gekommen.«

Adrian Quinlan war genauso ehrlich wie sein Mann. Jake gluckste. »Solange es bei dem Gedanken bleibt, werden wir mit Sicherheit Freunde.«

Adrian lachte und sah zu David. »Unbestechlich?«

»Absolut.«

»Also?«, fragte Jake, nachdem die beiden ihn ansahen. »Ihr seid doch garantiert nicht nur hergekommen, um auszutesten, ob ich meine Meinung ändere.«

»Nein, das sind wir nicht«, antwortete Adrian und ließ den Blick durch die nähere Umgebung schweifen. »Wir wollten uns ein Bild von dem Mann machen, der Liam möglicherweise helfen kann. Und was ich sehe, gefällt mir. Ich gebe zu, ich würde dich am liebsten überreden, Jake, aber ich werde es nicht tun und stattdessen hoffen, dass Liam selbst zu Verstand kommt, bevor es zu spät ist.«

»Wie kommen seine Väter klar?«, wollte Jake wissen, nachdem David Adrians Blick gefolgt war und auf einmal so resigniert aussah, dass Jake beinahe geflucht hätte. Er riss sich zusammen. Vorerst.

»Gar nicht«, antwortete Adrian betont gelassen, doch damit konnte er Jake nicht täuschen. Er hatte gelernt, die Mimik und Gestik von Menschen zu durchschauen, und Adrian Quinlan war sehr aufgewühlt, obwohl er es sich auf gar keinen Fall anmerken lassen wollte. Es erklärte zudem, warum die Quinlans bei ihm aufgetaucht waren und nicht Liams Väter. Liam Kendall war nicht der einzige in der Familie, der Probleme mit sich herumschleppte, dessen war Jake sicher.

»Soll ich mal raten? Sie streiten, schweigen sich an, streiten wieder und nebenbei macht jeder sein eigenes Ding. Aber sie bekommen es nicht auf die Reihe, sich an einen Tisch zu setzen und ihre Probleme anzupacken.«

»Ja, das kommt in etwa hin«, antwortete David, weil Adrian mittlerweile mit zusammengepressten Lippen auf den zugefrorenen Bachlauf starrte. Noch offensichtlicher ging es nicht.

Jake sah David sauer an, was der mit einem hilflosen Schulterzucken kommentierte, das gleichzeitig wohl eine Entschuldigung sein sollte. Also hatte David sich bereits den Mund fusselig geredet, um Adrian in die Schranken zu weisen, und war dabei nicht sehr erfolgreich gewesen. Nun gut, dann würde er das eben übernehmen.

»Das würde also bedeuten, wenn ich Liam helfe, muss ich gleichzeitig Therapeut für seine Väter spielen?«

Adrians Kopf fuhr abrupt zu ihm herum. »Wie bitte?«, fragte er giftig, doch Jake kam nicht zu einer Erklärung, denn David lachte leise und lenkte Adrian damit ab. »Ich wüsste nicht, was daran lustig sein soll!«

»Er meint es auch nicht so, Adrian, und das wäre dir längst klar, wenn du Jake endlich mal ansehen würdest, statt ständig zu überlegen, wie du ihn doch noch dazu überreden kannst, Liam zu helfen. Seine Frage eben war ein Test und du bist mit Pauken und Trompeten durchgefallen.«

Jake konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er war augenscheinlich nicht der Einzige von ihnen, der in der Lage war, Menschen zu durchschauen. David wurde ihm mit jeder Minute sympathischer. Was Adrian betraf, war Jake sich noch nicht ganz sicher, wie und wo er den Anwalt einordnen sollte. Aber vielleicht konnte er den beiden ein wenig entgegenkommen, was Liam betraf.

»Habt ihr ein Foto von Liam?«

»Ja.« David zog seine Geldbörse aus der Hosentasche und kramte darin herum. »Hier.«

Jake besah sich das Bild. Sexy, dachte er, obwohl ihm klar war, dass Liam heute kaum noch so aussah wie auf dem Foto. »Ich werde meine Kontakte auf der Straße anzapfen. Wenn ihn jemand gesehen hat, erfahre ich es und gebe euch Bescheid.«

Adrian öffnete seinen Mantel, zog einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts und nahm ihm das Foto ab, um auf die Rückseite eine Reihe von Telefonnummern zu schreiben. »Handy, Festnetz, Büro«, sagte Adrian, als er ihm das Foto zurückgab. »Irgendwo erreichst du uns immer.«

»Gut.« Jake nickte. »Wie alt ist Liam eigentlich?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete David und runzelte die Stirn. »Spielt das eine Rolle?«

»Nein.« Jake steckte das Foto ein. »Ich frage, da ich bei Minderjährigen das ansässige Jugendamt einschalten muss, und er ziemlich jung aussieht.«

»Jake?«

Jake sah überrascht in Richtung Haus, von wo Maggies Ruf gekommen war. »Ich bin am Bach«, rief er zurück und stöhnte laut, als ihm einfiel, was seine Schwester wollte. Er hatte die Zeit vergessen. »Ich komme gleich«, setzte er nach und warf einen Blick auf seine Uhr, ehe er zurück zu den Quinlans schaute. »Ich muss los. Meine wöchentliche Teambesprechung hat eigentlich schon vor zehn Minuten angefangen.«

David nickte. »Kein Problem. Danke, dass du dir trotzdem Zeit für uns genommen hast.«

Jake zuckte mit den Schultern. Dafür war kein Dank nötig, fand er. »Ich melde mich, falls Liam irgendwo auf meinem Radar auftaucht.«

»Und wir melden uns, wenn er abgestürzt ist«, sagte Adrian trocken, wofür er von David prompt einen Boxhieb in die Rippen bekam, inklusive eines bösen Blicks.

Jake ließ sie einfach stehen. Sie würden sich nicht in seiner Gegenwart streiten, aber sobald er außer Hörweite war, dürften am Bachlauf die Fetzen fliegen. Was Jake in Anbetracht der Umstände nicht verwunderte. Er würde nach der Besprechung noch mal herkommen, sicher war sicher. Und er würde Liams Foto so schnell wie möglich vervielfältigen und an seine Kontakte weiterleiten.

 

 

4. Kapitel

 

 

 

 

Lennox, Trevor und Maggie sahen ihm grinsend entgegen, als er in sein Büro trat und sich erst mal frischen Kaffee nahm. Maggie dachte an alles und um sie nicht gleich wieder gegen sich aufzubringen, setzte Jake sich anständig an seinen Schreibtisch, statt auf die Ecke, wie er es sonst gerne tat.

»Was?«, fragte er, weil die drei immer noch grinsten. »Es ist Montagmorgen. Ihr müsstet stöhnen, fluchen und jammern, weil eben Montag ist, statt dumm zu grinsen.«

»Adrian Quinlan? Der Superanwalt?« Lennox tauschte mit Maggie und Trevor einen kurzen Blick. »Bist du auf dem Weg in den Knast und brauchst einen Anwalt, oder was hast du angestellt?« Sein Bruder lachte, als Jake ihm mit der Faust drohte. »Allerdings hätte er kaum seinen Ehemann mitgebracht, wenn es um Rechtssachen ginge. Also, was wollten die zwei?«, fragte Lennox danach mit dem Ernst, den Jake an ihm kannte und jederzeit schätzte, sobald es um das Porter-Haus ging.

»Sie sind die Patenonkel eines möglichen Neuzugangs und wollten die Lage checken.«

»Zwei Patenonkel, von denen einer Armani trägt, als wäre er darin geboren worden«, merkte Maggie an, die neben Trevor in einem der beiden Besucherstühle saß, der nach ihren Worten die Augen verdrehte und seufzte. Maggie grinste ihn frech an. »Du weißt, dass ich einen Klamottenfimmel habe.«

»Was glaubst du denn, warum ich dir letztens diesen Fetzen von einem Nichts gekauft habe, der ...«

»Aus!«, riefen Jake und Lennox zusammen und sein Bruder steckte sich je einen Finger in die Ohren, was Maggie und Trevor lachen ließ. »Das Sexleben meiner kleinen Schwester wird nicht in diesem Raum thematisiert, klar?«

»In welchem Raum dann?«

»Trevor!«, fluchte Lennox, der zwar jünger als Maggie war, aber genauso beschützend wie Jake selbst, während er den aus Maggies Büro mitgebrachten Stuhl ein wenig vorschob, um an den Obstteller zu kommen, den Maggie neben der Kaffeekanne auf Jakes Schreibtisch abgestellt hatte. Lennox nahm sich eine Banane und Jakes Magen knurrte bei dem Gedanken an Essen begehrlich. Später, dachte er und klopfte einmal auf den Tisch, damit Ruhe einkehrte.

»Okay, kommen wir zur Tagesordnung«, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Die Quinlans gehören zur Familie eines Neuzugangs. Ich korrigiere, eines möglichen Neuzugangs.« Jake zog das Foto aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Ich habe zwar nicht zugesagt, ihn aufzunehmen, aber der Kerl, Liam heißt er, ist verschwunden, nachdem er seinen Vater mit einer Flasche angegriffen hat. Der Vater hat ihn erwischt, wie er versuchte, Geld zu klauen … Ach ja, wir reden in dem Fall von zwei Vätern.«

»Liam hat zwei Väter?«, fragte Lennox interessiert, legte die Bananenschale auf den Tisch und nahm sich einen Apfel. »Gibt es auch eine Mutter?«

Jake nickte und ignorierte sein erneutes Magenknurren, da er auf Obst keine Appetit hatte. »Ja, zwei Väter. Ich kenne noch keine Details, was eine mögliche Mutter angeht, und bevor die Frage kommt, ich weiß ebenfalls nicht, wieso Liams Väter nicht persönlich hier waren. Aber ich habe seinen Patenonkeln versprochen, sein Bild bei unseren Kontakten auf der Straße herumzuzeigen. Vielleicht hat ihn jemand gesehen.«

Lennox nahm das Foto und sah es sich an. »Ich frage mich, wie er jetzt aussieht.«

»So jedenfalls nicht mehr«, meinte Trevor, nachdem er und Maggie ebenfalls einen genaueren Blick auf das Foto geworfen hatten. »Genau dein Typ, oder Jake?«

Jake zuckte lässig die Schultern. Normalerweise wäre Liam Kendall durchaus sein Typ gewesen, wenn auch ein wenig zu jung, aber zu seinen Prinzipien gehörte ebenfalls, dass er mit den Kids aus seinem Haus, oder solchen die es vielleicht bald wurden, weder Sex hatte noch eine Affäre begann, und damit war Liam Kendall aus dem Rennen.

»Ich kopiere das Bild nachher«, sagte Maggie und hob eine Mappe an, die auf ihrem Schoß gelegen hatte. »Hier drin ist ein Arbeitsvertrag für Magnus, plus eine Kündigung für Grant. Ihr wisst bereits, worum es geht. Noch irgendwelche Kommentare oder Einwände? Wenn nicht, bekommt Magnus den Job.«

Dreifaches Kopfschütteln war die einzige Antwort, die seine Schwester bekam, denn auch wenn das Porter-Haus offiziell ihm gehörte, trafen sie die meisten Entscheidungen immer in der Gruppe. Die einzige Ausnahme waren seine Schützlinge. In seine Arbeit mit ihnen ließ Jake sich nicht reinreden, zumindest meistens nicht.

Maggie lächelte zufrieden. »Gut. Ansonsten habt ihr letzte Woche nichts verpasst. Abgesehen von einem Streit zwischen Ben und Zachary. Keine Ahnung, was los war. Magnus hat die Sache geklärt.«

»Emma?«, fragte Jake und seufzte leise, als Maggie schweigend den Kopf schüttelte. Es wäre zu schön gewesen, endlich einen Durchbruch bei Emma zu erreichen. »In Ordnung, dann sehen wir uns hier in einer Woche, wenn nichts anderes dazwischenkommt.«

Maggie stand auf und sah ihn an. »Du rufst jetzt Jim an und isst danach endlich was. Dein knurrender Magen geht mir auf die Nerven.«

Trevor und Lennox lachten, während sie Maggie aus Jakes Büro folgten, der ihnen beleidigt und grinsend zugleich nachsah, ehe er das Telefon nahm und einen resignierten Blick auf den Obstteller warf, den seine Schwester mit voller Absicht auf dem Tisch hatte stehen lassen, so gut kannte er sie. Seufzend nahm sich Jake einen Apfel und lauschte auf das monotone Tuten in der Leitung.

»Hi, Jim, Jake hier«, begrüßte er Grants Vater, nachdem der abgenommen hatte. »Wir müssen reden. Es geht um Grant.«

 

Zwei Stunden später hatte er immer noch nichts zum Frühstück gehabt, aber zumindest war es Jake gelungen, Jim wieder zu beruhigen und ihn davon abzuhalten, den eigenen Sohn aus dem Haus zu werfen. Das würde Grant weder helfen noch etwas daran ändern, dass er langsam aber sicher auf die falsche Bahn geriet. Vielleicht konnte Grants Mutter ihn zur Vernunft bringen, bevor er völlig abrutschte.